Stravaganza - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
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Stravaganza - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
Claude Prin Stravaganza (Originaltitel: Stravaganza) Aus dem Französischen von Bernd Schirmer © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 1 Diese Übersetzung ist mit Unterstützung der Association „Beaumarchais“ – S.A.C.D. (France) zustande gekommen. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2007 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1 2 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH PERSONEN Carlo Gesualdo Leonora, seine Frau Simone, sein Freund Armindo, ein Diener Roberto, ein Diener Alban Berg Leni, seine Frau Manon, ihre Freundin Anton Webern © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 3 I (Das Landhaus der Bergs. Berg, Leni und Webern, an einem Tisch sitzend, auf dem eine Partitur ausgebreitet ist.) (Ein kahles Zimmer, ein Tisch, ein Bett: Gesualdo schläft einen unruhigen Schlaf. Schreie, Stöhnen, Satzfetzen … Armindo und Roberto beobachten ihn, unbewegt.) Berg Was wissen wir von ihm? Gesualdo Maria! Hilfe! Hil!… Berg Der Prinz Carlo Gesualdo war der Erbe einer der reichsten und aristokratischsten Familien von Neapel. Gesualdo Fabrizio! Nein! Das wirst du nicht tun! Berg Spanische Vorfahren. Das hatte er mit den Borgia gemein. (Gesualdo stößt einen Schrei aus.) Berg Keinerlei biographische Spur. Einige Aussagen von Freunden. Briefe von seiner zweiten Frau. Polizeiberichte. Leni Polizei? Gesualdo Carlo … Carlo … © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 5 Berg Sein Vater unterhielt einen Hofstaat von Poeten und Musikern. Webern Wer heutzutage unterhält Poeten und Musiker? Gesualdo Die Nacht ist schrecklich. Berg Das Wesentliche seines Lebens spielte sich zwischen den Mauern seines Schlosses und denen eines Klosters ab. Gesualdo Steh auf und verjage diese Angst! Leni Hat er die Weihen bekommen? Berg Er? Gesualdo Mein Genick ist steif … Mich fröstelt. Mein rechtes Bein gehorcht mir nicht mehr. Wie kalt es ist! Ich werde gehen … Leni Ein Sonderling? Berg Mehr als das. Leni Ein Tobsüchtiger? Berg Weniger als das. Ein Extravaganter: Ausdruck des Zeitalters. Gesualdo Mein Herz schlägt in meinen Trommelfellen … Gegen meinen Daumen. Es klopft gegen mein Hemd wie ein Metronom. Welchen Takt schlägt mein Herz? 2/4? 3/4? 6/8? (Betrachtet sich in einem Spiegel.) Die Notenlinien tanzen über meinen Augenbrauen. Was für eine Sarabande! 6 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Toc toc! Toc toc! Toc toc! Wohin gehst du mein Herz mit diesem unsicherem Schritt? Nach Ferrara? Nach Venedig? Nach Chioggia zum Hafen in die geilen Gäßchen? Was aßen wir da nach Herzenslust und atmeten frei durch! Ah! Ah! Die Fische glitzerten wie Butterblumen. Und die Mädchen waren gesund. Leni Er war im Einklang mit seiner Zeit. Berg Sehr unruhig. Man dachte viel nach. Aber man brannte und mordete noch mehr. Leni Aha! Wir kennen das alles. Gesualdo Die Nacht! Die Nacht! Armindo! Ich flehe dich an! Halte die Nacht an! Entzünde eine Fackel! Mach ein Freudenfeuer! … Ende der Nacht komm! Berg Er hat einen Teil seines Lebens im Zustand durchwachter Nächte verbracht und den anderen im Tagtraum. (Gesualdo singt eine Melodie, die er wiederholt, korrigiert.) Gesualdo Nein! Nein! Nein! Nein! Berg Zwangsvorstellungen. Quälende Bilder … Gesualdo Maria! Vermodere oder verbrenne aber laß mich in Frieden! Berg Ein übersteigertes Schuldgefühl. Webern Sorgfältig aufrechterhalten? © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 7 Roberto (Zu Gesualdo.) Legt Euch schlafen Herr! Gesualdo Ah! Eine Stimme … Deine Stimme Roberto! Warum hast du sie mich nicht früher hören lassen? Roberto Legt Euch schlafen! Gesualdo Hat der Hahn gekräht? Roberto Die Grillen sind verstummt. Gesualdo Alle Musiker der Schöpfung werden verstummen im selben Augenblick. Gru gru gru gru gru … Fermate. Armindo Legt Euch schlafen! (Gesualdo streckt sich auf seinem Bett aus.) Roberto Ihr könnt doch wohl diese Melodie wiederfinden die Ihr vorhin gesungen habt? Gesualdo Ich habe gesungen ich? Ich habe geschrien. Roberto Das war schön. Man sollte sie nicht vergessen. (Er bringt Schreibzeug und Feder.) Notiert schnell! (Gesualdo ist eingeschlafen.) Webern Armer Mörder! Berg Zu seiner Zeit übte man Selbstjustiz. Besonders wenn man Prinz war. Leni Das Verbrechen ist nicht weniger abscheulich. Berg Wer interessiert uns in diesem Fall? Der Verbrecher? Oder der Musiker? Leni Beides. Berg Hört zu! (Singt das Motiv, das Gesualdo eben sang.) Diese Dissonanz! Keine Partitur der Epoche fällt so sehr aus dem Rahmen. 8 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Diese auseinandergezogenen Zwischenräume! Halbe Noten. Viertelnoten. Einige seltene Achtelnoten. Webern Harmonie der Sphären … Leni Diese Seiten strahlen ein archaisches Licht aus. Webern Das Unendliche ist am Ende jeder Notenlinie. Berg Ich denke an deine Schrift Anton. Dicht. Leuchtend. Leni Das Gewitter bricht da nie los. Berg Meine Partituren sind ein unentwirrbares Durcheinander. Niemand würde sich darin zurechtfinden. Webern Selbst Leni nicht? Leni Oh nein! Berg Leni betrachtet meine Partituren wie ein Gemälde von Kandinsky oder von Klee: ein mikrobielles Leben unter einem riesigen Mikroskop. Webern Wie weit ist die Komposition von Lulu? Berg Sie schreitet langsam voran. Leni Zu langsam. Berg Wir sprachen über Gesualdo. Leni Man sollte ein Konzert geben. Berg Gesualdo von Berg und von Webern den Kritikern zum Fraß vorgeworfen? Ich habe nicht den Mut dazu. Webern Man sollte ihn haben. Berg Wenn Lulu abgeschlossen ist. Webern Ich werde einen Vortrag halten. Berg Er wird niedergeschrien werden. Die Nazis werden brüllen: dekadente Musik. Webern Gesualdo ist kein Jude. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 9