EU-Beitritt der Türkei – der Weg ist das Ziel

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EU-Beitritt der Türkei – der Weg ist das Ziel
24. August 2004
EU-Monitor
EU-Beitritt der Türkei – der Weg ist das Ziel
Die Beitrittsperspektive der Türkei konkretisiert sich. Anfang Oktober
wird die Europäische Kommission einen umfangreichen Bericht
vorlegen, der den politischen und wirtschaftlichen Reformprozess
beleuchtet. Er bildet die Basis für ihre Empfehlung an den Europäischen Rat, ob und wann die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
eröffnet werden können. Die Entscheidung darüber werden die
Staats- und Regierungschefs der EU-25 dann unter niederländischem Vorsitz auf dem Gipfel am 17./18. Dezember dieses Jahres
treffen.
Vermutlich wird der Europäische Rat, eine entsprechende Stellungnahme der Kommission vorausgesetzt, grundsätzlich der Aufnahme
der Verhandlungen zustimmen. Inwiefern diese Zusage mit weiteren
Konditionen verknüpft wird, die seitens der Türkei noch vor dem
tatsächlichen Verhandlungsbeginn erfüllt werden müssen, ist derzeit
offen. Sicher ist aber, dass dann kein weiterer Beschluss des Europäischen Rates erforderlich sein wird, sondern es der Kommission
obliegt, den Zeitpunkt der Verhandlungseröffnung zu bestimmen.
Selbst ein so konditioniertes „Ja“ im Dezember wäre für die Türkei
ein deutliches Zeichen für eine weitere Annäherung. Ungeachtet
grundsätzlicher Erwägungen, die von manchen gegen einen Beitritt
der Türkei vorgebracht werden, kann die EU schwerlich von ihrer
Beitrittszusage abrücken, ohne die eigene Glaubwürdigkeit zu beschädigen und weitreichende, nicht nur bilaterale Probleme zu
schaffen. Vorschläge über andere Formen der Zusammenarbeit
unterhalb der EU-Mitgliedschaft scheinen vor diesem Hintergrund
und jedenfalls zu diesem Zeitpunkt unrealistisch.1
Ausreichende Reformschritte?
Mit Blick auf die große Erweiterungsrunde nach der Öffnung Osteuropas hatte die EU auf dem Gipfel in Kopenhagen im Dezember
1993 Beitrittskriterien formuliert. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den politischen und den ökonomischen Voraussetzungen.
Während die politischen bereits erfüllt sein müssen, damit die Beitrittsverhandlungen überhaupt begonnen werden können, gilt dies
für die ökonomischen Kriterien erst zum Zeitpunkt des vorgesehenen tatsächlichen Beitritts. Eine konditionierte Zusage für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen würde also bedeuten, dass die
EU ihre Anforderungen an demokratisches und rechtsstaatliches
Handeln sowie die Achtung der Menschenrechte und Minderheitsgesetze in der Türkei noch nicht als ausreichend erfüllt ansieht und
weitere Verbesserungen einfordert. Dies dürfte angesichts der Reformfortschritte der türkischen Regierung vermutlich weniger eine
Frage der formalen Übernahme von Vorschriften sein, sondern mehr
noch ihrer Implementierung und Bewährung in der Praxis, die nur
langsam und uneinheitlich erfolgt.2 Das Europäische Parlament
weist in seinem jüngsten Bericht zudem darauf hin, dass die politischen Aufnahmebedingungen nicht schon erfüllt sind, wenn Einschränkungen in einem Kandidatenland verringert werden, sondern
dass die Kriterien nach „einer konsequenteren Auslegung verlan1
Vgl. „Privilegierte Partnerschaft. Die europäische Perspektive für die Türkei“, Beschluss der Präsidien der CDU und der CSU vom März 2004. Allerdings wird hier ein
schlüssiges Konzept geboten, wie die EU ihre Politik zu den Nachbarstaaten, die für
einen Beitritt nicht in Frage kommen, gestalten sollte. Die Mitteilung der Kommission
"Größeres Europa – Nachbarschaft: ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU
zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn" vom März 2003 enthält ähnliche Gedanken.
2
Vgl. Friedrich Ebert Stiftung (2004), Beitrittskandidat Türkei, Europäische Politik Arbeitspapier 16.
Economics
Selbst konditioniertes „Ja“ zu Verhandlungen wäre positives Signal
Die Kopenhagener Kriterien
Bereits 1993 verabschiedete der Europäische
Rat in Kopenhagen den Bedingungskatalog für
die Aufnahme neuer Beitrittskandidaten in der
EU. Dieser setzt sich aus politischen und
wirtschaftlichen Kriterien zusammen:
•
Institutionelle Stabilität als Garantie für
demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von
Minderheiten.
•
Eine funktionsfähige Marktwirtschaft,
die es erlaubt, dem Wettbewerbsdruck und
den Marktkräften innerhalb der Union
standzuhalten.
•
Übernahme der mit der Mitgliedschaft
verbundenen Verpflichtungen sowie Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion
Seit dem Gipfel von Helsinki (Dez. 1999) gilt,
dass nur die politischen Kriterien erfüllt sein
müssen, damit Verhandlungen aufgenommen
werden können.
3
EU-Monitor
gen“.3 Dies gilt um so mehr, wenn sich die EU zunehmend und explizit als Werte- und nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft begreift.
Die Kommission wird in ihrem Herbstbericht natürlich auch die wirtschaftlichen Fortschritte der Türkei bewerten, selbst wenn sie in
diesem Stadium nicht entscheidungsrelevant sind. Auch in wirtschaftlicher Sicht hat der Reformprozess weiter an Dynamik gewonnen, gleichwohl bleiben noch erhebliche Herausforderungen. Die
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei werden durch die Zollunion sowie die Beitrittspartnerschaft (seit März
2001) geprägt. Mit der Beitrittspartnerschaft werden bereits vor den
offiziellen Verhandlungen Prioritäten für die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes festgelegt, die dann mit der EUKommission koordiniert und damit verbundene Reformen durch
Finanzinstrumente der EU unterstützt werden.4 Durch diesen institutionellen und wirtschaftlichen Rahmen ist die Türkei zunehmend
enger an die EU herangerückt. Mehr als die Hälfte des türkischen
Außenhandels wird mit den Staaten der EU abgewickelt. Zu einer
vertieften Analyse der ökonomischen Situation siehe Beitrag
S. 11ff.
EU-Mitgliedschaft der Türkei polarisiert
Die Argumente für oder gegen eine prinzipielle EU-Mitgliedschaft
der Türkei sind aus früheren Debatten weitgehend bekannt.5 Selbst
eine tiefer gehende Analyse wird wohl kein objektiv „richtiges“ Ergebnis hervorbringen. Befürworter und Gegner eines Beitritts trennt
die unterschiedliche Gewichtung von kulturspezifischen Faktoren
sowie Kosten- und Nutzeneinschätzungen für die EU. Charakteristisch für die Debatte ist, dass sich die einzelnen Sachverhalte je
nach Sichtweise zum Pro- als auch als Contra-Argument eignen:
24. August 2004
Türkei und EU –
Stationen der Partnerschaft
Dezember 04
EU-25 entscheidet über Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
Oktober 04
EU-Kommission legt Strategiebericht vor
12.12.2002
EU konkretisiert Beitrittsperspektive
08.03.2001
Inkrafttreten der
EU-Beitrittspartnerschaft
10.12.1999
Türkei erhält in Helsinki
EU-Kandidatenstatus
12.12.1997
EU bietet Türkei spezielle
„Annäherungsstrategie“ an;
Türkei lehnt ab
01.01.1996
Zollunion tritt in Kraft
18.12.1989
Ablehnende Reaktion der EGKommission auf den Antrag
14.04.1987
Erster Antrag der Türkei auf
EG-Mitgliedschaft
01.12.1964
Assoziierungsabkommen
Türkei-EWG tritt in Kraft
Geographische Überlegungen. Ist die Türkei überhaupt ein europäischer Staat? Gegner des Beitritts argumentieren, dass der türkische
Beitritt einer geographischen Entgrenzung (immerhin liegen 95%
der Türkei in Kleinasien) Vorschub leisten würde, da dann auch
anderen außereuropäischen Staaten, z.B. im Mittelmeerraum, der
Beitritt nicht mehr grundsätzlich verweigert werden könnte (wie sich
dies in der Begründung für das abgelehnte EU-Mitgliedsgesuch
Marokkos wiederfindet). Die EU hat sich zudem spätestens mit der
Zuerkennung des Kandidatenstatus an die Türkei entschieden, den
Begriff des „europäischen Staates“, der in Art. 49 EU-Vertrag den
Beitritt regelt, nicht kulturell oder regional zu interpretieren, sondern
politisch, und ihn an die Bereitschaft gebunden, die in Art. 6 EUVertrag aufgeführten Grundsätze und Grundwerte der EU aktiv zu
vertreten.
Geographische Grenzen der EU …
Geostrategische Überlegungen. Die Befürworter eines Beitritts führen häufig sicherheitspolitisch-strategische Vorteile an. Mit der Türkei als Mitglied werde sich die nachhaltige Stabilisierung, einschließlich sicherheitspolitischer Operationen, im Nahen und Mittleren Osten sowie Zentralasien leichter gestalten. Umgekehrt gilt allerdings
auch, dass die EU im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch die vielfältigen Grenzen der Türkei zu instabi-
… beeinflussen geostrategische
Überlegungen
3
Das Europäische Parlament hat im März 2004 festgestellt, dass die Türkei die politischen Kriterien bisher nicht erfüllt. Es weist darauf hin, dass viele der jetzt beigetretenen Länder sich eine neue Verfassung gegeben haben, die als Ausgangspunkt der
Modernisierung von Gesellschaft und Staat diente und legt dies ausdrücklich auch der
Türkei nahe. Vgl. Europäisches Parlament, Plenarsitzungsdokument A5-0204/2004.
4
Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union, L 145/40, Juni 2003.
5
Für eine ausführliche Darstellung der Diskussion einschl. einer Vielzahl weiterführender Quellenangaben s. Heinz Kramer (2003), EU-kompatibel oder nicht?, Stiftung Wissenschaft und Politik, Studie 34.
4
Economics
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len Staatsgebilden sehr viel schneller in regionale Konflikte verwickelt werden und damit in ihrer Moderatorenrolle geschwächt werden könnte. Ungeachtet der außen- und sicherheitspolitischen Ambitionen der EU ist es fraglich, ob sich geopolitische Aspekte als
Leitmotiv zukünftiger Erweiterungen eignen – zumal es für diese Art
der Kooperation andere Zusammenschlüsse gibt.6
Kulturspezifische Überlegungen. Ein wesentliches Ausschlusskriterium für die Gegner eines Beitritts sind die Unterschiede in der Religion. Der Hintergrund des Christentums wird als identitätsstiftend für
die Europäische Union angesehen, da es die rechtlichen, philosophischen und politischen Traditionen in Europa begründet hat. Man
befürchtet nun, dass dies durch die Aufnahme eines bevölkerungsreichen Staates mit überwiegend muslimischer Bevölkerung in Frage gestellt werden würde. Als Zeichen mangelnder Vereinbarkeit
beider Kulturkreise wird auf das zunehmende Problem von Parallelgesellschaften muslimischer Einwanderer in Europa hingewiesen.
Die Befürworter wiederum erhoffen sich gerade von einer Aufnahme
der Türkei eine bessere Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Überspitzt formuliert soll die EU-Mitgliedschaft der
Türkei die These von einem „clash of civilizations“7 in der politischen
und wirtschaftlichen Realität widerlegen. Man muss allerdings fragen, ob es wirklich der türkischen Mitgliedschaft bedarf, um die Multikulturalität der EU nach innen und ihre Kooperationsbereitschaft
mit Ländern anderer Kulturkreise nach außen zu beweisen.
Mangelnde Vereinbarkeit der Kulturkreise?
Reformpolitische Überlegungen. Die Befürworter des Beitritts befürchten, dass eine Ablehnung der Türkei den Reformprozess zum Stocken,
wenn nicht Erliegen bringen würde und mit einer stärkeren Islamisierung des Landes zu rechnen wäre. Die EU-Mitgliedschaft als Flankierung von Reformprozessen spielte als Argument auch bei der Süd- und
Osterweiterung eine Rolle, wenngleich nicht mit der Intensität, wie es
beim Türkei-Beitritt gebraucht wird. Unterschwellig klingt so mit, dass
die Türkei nicht aus eigener Kraft zu einer nachhaltigen Modernisierung
ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung fähig sei. Die Gegner führen dagegen an, dass erst ein weitgehend abgeschlossener Reformprozess, v.a. im politischen und rechtlichen Bereich, die Gewähr für
eine konstruktive EU-Mitgliedschaft bietet. Die Erfahrungen mit dem
Zypernkonflikt zeigen in der Tat, dass man nicht leichtfertig auf das
Druckmittel des Beitritts als „Reformpeitsche“ verzichten sollte.
Türkische Reformpolitik bedarf des
EU-Ankers
Implikationen für die EU
Neben den vornehmlich politischen Beweggründen spielen in der
Debatte um die türkische Mitgliedschaft auch wirtschaftliche, finanzielle und institutionelle Überlegungen eine wichtige Rolle. Die langfristigen Chancen und Risiken der Mitgliedschaft hängen dabei stark
von der strukturellen Verfasstheit der türkischen Wirtschaft ab, die
derzeit noch beträchtlichen Reformbedarf aufweist: der hohe Anteil
der Landwirtschaft an der Beschäftigung (35% ggü. 3,4% in der EU15) und am BIP (12% ggü. 2%); das sehr niedrige Pro-KopfEinkommen (26% des EU-15-Durchschnitts in Kaufkraftparitäten)
bei gleichzeitig sehr großen regionalen Entwicklungs- und Einkommensunterschieden (West-Ost-Gefälle führt zu einem Pro-KopfEinkommen, das zwischen 41 und 7% des EU-Durchschnitts vari6
Die USA nehmen in dieser Frage eine sehr bequeme „Free-Rider-Position“ ein: Während die Aufnahme der Türkei für die EU mit massiven wirtschaftlichen und politischen
Integrationskosten verbunden wäre, würden die USA allein von der weiteren Stabilisierung eines wichtigen geopolitischen Partners profitieren. Das amerikanische Drängen
zeigt zudem, dass die USA den Charakter der Mitgliedschaft in der Europäischen Union nach wie vor nur ungenügend verstanden haben.
7
Samuel P. Huntington (1996), Kampf der Kulturen, München-Wien
Economics
Beträchtliche Strukturunterschiede
5
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iert) sowie das dynamische Bevölkerungswachstum (30% der türkischen Bevölkerung sind unter 15 Jahren ggü. 16% in Westeuropa).
Diese Unterschiede dürften sich im Zuge der weiteren Annäherung
an die EU und den damit begünstigten Strukturwandel verringern,
aber selbst bei einem Beitritt Mitte des nächsten Jahrzehnts noch
beträchtlich sein. Dementsprechend sind die Auswirkungen auf die
Agrar- und Strukturpolitik, die Entscheidungsprozesse der EUInstitutionen und auf die Frage der Freizügigkeit von Arbeitnehmern.
Gerade für eine auf Kosteneinsparung und Effizienz ausgerichtete
Neukonzeption der Strukturpolitik verschlechtern sich die politischinstitutionellen Rahmenbedingungen jedoch mit zunehmender Größe der EU. Die EU-Erweiterungen verlagern die politische Machtbalance hin zu den Kohäsionsländern (Mitgliedsländer mit einem
durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 90% des
EU-Durchschnitts). In einer EU-28 verfügten die derzeitigen Nettozahler (AT, BE, DE, GB, LU, NL, SE) nach den Regelungen der gerade verabschiedeten EU-Verfassung nicht einmal mehr über eine
Sperrminorität im Ministerrat.10 Die Bedeutung der Kohäsionsländer
in den europäischen Institutionen überzeichnet bei weitem ihre wirtschaftliche Bedeutung in der EU. Neben den möglicherweise problematischen Auswirkungen auf die Ausgabenpolitik der EU (die bereits unabhängig vom Beitritt der Türkei eintreten können) zeigen
sich Gegner der türkischen Beitritts ganz generell besorgt über das
institutionelle Gewicht, dass das ärmste und am wenigsten „europäische“ Mitgliedsland erhalten würde. Man sollte allerdings den Einfluss eines einzelnen, wenngleich großen Mitglieds in einem Verbund von 28 Staaten nicht überschätzen. In den ausbalancierten
8
W. Quaisser und A. Reppegather (2004), EU-Beitrittsreife der Türkei und Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft, Osteuropa-Institut München, Gutachten im Auftrage des
BMF, Working Paper Nr. 252. Die Autoren legen allerdings auch Szenarien zu einem
phasing-in der Finanztransfers vor, wie es im Rahmen der Osterweiterung für die direkten Einkommensbeihilfen in der Agrarpolitik vereinbart wurde.
9
Das DIW hat bereits im Vorfeld der Osterweiterung nachgewiesen, dass ökonomisch
sinnvolle Reformen der Strukturpolitik auch zu einer deutlichen Entlastung des EUHaushaltes führen. Vgl. C. Weise (2001), EU-Osterweiterung finanzierbar – Szenarien
für den EU-Haushalt 2007-2013, DIW-Wochenbericht 36/01.
10
Allerdings dürften bis dahin weitere Länder, u.a. Spanien und Irland, ebenfalls zu den
Nettozahlern gehören.
6
Economics
Budgetäre „Kostentreiber“ von Erweiterungen politisch steuerbar
Bedeutung der Kohäsionsländer 1
4
BIP
Ratsstimmen
Parlaments3
stimmen
2
3
(Anteile in % der jeweiligen EU)
Bevölkerung
Hinsichtlich der Budgetkosten, die die Aufnahme der Türkei verursachen würde, gibt es inzwischen verschiedene Schätzungen. So geht
das Osteuropa-Institut bei einer vollen Einbeziehung der Türkei in
die Agrar- und Strukturpolitik (100% der Direktzahlungen und 4%
des BIP entsprechend der vereinbarten Absorptionsgrenze) ab 2013
von rd. EUR 14 Mrd. p.a. aus. Die Türkei wäre damit der größte
Netto-Empfänger der EU.8 Diese und andere Schätzungen extrapolieren jedoch – notwendigerweise – den derzeitigen Status-quo und
führen nicht unbedingt zu belastbaren Ergebnissen.9 Die Gestaltung
der Agrar- und Strukturpolitik als „Kostentreiber“ von Erweiterungen
ist aber politisch steuerbar. Die Erfahrungen im Zusammenhang mit
der Osterweiterung stimmen allerdings nicht sehr zuversichtlich. Die
Agrarpolitik wurde – sieht man einmal vom längeren phasing-in der
Direktbeihilfen ab – praktisch unverändert auf die EU-25 übertragen.
Und im Vorfeld der neuen mittelfristigen Finanzplanung wird nun in
der Regionalpolitik darum gerungen, eine stärkere Fokussierung der
Finanzmittel auf die strukturschwächeren Regionen durchzusetzen.
Dennoch sollte klar sein, dass sowohl die Agrar- als auch die Regionalpolitik im nächsten Jahrzehnt und die Finanzplanung (ab 2013),
die dann den Anforderungen einer Türkei-Mitgliedschaft gerecht
werden müsste, in ihrer Konzeption nicht unverändert bleiben können.
EU-15, Jahr 2001
16,2 17,9 21,5
10,2
EU-25, Jahr 2004
29,9 36,1 42,1
14,3
EU-28, Jahr 2013
36,0 40,7 43,0
9,8
davon Türkei
14,2 11,2
3,0
1
7,8
Kohäsionsländer liegen unter der 90%-igen Einkommensschwelle der jeweiligen EU, gemessen am BIP/pro Kopf der
jeweiligen EU im angenommenen Jahr;
2
für 2013 mittlere Prognose der UN;
3
nach den Beschlüssen der Europäischen Verfassung;
4
für die Ermittlung der jeweiligen BIP-pro-Kopf-Einkommen
sowie des BIP wurden für die EU-15 ein 2%-iges, für die erste
Erweiterungsrunde ein 4%-iges und für die zweite Erweiterungsrunde ein 5%-iges reales Wachstum angenommen.
Quelle: Osteuropa-Institut; 2004
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Entscheidungsverfahren der EU wird auch die Türkei ihre Interessen
nur durch das Schmieden von Koalitionen und entsprechende Kompromissbereitschaft durchsetzen können.
Stärker noch als im Zusammenhang mit der Osterweiterung emotionalisiert die Perspektive umfangreicher Zuwanderung aus der Türkei
die Debatte. Dies gilt besonders für Deutschland, denn hier leben
2,5 der insgesamt 3,5 Mio Türken in der EU. Empirische Untersuchungen aus der Migrationstheorie belegen, dass sich Wanderungsströme stark an bestehenden Netzwerken orientieren. Angesichts des dynamischen Bevölkerungswachstums und des noch auf
Generationen hinaus deutlich niedrigeren Einkommensniveaus
könnte die Migration daher v.a. nach Deutschland einen beachtlichen Umfang erreichen.11 Allerdings werden auch für die Türkei
Übergangsregelungen die Freizügigkeit von Arbeitnehmern im Binnenmarkt beschränken, vermutlich bis über 2020 hinaus.12 Dann
aber werden die demographischen Probleme Europas und besonders Deutschlands offensichtlich sein. Während in Westeuropa das
Medianalter in 2020 bei 45 Jahren liegt, also jeder Zweite älter als
45 ist (Deutschland: 47), beträgt es in der Türkei 32 Jahre. Die Arbeitsmärkte in Europa und v.a. in Deutschland werden auf die Zuwanderung von (qualifizierten) Arbeitnehmern angewiesen sein. Um
Fehlanreize bei Wanderungen in einer immer größeren und heterogeneren EU zu vermeiden, sollten freilich die Regelungen für die
Inanspruchnahme von Sozialleistungen entsprechend angepasst
werden.13
Freizügigkeit von Personen führt zu
erheblicher Migration
Die Kopenhagener Kriterien:
Konkret und umfassend genug?
Mit Blick auf zukünftige Erweiterungen drängen sich hinsichtlich der
Kopenhagener Kriterien zwei grundsätzliche Überlegungen auf:
Zum einen, ob die Kriterien, v.a. die ökonomischen, ausreichend
operationalisiert sind und zum anderen, ob sie umfassend genug
sind, um die Aufnahmefähigkeit neuer Mitglieder tatsächlich befriedigend zu bewerten.
Selbst wenn die letzte Entscheidung zur Aufnahme politisch ist und
auch bleiben sollte, könnten verbindliche, von außen nachprüfbare
Standards politische Differenzen zwischen der EU und den Beitrittskandidaten mildern. Die letzte Erweiterungsrunde hat gezeigt, wie
schnell sich die Fremdeinschätzungen der Fortschritte mit der politischen Selbsteinschätzung einzelner Beitrittsländer stoßen können.
So bilden etwa die Maastrichter Kriterien eine (weitgehend) verbindliche, quantitative und nachvollziehbare Messlatte für die Aufnahme
in die Währungsunion.
11
(Quantitative) Maastricht-Kriterien
als Vorbild für messbare
Beitrittskriterien?
H. Flam (2003) geht von einem Anstieg der in Deutschland lebenden türkischen
Bevölkerung auf 3,5 Mio in 2030 aus. Vgl. Turkey and the EU: Politics and Economics
of Accession, CESifo Working Paper No. 893.
A. M. Lejour et al (2004) analysieren die Auswirkungen der Migration auf das Wachstum der Türkei, Deutschlands und der Niederlande. Vgl. Assessing the economic implications of Turkish accession to the EU, CPB Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis, Paper No. 56.
12
So kann man im Sinne einer stärkeren realen Konvergenz auch überlegen, die Herstellung der Personenfreizügigkeit an ein bestimmtes Entwicklungsniveau (BIP pro
Kopf) zu knüpfen, um den Migrationsdruck zu mindern.
13
So schlägt Prof. Sinn vor, bei Leistungen aus der Sozialversicherung das Ursprungslandprinzip für EU-Bürger einzuführen, d.h. EU-Ausländer würden auch in einem Mitgliedsland mit stärker ausgebautem Sozialstaat nur die Leistungen erhalten, auf die
sie in ihrem Heimatland Anspruch hätten.
Economics
7
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Die Tabelle auf dieser Seite zeigt, wie sich die Positionierung der EU
nach der jüngsten Erweiterungsrunde sowie der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien (2007) bei drei ausgewählten Indikatoren
ändert, die verschiedene Aspekte der (wirtschafts-)politischen Rahmensetzungen messen, einschließlich der Qualität von staatlichen
Institutionen und Rechtssystemen. Es ist nicht nur ein Absinken des
durchschnittlichen Wertes für die EU festzustellen, sondern der Abstand zwischen Spitzenreiter und Nachzügler im jeweiligen Ranking
vergrößert sich beträchtlich. Die Ergebnisse relativieren sich allerdings etwas, wenn man zwei Aspekte berücksichtigt, zum einen den
Bevölkerungsanteil, zum anderen die zeitliche Dimension. Werden
die Länderwerte mit der Bevölkerung gewichtet, so sinkt der Durchschnitt für die EU-25 z.B. beim Korruptionsindex nur auf 6,5 statt
5,8. Die reine Länderwertung erscheint jedoch gerechtfertigt, da sich
die meisten Indikatoren mehrheitlich auf Bedingungen beziehen, die
von staatlicher Seite gesetzt werden und sich dieses Politik- und
Gesellschaftsverständnis in der Haltung der Mitgliedstaaten bei Entscheidungen auch auf EU-Ebene widerspiegeln dürfte. Im Verlauf
der letzten Jahre haben sich die neuen Mitglieder auf vielen Feldern
verbessert. Die grundsätzliche Tendenz der Entwicklung verändert
dies jedoch nicht. Es stellt sich die Frage, ob neue Mitglieder nicht
mindestens den EU-Durchschnitt bei einzelnen Indikatoren erreichen sollten oder die Zielerfüllung einer bestimmten Ländergruppe
nicht unterschritten werden sollte, bevor ihnen die Beitrittsreife attestiert wird. Das jeweils politisch und/oder wirtschaftlich schwächste
EU-Mitglied als benchmark für Aufnahmekandidaten zu nehmen,
führt zu einer schleichenden Veränderung der EU, deren wesentliche Aufgabe dann zunehmend darin besteht, nachhaltige Konvergenzprozesse einzuleiten. Die benchmark der EU selbst – die USA
– rückt in immer weitere Ferne.
Die Erweiterungen der EU
Von 6 auf 9 Mitglieder (IE,
31% 32%
GB, DK)
29%
Von 9 auf 12 Mitglieder
48% 22%
(GR, ES, PT)
15%
Von 12 auf 15 (SE, FI, AT)
7,5%
37%
Von 25 auf 27 (RO, BU,
voraussichtlich 2007)
9%
7%
1%
Türkei (TR)
18% 15%
3%
EU ändert sich in Qualität und Heterogenität
Wirtschaftliche
Makroökonomische
Freiheit*
Wettbewerbsfähigkeit**
7,4
Spitzenreiter
Korruptionsindex*
19
7,7
UK
8,2
FI
1
FI
9,7
F
6,8
IT
41
GR
4,3
Spitzenreiter
UK
8,2
FI
1
FI
9,7
Nachzügler
SI
6,2
PL
45
PL
3,6
Spitzenreiter
UK
8,2
FI
1
FI
9,7
Nachzügler
RO
5,4
RO
75
RO
2,8
Nachzügler
EU-25
7,1
EU-27
Türkei
25
6,1
5,8
28
5,5
4,5
65
* 10 = hohe Freiheit, keine Korruption 0 = geringe Freiheit, hohe Korruption ** Rangliste 1 - 102
Quellen: Transparency International Corruption Perceptions Index 2003; The Frazer Institute, Economic Freedom of the world: 2004 Annual Report;
World Economic Forum, World Competitiveness Report 2003-2004; eigene Berechnungen
gen. In jüngerer Zeit wurde diese Frage insbesondere im Zusammenhang mit der Erweiterung der Währungsunion um die neuen
EU-Mitglieder diskutiert. Aber auch für die „normale“ Mitgliedschaft
in der EU und die Teilnahme am gemeinsamen Markt dürften ein
8
Economics
7%
Von 15 auf 25 (HU, PL, SI,
23% 20% 4,4%
SK, LT, LV, EE, CY, MT)
Ähnliches gilt auch für Überlegungen, bei künftigen Erweiterungsrunden den Aspekt der realen Konvergenz stärker zu berücksichti-
EU-15
BIP (nom.)
Erweiterungsrunde
Bevölkerung
Fläche
Zunahme von
3,1
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gewisses Entwicklungsniveau der Wirtschaft und der Institutionen
und Verwaltungen eines Landes unerlässlich sein. Dabei geht es
weniger um die Konsequenzen für die ausgabewirksamen Politiken
der EU (Agrar- und Strukturpolitik). Wichtiger sind die Anforderungen, die der gemeinsame Besitzstand stellt, der mit seinen hohen
Standards, u.a. für Umwelt- und Verbraucherschutz, für eine relativ
homogene, gut entwickelte Ländergruppe ausgelegt ist (diese sollten allerdings aus gutem Grund selbst ohne Erweiterung hinterfragt
werden). Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Regelungen, konstituierendes Prinzip des gemeinsamen Binnenmarktes,
wird gefährdet, wenn Defizite in Verwaltung und Gerichtsbarkeit
offensichtlich sind und damit das wichtige „Gemeinschaftsgut“ der
Rechtssicherheit und -gleichheit nicht mehr gewährleistet werden
kann.14
Mitgliedschaft in der EU erfordert
gewisses reales Entwicklungsniveau
Gleichzeitig verursacht die Erfüllung dieser Anforderungen bei den
Unternehmen und wegen umfangreicher Kontrollpflichten auch beim
Staat erhebliche Kosten, die einen zügigen Aufholprozess dieser
Länder belasten.15 Dazu kommt, dass erfolgreiche Aufholprozesse
in der Wirtschaftsgeschichte – von Deutschland und Japan bis zu
den südostasiatischen Tigerstaaten – meist von einer sehr aktiven,
Außenhandel und Kapitalallokation beeinflussenden Wirtschaftspolitik getrieben wurden, die mit einer EU-Mitgliedschaft nicht vereinbar
sind. Innerhalb der EU dagegen ist zwar bei den ärmeren Mitgliedsländern ein Aufholprozess zu beobachten, der aber sehr unterschiedlich verläuft. So kam selbst das irische „Wirtschaftswunder“
erst nahezu zwanzig Jahre nach dem Beitritt richtig in Schwung. Bei
wirtschaftsschwachen Regionen ist dagegen aufholendes Wachstum nur eingeschränkt festzustellen. Zum Teil vergrößern sich die
regionalen Disparitäten sogar.16
Acquis der EU kann Aufholprozess
schwächerer Mitglieder bremsen
Schließlich muss man die Frage stellen, ob in einer Europäischen
Union, deren Mitglieder ein sehr heterogenes wirtschaftliches Entwicklungsniveau aufweisen, noch genügend gemeinsame Interessen gegeben sind, um eine kohärente gemeinschaftliche Politik zu
verfolgen. Immerhin verlangen die Kopenhagener Kriterien ja auch,
bei der Aufnahme neuer Mitglieder „die Stoßkraft der europäischen
Integration zu erhalten“.
Fazit
Unter der Regierung Erdogan sind umfangreiche Reformen eingeleitet worden. Die EU-Kommission wird beurteilen müssen, ob sie befriedigend umgesetzt wurden und/oder ob weitere Reformschritte
notwendig sind, um die politischen Aufnahmekriterien zu erfüllen.
Dementsprechend können dann Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Eine Aussage über die letztendliche Beitrittsfähigkeit
der Türkei ist damit noch nicht getroffen, denn mit den Verhandlungen ist kein Automatismus verbunden. Erst im Zeitablauf wird sich
zeigen, ob sich bestehende Auffassungsunterschiede in einzelnen
Bereichen klären lassen und inwiefern sich die Souveränitätsvorstellungen der Türkei mit den Anforderungen einer Mitgliedschaft in
14
Als Konsequenz sieht Martin Seidel mittelfristig den „… Übergang zur Durchführung
des Rechts und der Politik der Gemeinschaft durch eigene Behörden in Form eines
eigenen Verwaltungsunterbaus und einer eigenen dezentralen Gerichtsbarkeit.“ In:
Nach Nizza und Stockholm: Stand des Binnenmarktes und Prioritäten für die Zukunft,
ZEI Policy Paper, Bonn 2003.
15
Cato Institute (2003), EU Enlargement: Costs, Benefits, and Strategies for Central and
Eastern European Countries, Policy Analysis No. 489.
16
Vgl. dazu u.a. Annekatrin Niebuhr, Friso Schlitte (2004), Convergence, Trade and
Factor Mobility in the European Union – Implications for Enlargement and Regional
Policy, in: Intereconomics, Vol. 39, No. 3.
Economics
Erfüllung der politischen Kriterien
nicht nur auf dem Papier
9
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einer supranationalen Gemeinschaft verbinden lassen. Gerade der
Aspekt der Souveränitätsübertragung und -teilung wird von den
meisten Beitrittskandidaten in seiner Bedeutung unterschätzt.
Unabhängig vom Ausgang der Beitrittsverhandlungen dürfte aber
bereits der Prozess selbst zu einem gewissen beiderseitigen Vorteil
werden. Aus türkischer Sicht würde der Reformkurs zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft weitere (auch finanzielle) Unterstützung erfahren. Für die EU ergäben sich neben positiven wirtschaftlichen Perspektiven auch die Aussichten, politische Stabilität
und Sicherheit in ihrem unmittelbaren regionalen Umfeld weiter zu
stärken.
Was die institutionellen und finanziellen Implikationen des TürkeiBeitritts angeht, so kann eigentlich nur – fundiert – spekuliert werden. Angesichts eines Zeithorizonts von einem Jahrzehnt oder mehr
ist davon auszugehen, dass sich die EU in Gestalt und Zusammensetzung erheblich verändert haben wird. Die Szenarien reichen dabei von einer Regression zur einer Zollunion „de luxe“ über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten unter einem Dach bis
zur Bildung eines voll integrierten, föderalen Europas – wobei letzteres auch nur für eine Kerngruppe von Staaten mit dann eigenen,
vom Rest der EU unabhängigen Institutionen denkbar wäre. Wo und
wie sich die Türkei in das zukünftige europäische Gebilde einfügt,
wird man dann sehen müssen.
Barbara Böttcher, +49 69 910-31787 ([email protected])
10
Economics
Gestalt der EU zum Zeitpunkt des
Türkeibeitritts offen