Ein Shabbat für Mizrajim
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Ein Shabbat für Mizrajim
לע״נ ברוך יעקב בן יוסף ז״ל שבת הגדול בס״ד ח׳ ניסן תשע״ד Shabbat HaGadol Ein Shabbat für Mizrajim Der kleine Knirps kämpft sich voller Mühsal auf das weißbetuchte Sofa. Es ist der Vorabend von Pessach. Das lockige, kräftige Haar reicht dem Knaben schon bis zur Schulter. Die neugierigen blauen Augen heben sich über die Tischplatte und erblicken einen reich gedeckten Tisch. Jede Menge glänzendes Silber, dunkle Rotweinflaschen und elegante Stoffservietten zieren das selten benutzte Pessach-Service mit dem obligatorischen Goldrand. Der Schnuller fällt vor Überraschung zu Boden, ein staunender Gesichtausdruck macht sich breit: „Großer Shabbes!“, ruft der Kleine aufgeregt, „groooßer Shabbes!“ D er Vater – der seinen Sohn mittlerweile beinahe schon mit einem Chametz-Stückchen gleichsetzt – eilt herbei: Chametz-Verdacht! Doch der Zweieinhalbjährige blickt seinen Vater nur ahnungslos mit funkelnden Augen an: „Grooooooooßer Shabbes! Groß!“, meint er nur und steckt sich den Schnuller wieder in den Mund. Der Vater muss lächeln, der Chametz-Alarm verstummt. „Nein, mein Kind, nicht Shabbes! Das ist Pessach! Sederabend!“, meint er schmunzelnd und freut sich, seinem Sohn bereits in diesem zarten Alter schon etwas an den „König der Feiertage“ herangeführt zu haben. Als er die Geschichte später vor der Sedergesellschaft rekapituliert, macht sich schallendes Gelächter breit. Und der kleine Knirps sucht beleidigt das Weite. Dabei hatte der kleine Dreikäsehoch gar nicht einmal so unrecht. Denn auch die Tora1 selbst zieht diese „kindische“ Allegorie zwischen Pessach und Shabbat: Hashem hat das jüdische Volk mit „starker Hand“ und einem „ausgestreckten Arm“ aus Mizrajim befreit, wird in den (zweiten) zehn Geboten verlautet. Und aus diesem Grund befiehlt Hashem auch, Shabbat zu hüten, heißt es dort weiter. Shabbat ist demnach sehr wohl auch ein Feiertag, der im Andenken an den Auszug aus Mizrajim festgelegt wurde. Der kleine Knirps lag mit seiner Interpretation des Sederabends als „großen Shabbes“ also gar nicht so falsch. „Otto Normaljude“ Leider wird der Zusammenhang zwischen Jeziat Mizrajim und Shabbat von „Otto Normaljuden“ nur allzu gerne übersehen. Vielleicht, weil diese Begründung für das ShabbatHüten erst in der zweiten Erwähnung der „Zehn Gebote“ seinen Platz findet und eine prominentere Begründung bereits lange vorher in den ersten „Zehn Geboten“ präsentiert wurde. Es kreist tatsächlich eher die „gigantisierte“ Shabbat-Variante als Andenken an die Welterschaffung und das Ruhen G’ttes von seiner Schöpfungstätigkeit in den Köpfen der Shabbat-Streiter herum. Die Erinnerung an Mizrajim hebt man sich lieber für den Sederabend auf. Man wähnt sich am Shabbat beim fantasievollen Ausmalen einer unberührten Pflanzen- und Tierwelt und der trauten Zweisamkeit von Adam und Chava nach dem 6. Schöpfungstag viel sicherer, als sich g’ttliche Auszugswunder vorzustellen. Doch so einen „Weltenträumer“ holt schnell wieder die „Tora-Realität“ ein, wenn man dann beim Kiddush feierlich-melodramatisch festhält: „… secher leJeziat Mizrajim …“ – „... eine Erinnerung an den Auszug aus Mizrajim ...“ Schon wieder mischt sich da scheinbar der kleine Lockenkopf mit seiner lästigen „Shabbes-Theorie“ ein! Aber auch hier bleibt die mit zwei Worten recht knapp gehaltene Allegorie zwischen Shabbat und Jeziat Mizrajim eher im Hintergrund. Wo man sich beim Kiddush gerade erst einen ganzen, satten Abschnitt über den Abschluss der Welterschaffung zu Gemüte geführt hat, und das Gläschen Wein in der Hand kaum noch zwanzig Worte weit vom Trinken entfernt ist, schenkt man diesem Einschub gar nicht erst seine werte Aufmerksamkeit. „Mizrajim hin, Mizrajim her, heut’ ist Shabbat und nicht viel mehr!“, könnte sich ein schüttelreimender Kiddush-Sprecher denken. 1 Devarim 5,15 1 Shabbat HaGadol Der Leiner - ליינער דער Ofenfrisch Doch die Erwähnung der Jeziat Mizrajim im Kiddush ist laut der Gemara2 andererseits ein Umstand, der für eine ordnungsgemäße Erfüllung dieser Mizwa absolut vonnöten ist. Bei der „Heiligung“ des 7. Tages ist nämlich nicht nur das Andenken an die „ofenfrische“ Erde und an das Ruhen G’ttes, sondern auch die Erinnerung an den Auszug aus Mizrajim verpflichtend. Und damit sollte man sich eigentlich auch über die Bedeutung dieses Zusammenhanges zwischen dem Auszugsereignis und dem jüdischen Ruhetag ein wenig Gedanken machen. Natürlich noch umso mehr, wo doch in dieser Woche tatsächlich der so genannte „große Shabbat“,„Shabbat HaGadol“, ansteht. Der Spezialtitel dieses Shabbats erwächst zwar nicht unmittelbar aus der eben erläuterten Thematik. Aber immerhin, es ist der letzte Shabbat vor dem Sederabend und damit auf der zeitlichen Ebene sicherlich die größte Annäherung dieser beiden Urelemente des Judentums. Grund genug, um ein wenig in die Tiefe zu gehen. Vom Regen in die Traufe Um alle Shabbat-Hüter, die die Jeziat Mizrajim in ihrer allwöchentlichen Ruheausübung bisher noch nicht so stark eingebunden haben, erstmal zu beruhigen: Auch die wichtigsten Kommentatoren suchen nach tieferen Erklärungen für den fraglichen Zusammenhang. Rashi zum Beispiel achtet an dieser Stelle sehr darauf, die inhaltliche Trennung aufrechtzuerhalten: „Hashem hat uns aus Mizrajim befreit, damit wir zu seinen Knechten werden und seine Gebote – wie den Shabbat – hüten“, meint er. Mizrajim und Shabbat sind also keineswegs verwandte Ereignisse, sondern folgten nur dicht aufeinander. Quasi vom „Regen in die Traufe“ gerieten die Bnei Jisrael, als sie befreit aus der Knechtschaft aus Mizrajim auszogen, um dann gleich wieder zu G’ttes Knechten zu werden. Wobei der Vergleich hier sicherlich ins Stocken gerät, hat doch der „neue Chef“ mit dem „alten Chef“ absolut nichts gemeinsam! Der Rashi-Spezialist „Siftei Chachamim“ erklärt Rashis Knecht-Vergleich noch etwas einleuchtender. Der „Knecht“-Begriff soll hier im Zusammenhang mit dem Shabbat nämlich ausdrücken, dass die Bnei Jisrael in Mizrajim sicherlich auch ihren „alten Chefs“ mit Freude zugehört hätten, wenn sie ihnen einen Ruhetag pro Woche verordnet hätten. Denn anstatt als gepeinigter Sklave unter Peitschenhieben Ziegel zu brennen, bietet einem so ein gemütliches Beisammensein bei Hering & Whisky doch eine weitaus erstrebenswertere Daseinsform. Daher möchte die Tora laut Rashi, dass die Bnei Jisrael nun auch ihrem neuen Herrn – Hashem – mit derselben Freude zuhören, auch wenn sie nunmehr keine direkten Peitschenhiebe erleiden müssen, meint der Siftei Chachamim. Denn ein gewisser Widerwille des jüdischen Volkes, mal einen Tag von einigen Tätigkeiten zu pausieren, sei laut dem Siftei Chachamim eigentlich vorprogrammiert. Brandaktuell Die Interpretation von Rashi ist damit leider auch heute noch brandaktuell. Der Einsicht der Notwendigkeit eines Ruhetages am Shabbat steht nämlich nach wie vor einiger Widerwille im jüdischen Volk gegenüber, so dass der Erlösungsflieger mit Mashiach an Bord nach wie vor Warteschleifen fliegt, bevor ihm wohl irgendwann das Kerosin ausgeht und er notlanden muss. Denn bekanntlich verspricht die Gemara3, dass die Erlösung nach der Einhaltung von nur zwei Shabbatot durch die Volksgesamtheit im Nu eintreffen würde. Diesen Widerwillen ein wenig zu beugen, wäre folglich ein wenig riskantes Unternehmen mit einem unendlichen Gewinnpotenzial. Aber um hier den Willen – oder den Widerwillen – des werten Lesers nicht überzustrapazieren, kehrt der Fokus nun wieder auf die eigentliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen Jeziat Mizrajim und Shabbat zurück. Laut Rashis Erklärung ist dieser Zusammenhang noch nicht soweit erklärt worden, um beispielsweise die Gemara zu verstehen, die dieses Thema sogar im Kiddush fix verankert sehen will. Wunder und Zeichen Der erste Kommentator, der hier schließlich ein wenig mehr Klarheit schafft, ist der Ramban: „Shabbat ist ein Andenken an Jeziat Mizrajim und Jeziat Mizrajim ist ein Andenken an Shabbat“, schreibt er. So, als wäre es ein Plädoyer für den beleidigten Dreikäsehoch, fährt der Ramban fort: „Die zehn Plagen erinnern an die Schöpfung. Sie zeigten, dass Hashem die Kraft innehat, etwas vollkommen Neues zu erschaffen. Die Wunder und Zeichen in Mizrajim offenbarten, dass er alles von Anfang an nach seinem Willen erschaffen hat“, so der Ramban sinngemäß. 2 3 Talmud Bavli Mes. Pesachim 117b Talmud Jerushalmi Mes. Ta'anit 1,1 2 Der Leiner - ליינער Shabbat HaGadol דער Minigolf Was der Ramban hier ausdrücken möchte, ist, dass Hashem durch das zeitweilige Aushebeln der Naturgesetze während der zehn Plagen bewies, dass er eigentlich „die Natur“ selbst ist. Und daher wurde durch die Wunder in Mizrajim eben auch der Glaube der Bnei Jisrael an G’tt als Schöpfer des Universums komplett neu entfacht. Die jahrhundertelang versklavte jüdische Nation hätte ansonsten vielleicht mit diesem Konzept zu kämpfen gehabt. Doch da sie mit eigenen Augen sahen, wie Hashem mit den Naturgewalten „Minigolf“ spielte, war das Hüten des Shabbats für sie nur mehr eine logische Konsequenz. Die Tora spricht daher auch so treffend von der „starken Hand“ und dem „ausgestreckten Arm“ Hashems. Ausdrücke, die – wie wir in Bälde in der Haggada lesen werden – explizit die Wunder der zehn Plagen ansprechen. „Hashem hat das Volk mit seiner ‚starken Hand’ und seinem ‚ausgestreckten Arm’ befreit – deswegen befiehlt dir Hashem Shabbat zu halten!“, sagt die Tora: Die Plagen verschafften – und verschaffen dem jüdischen Volk weiterhin – endgültig Klarheit darüber, wer der wahre Schöpfer der Welt ist. Und dies fertigte eine glühende Glaubensgrundlage, einen ewigen Schlüssel für den Shabbat! Aufdeckerjournalismus Eine Grundlage, auf der auch wir heute noch bauen können. Der Ohr HaChaim verstärkt die Worte des Ramban vielleicht noch ein wenig, wenn er hinzufügt, dass die Ereignisse der Jeziat Mizrajim den Glauben an Hashem als Weltenschöpfer wieder „aufdeckten“. Denn der Glaube war sicherlich immer in den Bnei Jisrael vorhanden, er musste nur wieder „aufgedeckt“ werden, wie der Ohr HaChaim meint. Zweifelsohne ist es daher auch heute noch möglich, diese Art an „Aufdeckerjournalismus“ zu betreiben. Wo doch bereits zahlreiche Staatsoberhäupter oder andere Personen der öffentlichen Hand durch Aufdecker entlarvt wurden, ist das Aufdecken des wahren, inneren Glaubens des jüdischen Volkes an Hashem als Schöpfer und Herrscher über das Universum sicherlich nicht allzu weit hergeholt! Und wo könnte sich da eine bessere Gelegenheit zum Aufdecken dieses inneren Glaubens ergeben, als bei der Sedernacht, deren Hauptteil ja die Erzählung über die „starke Hand“ und den „ausgestreckten Arm“ Hashems ist? Was würde sich besser zur Stärkung der Glaubensgrundlage des Shabbats anbieten, als ein aufrichtiges und intensives Erinnern oder Erörtern der zehn Plagen, wie es in der Haggada betrieben wird? Der Seder avanciert damit tatsächlich zu einem „großen Shabbes“, einem Abend, der die Wertigkeit des Shabbats enorm steigen lässt! Year-Around-Holiday Doch auch umgekehrt kann eine Auffrischung des Glaubens an Hashem durch das Hüten des „Standard-Shabbats“ sogar schon vor der Sedernacht Großes bewirken. Der Shabbat als „Year-Around-Holiday“ kann nämlich allwöchentlich zur Transformationsplattform für eine gesteigerte Gläubigkeit genutzt werden. Da muss nicht erst der Sederabend kommen, um die Wogen zu glätten. Möglicherweise ist der Begriff des „großen Shabbats“, des „Shabbat HaGadol“, daher gerade am Shabbat vor Pessach äußerst passend, um dies offenzulegen. Ein unerschütterlicher Glaube an Hashem ist sicherlich die Basis für eine erfolgreiche Ausübung der Tora und der Mizwot. Der Sederabend dient vornehmlich zur Stärkung dieses Glaubens, die Mazzot werden in chassidischen Kreisen sogar als „Glaubenstabletten“ bezeichnet. Doch auch der Shabbat selbst bietet jedem Juden jede Woche aufs Neue die Chance auf eine ähnliche Glaubenserneuerung. Alarm scharf stellen Mit dem bevorstehenden Doppelpack an „Glaubens-Energiedrinks“ im Zielfernrohr, bleibt einem wohl nur noch die Arbeit an sich selbst, an den eigenen Unzulänglichkeiten, um sein G’ttesbewusstsein ein wenig auf Empfangsbereitschaft aufzupolieren. Eine gute Vorbereitung darauf ist sicherlich, den Chametz-Alarm scharf zu stellen und den Sedertisch so schön zu decken, dass sogar ein Kleinkind nur noch vom „groooßen Shabbes“ schwärmen möchte. Und mit Hashems Hilfe wird in dieser Nacht, die schon einmal eine Erlösung mit sich gebracht hat, auch der Grundbaustein für die zukünftige Erlösung gelegt werden. Sei es vorerst nur in unserem Inneren, oder sogar auf den sagenumwobenen Berggipfeln des „Har Zion“, Bimhera BeJamenu, Amen. www.derleiner.com 3