Dankesrede - in der Spiegelgasse

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Dankesrede - in der Spiegelgasse
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Robert-Gernhardt-Preis 2015
Die vorliegende Rede hielt Gila Lustiger am 16. September 2015 in der Naxoshalle in Frankfurt am
Main anlässlich der Verleihung des Robert-Gernhardt-Preises.
Ihr im Entstehen begriffener Roman trägt den Arbeitstitel „Die Entronnenen“. Er soll im Herbst
2016 im Berlin Verlag erscheinen.
Gila Lustiger ist auf Dokumente gestoßen, die ihr Vater Arno Lustiger einst im DP-Camp Zeilsheim
für die amerikanische Lagerbehörde ausfüllen musste. Die Rätsel, die sich für sie daraus ergeben,
beschreibt sie in einem Buch, dessen Fertigstellung mit dem Robert-Gernhardt-Preis 2015 gefördert
wird. In ihrer Dankesrede beschreibt die Autorin, worum es darin geht.
Gila Lustiger © Lilli Birnbaum
Rest der Geretteten
Von Gila Lustiger
Jeder Text hat seine Entstehungsgeschichte. Manchmal fädelt ein Ton, eine Stimme einen Text ein.
Manchmal entfaltet er sich aus ein paar Bildern oder einer Begebenheit. Oft sind es auch nur eine
Handvoll Worte, die einen in den Bann ziehen, sich im Kopf einnisten, bis man sich ihrer
schreibend entledigt. Zuweilen ist ein Roman auch eine Antwort, eine Art Gegenschlag.
Diesen Roman, für den ich heute den Robert-Gernhardt-Preis erhalte, und der den Arbeitstitel „Die
Entronnenen“ trägt, hätte ich wohl nie begonnen, wäre ich nicht im International Tracing Service
auf ein Dokument gestoßen, das mein Vater Arno Lustiger im DP-Camp Zeilsheim für die
amerikanische Lagerbehörde hatte ausfüllen müssen.
Keiner fährt zufällig ins ITS, wo rund dreißig Millionen Dokumente zu den Inhaftierungen in
Konzentrationslagern und Ghettos, zur Zwangsarbeit und zu den Displaced Persons verwahrt sind.
Ich war aus Paris angereist, um Auskunft über das Schicksal meiner Familie zu bekommen.
Ich werde den Tag so schnell nicht vergessen, an dem mich Susanne Urban in einem Büro mit einer
Thermoskanne Tee, einer Packung Kekse und einer Flasche Sprudelwasser empfing – und der
ganzen Empathie, zu der sie fähig ist. Mit ihrem Einfühlungsvermögen und den Akten, die sie schon
hatte aussortieren lassen und die den Leidensweg meiner Familie belegten. Auch heute noch spüre
ich den Nachhall der tiefen Verstörung, die ich damals empfand, als ich die KZ-Registrierkarten
meiner Angehörigen in der Hand hielt und mir plötzlich bewusst wurde, wie sachverständig,
akkurat und effizient, ja, mit welcher gutdurchdachten Routine hier Menschen zur Zwangsarbeit
eingeteilt worden waren oder für den Tod. Nein, das waren keine wilden Mörder gewesen, das
waren gewissenhafte Bürokraten, die beschlossen hatten, dass man Häftlinge mit Vor- und
Nachnamen, Geburtsdatum, Adresse, dem Namen der Eltern und der eintätowierten Lagernummer
zu registrieren habe.
Doch ich möchte wieder auf das Formular zu sprechen kommen, das mein Vater im DP-Camp
Zeilsheim ausgefüllt hatte, dem Auffanglager, das sich fünfzehn Kilometer südwestlich von
Frankfurt befindet und in dem seit August 1945 mehrere Tausend jüdische Staatenlose strandeten.
Mein Vater musste angeben, welche Berufe er ausgeübt hatte. Und hier las ich also in fünf kurzen
Zeilen seine Berufskarriere von 1939-45, die Jahre, über die er hatte Rechenschaft ablegen müssen.
Er war zwei Mal Schüler gewesen und vier Mal Zwangsarbeiter.
Um genau zu sein, las ich Folgendes:
1939-41 pupil
March 1941 – August 1943: forced labor
August 1943 – May 1944: forced labor
May 1944 – May 1945: forced labor
December 1945: pupil.
Etwas machte mich stutzig. Wie kam es, dass einer, der sich mit der Familie in einem
Kellerversteck verborgen hatte, der hiernach ins Ghetto hatte gehen müssen und nach dessen
Räumung ins Zwangsarbeiterlager Annaberg deportiert worden war und von dort ins
Konzentrationslager Ottmuth und weiter nach Blechhammer, ein Außenlager von Auschwitz, und
von dort nach Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein – wie kam es, dass so einer, der in den
Lagern und auf den Todesmärschen schreckliche Agonien hatte durchleiden und miterleben müssen,
nach der Befreiung wieder die Kraft fand, dort anzusetzen, wo sein Leben noch nicht aus den Fugen
geraten war? Schüler vor dem Krieg. Schüler danach. Aller Erfahrung zum Trotz. Was steckte in so
einem, so fragte ich mich, diesen Bogen schließen zu können? Welche Lebenskräfte, welche
Abwehrmechanismen, welche Energien muss man besitzen? Mein Vater war seit einem Jahr tot, ich
konnte ihn nicht mehr befragen, und so machte ich mich auf und wühlte mich in Zeitzeugnisse und
Dokumente, konsultierte Historiker und befragte die Überlebenden. Sie nennen sich selber übrigens
nicht so, sondern She'erit Hapletah – Rest der Geretteten.
Langsam entstand aus dem Geflecht der Anekdoten, Geschichten und Dokumente ein Bild. Ich
lernte, dass man, wenn man nichts mehr hat, mit dem Lebenswichtigsten beginnt. Hass und Rache
gehören nicht dazu. Liebe gehört dazu. Das erste eigene Bett. Der erste Mantel. Das erste Brot.
Familie gehört dazu.
„Wir haben alle Familien gegründet“, sagte mir eine Überlebende im Gespräch, „und wir haben
Kinder gemacht. Wir haben uns kennengelernt und uns verliebt. So ist die menschliche Natur. Wenn
man einen fand, der einem gefiel, dann heiratete man und machte Kinder.“
Dieses Buch, das im Entstehen ist, schildert den Lebensmut jener, die im DP-Camp Zeilsheim,
dieser selbstverwalteten jüdischen Enklave mitten im Land der Täter, Schulen gründeten, einen
Kindergarten, eine Bibliothek und sogar eine DP-Fußballliga, die Theater- und Filmvorführungen
veranstalteten, Konzerte und eine Box-Meisterschaft … die, um es kurz zu sagen, den Neuanfang
wagten.
Lassen sie mich bitte noch eine letzte Bemerkung machen. Nach Kriegsende irrten zehn Millionen
Displaced Persons durch Europa: Zwangsarbeiter, Kommunisten, Widerständler, Homosexuelle,
Sinti, Roma und Juden, die inhaftiert und deportiert worden waren und meistens auch die Lager und
Todesmärsche überlebt hatten. Ich möchte nun keine direkten Parallelen ziehen und doch muss
folgendes betont werden: Ohne die Entscheidung der Alliierten, diese Menschen zu versorgen,
ihnen ein Dach, Kleidung und Nahrung zu verschaffen, ihre Familien zusammenzuführen, Schulen,
Waisenheime und Camps zu errichten, ohne ihre Einsicht, dass der Krieg nach Kriegsschluss noch
lange nicht zu Ende war, dass man sich als Sieger und als Mensch um die Opfer zu kümmern habe
und um die Verlierer, wären die Überlebenden, darunter meine Familie, wohl gestorben. Dieser
Gemeinschaftsgeist soll und kann uns allen heute in Europa ein Beispiel sein. Ich danke Ihnen.
Vita Gila Lustiger
1963 in Frankfurt am Main geboren, studierte Gila Lustiger Germanistik und Komparatistik an der
Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman
»Die Bestandsaufnahme« erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Ihr Familienroman
»So sind wir« war 2005 für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. 2011 erschien
»Woran denkst du jetzt« und im Frühjahr 2015 ihr großer französischer Gesellschaftsroman »Die
Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Sie erhielt, zusammen
mit Annika Scheffel, den Robert-Gernhardt-Preis 2015. Gila Lustiger bekam die Auszeichnung für
»Die Entronnenen«, die noch unerzählten Geschichte des Übergangslagers Zeilsheim und der
jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main nach dem Zweiten Weltkrieg.
Zuletzt erschienen: Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“
Roman, Gebunden mit Schutzumschlag, 496 Seiten
ISBN: 978-3-8270-1227-2, Berlin Verlag, Berlin 2015