Anton Tschechow Onkel Wanja
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Anton Tschechow Onkel Wanja
Anton Tschechow Onkel Wanja („Djadja Wanja“) Aus dem Russischen von Elina Finkel (c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2014. Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Alte Jakobstraße 85/86 10179 Berlin [email protected] Tel.: 030 - 4431 8888 PERSONEN Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow, emeritierter Professor. Jelena Andrejewna, seine Frau, 27 Jahre alt. Sophia Alexandrowna (Sonja), seine Tochter seiner ersten Frau. Marija Wassiljewna Woinitzkaja, Witwe eines Geheimrates, Mutter der ersten Frau des Professors. Iwan Petrowitsch Woinitzki, ihr Sohn. Michail Lwowitsch Astrow, Arzt. Ilja Iljitsch Telegin, verarmter Gutsbesitzer. Marina, altes Kindermädchen, Tantchen genannt. Arbeiter. Die Handlung spielt auf dem Gut Serebjakows. 1. AKT Ein Garten. Man sieht einen Teil des Hauses mit der Terrasse. Unter einer alten Pappel ein gedeckter Teetisch. Bänke, Stühle, eine Gitarre auf der Bank. Etwas abseits eine Schaukel. Drei Uhr nachmittags. Trübes Wetter. Marina, eine dicke, alte Kinderfrau sitzt am Tisch und strickt einen Strumpf. Astrow. Marina schenkt Tee ein Trink den Tee. Astrow Ich mag nicht. Marina Lieber ein Gläschen Wodka? Astrow Nein. Ich trink nicht jeden Tag. Außerdem ist es zu schwül. Marina, wie lange kennen wir uns? Marina Wie lange? Lass mich überlegen ... Du kamst wann in die Gegend ... ? Vera Petrowna, Sonjas Mutter, war noch am Leben ... da hast du uns schon zwei Winter lang besucht ... Na also, so elf Jahre werden es sein ... Denkt nach Vielleicht auch länger ... Astrow Habe ich mich sehr verändert? Marina Und wie! Damals warst du jung, warst hübsch ... und jetzt bist du alt geworden. Die Schönheit ist auch verflogen. Kein Wunder, bei der Sauferei! Astrow Tja ... In den zehn Jahren bin ich ein anderer Mensch geworden. Und warum? Ich bin völlig überarbeitet ... Von morgens bis abends auf den Beinen, keine ruhige Minute, und nachts liege ich wach aus Angst, zu einem Kranken geschleppt zu werden. Seit Ewigkeiten schon keinen einzigen freien Tag ... Kein Wunder dass man da vor der Zeit alt wird ... Und das Leben hier ist auch nicht gerade berauschend ... Öde und langweilig ... Frisst einen langsam auf, so ein Leben... Um einen rum sind nur Spinner, komplette Spinner, und langsam und unmerklich, unabwendbar, wird man eben auch zum Spinner ... Fasst sich an den Schnurrbart Ich bin ein Spinner! Was man deutlich an diesem idiotischen Schnurrbart sehen kann ... Noch nicht ganz und gar verblödet, aber völlig abgestumpft ... Will nichts, brauch nichts, lieb keinen ... Außer ... Küsst sie auf den Kopf ... ich hatte früher auch so eine Amme wie dich. Marina Willst du was essen? 5 Astrow Nein. Letztens, in der Fastenzeit, wurde ich nach Malitzkoje gerufen ... Fleckentyphus ... Alle liegen flach ... unvorstellbarer Dreck, Gestank ... in den Hütten Mensch und Vieh durcheinander ... hab den ganzen Tag geackert, nichts gegessen, keine Pause ... und zu Hause konnte ich nicht mal durchatmen – kaum angekommen packen die mir einen auf den Tisch. Not OP. Und der stirbt mir bei der Narkose unter den Händen weg ... Das hat mir zu schaffen gemacht ... Plötzlich bekam ich Gewissensbisse ... Als hätte ich ihn absichtlich sterben lassen ... Und da dachte ich so – ob die, die in hundert- zweihundert Jahren nach uns leben werden, und für die wir uns hier schinden, ob die sich wohl an uns erinnern werden? Ob die ein gutes Wort über uns verlieren? Marina Die Menschen nicht. Aber Gott! Astrow Das hast du gut gesagt. Danke. Woinitzki kommt aus dem Haus. Er hat geschlafen und ist jetzt ganz verknittert. Er setzt sich auf die Bank und richtet seine modische Krawatte. Woinitzki Ja ... Pause. Ja ... Astrow Ausgeschlafen? Woinitzki Ja ... Ziemlich ... Gähnt Seit der Professor samt Gattin hier weilt, gehts drunter und drüber ... Ich schlafe zu den unmöglichsten Zeiten, esse komisches Zeugs und trinke wie ein Loch ... Nicht sehr gesund das alles ... Früher haben Sonja und ich uns nicht die kleinste Pause gegönnt, haben durchgearbeitet ... und jetzt? Sonja schuftet, und ich mach mir einen lauen Lenz ... Esse, trinke, schlafe ... Mist ist das! Marina Sitten sind das! Der Professor schläft bis zwölf, und alle warten auf ihn ... Sonst aßen wir um die Zeit schon Mittag, aber er beliebt da erst seinen Tee zu nehmen ... und gegessen wird dann um sieben. Nachts liest er oder schreibt, und um zwei Uhr darf man dann wieder den Tee servieren ... Alle sind dann wach, laufen rum ... Sitten sind das! Astrow Bleiben die lange? Woinitzki pfeift Hundert Jahre. Der Professor nistet sich hier ein. 6 Marina Seit zwei Stunden gehen die jetzt spazieren, und wir warten und warten ... Woinitzki Reg dich ab, da kommen sie schon ... Stimmen sind zu hören. Aus dem Garten kommen, nach einem Spaziergang, Serebrjakow, Jelena Andrejewna, Sonja, Telegin. Serebrjakow Grandios, Grandios ... Eine grandiose Aussicht, die sich da bietet. Telegin Die allerschönste, Exzellenz. Sonja Und morgen fahren wir zur Försterei. Willst du, Papa? Woinitzki Der Tee wird kalt ... Serebrjakow Ihr Lieben, bringt mir bitte den Tee aufs Zimmer, seid so gut! Ich habe noch zu tun. Sonja Dort wird es dir bestimmt gefallen ... Serebrjakow, Jelena Andrejewna und Sonja gehen ins Haus, Telegin setzt sich zu Marina an den Tisch. Woinitzki Es ist heiß und schwül, aber unser großer Gelehrter läuft rum wie im tiefsten Winter. Astrow Er gibt eben auf sich Acht. Woinitzki Und ist sie nicht schön? So schön! Ich hab in meinem Leben keine schönere Frau gesehen. Telegin Ob ich übers Feld fahre, ob ich im Schatten der Bäume spaziere, ob ich das alles hier betrachte – ich empfinde einen tiefen Frieden! Das Wetter ist herrlich, die Vöglein zwitschern, wir leben alle im besten Einverständnis – was will man mehr? Nimmt ein Glas mit Tee Allerherzlichsten Dank. Woinitzki schwärmerisch Und diese Augen ... Was für eine Frau ... Astrow Erzähl mal was, Wanja. Woinitzki träge Was soll ich denn erzählen? Astrow Gibts nichts Neues? 7 Woinitzki Nichts. Alles beim Alten. Ich bin immer noch der, der ich war. Abgesehen davon dass ich stinkfaul geworden bin und nur noch vor mich hin mosere. Und Maman, die alte Dohle, steht zwar schon mit einem Bein im Grab, quasselt aber immer noch munter irgendwas über Frauenemanzipation und sucht in ihren schlauen Aufklärungsbroschüren nach der Weisheit letztem Schluss. Astrow Und der Professor? Woinitzki Und der Professor sitzt von früh bis spät nur rum und tut nichts anderes als schreiben. „Die Stirn in Falten, die Feder griffbereit, schreiben wir Oden um Oden - doch vor Missgunst und Neid schwellen uns die ... Mandarinen.“ Papierverschwendung! Der sollte lieber seine Memoiren schreiben ... Was für ein Leben! „Ein Professor im Ruhestand!“ Dieser Zwieback, diese alte kranke rheumageplagte gichtige Mumie ... Hat sich hier breitgemacht auf dem Gut seiner ersten Frau, auch noch widerwillig, denn – „das Stadtleben können wir uns nicht mehr leisten, mein Lieber ...“ Dauernd nörgelt er an allem und jedem rum und beklagt sein Unglück! Nervös Was denn für ein Unglück? Schau ihn dir doch an ... Was war er denn ...? Der Sohn eines kleinen Pfarrers, der eine unglaubliche Karriere hingelegt hat ... Ein Gelehrter, ein Professor, Schwiegersohn eines Senators, Exzellenz usw. usw. usw. Aber darum geht es ja nicht ... Das ist unwichtig ... Es geht um Folgendes: Seit fünfundzwanzig Jahren doziert er über Kunst, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben. Fünfundzwanzig Jahre kaut er fremdes Gedankengut wider, über Realismus, Naturalismus und sonstigen Mus! Fünfundzwanzig Jahre schreibt er über Sachen, die intelligente Menschen sowieso schon wissen und andere nicht interessiert: Also drischt er seit fünfundzwanzig Jahren nur leeres Stroh! Aber mit was für einer Selbstverständlichkeit! Mit was für hehren Ansprüchen! Jetzt ist er im Ruhestand und kein Hahn krächzt nach ihm, er ist vollkommen unbekannt – das heißt, fünfundzwanzig Jahre nahm er einen Platz im Leben ein, der ihm nicht zustand! Und stolzierte dabei rum wie ein Halbgott! Astrow Neidisch? Woinitzki Natürlich! Sieh dir doch seinen Erfolg bei den Frauen an! Casanova würde vor Neid erblassen! Meine Schwester, seine erste Frau, so zart und rein wie der wolkenlose Himmel, sie hatte mehr Verehrer als er jemals Schüler – hat ihn besinnungslos geliebt, wie man nur lieben kann. Maman verehrt ihn noch heute über alle Maße. Und seine jetzige Frau, intelligent, schön – seht sie doch an – hat ihn geheiratet als er schon ein alter Sack war und 8 ihm alles geopfert! Jugend, Schönheit, Freiheit! Natürlich bin ich neidisch! Astrow Ist sie ihm treu? Woinitzki Ja. Leider. Astrow Wieso leider? Woinitzki Weil diese Treue nichts als Heuchelei ist! Einen alten Mann betrügen, den man nicht ausstehen kann – oh nein, das darf man nicht, aber die eigene Jugend und Lebenslust in sich ersticken das darf man! Telegin weinerlich Wanja, ich kann das nicht leiden, wenn du so redest. Woinitzki genervt Halts Maul, Streuselkuchen! Telegin Erlaube mal! Meine Frau ist einen Tag nach unserer Hochzeit mit ihrem Geliebten abgehauen. Ich war ihr zu hässlich. Trotzdem liebe ich sie noch immer und habe mein ganzes Vermögen für sie und ihre Kinderchen ausgegeben. Weil es meine eheliche Pflicht ist. Ich bin unglücklich aber ich habe meinen Stolz! Und was hat sie? Die Jugend ist dahin, die Schönheit beugte sich den Naturgesetzen und verschwand, und der Liebhaber ist tot ... So kann es gehen! Ehrlich mal ... Wer seinen Ehepartner betrügt, der verrät irgendwann auch das Vaterland ... Sonja. Jelena Andrejewna. Etwas später Marija Wassiljewna mit einem Buch; sie setzt sich hin und liest, man reicht ihr Tee, sie trinkt automatisch. Sonja zur Amme Da sind Bauern gekommen ... Kümmere du dich um sie, ich mach den Tee ... Gießt Tee ein. Die Amme geht. Jelena Andrejewna setzt sich mit ihren Tee auf die Schaukel. Astrow Eigentlich wollte ich zu Ihrem Mann. Sie schrieben doch, dass er Rheuma und sonst was hat, aber er scheint mir kerngesund. Jelena Andrejewna Gestern Abend klagte er über Schmerzen in den Beinen, aber heute scheint alles wieder gut zu sein ... 9 Astrow Und ich rase wie ein Wilder her. Na, macht nichts. Dafür übernachte ich dann hier und schlafe mich Quantum satis aus ... Sonja Wie schön! Das ist so selten, dass Sie über Nacht bleiben. Sie haben sicher noch nichts gegessen? Astrow Nein. Sonja Umso besser. Wir essen neuerdings um sieben. Trinkt Der Tee ist kalt. Telegin Die Temperatur im Samowar ist auch beachtlich gefallen. Jelena Andrejewna Das macht nichts, Iwan Iwanitsch, dann trinken wir den Tee kalt. Telegin Entschuldigung ... Nicht Iwan Iwanitsch, sondern Ilja Iljitsch. Ilja Iljitsch Telegin, oder, wie ich wegen der Narben im Gesicht von einigen gerufen werde – Streuselkuchen. Ich bin Sonjas Patenonkel und Ihr Gatte kennt mich recht gut. Falls Sie sich erinnern wollen – ich wohne ebenfalls hier und speise mit Ihnen Tag für Tag. Sonja Und Ilja Iljitsch ist uns eine große Hilfe. Sozusagen unsere rechte Hand. Zärtlich Geben Sie her, Onkel, ich gieße nach. Marija Wassiljewna Oje! Sonja Was ist, Großmutter?! Marija Wassiljewna Wo ist nur mein Kopf ... ich vergaß Alexander zu erzählen ... heute kam Post aus Charkow, von Pawel Alexejewitsch. Seine neueste Abhandlung. Astrow Spannend? Marija Wassiljewna Spannend, aber auch merkwürdig. Er behauptet jetzt genau das Gegenteil von dem, wofür er sich vor sieben Jahren eingesetzt hat. Das ist doch entsetzlich! Woinitzki Was ist denn daran entsetzlich? Trinken Sie lieber Ihren Tee, Maman! Marija Wassiljewna Aber ich will jetzt reden! 10 Woinitzki Wir tun doch seit fünfzig Jahren nichts anderes als reden, reden, Abhandlungen lesen, wieder reden ... Irgendwann muss doch mal Schluss sein. Marija Wassiljewna Immer willst du mir den Mund verbieten. Ich muss schon sagen. Verzeih, aber im letzten Jahr hast du dich so verändert, dass ich dich nicht wiedererkenne ... Du warst doch immer ein Mensch mit klaren Überzeugungen, eine strahlende Persönlichkeit ... Woinitzki O ja! Eine strahlende Persönlichkeit, die niemanden erleuchtet ... Pause Strahlende Persönlichkeit ... Dass ich nicht lache! Bis vor kurzem habe ich, genauso wie Sie, absichtlich meine Augen vor der Welt verschlossen und mich hinter irgendwelchen Abhandlungen verschanzt – und fand es völlig in Ordnung! Aber jetzt, wenn ihr nur wüsstet ... ich kann nachts vor lauter Wut nicht schlafen, bei dem Gedanken daran, wie ich mein Leben verplempert habe! Ich hätte alles haben können, doch mit siebenundvierzig bin ich zu alt für einen Neuanfang! Sonja Onkel Wanja, das ist langweilig. Marija Wassiljewna Daran sind doch nicht deine Überzeugungen schuld, sondern du alleine ... Überzeugungen sind nichts, nur leere Worthülsen, wenn man ihnen nicht Taten folgen lässt. Woinitzki Was für Taten? Es kann ja nicht jeder ein schreibendes Perpetuum mobile sein, wie Ihr heißgeliebter Herr Professor! Marija Wassiljewna Was soll denn das nun wieder? Sonja flehend Großmutter! Onkel Wanja! Ich bitte euch! Woinitzki Ich schweige. Ich schweige und bitte um Verzeihung. Pause. Jelena Andrejewna Schönes Wetter heute ... nicht zu heiß ... Pause. Woinitzki Genau das richtige Wetter, um sich aufzuhängen ... Telegin stimmt seine Gitarre, Marina ruft nach den Hühnern. Marina Puttputtputt ... Sonja Was wollten die Bauern? 11 Marina Wie immer, wegen dem Brachland. Puttputtputt ... Sonja Was machst du da? Marina Die bunte Henne und ihre Küken sind verschwunden. Nicht, dass die Krähen sie holen ... Ab. Telegin spielt eine Polka. Alle hören schweigend zu. Ein Arbeiter kommt. Arbeiter Ist der Herr Doktor hier? Zu Astrow Bitte sehr, Michail Lwowitsch, Sie werden gebraucht. Astrow Wo? Arbeiter In der Fabrik. Astrow Na herzlichen Dank! Dann muss ich wohl ... Sonja Wie schade ... Kommen Sie doch danach wieder her ... Astrow Ach was, das wird viel zu spät ... Na was solls ... Zum Arbeiter So, mein Lieber, du hol mir mal einen Wodka ... Arbeiter ab. Na was solls. Bei Ostrowski gibts so einen Menschen – großer Schnurrbart, kleines Talent ... Das bin ich ... Habe die Ehre, Herrschaften ... Zu Jelena Andrejewna Besuchen Sie mich doch mal, zusammen mit Sofja Alexandrowna, ich würde mich sehr freuen ... Mein Anwesen ist nicht groß, aber einen schöneren Garten und eine bessere Baumschule finden Sie in der ganzen Umgebung nicht. Falls Sie das überhaupt interessiert. Sie können sich auch den Staatsforst ansehen, um den kümmere ich mich ebenfalls, seit der Förster krank ist. Jelena Andrejewna Ja, man hat mir schon berichtet, dass Sie den Wald sehr lieben. Das mag ehrenhaft und nützlich sein, aber lenkt es Sie nicht zu sehr von Ihrer eigentlichen Bestimmung ab? Sie sind doch Arzt? Astrow Weiß der Himmel was unsere Bestimmung ist! Jelena Andrejewna Ist es denn interessant? Astrow Sehr interessant! 12