Heft - Wir arbeiten für Ihr Leben gern.
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Heft - Wir arbeiten für Ihr Leben gern.
Das Patientenmagazin Ausgabe Nr. 1 / 2015 SC H W ZEIT TV-Urgestein Hugo Egon Balder im Interview 1 E R PU N KT » Wir lernen für Ihr Leben gern.« Jessica Grafe und Leandra Zierau, MEDIZINSTUDENTINNEN Wir niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten möchten unsere Patienten auch in Zukunft auf höchstem Niveau versorgen. Deshalb kümmern wir uns schon heute um qualifizierten Nachwuchs für unsere Praxen. Erfahren Sie mehr über Studium und Ausbildung Ihrer Haus- und Fachärzte von morgen auf2 www.ihre-aerzte.de VORWORT Haben Sie kurz W Zeit? enn ja, dann haben wir ein ganzes Heft davon: Die erste Ausgabe des neuen Magazins enthält viel Unterhalt sames, Informatives und Überraschendes zu diesem Thema – denn für die meisten von uns scheint im Alltag nichts ein so knappes Gut zu sein wie die Zeit. Zum Beispiel im Alltag von Ärzten und Psychotherapeuten (ab Seite 12). Und zwar so sehr, dass sie zwischen Sprechstunden, Hausbesuchen, Operationen, Fortbildungen und Papierkram ihren eigenen ärztlichen Rat nicht immer befolgen. Auf den Seiten 18 und 19 haben wir dabei übrigens nur so getan, als würden wir gegen Verkehrsregeln verstoßen. Aber sehen Sie selbst. Ab Seite 20 gehen wir dem „ewigen Rätsel“ auf den Grund, was Zeit eigentlich ist. Warum wir sie speziell beim Arzt mit Warten verbringen müssen, erklärt auf Seite 25 einer, der es wissen muss: Dr. Andreas Gassen, niedergelassener Orthopäde und Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Dass sich Zeiten ändern und warum es früher mehr Freiheiten gab, verrät Hugo Egon Balder im großen Interview. Das TV-Urgestein gibt ab Seite 26 tiefe Einblicke in seine ereignisreiche berufliche Laufbahn. Doch selbst der 65-Jährige ist im Vergleich zu Filmpersönlichkeiten wie Johannes Heesters, Hans Albers und Heinz Rühmann, die der Kostümbildner Wolf Leder in seiner langjährigen Karriere eingekleidet hat, ein junger Hüpfer. Leder ist einer von hundert 100-Jährigen, die der Fotograf Andreas Labes porträtiert hat. Wir zeigen ab Seite 32 fünf dieser Geschichten und die Gesichter, in denen sich ein ganzes Jahrhundert spiegelt. Für Dr. Stefan Hertl zählt hingegen der Moment – besonders, wenn der Mannschaftsarzt des Fußball-Bundesligisten Borussia Mönchengladbach sofort zur Stelle ist, sobald die Wade eines Spielers zwickt. Ab Seite 40 erzählt er, warum ihm trotz der Freude am Fußball die Arbeit in der Praxis wichtiger ist. Für Patienten war die Arztpraxis übrigens nicht immer ein wohlbekannter Ort verlässlicher Diagnosen. Ab Seite 54 werfen wir einen Blick in die Geschichte des heutigen Hausarztes und auf die Entwicklung medizinischer Methoden. Gut, dass es heute viel einfacher ist, gesund zu leben – auch wenn viele Apps für Smartphones und Tablets das Streben nach Gesundheit mit strikten Tagesplänen genau durchorganisieren (Seite 58). Im Gegensatz dazu geht es in einer Wohngemeinschaft gemeinhin eher locker zu. Das gilt auch, wenn die Bewohner gar keine Studenten sind, sondern an Demenz leiden. Mehr dazu lesen Sie ab Seite 44. Doch „Zeit“ ist erst der Anfang. Oder anders gesagt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Deshalb werden Sie unserem Magazin ab jetzt regelmäßig im Wartezimmer begegnen. Wir wünschen Ihnen eine unterhaltsame Lektüre – und eine gute Zeit. 3 VORSCHAU WARTEZIMMER Heute ist alles besser Wer sich krank fühlt, geht zum Arzt – zum Hausarzt. Doch das war nicht immer so. Die Geschichte der Arztpraxis – Seite 54 SPRECHZEIT HEILKUNDE SCH W ZEIT E R PUN KT Sagen Sie mal „Aah!“ Das ewige Rätsel Was an Arztwitzen so lustig ist, bei welchem Gericht Sie so richtig viel Zeit mitbringen müssen und welche Fragen Sie beim nächsten Arztbesuch unbedingt stellen sollten – Seite 6 Die Zeit ist ein Phänomen: Alle richten sich nach ihr. Doch keiner weiß wirklich, was sie eigentlich ist. Eine Annäherung – Seite 20 Der Fotograf Andreas Labes hat 100 Hundertjährige porträtiert und zu ihrem Leben befragt. Wir zeigen seine Bilder und erzählen ihre Geschichten – Seite 32 Wie die Uhr tickt Warum warten? Warum die Jahre vieler Tiere kürzer sind als die der Menschen, wer das schnellste Tor der DFB-Geschichte erzielte, wie viele Kinder in Deutschland geboren werden und warum sich Ärzte mehr Zeit für Patienten wünschen – Seite 8 Dr. Andreas Gassen spricht im Interview über das Warten beim Arzt – und warum es einfach nicht vermeidbar ist – Seite 24 Sprechstunde? Samstags um halb vier! Mannschaftsarzt des Bundesliga-Vereins Borussia Mönchengladbach und gleichzeitig niedergelassener Orthopäde – wie das geht, erzählt Dr. Stefan Hertl im Interview – Seite 40 TV-Ärzte im Zeitraffer George Clooney, Diana Amft und Co. – seit dem Start der ersten deutschen Arztserie im Jahr 1967 ist viel passiert. Eine kleine Auswahl berühmter „Götter in Weiß“ der Fernsehgeschichte – Seite 10 So nicht, Herr Doktor Stress ist nicht gut für die Gesundheit. Doch manchmal fällt es selbst Ärzten schwer, ihren eigenen Rat zu beherzigen – Seite 12 4 100 Jahre Zeit Das geheime Leben der Zimmerpflanzen Pflanzen in der Arztpraxis müssen ohne viel Pflege auskommen. Die beliebtesten Gewächse fürs Wartezimmer und ihre Ansprüche – Seite 50 Gesundheit „to go“ Wer gesund bleiben will, muss etwas dafür tun. Doch viele Apps für Smartphones und Tablets verwandeln das Streben nach Gesundheit in ein Pflichtprogramm. Muss das sein? – Seite 56 Erkennen Sie die inneren Werte? Beweisen Sie Ihr Wissen über die menschlichen Organe – Seite 58 Morgen wird wie heute sein In einer Wohngemeinschaft geht es gemeinhin locker zu. Das gilt auch, wenn die Bewohner gar keine Studenten sind, sondern an Demenz leiden. Eine Reportage – Seite 44 „Mich halten alle für bekloppt“ Kaum ein Moderator prägte den Ruf des Privatfernsehens so sehr wie Hugo Egon Balder. Im Interview verrät er, wie nützlich ein schlechtes Image ist und warum er Helene Fischer bewundert – Seite 26 Kinder, Kinder! Großes Rätselvergnügen für kleine Patienten – Seite 60 Neulich beim Arzt Der Arztwitz zum Schluss, Impressum – Seite 62 5 WARTEZIMMER Sagen Sie mal „Aah!“ Diese Aufforderung kennt jeder, der schon einmal beim Arzt war. Aber was bedeutet das eigentlich? Welche Neben- und Wechselwirkungen haben die verordneten Arzneimittel? Vielleicht ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen: Sie verlassen die Sprechstunde – und wenig später fällt Ihnen ein, dass Sie Ihren Arzt gern noch ein paar Dinge gefragt hätten. Hier finden Sie Fragen, die Sie Ihrem Arzt in der Sprechstunde stellen sollten. Wie wird die verordnete Arznei eingenommen? Fragen Sie nach Tageszeiten, Dauer der Behandlungsperiode und Abstand zu den Mahlzeiten. Gibt es medizinische Fachbegriffe, die Sie nicht verstanden haben? Bitten Sie Ihren Arzt, Ihnen diese genau zu erklären. probleme schließen. Ist sie hingegen belegt, weist dies auf Erkältungen, Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich oder auf Eisenmangel hin. Ein geröteter Rachen kann auf eine Entzündung schließen lassen, wie sie bei einer Erkältung auftritt. Daran erkranken Erwachsene immerhin zwei- bis dreimal pro Jahr, Kinder sogar bis zu 13-mal. Ähnlich ist es bei den Mandeln: Wenn sie belegt sind, können sie entzündet sein. Mit Hilfe eines Abstrichs kann der Arzt den Verdacht überprüfen. Dazu nimmt er vorsichtig mit Watte eine Probe – am besten dann, wenn der Patient „Aah“ sagt. Was Mund und Rachen verraten 6 Arzt Sie Ihren Ist es erforderlich, dass Sie zur Kontrolle des Behandlungserfolgs erneut in der Praxis vorsprechen? O b bei Schnupfen oder einem Kratzen im Hals – häufig wird man als Patient vom Arzt gebeten, den Mund aufzumachen und dabei „Aah“ zu sagen. Dass es genau dieser Laut sein muss, hat einen guten Grund. Denn um unterschiedliche Klänge zu erzeugen, müssen wir den Mundraum verformen. Wenn wir die Vokale a, e, i, o und u aussprechen, strömt die Luft ungehindert aus der Lunge durch den Mundraum aus. Bei r, s, p oder anderen Konsonanten hingegen wird der Luftstrom im Mundraum blockiert. Bei d, bei t und bei z geschieht das zum Beispiel durch die Zunge, die an den Zahndamm stößt. Der Blick in den Rachenraum ist dann für den Arzt versperrt. Beim „Aah“ hingegen ist der Blick in Mundhöhle und Rachen frei – besser noch als bei „Eeh“, „Iih“, „Ooh“ und Uuh“. Denn beim „Aah“-Sagen ist der Mund am weitesten geöffnet. Außerdem liegt die Zunge dann locker im Mund und kann vom Arzt gut nach unten gedrückt werden. Apropos Zunge: An ihr kann der Arzt erkennen, ob der Patient vielleicht krank ist. Ist sie verfärbt, lässt das auf Scharlacherkrankungen, Leber- oder Darm- Fragen Das längste Von wegen Kurzgebratenes: Wer Boston Baked Beans kochen will, muss richtig viel Zeit mitbringen – Garzeit: 16 Stunden Was hat Ihre Erkrankung verursacht und was können Sie selbst tun, um Ihre gesundheitliche Situation zu verbessern? Rezept der Welt Zutaten: 400 g getrocknete weiße Bohnen 5 EL Ketchup 2 EL Zuckerrübensaft Speck, Zwiebeln Salz, Pfeffer Die Zutaten miteinander vermengen und kochen, kochen, kochen: auf kleiner Flamme 16 Stunden lang – mindestens. „Kommt ein Mann zum Arzt …“ Für Professor Dr. Winfried Ulrich ist Komik eine ernste Sache: Der Sprachwissenschaftler erklärt, was an Arztwitzen so lustig ist. Herr Professor Dr. Ulrich, welcher ist Ihr liebster Arztwitz? PROF. DR. ULRICH: Fragt der Chefarzt den jungen Chirurgen: „Wie ist Ihre erste Operation verlaufen?“ Der wird kreidebleich. „Welche Operation? Ich dachte, es handele sich um eine Obduktion.“ Prof. Dr. Winfried Ulrich Was macht diesen Witz lustig? Wie in allen Witzen treffen hier zwei Vorstellungen aufeinander, die eigentlich nicht zusammenpassen, es aber auf überraschende Weise dann doch tun. Alle Menschen haben mit Ärzten Er fahrung und lachen am liebsten über deren Macken. Im Witz tauschen wir die unterlegene, hilfsbedürf tige Rolle des Patienten gegen die überlegene Rolle dessen, der den Arzt auslacht. In Psychologen- und Psychiaterwitzen geht es hingegen um das Irresein des Patienten und oft auch des Therapeuten. Beide machen also die Berufsgruppen schlecht? Im Schottenwitz wird der Geiz verlacht, im Blondinenwitz die Dummheit, im Professorenwitz die Zerstreutheit. Immer werden den Menschen Eigenschaften zugesprochen und dann aufgespießt. Im Witz wird das alles nicht ernst genommen. Das Körnchen Wahrheit im Witz fördert letztlich das Lachen über sich selbst. Winfried Ulrich Treffliche Pointen Humor und Scharfsinn in Aphorismen, Cartoons, Anekdoten, Witzen Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2010. ISBN-13: 978-3-8340-0768-1 7 WARTEZIMMER Wie Die Jahre von Hund, Katze & Co. sind kürzer als die der Menschen. Aber warum eigentlich? die Uhr für Tiere F tickt Nur halb so schnell wie der Mensch altert die Seychellen-Riesenschildkröte. Lebenserwartung: > 150 Jahre 3-mal so schnell wie der Mensch altert das Pferd. Lebenserwartung: 20–30 Jahre 7-mal so schnell wie der Mensch altern Hund und Katz. Lebenserwartung: 10–15 Jahre ür viele Tiere tickt die Uhr schneller als für den Menschen. Wie schnell, lässt sich anhand einer alten Faustregel zumindest theoretisch ausrechnen: Man dividiert die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen durch die des Tieres. Das Ergebnis gibt die Menschenjahre an, denen ein Tierjahr entspricht – ein Menschenjahr zum Beispiel zählt etwa sieben Hundejahre. Das heißt, der Hund altert etwa siebenmal so schnell. Doch die alte Faustregel ist umstritten. Denn jedes Tier altert im Laufe seines Lebens unterschiedlich schnell. Zudem variiert die Lebenserwartung je nach Rasse und Geschlecht, sodass die genaue Altersbestimmung äußerst kompliziert ist. Doch zur Orientierung ist die Rechnung völlig in Ordnung. Wer altert am schnellsten? Und so geht die Rechnung: 11-mal so schnell wie der Mensch altert der Wellensittich. Lebenserwartung: 6–8 Jahre * in Deutschland ca. 80 Jahre In Rekordzeit 3,253 Sekunden benötigt der Lego-Roboter „Cubestormer 3“, um die Farben eines Zauberwürfels in die korrekte Anordnung zu bringen. 9 Sekunden lief das Fußballspiel zwischen Ecuador und Deutschland am 29. Mai 2013, dann schoss Lukas Podolski ein Tor. Dieses ist bis heute das schnellste Tor der deutschen Länderspielgeschichte. ... in den ersten drei Tagen nach einer Zeitumstel- lung im Vergleich zum Jahresdurchschnitt rund 25 Prozent mehr Krankenhausbehandlungen wegen Herzbeschwerden durchgeführt werden? ... in Deutschland 2013 im Schnitt pro Stunde 77,8 Kinder geboren wurden? Laut Statistischem Bundesamt liegt Deutschland in der EU damit an dritter Stelle – hinter Frankreich und Großbritannien. ... weltweit pro Tag knapp 210 Milliarden E-Mails verschickt werden – genauer 36,48 Sekunden gesagt 209.996.664.788? Das sind 2.430.517 pro Sekunde. 47 Sekunden Bis der Arzt kommt ... lang machte der Russe Jewgenij Kuschnow einen Spagat zwischen zwei stehenden Autos. Das ist Weltrekord. dauert der kürzeste Linienflug der Welt. Er verbindet die Inseln Westray und Papa Westray vor der schottischen Küste. Bei schlechtem Wetter ist die Maschine allerdings auch mal zwölf Minuten in der Luft. 803 Tage, 9 Stunden und ca. 40 Minuten verbrachte der Kosmonaut Sergei Krikaljow insgesamt schon im Weltraum. Sechsmal flog er ins All, zum letzten Mal im Jahr 2005. 40-mal so schnell wie der Mensch altert der Goldhamster. Lebenserwartung: ca. 2 Jahre 29.200-mal so schnell wie der Mensch altert die Eintagsfliege. Lebenserwartung: 1 Tag 8 Wussten Sie, dass ... ... kann es schon mal etwas dauern. Denn spontane Termine sind manchmal nicht so einfach zu bekommen. Das ärgert nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzte und Psychotherapeuten. Deshalb würden sich 66 Prozent von ihnen gerne mehr Zeit für die Behandlung ihrer Patienten nehmen. Doch von den 54 Stunden, die sie im Schnitt pro Woche arbeiten, müssen sie einen Großteil mit Verwaltungsaufgaben verbringen. Für die 45 Patienten, die Ärzte im Durchschnitt pro Tag behandeln, bleiben ihnen wöchentlich nur 32 Stunden Zeit. Zu diesem Ergebnis kommt der „Ärztemonitor 2014“, für den mehr als 10.000 Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland befragt wurden. 9 WARTEZIMMER Landarzt Dr. Brock 1967 startet die erste deutsche Fernsehserie mit einem Humanmediziner nach dem Vorbild damaliger Arztromane und -filme. Hauptdarsteller Rudolf Prack spielt sich durch eine Mischung aus Familien-, Heimat- und Arztgeschichten. Die Erfolgsformel für Arztserien ist gefunden. Die Schwarzwaldklinik In der „Mutter aller deutschen Arztserien“ steht ab 1985 das Wohl der Patienten bei Chefarzt Professor Klaus Brinkmann (Klausjürgen Wussow, Foto) an oberster Stelle. Er ist souverän, kompetent und väterlich gegenüber Patienten – und streng gegenüber seinem hitzigen Sohn Udo (Sascha Hehn). TV-Ärzte im Zeitraffer Emergency Room Eine der erfolgreichsten Arztserien überhaupt zeigt ab 1994 den stressigen Alltag in der Notaufnahme einer Chicagoer Klinik. In „Emergency Room“ wird Kritik am amerikanischen Gesundheitssystem ebenso thematisiert wie erstmals auch persönliche Abgründe im Leben der sonst so strahlenden „Götter in Weiß“. Einer von ihnen: Dr. Douglas Ross (George Clooney). 10 Dr. House Genie und Wahnsinn statt Harmonie und Menschenliebe: Von 2006 bis 2012 kümmert sich Dr. Gregory House (Hugh Laurie) um außergewöhnliche Krankheitsbilder – nicht etwa um Patienten, denn Menschen sind ihm genauso gleichgültig wie Krankenhausregeln. Seine Schmerzmittelabhängigkeit hält ihn im Klinikalltag nicht davon ab, die richtigen Diagnosen zu stellen. Der Landarzt In der norddeutschen Idylle des Ortes Deekelsen wird der TV-Arzt ab 1987 zum Helfer bei Krankheiten, Liebeskummer und anderen Sorgen. Bis 1992 kümmert sich Dr. Karsten Mattiesen (Christian Quadflieg) um die Nöte der Menschen. Nach dessen Serientod übernehmen Dr. Ulrich Teschner (Walter Plathe, Foto) und dann der junge Dr. Jan Bergmann (Wayne Carpendale) die Praxis. Frauenarzt Dr. Markus Merthin Frauenärzte bestimmen das Bildschirmgeschehen Mitte der 1990er-Jahre. Nach der Schwarzwaldklinik liegen Sascha Hehn auch als Frauenarzt Dr. Markus Merthin (Foto) die Frauen vor und auf dem Bildschirm zu Füßen. Sein Kollege „Dr. Stefan Frank“ (Sigmar Solbach) scheint als „Arzt, dem die Frauen vertrauen“ auch dramatische Unfälle magisch anzuziehen. Seit dem Start der ersten deutschen Arztserie im Jahr 1967 ist viel passiert. Eine kleine Auswahl berühmter „Götter in Weiß“ der Fernsehgeschichte. Doctor’s Diary 2008 übernimmt endlich eine Frau die Hauptrolle im OP. Gleichzeitig halten ein hohes Tempo und gute Gags ihren Einzug in eine deutsche Arztserie. Dr. Margarethe Haase, genannt Gretchen (Diana Amft), will im Krankenhaus ihres Vaters Karriere machen. Im Kopf hat sie dabei vor allem Männer und Schokolade. Ihre Erlebnisse hält sie bis 2012 in ihrem Tagebuch fest. In aller Freundschaft Wie einst Klaus und Udo Brinkmann in der Schwarzwaldklinik, so beschäftigen sich seit 1998 die Mediziner in der Sachsenklinik „In aller Freundschaft“ nicht nur mit Patienten, sondern auch mit den Beziehungen untereinander. Affären, Freund- und Feindschaften sowie Konkurrenzkämpfe stehen auf der Intensivstation und in der Cafeteria auf der Tagesordnung. 11 WARTEZIMMER So nicht, Herr Doktor 8.05 Uhr Dr. Tarek Raslan Orthopäde und Unfallchirurg Stress ist schlecht für die Gesundheit. Doch den ärztlichen Rat zu einem ausgeglichenen Tagesablauf zu beherzigen, ist gar nicht so leicht – auch und gerade für Ärzte nicht. Das wird dem Rücken nicht gefallen: Auf dem Weg zur Sprechstunde besorgt Dr. Raslan noch schnell neue Getränke. Der Orthopäde möchte pünktlich anfangen – und hebt den schweren Wasserkasten nur mit einem Arm. 12 13 14.05 Uhr Hürrem Ziir Frauenärztin Fürs Essen sollte man sich Zeit nehmen: Manchmal reicht es jedoch nur für eine Suppe im Vorbeigehen. Weil in der Praxis schon die nächsten Patienten warten, muss Hürrem Ziir die kurze Pause für wichtige Telefonate nutzen. 14 15 15.53 Uhr Martin Linhardt Frauenarzt Viele kleine Mahlzeiten, reichlich Obst und Gemüse: Das waren die Vorsätze. Doch nach fünf Operationen hintereinander hat Linhardt einen schwachen Moment und kann der Kalorienbombe einfach nicht widerstehen. 16 17 17.38 Uhr Boris Grundt Hautarzt Im Auto ganz schnell nochmal die E-Mails checken: Boris Grundt muss nach der Sprechstunde rasch zum Qualitätszirkel – und gefährdet sich und andere. 18 19 SPRECHZEIT Das ewige Rätsel 20 Die Zeit ist ein Phänomen: Alle richten sich nach ihr. Doch keiner weiß, was sie eigentlich ist. Eine Annäherung. E s war einmal ein Reisender, der besuchte ein kolumbianisches Dorf namens Cartagena und lernte dort alles, was es zum Wesen der Zeit zu wissen gibt. Jeden Mittag feuerte das ortsansässige Militär von einer den Hafen überlagernden Festung einen lauten Kanonenschlag ab – das Zeitzeichen, nach dem alle Leute in Cartagena ihre Uhren stellten. Als dem Reisenden auffiel, dass die Uhren der Dorfbewohner allesamt satte 20 Minuten nachgingen, stieg er hinauf zur Festung und fragte den Kommandanten, woher er denn eigentlich die exakte Zeit für den Kanonenschlag nehme. Der Kommandant wurde nervös vor Stolz und sagte, da es sich um eine derart wichtige Sache handele, schicke er jeden Tag einen seiner Soldaten hinunter ins Dorf. Dort stehe in der Auslage des einzigen Uhrenhändlers ein aufwendig konstruiertes nautisches Chronometer. Der Soldat gleiche seine Uhr mit jenem Chronometer ab und trage diese Zeit dann dem wartenden Kanonenmeister an. Da wollte der Reisende mehr wissen. Er besuchte den besagten Uhrmacher und fragte, woher denn nunmehr dieser die exakte Zeit für sein Chronometer nehme. Der Uhrmacher wurde nervös vor Stolz und sagte, da es sich um eine derart wichtige Sache handele, vergleiche er jeden Tag sein Chronometer mit einem Kanonenschlag, der jeden Mittag von der Festung gegenüber zu hören sei. Diese pflege er seit Jahren zu tun – und nie habe sich auch nur eine einzige Sekunde Differenz ergeben. – Diese kleine Geschichte stammt vom großen Psychologen Paul Watzlawick. Vielleicht ist sie wahr, wahrscheinlich ist sie erfunden. So oder so bringt sie jenen Aspekt zum Ausdruck, der die Zeit zum Rätsel macht: ihre Relativität. DIE ZEIT – MADE IN FRANCE Das Maß aller Dinge wohnt in Paris. Und zwar buchstäblich. Denn im „Bureau Interna- tional des Poids et Mesures “ lagert nicht nur der Ur-Meter. Hier laufen auch die Messdaten von weltweit mehr als 260 CäsiumAtomuhren zusammen, nach denen die Welt ihre Kanonenschläge ausrichtet. Öffentlicher Raum, Industrie, Medien, Politik: Der Globus tanzt nach dem atomaren Tick und Tack aus Frankreich. Eine Referenz, die zumindest alle Uhren im selben Tempo arbei ten lässt, denn die Atomuhr ist ziemlich genau: Mit einer Abweichung von nur einer Sekunde in drei Millionen Jahren lässt sich durchaus arbeiten. Wonach aber richtet sich die Zeit selbst? Warum läuft sie immer überall für alle im selben Tempo ab? Tut sie das überhaupt? > 21 SPRECHZEIT Wie lange dauert eigentlich … … das Bild? 0,06 SEKUNDEN MINDESTENS Einzelbilder brauchen Zeit. Wenn zu viele von ihnen zu schnell hintereinander auf unsere Netzhaut treffen, kann unser Gehirn die eintreffenden Signale nicht mehr auseinanderhalten. Ab 16 Bildern pro Sekunde ist Schluss und wir nehmen das Ganze als Bewegung wahr. Wenn die Bilder dann zueinanderpassen und aufeinanderfolgen und die Betrachter dazu Popcorn einnehmen, heißt das Ganze „Kino“. 22 RELATIV KLAR: EINE FRAGE DES STANDPUNKTS Uhren können ‚vor‘gehen oder ‚nach‘. Das bedeutet, sie verhalten sich relativ zu anderen Uhren. Doch nicht nur Uhren sind relativ, auch die Zeit selbst führt keine unabhängige Existenz, sondern ist abhängig von einer weiteren Größe: dem Raum. Physiker und Drehbuchautoren von Science-FictionStreifen sprechen deshalb gerne von der „Raumzeit“. In der Nähe besonders großer Körper wie blauer Planeten, roter Riesen oder schwarzer Löcher verrinnt die Zeit deutlich langsamer. Sollten Sie vorhaben, mittelfristig einmal Urlaub am Schwarzen Loch zu machen – bringen Sie Zeit mit! Wenn Sie nach gefühlten 14 Tagen bestens erholt zurück ins Büro möchten, wird es Ihre Arbeitsstätte kaum mehr geben. Denn inzwischen dürften mehrere Milliarden Erdenjahre vergangen sein, die Sonne wird implodiert sein – und unsere Erde mitsamt den lieben Kollegen verschlungen haben. Wie lange dauert eigentlich … … die Gegenwart? 3 SEKUNDEN Die Gegenwart ist genau die Stelle in der Realität, an der die Zukunft zur Vergangenheit wird – und damit ist sie eigentlich ein Unding. Denn sobald wir einen Moment bewusst wahrnehmen, ist er bereits passé. Erledigt. Erinnerung. Da Yogalehrer aber nach wie vor dazu raten, brav in der Gegenwart zu leben, haben Neurobiologen die Gegenwartsdauer jetzt erst einmal auf drei Sekunden festgesetzt. Aber das ist KOMMT ZEIT, KOMMT REIS – EIN BLICK ÜBER DEN TELLERRAND Der Blick in andere Kulturen verrät, dass sich die Zeit noch in einer zweiten Hinsicht relativ verhält. Nicht nur, dass Spanier und Griechen im Geschäftsleben durchaus gerne mal zu spät kommen. Entlegene Völker benutzen bisweilen auch für unsereins vollkommen abwegige Maßeinheiten zur Bemessung von Zeit. In Madagaskar ließen bestimmte Völker lange Zeit die liebe Sonne einen guten Stern sein und organisierten alltägliche Termine lieber mit dem Hinweis „Wir treffen uns nach dreimal Reiskochen“. Solange die Bewohner bei der Einhaltung ihrer Speisepläne einigermaßen gewissenhaft zu Werke gehen, ist gegen das Reiskochen als Zeiteinheit nicht mehr einzuwenden als gegen abendländisch-kosmische Übereinkünfte von der Sorte „Wir treffen uns, wenn der Mond die Erde ein zweites Mal geküsst hat“, die man aus alten Indianerfilmen kennt. Doch ob man nun gen Himmel schaut, auf die Atomuhr oder in den Kochtopf: Unsere menschliche Vorliebe für Ordnung wird von der Natur nirgendwo erwidert. Unsere Mutter hält sich partout an keinen Takt. So tobt die ewige Schlacht „Ordnungsmenschen gegen Chaosnatur“ seit Jahrhunderten und noch ist kein Ende in Sicht. Immerhin: Beim Ausbau der Eisenbahnnetze im 19. Jahrhundert führten die Staaten, Wie lange dauert eigentlich … … das Leben? 79 JAHRE Wir leben immer länger: Wer heute geboren wird, hat in Deutschland eine Lebenserwartung von 79 Jahren. Vor durch die die Schienen liefen, eine standardisierte Uhrzeit ein. Und als auffiel, dass die Sonne im Winter mit ihren wertvollen Strahlen geizt, wurde das Jahr in Sommer- und Winterzeit aufgeteilt. Nun konnte die Bevölkerung das Tageslicht besser nutzen und die Wirtschaft die Produktion von teurem Kerzenwachs herunterfahren. Schöne Teilerfolge, doch die Welt dreht sich weiter. Und das – Frechheit! – fast unmerklich immer langsamer, wie verblüffte Kosmologen einmal durch Zufall feststellten. Die Entdeckung: Die Rotation der Erde verliert an Fahrt, und unsere Tage werden länger und länger. Leider lässt sich mit der von Mutter Erde spendierten Extra Time von knapp drei Millisekunden pro Jahr nicht allzu viel anfangen. > hundert Jahren lag diese noch bei lediglich 49 Jahren. Weltweit leben Männer in Island (79,6 Jahre) und Frauen in Japan (86 Jahre) am längsten. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit Lebenserwartungen von 77 Jahren (Männer) und 82 Jahren (Frauen) auf Platz 20. Die kürzeste Lebenszeit haben mittlerweile auch fast schon mit 43,8 Jahren die Menschen wieder Geschichte. in Sierra Leone. 23 SPRECHZEIT Warum warten? ZEIT IST, WAS MAN DARAUS MACHT Die Zeit als solche bleibt rätselhaft – vielleicht für alle Zeit. Vielleicht sollten wir einfach versuchen, unsere Zeit so gut es geht zu nutzen. Stichwort: Zeitgefühl. Hier herrscht plötzlich traute Einigkeit. Irgendwie auch schon wieder komisch. Nehmen Sie diesen Artikel. 994 Wörter haben sie bis hierhin gelesen. Wahrscheinlich schaffen Sie etwa 250 Wörter pro Minute. Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, dürften Sie also etwa vier Minuten dafür gebraucht haben. Geübte Schnellleser verarbeiten in einer Minute bis zu 800 Wörter, Drittklässler kommen übrigens auf kaum mehr als 50. Doch egal, wie schnell man diesen Text tatsächlich liest – die benötigte Zeit wird im Nachhinein jedem nahezu gleich lang vorkommen. Studien bieten eine angenehm kurze Erklärung: Je mehr man erlebt, desto länger erscheint die betreffende Zeitspanne im Rückblick. Beispiel Warteschleife. Gefühlte Zeit währenddessen: eine Epoche. Gefühlte Zeit im Rückblick: ein Wimpernschlag. Dem Gehirn sei Dank. 3, 2, 1 … ACTION! So wenig wir über das Wesen der Zeit wissen, so sicher ist am Ende eines: Wer seine Zeit sinnvoll nutzt, hat buchstäblich mehr davon. Daran dürfen Sie gerne denken, wenn es vorm Sprechzimmer einmal länger dauern sollte. Hauptsache, es gibt Lesestoff. DR. ANDREAS GASSEN Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie An dieser Stelle geben Dipl.-Med. Regina Feldmann und Dr. Andreas Gassen in jeder Ausgabe des Magazins Einblicke in die Arbeit von Haus- und Fachärzten. Den Anfang macht Dr. Gassen. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung spricht im Kurzinterview über das Warten beim Arzt – und warum es einfach nicht vermeidbar ist. und Rheumatologie DIPL.-MED. REGINA FELDMANN Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Andreas Gassen ist seit 1996 Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie in einer Gemeinschaftspraxis in Düsseldorf. Dipl.-Med. Regina Feldmann ist seit 1991 in ihrer eigenen Praxis in Meiningen als Hausärztin niedergelassen. Zudem vertreten beide die Interessen der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland im Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Dipl.-Med. Regina Feldmann setzt sich dort für die Belange der Hausärzte ein, Dr. Andreas Gassen für die der Fachärzte. Herr Dr. Gassen, warum müssen Patienten beim Arzt eigentlich warten? DR. ANDREAS GASSEN: Bei uns in Deutschland gibt es die freie Wahl des Arztes oder Psychotherapeuten. Das ist eine Selbstverständlichkeit und ein von unserer Gesellschaft hochgeschätzter Wert. Immerhin durchschnittlich 17-mal im Jahr suchen die Bürger eine Arztpraxis auf. Angesichts der Bevölkerungszahl von über 80 Millionen ist da eine enorme Menge an Terminen zu koordinieren. Gelegentliche Wartezeiten gehören da einfach dazu. Vor allem, wenn jeder zu seinem Wunscharzt an seinem Wunschtermin möchte. Doch auch wenn das Warten manchmal ärgerlich ist, spätestens wenn der Patient selbst im Sprechzimmer sitzt, wird er es wertschätzen, dass der Arzt individuell auf ihn eingeht. Im Übrigen haben wir in Deutschland ein Gesundheitssystem, um das uns die ganze Welt beneidet. In den meisten anderen Industrieländern gibt es weitaus längere Wartezeiten auf Arzttermine. Woran liegt es, dass man von Arzt zu Arzt unterschiedlich lange warten muss? An einem Montagmorgen wird man während einer Grippewelle sicher länger auf den Arzt warten müssen als üblicherweise. Bestimmte Dinge lassen sich eben nur bedingt planen. Mancher Termin beim Facharzt erfordert außerdem eine zeitaufwendige individuelle Diagnose und Behandlung. Und auch ein Notfall kann den eigentlichen Terminplan durcheinanderbringen. Im internationalen Vergleich stehen wir mit unseren Wartezeiten hervorragend da. Ich betone das nochmals: In den meisten anderen Ländern warten Sie deutlich länger auf Termine beim Arzt bzw. sind die gesetzlichen Vorgaben von vornherein deutlich länger ausgelegt. Können wir davon ausgehen, dass wir künftig weniger Zeit mit Warten verbringen müssen? Einen Einfluss auf die Termine beim Arzt oder Psychotherapeuten haben auch die Rahmenbedingungen, unter denen die Praxen arbeiten. Sind diese nicht attraktiv, wird es immer weniger junge Ärzte geben, die sich in eigener Praxis niederlassen wollen. Dabei ist das dringend nötig, denn in den kommenden sechs Jahren werden bis zu 51.000 Ärzte in den Ruhestand gehen. Leider sind die Maßnahmen der Regierung, die sie im neuen sogenannten Versorgungsstärkungsgesetz plant, nicht geeignet, den Medizinernachwuchs für die Niederlassung zu begeistern. Dabei müssten wir alles dafür tun, die Bedingungen dafür so gut wie möglich zu gestalten. Nur so können wir die wohnortnahe hochwertige ärztliche und psychotherapeutische Versorgung auch in Zukunft sichern – ohne überfüllte Wartezimmer. LINK ZUM WEITERLESEN Mehr zur Terminvergabe und warum sich Ärzte für die Versorgung starkmachen, lesen Sie auf www.ihre-aerzte.de 24 25 SPRECHZEIT „Mich halten alle für bekloppt“ Und immer wieder „Tutti Frutti“: Kaum ein Moderator prägte den Ruf des Privatfernsehens so sehr wie Hugo Egon Balder. Im Interview verrät er, wie nützlich ein schlechtes Image ist und warum er Helene Fischer bewundert. 26 27 SPRECHZEIT Warum ist es so ein wahnsinniges Drama, so etwas heute zu machen? Weil heute alles ein Drama ist! Ich bin jetzt 65. Großgeworden bin ich in den Sechzigerjahren. Ich bin also ein Alt-68er, wenn man so will. Ich stelle jeden Tag fest, dass wir damals mehr Freiheiten hatten als heute. Meine Kinder haben heute weniger Freiheiten als ich früher. Das liegt daran, dass wir so viele Verbote haben. Auf der einen Seite sagen die Politiker, dass wir mündige Bürger sind. Und dann werden die kleinen Plastiktüten verboten, nicht die großen, sondern die kleinen an der Gemüsetheke. Irgendwas ist immer. Ich finde das traurig, darunter leiden wir alle. Es ist stinklangweilig geworden! Woran liegt das? Das liegt daran, dass es uns zu gut geht. Wir leben ja nicht in einem Land wie der Ukraine oder Afghanistan, wo die Hölle los ist und die Leute andere Sorgen haben als diesen Blödsinn. Wenn wir kein Problem finden, dann denken wir uns eins aus. H err Balder, Sie sind doch TV-Produzent. Ich habe eine tolle Idee für eine Sendung: Ich treffe mich mit Freunden im Café und rede mit denen über alles Mögliche. Wäre das schon Fernsehen? HUGO EGON BALDER: Unter Umständen schon. Kommt drauf an, wer dabei ist. „Meine Kinder haben heute WENIGER FREIHEITEN als ich früher.“ 28 Ich. Das müsste man dann vielleicht noch etwas aufpeppen. Und wenn Sie in der Sendung aufträten? Das reicht auch noch nicht. Auf „Tele 5“ haben Sie neulich etwas ganz Ähnliches gemacht: In der Sendung „Der Klügere kippt nach“ trafen sich vier Talk-Gäste bei Moderator Wigald Boning in Ihrer Kneipe „Zwick“ und unterhielten sich einfach über Gott und die Welt. Was haben Sie dem Sender erzählt, dass der das machen wollte? Ich habe denen gar nichts erzählt. Die kannten die Idee schon. Die geistert schon seit Jahrzehnten herum. Das war eine Schnapsidee, die ich mit meinem Freund, dem TVProduzenten Jacky Dreksler, in einer Hotelbar hatte. Und dann kam Herr Blasberg (der Geschäftsführer des Senders Tele 5, d. Red.) und hat gesagt: „Wir machen das mal.“ Wenn man das Fernsehen von früher und heute vergleicht: Ist das eine ähnliche Entwicklung wie mit der Plastiktüte, die verboten wird? Gibt es weniger Freiheiten? Na ja, es gibt ja auch immer noch Menschen im Fernsehen, die auch mal andere Sachen versuchen. Leider sind das nicht mehr so viele wie früher. Manchmal werde ich als Greis in eine Sendung eingeladen, die mehr das jüngere Publikum anspricht. Wenn ich die Jungs und Mädels sehe, die da vor und hinter der Kamera arbeiten, frage ich mich: Warum sind die denn plötzlich alle so verbeamtet? Wenn die Sendung vorbei ist, gehen die sofort auseinander, tschüss! Und morgen um zehn treffen sie sich wieder. Keiner kommt auf die Idee, zusammen noch ein Bier zu trinken. Das gibt es heute nicht mehr. Warum hat das vorher keiner gemacht? Weil die alle Schiss hatten. Weil sie alle gesagt haben, das geht nicht, man kann doch im Fernsehen keinen Alkohol trinken. Obwohl – das ging ja alles mal. Ich habe es noch erlebt. Wenn man so etwas macht, dann muss man damit rechnen, dass alle Zeitungen etwas von „Sauf-TV“ schreiben. Das ist natürlich Blödsinn: Die Leute trinken ein Weinchen oder zwei Bierchen und können immer noch klar reden. War es denn früher wirklich anders? Früher hat man die Dinge nicht so ernst genommen – das Fernsehen nicht, die Unterhaltung nicht. Heute ist alles ganz ernst. Darf man auch rauchen? Das hätte ich gerne gehabt. Das ging aber leider nicht. Dafür hätten wir das komplette Haus mit Rauchmeldern versehen müssen. In der Zeit der großen Samstagabendunterhaltung – denken wir nur an „Wetten, dass …?“ – hatte das Fernsehen eine ganz andere Bedeutung. Hätte man damals nicht viel vorsichtiger sein müssen, wenn doch die ganze Nation zuschaut? Eine Livesendung kann man nie planen. Und wenn Thomas Gottschalk sie moderiert schon gar nicht. Das war ja das Gute an der Sache! Als dann das Privatfernsehen anfing, wurde alles noch chaotischer. Das hat sich auch geändert. Die privaten Sender experimentieren heute ja auch nicht mehr, sondern überlegen sich alles tausend Mal und sagen: „Och, lieber nicht.“ Wie chaotisch war die Anfangszeit des Privatfernsehens? RTL – damals noch RTL plus – hat in einem Studio angefangen, das so groß wie ein Wohnzimmer war. Vor allem haben dort Radiomoderatoren gearbeitet – Geert MüllerGerbes, Hans Meiser, wie sie alle hießen … „Eine Livesendung kann man NIE PLANEN. Und wenn Thomas Gottschalk sie moderiert schon gar nicht.“ Aus der Tatsache heraus, dass alle keine Ahnung vom Fernsehen hatten, hat man gesagt: Wir machen das mal irgendwie so. Und dann hat man gemerkt, dass das funktioniert, dass man gar nicht so viel Geld ausgeben muss. Natürlich sind die Zeiten längst vorbei. Auch bei den privaten Sendern gibt es mittlerweile mehr Verwaltungsmitglieder als kreative Leute. Haben Radiomoderatoren einen anderen Zugang zum Fernsehen? Das geschah aus einer Not heraus. RTL plus hatte ja gar keine anderen Leute. Ich wollte ja damals auch sofort zum Fernsehen. Da hat RTL-Chef Helmut Thoma zu mir gesagt: Von 1990 bis 1992 ist Hugo Egon Balder Gastgeber von „Tutti Frutti“. Wir brauchen noch ein paar Leute, die Radio machen, sonst haben wir ja keine mehr. Generell gibt es wenig Radiomoderatoren, die Fernsehen machen. Das ist ja deren Problem: Die leiden darunter, dass niemand weiß, wie sie aussehen. Ich finde Radio ja viel schöner: Man kann im Radio auch im Liegen moderieren, sieht einen ja keiner. Haben wir auch gemacht. Wenn man sich alte Sendungen von Ihnen auf YouTube ansieht, dann zieht sich das ganz schön in die Länge: Bei „Alles Nichts Oder?!“ haben Sie und Hella von Sinnen mitunter fünf Minuten gebraucht, um das Publikum zu begrüßen. Es war nie etwas abgesprochen. Alles hing davon ab, wie wir drauf waren. Manchmal hatte Frau von Sinnen Lust zu reden, mal nicht. Für uns oder den Sender war es nie ein Thema, ob wir das Publikum nun zwei oder fünf Minuten lang begrüßen. Hans-Joachim Kulenkampff hat in der Quizshow „Einer wird gewinnen“ das Publikum eine halbe Stunde lang begrüßt. Der hat erst einmal erzählt, was er an dem Tag so alles erlebt hat. Hatte man früher mehr Zeit? Ja, klar. Mehr Zeit und mehr Freiheiten. Heute übt vor der Sendung auch erst mal ein Warm-Upper mit dem Publikum, wie man applaudiert, weil man glaubt, die Leute sind sogar dazu zu blöde. Das Publikum wird auch dazu angehalten zu lachen, auch wenn es mal nicht komisch ist. Das gab’s ja früher nicht. Die Leute haben gelacht und gejohlt, wenn es komisch war. Und sie haben nicht gelacht und gejohlt, wenn es nicht komisch war. Das war damals völlig egal. > 29 „Man kann im Radio auch IM LIEGEN moderieren, sieht einen ja keiner. Haben wir auch gemacht.“ ZUR PERSON HUGO EGON BALDER Mit Hella von Sinnen moderiert Balder ab 1992 „Alles Nichts Oder?!“. Stefan Wigger, der leider verstorben ist, habe ich ein sehr komisches Zwei-MannProgramm gemacht. Der hat mir dann schon gesagt, wo ich mal etwas langsamer machen muss. So lernt man das. Ist Theater Ihre große Liebe? Ein Ort der wahren Kunst? Was heißt „wahre Kunst“? Wenn ich Theater spiele, mache ich nur Boulevard. Das war früher anders. Am Schillertheater musste ich ja alles machen. Das war zum Teil sehr, sehr langweilig. Wenn du so endest, habe ich mir gesagt, dafür hast du die Ausbildung nicht gemacht. Es ist schöner, Leute zum Lachen zu bringen. Die Kollegen, die beim Staatsschauspiel sind, nehmen uns natürlich nicht für voll, obwohl unsere Läden voller sind als deren. Man macht das ja für die Leute, die im Publikum sitzen. Sollte man normalerweise. Viele Regisseure machen Theater nur für sich selbst. „Genial daneben“ funktionierte ja ähnlich: Ohne erkennbares Skript setzen sich einige Comedians zu einem Ratespiel in die Sendung, erzählen was und fertig. Wie erkannten Sie den Zeitpunkt, an dem Sie das Rätsel auflösen mussten? Auf der einen Seite ist das eine Frage der Routine, auf der anderen Seite eine Frage des Spaßes. Manchmal hatte ich auch Lust, es nicht aufzulösen und sie einfach ins Leere laufen zu lassen. Es kann auch komisch werden, wenn überhaupt nichts mehr kommt. Das ist eine Frage von Timing. Es ist wie im Theater: Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als das Tempo anzuziehen, ohne dass es verhetzt wird. 30 Spielen Sie noch Schlagzeug? Ich habe eine Kneipe in Hamburg. Da spiele ich öfter Keyboard. Das geht dann teilweise bis morgens um sechs. Unser Schlagzeuger musste vor kurzem früher weg. Da habe ich Vollidiot gesagt: Okay, ich mach das. Ich habe mich an das Schlagzeug gesetzt und nach einer Stunde habe ich gedacht: Ich bin 90 Jahre alt. Mir taten alle Knochen weh. Ich hatte Blasen überall, weil ich ewig nicht gespielt habe. Lernt man Timing beim Schlagzeugspielen? Nein, da muss man nur versuchen, den Takt zu halten. Timing habe ich am Schillertheater in Berlin gelernt. Mit meinem Lehrmeister Schauen Sie manchmal Fernsehen? Eher selten. Es gibt nicht viel, was ich mir ansehe. Das „Dschungelcamp“ habe ich noch nie gesehen. Das interessiert mich nicht. Genauso wie mich eine Sendung über Steine in 2.000 Metern Tiefe in der Schweiz auch nicht interessieren würde. DSDS habe ich einmal gesehen, bei der ersten Staffel. Finden Sie es nicht erstaunlich, dass sich seit Jahrzehnten alle einig sind, dass im Fernsehen nur Mist läuft? Liegt das am Fernsehen oder an den Leuten? Das liegt an den Leuten. Das Fernsehen kann machen, was es will: Es gibt immer einen, der meckert. Wir neigen ja eh dazu. Ein Beispiel: Man kann ja über Mario Barth denken, was man will. Ob einem der Humor gefällt oder nicht – wichtig ist doch, dass er es schafft, diese Stadien vollzukriegen. Hut ab! Oder Helene Fischer: Ob einem die Musik gefällt oder nicht – man kann doch anerkennen, was die Frau geschafft hat! Warum muss man sie denn fertigmachen? Das haben wir Deutschen schon immer geschafft. Deswegen sind wir auch so gut im Biathlon: Schießen und wegrennen konnten wir schon immer gut. Ich habe lange in Luxemburg gelebt, war mit einer Französin verheiratet und oft in Frankreich. Die Franzosen lieben ihre Leute. Auch junge Leute verehren Charles Aznavour oder Catherine Deneuve. Bei uns hingegen gibt es in der Zeitschrift „Stern“ die Rubrik „Was macht eigentlich …?“ Ach, lebt der denn noch? Es ist traurig: Wir sind ein Volk von Pessimisten. Wir klagen und klagen. Wir können uns nicht mehr freuen, wir sind traurig. Moderator, TV-Produzent, Schauspieler, Regisseur, Musiker, Kabarettist, Gastronom – Hugo Egon Balders berufliche Laufbahn ist so ereignisreich wie vielfältig. 1968 spielte er als Schlagzeuger in der legendären Krautrockband „Birth Control“. In den Siebzigerjahren studierte er in seiner Geburtsstadt Berlin zunächst Kunst und Grafik, später Schauspiel. Die Bretter, die die Welt bedeuten, lernte er im Berliner Schillertheater kennen. In den 1980ern spielte er neben Harald Schmidt im Ensemble des Düsseldorfer Kabaretttheaters „Kom(m)ödchen“. Zeitgleich war er in ersten Rollen auf der Kinoleinwand zu sehen und sammelte erste Modera- Sie selbst waren ja mal für den Untergang der abendländischen Unterhaltung zuständig … Natürlich! Wie überlebt man das denn? Sie sprechen von „Tutti Frutti“. Das habe ich von 1990 bis ’92 gemacht. Etwas später habe ich mit dem Schauspieler Walter Giller „Geschichten aus der Heimat“ gedreht. Er hat zu mir gesagt, dass er mich beneidet. Das habe ich zuerst nicht ganz verstanden, dann hat er es mir erklärt: „Guck, du kannst dir doch alles erlauben. Dich halten sie alle für einen Vollidioten, das ist doch großartig!“ Besser geht es nicht. Ich fühle mich damit immer noch sehr wohl. Es ist doch schöner, wenn einen alle für bekloppt halten, als wenn sie einen für ganz toll halten und irgendwann merken: So doll ist der eigentlich gar nicht. tionserfahrungen bei Radio Luxemburg. 1990 wurde Hugo Egon Balder als Moderator der Erotik-Gameshow „Tutti Frutti“ einem breiten Fernsehpublikum bekannt. Es folgten die Shows „Alles Nichts Oder?!“ mit Hella von Sinnen sowie ab 2003 „Genial daneben“ und „Die Hit-Giganten“. In der Zwischenzeit verlegte sich Balder auf die Entwicklung und Produktion von TV-Formaten, darunter „RTL Samstag Nacht“ und „Freitag Nacht News“. 1998 führte er beim TV-Film „Silvias Bauch“ Der Musiker und Solointerpret Hugo Egon Balder Anfang der 1980er-Jahre. Regie. In der Saison 2014/2015 kehrte er auf die Theaterbühne zurück und spielte im Theater am Dom in Köln. Am 6. April 2015 startete der TV-Talk „Der Klügere kippt nach“, live übertragen aus seiner Hamburger Kiez-Kneipe „Zwick“. 31 SPRECHZEIT 100 Jahre Zeit Edith Wolffberg Das Leben hinterlässt Spuren. Falten auf der Stirn, Lachfältchen um Augen und Mund, feine Linien zwischen Nase und Oberlippe oder markante Mundwinkelfalten. Die Spuren zeugen von Freud und Leid, von Glück und Unglück. Und in manchen Gesichtern spiegeln sich gar die Geschehnisse eines ganzen Jahrhunderts. 1939 verließ Edith Wolffberg mit ihrem Mann und den beiden Töchtern ihre Geburtsstadt Berlin. Über Bolivien floh die jüdische Familie in die USA – Texas wurde ihre neue Heimat. Erst im Jahr 2006, im Alter von 102, kehrte sie zurück und besuchte gemeinsam mit Tochter und Enkelkind ihre Heimatstadt. 32 33 „Johannes Heesters, Hans Albers, Gustav Gründgens, Heinz Rühmann, ALLE HABE ICH EINGEKLEIDET.“ — WOLF LEDER Wolf Leder im Varieté-Theater „Plaza“ 1939 bei einer Kostümprobe. H Wolf Leder Auf ein Leben als erfolgreicher Kostüm- und Bühnenbildner blickte Wolf Leder zurück. Unzählige Kulissen hat er entworfen und für mehr als 100 Filme Stars wie Marlene Dietrich, Johannes Heesters, Gustav Gründgens und Heinz Rühmann die Kostüme auf den Leib geschneidert. 2009 starb Wolf Leder im Alter von 103 Jahren in Berlin. 34 undert Jahre alt zu werden – das hat etwas Magisches. Zwei Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise von 1929 und das Wirtschaftswunder – das ist der Stoff, aus dem die Erinnerungen von Hochbetagten sind. Sie lebten im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland, erlebten persönliche Krisen und Erfolge, Liebesgeschichten und Karrieren. Der Fotograf Andreas Labes hat 100 Hundertjährige aus ganz Deutschland porträtiert und ihre Geschichten aufgeschrieben. Der Anlass: ein Studienprojekt der Universität Kiel, bei dem die Bedingungen für gesundes Altern untersucht wurden. Entstanden sind Bilder, in denen sich das Leben spiegelt. Zum Beispiel das von Wolf Leder. Trotz seiner 100 Jahre ist die Stirn der Theaterlegende frei von Sorgenfalten. Seine Augen verschwinden hinter dunklen Brillengläsern, unterhalb der Fassung durchziehen kleine Fältchen die Haut. Das breite Gestell verdeckt die Schläfen, grau melierte Augenbrauen lugen darüber hervor. Seine Sonnenbrille legt er nie ab. Das hat keine modischen Gründe, obwohl Leder einst farbenprächtige Bühnenbilder und extravagante Kostüme entwarf: Er arbeitete im Licht einer Gaslampe und ruinierte sich dabei die Netzhaut. Mehr als 50 Jahre waren „Friedrichstadt-“ und „Admiralspalast“, der „Wintergarten“ oder die „Scala“ Leders zweites Zuhause. Er schneiderte Stars wie Marlene Dietrich, Heinz Rühmann, Johannes Heesters und Gustav Gründgens für mehr als hundert Filme die Kostüme auf den Leib. 1992 verabschiedete sich der Vollblutkünstler aus dem Arbeitsleben, nicht aber von seiner Leidenschaft für Kostüme und Kulissen. „Ich träume bis heute in Farben und meistens von Bühnenbildern. Früher habe ich die am nächsten Morgen gleich gemalt.“ GESICHTER SIND WIE OFFENE BÜCHER Eine Leidenschaft für die bunte Welt des Theaters hegte auch Edith Wolffberg. Doch dass sie als Gast im Publikum des Berliner „Walhalla“-Theaters saß, in das sie so gerne ging, ist lange her. 1939 verließ Wolffberg mit ihrem Mann und den beiden Kindern ihre Heimatstadt. Das Ziel der jüdischen Familie: Amerika. 67 Jahre vergingen, bevor Wolffberg mit 102 Jahren besuchsweise nach Berlin zurückkehrte. Eine Zornesfalte zwischen ihren Augen, als Hinweis auf Wut, Sorge und Trauer, etwa über den Verlust der Heimat, sucht man in ihrem Gesicht dennoch vergebens. Vielmehr lässt sich der Ausdruck von Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht erkennen. Die Augen sind weit geöffnet, der Blick ist fest. Tief verzweigen sich die Falten zwischen Nase, Mund und Kinn. Kaum sichtbar sind die Lippen – der Mund, ein schmaler Strich. > 35 Harald Timm Wie sich der 100. Geburtstag anfühlt, weiß Harald Timm ganz genau. „Der 100. Geburtstag war für mich ganz schlimm. Das war wie Sterben. Ab 101 fängt das Leben dann aber wieder neu an“, sagt Timm. Anna Gerold Mit 40 bekam Anna Gerold ihr erstes Kind, mit 43 Jahren das zweite. In ihrer Münchener Wohnung waren die Freunde der Kinder stets willkommen. Besonders an einen fußballbegeisterten Schulkameraden ihrer Töchter erinnert sich Gerold. Aus dem sollte später sogar einmal ein Weltmeister werden. 36 37 ZUR PERSON ANDREAS LABES Walter Jonigkeit mit Hollywood-Diva Ava Gardner auf den Filmfestspielen im Jahr 1952. Fotograf Ein breites Lächeln und tiefe Mundwinkelfalten bestimmen dagegen den Gesichtsausdruck von Walter Jonigkeit – im Alter von 101. Wache Augen, umspielt von Lachfältchen, und ein schelmischer Blick sprechen von Lebenslust. Als ältester Kinobesitzer Berlins führte ihn sein Weg noch täglich in sein kleines Büro über dem Kinosaal des „Delphi Filmpalast“ am Bahnhof Zoo. 1949 hatte Jonigkeit das im Krieg zerstörte Haus wiedereröffnet. Mit seiner großen Leinwand, der neuesten Technik und mehr als 1.000 Sitzplätzen galt das „Delphi“ als größtes und modernstes Kino seiner Zeit. Der älteste Kinobesitzer war auch mal der jüngste Kinobesitzer Berlins. Mit 27 Jahren eröffnete der Kaufmann 1934 sein erstes Kino, die „Kamera Unter den Linden“. Drei Jahre später kaufte er die „Kurbel“. Walter Jonigkeit Walter Jonigkeit war Berlins dem Kinosaal des Berliner fängt das Leben dann aber wieder neu an.“ „Delphi-Filmpalast“ am Bahn- — HARALD TIMM ältester Kinobetreiber. Mit über 100 Jahren zog es ihn noch täglich in sein Büro über hof Zoo. Im Alter von 102 verstarb Jonigkeit 2010 in Berlin. 38 „AB 101 Jonigkeit erinnert sich: „In der ‚Kurbel‘ haben wir zweieinhalb Jahre lang ‚Vom Winde ver weht‘ gespielt. ‚Ku’damm, Ecke Giesebrechtstraße. Vom Winde verweht. Bitte aussteigen!‘ riefen die Schaffner in der Straßenbahn immer.“ Einen weiteren Jahrhundertmenschen fand Fotograf Andreas Labes in Harald Timm. An das Gefühl, 100 Jahre alt zu werden, erinnert er sich mit Grausen: „Der 100. Geburtstag war für mich ganz schlimm. Das war wie Sterben. Ab 101 fängt das Leben dann aber wieder neu an.“ Wie Timm die magische Hundert-Jahre-Grenze erreichen und überwinden konnte? „Wichtig ist der innere Frieden, den muss man suchen. Wenn man ihn gefunden hat, kann er das Leben verlängern.“ Anna Gerold hat auf das Glück ihres Lebens lange warten müssen. 13 Jahre vergingen, bevor sie ihren Johann heiraten konnte. Denn Gerold arbeitete als Hausmädchen bei einem älteren Ehepaar und hatte zugestimmt, sich um beide bis zu ihrem Tode zu kümmern. Eine eigene Familie hatte da keinen Platz. Erst 1944 wurde geheiratet. Ein Jahr später, im Alter von 40, wurde Anna Gerold zum ersten Mal Mutter, drei Jahre später kam ihre zweite Tochter zur Welt. Ab da ging es in ihrem Haus laut und lebhaft zu. Nur zu gerne brachten die Töchter nach der Schule ihre Freunde mit. Besonders an einen Schulkameraden ihrer Töchter erinnert sich Gerold: an den fußballbegeisterten Franz, dessen Nachname damals noch niemandem etwas sagte: Beckenbauer. Andreas Labes arbeitet für verschiedene Verlage, Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem für „Handelsblatt“, „Mare“ und „Stern“, sowie für Kunden wie das Bundesministerium für Gesundheit, das Institut für Medizinische Diagnostik, die Deutsche Bahn oder die Deutsche Bank. Der Fotograf lebt und arbeitet in Berlin. Andreas Labes (Hg.) 100 Jahre Leben Porträts und Einblicke 29,95 Euro 39 SPRECHZEIT Dr. Stefan Hertl, Mannschaftsarzt von Borussia Mönchengladbach, mit seinem Patienten Martin Stranzl. Sprechstunde? Samstags um halb vier! Wenn samstags im Borussiapark in Mönchengladbach der Fußball rollt, sitzt Dr. Stefan Hertl wie immer an der Außenlinie. Denn wenn die Wade eines Spielers zwickt, ist der Bundesliga-Mannschaftsarzt sofort zur Stelle. Doch auch in seiner Praxis kümmert sich der Orthopäde um seine Patienten. Im Interview spricht Dr. Hertl über sekundenschnelle Entscheidungen auf dem Spielfeld und über die medizinische Entwicklung im Leistungssport. 40 41 SPRECHZEIT „Wer die Arbeit mit der Mannschaft nicht auch als Hobby betrachtet, hält das nicht lange durch. Es macht mir einfach Spaß.“ ZUR PERSON H err Dr. Hertl, meist sieht man Sie, wenn Sie auf das Feld rennen, um einen Spieler zu verarzten. Hat Ihr Arbeitstag nur 90 Minuten? DR. STEFAN HERTL: Natürlich nicht. Mannschaftsärzte leisten eine Rundumbetreuung der Spieler. Während der Saison begleiten sie die Mannschaft vor und nach den Spieltagen intensiv. Dazu kommen orthopädische, zahnärztliche, augenärztliche und physiotherapeutische Untersuchungen in der Sommer- und der Winterpause. So stellen wir die Leistungswerte jedes Spielers fest. Diese helfen uns, den Heilungsprozess nach einer Verletzung einzuordnen: Erst wenn der Spieler seine „Normalwerte“ wieder erreicht, ist er gesund. Sie arbeiten nicht nur als Mannschaftsarzt für die Borussia, sondern haben auch eine eigene Praxis als Orthopäde. Wie sieht Ihre Arbeitswoche aus? Von Montag bis Freitag bin ich in der Praxis für meine Patienten da. Zum Glück ist sie nah am Borussiapark in Mönchengladbach, sodass die Spieler mich auch schnell in der Praxis erreichen können. Mittwochs bin ich ohnehin immer am Stadion und wenn wir samstags ein Heimspiel haben, bin ich schon beim Abschlusstraining am Freitag vor Ort. Samstags bin ich zwei Stunden vor dem Anpfiff im Stadion und dann begleite ich natürlich das Spiel. Fahren Sie auch zu Auswärtsspielen? Bei Auswärtsspielen ist mein Kollege im 42 DR. STEFAN HERTL Verein im Einsatz. Ich bin nur bei den Heimspielen dabei. Nach dem Spiel bleibe ich so lange wie nötig, etwa um Verletzungen zu behandeln oder auch Dopingkontrollen zu begleiten. Meistens komme ich erst am Samstagabend nach Hause. Sonntags geht es um neun Uhr weiter, wenn sich die Spieler zum Auslaufen treffen. Dann schaue ich, wie sich Erkrankungen entwickelt haben, und leite gegebenenfalls weitere Untersuchungen wie Ultraschall oder Kernspin ein, damit wir keine Zeit verlieren. Apropos Zeit: Klingt wie ein stetiger Wettlauf gegen die Uhr. Ich sehe das so: Mannschaftsarzt ist nicht nur ein Beruf. Wer die Arbeit mit der Mannschaft nicht auch als Hobby betrachtet, hält das nicht lange durch. Es macht mir einfach Spaß. „Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich meine Praxis DEM VEREIN VORZIEHEN.“ Ist es nicht schwierig, auf dem Spielfeld innerhalb von Sekunden eine Diagnose stellen und entscheiden zu müssen, ob ein Spieler weiterspielen kann oder nicht? Mit den Jahren sieht man schon am Bewegungsablauf, ob etwas passiert ist oder nicht. Seit 1989 habe ich, zunächst für Borussia Dortmund und für den Deutschen Fußball-Bund, hunderte Spiele von der Bank aus gesehen. Von dort sieht man Spiele ganz anders als von der Tribüne aus. Ich erkenne schon an der Art, wie ein Zweikampf entsteht, ob etwas passieren kann. Der präzise Blick auf einzelne Details im Spielgeschehen hilft mir immens dabei, Verletzungen richtig einzuschätzen und schnell die richtige Entscheidung zu treffen. Wer rasch gesund wird, schießt eher wieder Tore. Geht schnelle Heilung nicht zulasten der langfristigen Gesundheit eines Spielers? Deshalb versuchen wir Mannschaftsärzte, schwere Verletzungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Man kann natürlich nicht vermeiden, dass ein Spieler sich das Knie verdreht. Aber schwere Muskelverletzungen bahnen sich zum Beispiel durch kleinere an, vor allem, wenn man zu früh oder zu stark weiterbelastet. Dann bespreche ich mit dem Trainerstab, dass der Spieler vielleicht ein, zwei Tage individuell trainiert und die Belastung reduziert. Mit dem jetzigen Trainer Lucien Favre klappt das hervorragend. Wir sprechen jeden Tag darüber. Frühere Spitzensportler werden nach ihrer aktiven Karriere im schlimmsten Fall ein Leben lang von körperlichen Leiden geplagt. Ist das Berufsrisiko? Vermeidbar ist es auf keinen Fall, denn dafür ist die körperliche Belastung für professionelle Fußballer zu hoch – Tendenz: steigend, übrigens. Vergleichen Sie das heutige Tempo mal mit dem der Weltmeisterschaft 1970! Damals konnten Spieler den Ball annehmen und sich in Ruhe eine Anspielstation suchen. Heute liegen bei Topteams zwischen Ballannahme und Abspiel im Schnitt weniger als 1,5 Sekunden. Auch die Athletik hat deutlich zugenommen. Die Spieler laufen schneller und viel mehr als früher. Dadurch werden Sehnen, Muskeln, Knochen und Gelenke wesentlich intensiver belastet als früher. Die Spieler heute sind also gefährdeter als früher? Nein. Viele Spieler gehen zwar durch die Vielzahl an Wettbewerben und die Schnelligkeit des Spiels an ihre Belastungsgrenze. Doch die gute Nachricht ist: Nicht nur der Sport hat sich weiterentwickelt, sondern auch die medizinische Ausbildung. Die Gesundheit der Spieler ist viel wichtiger geworden. 1970 zum Beispiel konnte man Spieler nicht auswechseln, auch nicht, wenn sie verletzt waren. Die Topvereine hatten damals nicht mehr als 15 Spieler im Kader und haben eine ganze Saison quasi mit derselben Aufstellung durchgespielt. Viele Spieler aus den 1970er-Jahren haben heute künstliche Gelenke, auch weil sie früher Mannschaftsarzt von Borussia Mönchengladbach und niedergelassener Orthopäde Dr. Stefan Hertl (55) führt gemeinsam mit einem anderen Arzt eine Gemeinschaftspraxis in Mönchengladbach. Nach seiner Promotion und Tätigkeit als chirurgischer Assistenzarzt ließ sich Hertl 1994 als Facharzt für Orthopädie nieder. Dr. Stefan Hertl gehört zu den Urgesteinen der Mannschaftsärzte in der Fußballbundesliga. Seine Laufbahn begann er bereits 1989, als Trainer Horst Köppel ihn zur Borussia nach Dortmund holte. Schon nach der WM 1990 folgte Hertl seinem Freund Rainer Bonhof, damals Jugendtrainer, zum Deutschen Fußball-Bund. Dort arbeitete der Orthopäde 15 Jahre lang für verschiedene Jugendmannschaften, bevor er 2003 zu „seiner“ Borussia nach Mönchengladbach wechselte. fitgespritzt wurden. Das alles gibt es heute nicht mehr. Die medizinische Betreuung ist heute eine ganz andere als früher. Wirkt sich diese Entwicklung auch auf die Arbeit in Ihrer Praxis aus? In unserer Praxis haben wir sehr viele Breitensportler. Auch deren langfristige Gesundheit ist viel wichtiger als früher. Im Prinzip versuchen wir, den gleichen Standard zu halten und die Patienten lange zu begleiten. Ihre Vorgeschichten zu kennen, hilft bei der Behandlung immer. Wenn Sie sich zwischen Praxis und Verein entscheiden müssten – was würden Sie tun? Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich meine Praxis dem Verein vorziehen. Denn mein Geld verdiene ich als freiberuflicher, niedergelassener Arzt. Die Arbeit im Verein muss man eher als zeitaufwendiges Hobby betrachten. 43 Hier soll sich jeder heimisch fühlen: die Demenz-WG am Spittelmarkt in Berlin-Mitte. Kein Stress, keine festen Frühstückszeiten: In einer WG geht es gemeinhin locker zu. Das gilt auch, wenn die Bewohner gar keine Studenten sind, sondern an Demenz leiden. SPRECHZEIT Morgen wird wie heute sein 44 Zu Besuch in einer Wohngemeinschaft für Demenzpatienten B erlin, im Februar. Es ist ein kaltsonniger Morgen, die Temperaturen liegen noch um den Gefrierpunkt. In der fünften Etage eines Hochhauses im Bezirk Mitte ist es jedoch schon Frühling: Weidenkätzchen und Blumen schmücken die gemütliche Wohnküche der Demenz-WG am Spittelmarkt. Das ist mehr als nur Dekoration. „Die Jahreszeiten bieten unseren Bewohnern Halt und Orientierung“, sagt Nils Harm. Er leitet die Wohngruppe. „Wenn die Jahreszeiten wechseln – oder zu Feier tagen wie Ostern oder Weihnachten –, dekorieren wir den Raum um. Wir wollen nicht, dass unsere Bewohner jeden Tag genau gleich erleben. Und der Rhythmus der Jahreszeiten ist etwas, was man auch als Demenzkranker noch gut mitbekommt.“ Zeit ist relativ. Das wird schnell klar, wenn man die Zimmer der WG-Bewohner betritt. Wer hier wohnt, ist zwischen 60 und 85 Jahre alt und hat – je nachdem, wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist – eine sehr individuelle Vorstellung von der Zeit. Einer hat in seinem Zimmer gleich drei Uhren und einen Kalender, andere wiederum nichts davon. Nils Harm erklärt: „Viele Menschen spüren zu Beginn der Krankheit, wie ihnen die Zeit Stück für Stück entgleitet. Sie kommen zu spät oder sie stehen mitten in der Nacht auf, weil sie glauben, dass der Tag schon begonnen hat.“ Anfangs leiden die Menschen sehr darunter, dass > 45 SPRECHZEIT Die Stimmung in der Demenz-WG hat nichts von der häufig bedrückenden Atmosphäre eines Pflegeheims. Ausflüge oder Aktivitäten wie die Kunsttherapie sind freiwillig. Nur wer Lust hat, macht mit – und auch nur so lange, wie es Spaß macht. sie nicht mehr so funktionieren wie früher. Es setzt sie unter Druck, dass sie solche vermeintlich einfachen Dinge nicht mehr können. „Später, wenn die Krankheit fortschreitet, merken sie auch das nicht mehr – aber dann brauchen sie Hilfe, weil sie so nicht mehr allein leben können.“ ZUM FRÜHSTÜCK LÄUFT ANDY BORG IM RADIO In der Demenz-WG wohnen Menschen mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen der Krankheit. Das in drei Schichten arbeitende Betreuerteam der Wohngemeinschaft lässt den Bewohnern ihre persönlichen Freiheiten: Da gibt es keine festen Termine für Mahlzeiten. Und Veranstaltungen wie Musik- und Kunsttherapie oder Ausflüge sind freiwillig. Wer Lust hat, macht mit – und wer keine Lust hat, bleibt einfach zuhause. Der lockere Umgang miteinander macht sich bemerkbar: Die Stimmung in der DemenzWG hat nichts von der häufig bedrückenden Atmosphäre eines Pflegeheims. Morgens um zehn trifft man einige der Bewohner beim gemeinsamen Frühstück, es läuft Schlagermusik von Andy Borg – und manch einer summt die vertrauten Melodien mit. Andere 46 „Viele Menschen spüren zu Beginn der Krankheit, wie ihnen die Zeit Stück für Stück ENTGLEITET.“ — NILS HARM schlafen noch in ihrem Zimmer oder sitzen auf dem Sofa neben einem großen Käfig mit Wellensittichen. Später wird eine Kunsttherapeutin kommen, die gemeinsam mit den Bewohnern Bilder malt. Sie geht liebevoll auf jeden einzelnen ein: Eine Dame hat mittendrin keine Lust mehr zu malen und legt mit einer resoluten Geste ihren Zeichenstift beiseite – und das ist okay so. Eine andere ist völlig vertieft in ihr Bild und malt mit sichtlicher Freude. Am Schluss darf jeder Künstler sein Blatt signieren. ES IST WICHTIG, DASS SICH JEDER EINZELNE WOHLFÜHLT Im Alltag gehen sich die Bewohner gegenseitig zur Hand: So ist einer noch in der Lage, Brote zu schmieren, der andere räumt die Spülmaschine ein. Und wenn die Demenz fortschreitet, ist es den Bewohnern so noch möglich, voneinander zu lernen. Nicht zuletzt sitzen alle durch ihre Erkrankung im selben Boot. Niemand muss sich für seine Demenz schämen. Niemanden stört es, wenn bei der Kunsttherapie ein Bewohner zufrieden in seinem Stuhl schläft, statt an seinem Bild weiterzuarbeiten. Probleme lösen sie selbst, kleinere Streitigkeiten legen sie friedlich bei. Vor einiger Zeit gab es einen Neuzugang in der Wohngemeinschaft: eine ältere Dame, die mit Vorliebe und erstaunlichem Geschick stets alle Weintrauben vom Obstteller stibitzte, bevor die anderen zugreifen konnten. „Die war ein paar Tage lang unten durch“, lacht Nils Harm. Das Problem wurde ausdiskutiert – und inzwischen ist die Dame voll in der WG angekommen. Sie fühlt sich wohl hier, sagt sie. Und sie weiß, wovon sie spricht, denn vorher wohnte sie in einem städtischen Pflegeheim, wo es wesentlich anonymer zuging. „Hier gefällt es mir viel besser“, sagt sie. „Als ich einen Rollator brauchte, haben die Pfleger sich sofort darum gekümmert. Wir haben ihn sogar zusammen ausgesucht und gekauft.“ WER EINZIEHT, ENTSCHEIDEN ALLE ZUSAMMEN Solche „Highlights“, aber auch der kleine Zwist um die Weintrauben zeigen, dass auch Demenzkranke noch in der Lage sind, sich an Ereignisse aus der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit zu erinnern. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie manche Bewohner sich plötzlich wieder an Erlebnisse und Begegnungen aus der Vergangenheit erinnern“, erzählt Harm. „Manche erzählen mir Dinge, die ich erst für ein Märchen halte – und hinterher stelle ich fest: Die Dame hatte Recht.“ Vieles an der Demenz-WG erinnert an eine Studentenwohngemeinschaft: Es gibt Gemeinschaft und Rückzugsmöglichkeiten, schöne Erlebnisse und Konflikte. Auch bei Neuzugängen haben die Bewohner ein Mitspracherecht. Wer in die WG aufgenommen werden möchte, kann einige Wochen zur Probe wohnen. Gemeinsam mit den > 47 Medizin im Team Was ist Demenz? Nils Harm (links) ist Pfleger und zugleich Vertrauensperson für die Bewohner. „Altbewohnern“ entscheidet das Betreuerteam danach darüber, ob diese Person in die WG passt. Manchmal gehen die Bewohner zum Seniorentanz oder zum Weihnachtsmarkt. Die WG-Bewohner sind unabhängige Mieter ihrer Wohneinheit und entrichten dafür eine ganz normale Miete. Der Einsatz der Pflegekräfte wird umgelegt und mit der Pflegeversicherung abgerechnet. ALLES GANZ NORMAL – NUR EBEN ANDERS ALS BEI ANDEREN Manches ist allerdings auch anders als in einer klassischen Wohngemeinschaft: Die Wohnungstür ist hinter einem Vorhang versteckt, sodass Bewohner nicht versehentlich im Treppenhaus landen und dann den Weg zurück nicht finden. Die Sanitärräume sind geräumig und behindertengerecht. Wer Hilfe bei der persönlichen Pflege oder beim Ankleiden benötigt, der bekommt sie – und wer noch gut alleine zurechtkommt, dessen Privat- und Intimsphäre wird gewahrt. Und noch einen gewichtigen Unterschied gibt es: „Der andauernde Streit um die Putzdienste fehlt“, sagt Nils Harm und lacht. 48 Unter Demenz versteht man den stetigen Verlust der Fähigkeiten des Gehirns. Zunächst leiden darunter das Kurzzeitgedächtnis, die Merkfähigkeit und später auch das Langzeitgedächtnis. Damit verändern sich die Wahrnehmung und das Verhalten der Betroffenen, die im Verlauf der Krankheit viele grundsätzliche Fähigkeiten verlieren. Eine Demenz hat verschiedene Ausprägungen und Ursachen. Primäre Demenzen entstehen direkt im Gehirn und machen 90 Prozent der Krankheitsfälle aus. Dazu gehört auch die häufigste Form, die Alzheimer-Krankheit. Sekundäre Demenzen treten als Folge einer anderen Krankheit, zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen oder Alkoholismus, auf. In diesen Fällen gibt es Chancen auf Heilung, wenn die Grunderkrankung erfolgreich behandelt wird. Demenzerkrankungen gehören zu den häufigsten gesundheitlichen Problemen im höheren Lebensalter. Im Jahr 2014 litten allein in Deutschland bis zu 1,5 Millionen Menschen an Demenz, jährlich erkranken rund 300.000 Menschen neu. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels stellt deren Versorgung eine immer größere Herausforderung für das Gesundheits- und Sozialwesen dar. Rat und Hilfe Bei Fragen zu Diagnose und Therapie von Demenz oder zu Betreuung, Pflege und Umgang mit Demenzkranken stehen die Beraterinnen und Berater der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. zur Verfügung. 030 259 37 95 14 www.deutsche-alzheimer.de Der Neurologe und Psychiater Dr. Jens Bohlken spricht im Interview über die Bedeutung der Diagnose und die Therapie bei einer beginnenden Demenzerkrankung. H err Dr. Bohlken, wie macht sich eine Demenz bemerkbar? DR. BOHLKEN: Meist treten die ersten Symptome einer beginnenden Demenzerkrankung bei Menschen auf, die über 60 Jahre alt sind. Zu den ersten Anzeichen zählen Gedächtnisstörungen, aber auch Verhaltensänderungen der Patienten – zum Beispiel traurige Stimmung oder sozialer Rückzug. Worin unterscheidet sich „normale“ Vergesslichkeit von den Anzeichen einer Demenz? Die Gedächtnisstörungen im Rahmen einer Demenz sind meist so stark ausgeprägt, dass der Patient seine bisherigen Alltagsaufgaben – zum Beispiel eine Reise planen oder ein Bankkonto eröffnen – nicht mehr bewältigen kann. Doch auch vorher, sprich bei zunehmender Vergesslichkeit, sollte man den Hausarzt aufsuchen, um Ursachen möglichst früh zu erkennen. Im Rahmen einer Grunduntersuchung kann der Hausarzt eine kurze testpsychologische Untersuchung durchführen. Wird keine Demenz festgestellt – was oft der Fall ist –, sollten Patienten jenseits der 60 Jahre bei weiter zunehmender Vergesslichkeit mindestens einmal im Jahr die Untersuchung wiederholen. Und was, wenn eine Demenz diagnostiziert wird? Dann sollte man sich weiter untersuchen lassen. Am besten kann das ein Facharzt, der sich auf Gedächtnisstörungen spezialisiert hat und entsprechende Medikamente, sogenannte Antidementiva, verordnen kann. Durch sie kann der Krankheitsverlauf verzögert werden. Verzögern ja, heilen nein? Das ist leider richtig. Wir können Demenz heute nicht heilen. Aber mit dem richtigen Behandlungsplan können wir Demenzpatienten und deren Angehörigen helfen, die Erkrankung besser zu bewältigen. Dabei sind auch nichtmedikamentöse Therapie formen wichtig. Welche sind das? Besonders Ergotherapie ist hilfreich, um die Fähigkeiten der Patienten zu erhalten. Die Therapie ist dann wirksam, wenn sie sich nah am Alltagsleben der Patienten orientiert. Daneben gibt es lebensgeschichtlich orientierte Verfahren, die die meist besser erhaltenen Inhalte des Altgedächtnisses nutzen. Reine Übungsprogramme ohne Bezug zum Leben der Patienten sind nur für wenige Patienten geeignet. Und schließlich darf die therapeutische Unterstützung der pflegenden Angehörigen nicht vergessen werden. ZUR PERSON DR. JENS BOHLKEN Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. Jens Bohlken ist Fach- Welche Rolle spielt die medizinische Betreuung während der Krankheit? Bei Demenzen handelt es sich um ein weites Spektrum unterschiedlicher Erkrankungen des Gehirns. Dies erfordert zunächst eine genaue Diagnostik, die oft nur der Facharzt leisten kann. Erst dann können die medikamentöse und die nichtmedikamentöse Therapie er folgen. Die Patienten mit Demenz sind meist alt und haben oft noch viele andere Erkrankungen. Deshalb ist der enge Kontakt zwischen Hausarzt und Facharzt wichtig. Überhaupt kommt es bei der kontinuierlichen Behandlung der Patienten mit Demenzen auf ein gutes Zusammenspiel von Hausarzt, Facharzt, Heilmittelerbringern und Pflegeeinrichtungen an, in das auch die Angehörigen der Patienten immer mit einbezogen werden sollten. arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist seit 1994 in einer Facharztpraxis in Berlin niedergelassen und Autor zahlreicher Veröffentlichungen und Vorträge zum Thema Demenz. Zudem ist Dr. Bohlken lang jähriger Leiter des Demenzreferates im Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN). 49 HEILKUNDE Das geheime Leben der Zimmer pflanzen Haben Sie schon einmal gesehen, wie Pflanzen in einer Arztpraxis gepflegt werden? Nein? Eben! Wir stellen sechs pflegeleichte Pflanzen fürs Wartezimmer und ihre Ansprüche vor. 50 51 Pflanzliche Pflegestufen Der Klassiker Der Sparsame Der Evergreen Die Beliebte Die Anspruchsvolle Die Ewige Die Pflege eines Ficus’ ist ein Kinderspiel. Kein Wunder, dass sich die Pflanze in Büros und Praxen großer Beliebtheit erfreut: Sie verträgt Heizungsluft besonders gut. Kakteen eignen sich bestens für die Fensterbank. Sie sind ausgesprochen robust und lassen sich sehr viel Zeit mit dem Wachstum. Nur gießen darf man sie nicht zu oft – ideal für alle, die nicht viel Zeit für die Pflanzenpflege haben. Diese Pflanze verzeiht alles – nur keine Ruhestörung. Die Aglaonema hält Winterschlaf. Während dieser Zeit will sie nur selten gegossen werden. Sie sollte aber regelmäßig gedüngt werden. Die Yucca-Palme gehört zu den beliebtesten Palmenarten, was an ihrer pflegeleichten Art liegen mag. Sie hat die Fähigkeit, Wasser über einen längeren Zeitraum zu speichern und auch ohne Dünger bis zu fünf Meter hoch zu werden. Licht tut ihr gut. Die Orchidee ist nicht nur etwas für Liebhaber, sondern gedeiht auch in zweckmäßiger Atmosphäre. Alle zwei Jahre muss sie umgetopft werden. Nicht zu oft gießen! Die Kunstpflanze ist ein sehr beständiges Wesen: Ihr Aussehen verändert sich nicht, auch ihre Größe bleibt immer gleich. Wo sie steht, ist ihr egal. Ob Heizungsluft oder dunkle Ecken – sie hält einfach alles aus. Doch ganz ohne Pflege kommt auch sie nicht aus: Kunstpflanzen sind wahre Staubfänger und müssen regelmäßig feucht entstaubt werden, sonst verlieren sie an Glanz und Schönheit. Der Der Die Die Die Die Ficus Kaktus Aglaonema Yucca-Palme Orchidee Plastikpflanze ZEITAUFWAND: ZEITAUFWAND: ZEITAUFWAND: ZEITAUFWAND: ZEITAUFWAND: ZEITAUFWAND: LICHTBEDARF: LICHTBEDARF: LICHTBEDARF: LICHTBEDARF: LICHTBEDARF: LICHTBEDARF: / AUSSEHEN: 52 AUSSEHEN: AUSSEHEN: AUSSEHEN: AUSSEHEN: AUSSEHEN: 53 HEILKUNDE Heute ist alles besser Wer sich krank fühlt, geht zum Arzt – zum Hausarzt. Die Praxis des Arztes ist für seine Patienten ein wohlbekannter Ort mit der Gewissheit verlässlicher Diagnosen. Doch das war nicht immer so. Patientenaufzeichnungen waren schon Mitte des 17. Jahrhunderts ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen Arbeit. EIN KESSEL BUNTES So unterschiedlich wie die beruflichen Möglichkeiten der damaligen Ärzte waren, so vielfältig waren auch die Behandlungsmethoden. Eine der ältesten medizinischen Behandlungsformen, die des Aderlasses, galt bis ins 17. Jahrhundert als eine der wichtigsten überhaupt. Den Patienten wurden erhebliche Mengen Blut abgenommen – ganz K Landärzte begleiteten ihre Patienten schon Ende des 19. Jahrhunderts über längere Zeit. Die weiten Wege waren für Ärzte jedoch sehr mühsam und oft kam ihre Hilfe zu spät. 54 rankheiten sind so alt wie die Menschheit selbst. Genauso lange gibt es Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sie zu heilen. Erst vor geschätzten 10.000 Jahren jedoch entstand so etwas wie der Beruf des Arztes. Von einem einheitlichen Berufsbild konnte dennoch lange Zeit keine Rede sein, ebenso wenig wie von einer Arztpraxis. Die etablier te sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts als feste Adresse. Bis dahin besuchte der Arzt seine Patienten zuhause. Dabei war ein Arzt bis ins 17. Jahrhundert nicht nur Arzt. Er konnte, ja er musste gleichzeitig als Mathematiker, Baumeister, Astrologe sein Geld zu verdienen. Mitte des 18. Jahrhunderts besaßen Ärzte mancherorts sogar das Recht, Bier zu brauen, Arzneimittel herzustellen und sie zu verkaufen. Im 19. Jahrhundert bekleideten Ärzte häufig öffentliche Ämter. Oft hatten sie sogar mehrere Ämter gleichzeitig inne. 1850 gehörten Abklopfen und Abhören zu den modernsten Untersuchungsmethoden. gleich ob sie von Kopfschmerzen, Fieberkrämpfen oder Herzdrücken geplagt wurden. Der Aderlass beruhte auf der Vorstellung, dass zwischen den Körper flüssigkeiten, wie Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle, ein Ungleichgewicht herrsche. Durch die Blutentnahme sollte das Gleichgewicht wiederhergestellt und die Krankheit geheilt werden. So mancher Hausarzt setzte hingegen auf heilkundliche Methoden, wenn es darum ging, die Schmerzen der Patienten zu lindern. Gegen Kopfschmerzen sollten zum Beispiel Pflaster an den Schläfen helfen, von Sauerteigpackungen versprach man sich Linderung bei Schmerzen an den Füßen. Von pulverisiertem Rhabarber versprach man sich sogar eine heilende Wirkung gegen zwei sehr unterschiedliche Leiden: gegen Magenschmerzen und gegen Panikattacken. Die damaligen Methoden wirken aus heutiger Perspektive eher amüsant und willkürlich. Das liegt vor allem an Diagnosen, die noch nicht auf Basis medizinischer Erkenntnisse gestellt werden konnten. Entsprechend kreativ waren die Ärzte bei der Wahl der Diagnoseverfahren: Im 16. Jahrhundert stand selbst bei akademisch gebildeten Ärzten die Behandlung von Krankheiten anhand kosmischer Konstellationen hoch im Kurs. Dabei galten bestimmte Planetenund Sternenpositionen entweder als gesundheitsfördernd oder als schädlich. Zur gleichen Zeit begann man übrigens, die medizinischen Prognosen in Kalender zu drucken, und machte sie so erstmals für jeden zugänglich. Ein Erbe dieser Praktik gibt es auch heute noch: in Horoskopen nämlich. EINE FRAGE DER TECHNIK Dass die damaligen Mediziner so gut wie nichts über Infektionen, Viren und Bakterien wussten, hing jedoch schlicht mit der technischen Entwicklung zusammen. Das änderte sich schließlich Ende des 19. Jahrhunderts, als der ärztliche Blick durch die Weiterent- Bessere Diagnose durch bessere Technik: Mikroskop von 1850. wicklung des Mikroskops entscheidend geschärft wurde: Erstmals war es möglich, menschliches Gewebe detailliert zu betrachten. Heute ist ein medizinisches Labor ohne Mikroskop unvorstellbar. Einen Bestandteil der heutigen ärztlichen Untersuchung gab es übrigens schon in den Zeiten von Aderlass und Astrologie: die Anamnese. Schon vor Jahrhunderten haben Arzt und Patient zunächst über aktuelle und vergangene Beschwerden und Behandlungen gesprochen. Und so wie heute wurde auch schon damals alles sorgfältig in Krankenakten dokumentiert. Karteien, Hefte, Bücher, Praxisjournale oder Fallsammlungen dienen heute wie damals als eine Gedächtnisstütze, als Wissens- und Erfahrungsspeicher für die Vorgeschichte eines Patienten. Und der stand schon immer im Mittelpunkt der ärztlichen Arbeit. Damals wie heute. LINK ZUM WEITERLESEN Mehr über den heutigen Beruf des Arztes lesen Sie hier: www.ihre-aerzte.de 55 HEILKUNDE Von Mega- und Antitrends Gesundheit „to go“ Wer gesund bleiben will, muss etwas dafür tun. Doch viele Apps für Smartphones und Tablets verwandeln das Streben nach Gesundheit in ein echtes Pflichtprogramm mit Ernährungs- und Trainingsplänen – und Überwachung inklusive. I n der Ruhe liegt die Kraft, heißt ein altes Sprichwort. Doch wenn es um Fitness und gesunde Ernährung geht, scheint diese Weisheit immer mehr in den Hintergrund zu rücken. Das Streben nach Gesundheit verfolgt uns im wahrsten Sinne des Wortes auf Schritt und Tritt: Unzählige Anwendungen für Smartphones und TabletComputer, sogenannte Apps, übernehmen das Kalorienzählen, bieten Nährwerttabellen und organisieren ganze Ernährungs- und Trainings-, vor allem aber: ganze Zeitpläne. Etwa 15.000 Gesundheits-Apps gab es im Jahr 2011 auf dem deutschen Markt, weltweit waren es rund 40.000. Das hat der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (Bitkom) errechnet. „Gesundheit to go“ heißt die Devise. Doch was eigentlich dabei helfen soll, gesund zu werden und gesund zu bleiben, übernimmt in vielen Fällen die Kontrolle: Die Apps geben den Rhythmus vor, takten den Tagesablauf der Nutzer durch und bestimmen, was zu tun ist, um möglichst gesund zu leben. Täglich fordert die App die volle Aufmerksamkeit ihres Nutzers. Kalo- 56 rientabellen müssen gefüllt, sportliche Aktivitäten protokolliert werden. Die App mahnt und motiviert und übernimmt ganz nebenbei die Überwachung von Körper und Geist. SCHUTZ PERSÖNLICHER DATEN Viele Nutzer von Gesundheits-Apps gehen allzu sorglos mit privaten Daten um. Fakt ist jedoch, dass die Anbieter der Apps mit jeder Information, die preisgegeben wird, das Bild des Users vervollständigen. Und mehr noch: Verhaltensweisen und Vorlieben lassen nicht nur Rückschlüsse auf den Nutzer zu – etliche Apps geben diese sehr persönlichen Daten sogar ungefragt weiter. Nichtsdestotrotz hat das Sammeln von Daten über den eigenen Gesundheitszustand Hochkonjunktur. Fitnessarmbänder und Pulsuhren überwachen mit Bewegungssensoren, wie viele Schritte täglich zurückgelegt wurden, messen zudem die Herzfrequenz und dokumentieren den Kalorienverbrauch. Die Daten werden per Bluetooth oder USB-Verbindung mit Smartphone Judith Mair entgeht kein Trend. Warum Gesundheit viel mehr ist als das und was sie an „Quality Time“ und „Work-Life-Balance“ furchtbar findet, erklärt die Trendforscherin im Interview. oder Tablet synchronisiert. So entsteht ein detailliertes Bewegungsprofil. Die App weiß so, ob der Nutzer seine Tages- und Wochenziele erreicht hat. Ist das nicht der Fall, signalisiert sie Nachholbedarf und diktiert, wie viel Leistung auf dem Weg zu einem gesunden Körper noch erbracht werden muss. Es gibt sogar Zahnbürsten, die kontrollieren, wie lange und wie regelmäßig man sich die Zähne putzt – virtuelle Belohnung inklusive: Via Bluetooth werden auch hier die Daten in einer App gesammelt und können mit denen der Familienmitglieder verglichen werden. Der beste Putzer bekommt am Ende des Tages die meisten Punkte. Ähnlich funktioniert die erste „Smart Gabel“, die nicht nur misst, wie schnell man isst, sondern auch, in welchen Mengen sich ein Esser wovon ernährt. Natürlich sendet auch die Gabel die Daten an eine App, mit deren Hilfe die volle Ernährungskontrolle schließlich zum Gewichtsverlust führen soll. MIT RISIKEN UND NEBEN WIRKUNGEN Kein Wunder, dass all diese digitalen Gesundheitsprogramme nicht ohne Risiken und vor allem nicht ohne Nebenwirkungen bleiben. Denn je mehr digitale Helfer das gesunde Leben vorschreiben, desto mehr Zeit verbringen wir damit, sie mit Daten zu füttern. Zudem kann der ständige Druck, auf Ernährung und Trainingspläne achten zu müssen sowie den Tagesablauf gezielt daran anzupassen, anstrengend sein und Stress verursachen. Dagegen soll wiederum eine Auszeit helfen: „Digital Detox“, zu Deutsch „digitale Entgiftung“. Wer die Digitaldiät macht, verzichtet für eine gewisse Zeit bewusst auf Smartphones, Tablets und Computer. Die Devise: Abschalten. Endlich Ruhe. Und Zeit, wieder Kraft zu tanken. F rau Mair, ausgewogene Ernährung, viel Sport, der Verzicht auf Alkohol und Nikotin – alles nur ein zeitlich begrenzter Trend? JUDITH MAIR: Nein, das Thema Gesundheit ist mehr als ein Trend. Es ist ein Megatrend, der das Leben nachhaltig und grundlegend verändert – egal, in welchem gesellschaftlichen Bereich. Inwiefern? Das sieht man zum Beispiel an der Ernährung. Früher hat man „Centrum“ genommen und heute trinkt man einen grünen Smoothie, also einen Gemüse- oder Vitaminsaft. Oder am Trend Überalterung: Alt werden, das wollen alle – alt sein, das will keiner. Deshalb versuchen die Menschen, die Zeit bis dahin zu verlängern, indem sie fit bleiben. Seine Zeit optimal zu nutzen ist also auch ein Trend? Definitiv. Digitalisierung und Mobilität sind ja Entwicklungen, die im Kern vieles beschleunigen. Ich glaube allerdings, dass sie das Leben für die meisten anstrengender machen – was dann zu dem verzweifelten Versuch führt, sich dem Stress zu entziehen: Man geht zum Yoga und legt sich danach in einen Flowting-Tank, nur um danach mit allem weitermachen zu können. In den 1980ern hat man Flash Dance oder Aerobic gemacht. Heute zählt, wie man sich fühlt und wie man auftankt. Das macht die Antitrends so interessant. … die da wären? Zum Beispiel „Quality Time“ und „Work-LifeBalance“. Die Menschen haben das Gefühl, zwischen Arbeit und Familie aufgerieben zu werden, und wollen ihre Zeit anders gewichten. Das Phänomen „Quality Time“, also die Aufwertung der wenigen Zeit, die man hat, finde ich ganz schlimm. Da heißt es dann: „Ich sehe mein Kind zwar nur eine Stunde am Tag, aber die ist dann besonders intensiv.“ Ähnlich ist es mit der „Work-Life-Balance“, die gern mit einer Frau dargestellt wird, die bügelt, und auf dem Bügelbrett steht ein Laptop. Oder mit einer Frau, die am Computer sitzt und ein Kleinkind auf dem Schoß hat. Da frage ich mich: Welche Doktorarbeit, Präsentation oder Kalkulation ist so jemals verfasst worden? Da werden Idealbilder erzeugt, an denen man nur scheitern kann. Das sind Scheinwelten. Judith Mair und Bitten Stetter Moral Phobia Ein Zeitgeist-Glossar von Achtsamkeit bis Zigarette Gudberg Verlag, 2015 29,90 Euro ZUR PERSON JUDITH MAIR Trendforscherin Judith Mair ist Trendforscherin und Unternehmerin. Sie unterrichtet an der Zürcher Hochschule der Künste und hat mehrere Bücher veröffentlicht. 57 Erkennen Sie die inneren HEILKUNDE 1. 2. 3. 4. Acht Organe des Menschen sind auf dieser Seite abgebildet, acht Fragen müssen Sie beantworten. Doch welche Frage zu welchem Organ gehört, das verraten wir nicht – das ist Ihre Aufgabe! Nach dem Lösen jeder Frage tragen Sie die Antwort in das Kreuzworträtselraster ein. Aus den markierten Feldern ergibt sich das Lösungswort. Viel Spaß! 5. Auseinandergefaltet ist dieses Organ mehr als viermal so lang wie sein Besitzer. Manchmal muss der unbenutzte Teil dieses Organs operativ entfernt werden. 1 Dieses Organ besteht hauptsächlich aus Lappen – sehr vielen kleinen und zwei großen. 5 6 2 6 1928 wurde erstmals ein Gerät verwendet, das dieses Organ eine Zeitlang ersetzen kann. Im umgangssprachlichen Namen des Geräts kommt ein Metall vor. Welches? 3 2 8 Nach der Form dieses Organs ist eine Hülsenfrucht benannt. Wie heißt das Organ? 1 4 6. 7. 8. 3 Dieses Organ kann etwa einen Liter Flüssigkeit fassen. Es liegt in einem Körperabschnitt, dessen Name auch Schwimmbad-Besuchern geläufig ist. Wie heißt dieser Körperabschnitt? Ganz schön überflüssig ist eine Erkrankung dieses Organs, welche man früher wie nannte? 5 7 Es macht nur zwei Prozent der Körpermasse aus, verschlingt aber 20 Prozent des menschlichen Energiebedarfs. Von welchem Organ ist die Rede? Die Auflösung des Rätsels finden Sie auf Seite 62. 58 Werte? Es hat immerhin eine Kammer und einen Vorhof, doch es ist kein Gebäude. Wovon ist die Rede? 1 2 3 U 5 6 59 HEILKUNDE Kinder, Kinder! Kannst du Emma helfen? Emma hatte einen Fahrradunfall. Welchen Weg muss sie nehmen, um so schnell wie möglich zu Dr. Schneider zu kommen? Wann lebten die Dinos? Einen echten Dinosaurier hat noch kein Mensch gesehen. Denn als die Dinos vor vielen Millionen Jahren ausgestorben sind, gab es noch gar keine Menschen. Doch nicht alle Dinosaurier lebten zur gleichen Zeit. Deshalb hat ein Tyrannosaurus Rex zum Beispiel nie gegen einen Plateosaurus gekämpft. Wenn du wartest, vergeht die Zeit viel langsamer als sonst, oder? Nein, wenn wir warten, fühlt es sich nur so an, als würde die Uhr langsamer laufen. Wenn du aber etwas tust, das dir viel Spaß macht, bist du abgelenkt und die Zeit vergeht scheinbar wie im Fluge. Plateosaurus Vor 217 bis 201 Millionen Jahren EMMA FRAGT DR. SCHNEIDER „SAG MAL, DR. SCHNEIDER, Was ist eigentlich Schau genau! Emma hat den schnellsten Weg zu Dr. Schneider gefunden. Der Arzt hat Emmas Wunde versorgt und ihr fünf Pflaster mitgegeben. Leider kann Emma sie nicht mehr finden. Kannst du ihr helfen? 60 eine Impfung? Zum Schutz vor einigen Krankheiten gibt der Arzt dir eine Spritze mit Krankheitserregern. In der Impfung gegen Masern sind zum Beispiel Masernviren. Dein Körper bildet dann Stoffe, mit denen er eine Zeitlang genau diese Krankheit abwehren kann. In dieser Zeit wirst du nicht mehr krank, wenn du wieder mit den Viren in Kontakt kommst. Danach musst du die Impfung wiederholen. warum muss ich manchmal zum Arzt gehen, obwohl ich gesund bin?“ Bis du sechs Jahre alt bist, Emma, musst du regelmäßig zum Kinderarzt gehen. Er sorgt dafür, dass du gesund bleibst, und kann etwas gegen eine Krankheit tun, sobald sie sich anbahnt. Mit 13 Jahren solltest du dich dann noch mal untersuchen und deine Impfungen überprüfen lassen. Diplodocus Vor 157 bis 145 Millionen Jahren Tyrannosaurus Rex Vor 68 bis 66 Millionen Jahren 61 HEILKUNDE Neulich beim Arzt IMPRESSUM Herausgeber Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)*, gesetzlich vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden, Dr. Andreas Gassen Verantwortlich (i. S. d. P.) Dr. Andreas Gassen Kontakt D Das P Patientenmagazin Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin n Postfach 12 022 64, 10592 Berlin Dr. Roland Stahl, Leiter Kommunikation E-Mail: RStahl @ kbv.de www.kbv.de Konzeption, Redaktion und Gestaltung ressourcenmangel GmbH, Berlin www.ressourcenmangel.de Fotos Maya Claussen (Titelbild, S. 4, 26–28, 30, 31), ddp images GmbH (S. 4, 10), RTL/Kraehahn (S. 4, 11), Britta Leuermann (S. 5, 44–48), Witters (S. 5, 40–41), Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt (S. 5, 55), Science Photo Library – PASIEKA/Gettyimages (S. 5, 58), Katka Pruskova/Shutterstock (S. 5, 52), gulserinak1955/Shutterstock (S. 6), Michael . Gray/ Shutterstock (S. 7), Schneider Verlag (S. 7), Privat (S. 7, 49, 57), Eric Isselee/Shutterstock (S. 8, 9), Alexander Ermolaev/Shutterstock, Antonio Gravante/Shutterstock, Smileus/Shutterstock, Denis Tabler/Shutterstock, Kuttelvaserova Stuchelova/Shutterstock (S. 8), Edel Germany GmbH, ZDF/Thomas Waldheim, RTL (S. 10), ZDF/Nicole Manthey, ZDF/novafilm fernsehprod. Berlin, MDR/Rudolf K. Wernicke (S. 11), Andreas Labes (S. 12–19, 32–39), Lopata/axentis.de (S. 24), picturealliance/dpa (S. 29, 30), picture alliance (S. 31), Borussia Mönchengladbach (S. 43), Zhu Difeng/Shutterstock (S. 50–51), Teerasak/Shutterstock, spinetta/Shutterstock (S. 52), Danny Smythe/Shutterstock, Vinicius Tupinamba/Shutterstock, Stephane Bidouze/Shutterstock (S. 53), Universitätsbibliothek Marburg (S. 54), Gudberg Verlag (S. 57), SCIEPRO/Gettyimages, PIXOLOGICSTUDIO/Gettyimages, Science Picture Co/ Gettyimages (S. 59) Illustrationen Annika Linke (S. 5, 60–61), Sina Brückmann (S. 20–25, 56–57), Ralf Ruthe/Distr. Bulls (S. 62) Rechtehinweis Alle im Magazin enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Haben Sie’s gewusst? * Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zuständige Aufsichtsbehörde ist das Bundesministerium für Gesundheit (Rochusstr. 1, 53123 Bonn). » Ich vertraue auf ihre Behandlung … « Auflösung des Rätsels auf Seite 59: 1. Herz – 2. Darm – 3. Leber – 4. Eisen – 5. Niere – 6. Becken – 7. Kropf – 8. Gehirn – Lösung: Gesund Anja Höfler PATIENTIN 62 3 » Ich behandle alles vertraulich.« Eva Pauly HAUSÄRZTIN Wie wir niedergelassenen Haus- und Fachärzte für unsere Patienten sorgen: unter www.ihre-aerzte.de 4