Heft - Wir arbeiten für Ihr Leben gern.

Transcription

Heft - Wir arbeiten für Ihr Leben gern.
Das
Patientenmagazin
Ausgabe Nr. 1 / 2015
SC H W
ZEIT
TV-Urgestein Hugo Egon
Balder im Interview
1
E R PU N
KT
» Wir lernen für
Ihr Leben gern.«
Jessica Grafe und Leandra Zierau,
MEDIZINSTUDENTINNEN
Wir niedergelassenen Ärzte und
Psychotherapeuten möchten unsere
Patienten auch in Zukunft auf
höchstem Niveau versorgen. Deshalb kümmern wir uns schon heute
um qualifizierten Nachwuchs für
unsere Praxen. Erfahren Sie mehr
über Studium und Ausbildung Ihrer
Haus- und Fachärzte von morgen
auf2 www.ihre-aerzte.de
VORWORT
Haben Sie
kurz
W
Zeit?
enn ja, dann haben wir ein ganzes Heft davon: Die erste
Ausgabe des neuen Magazins enthält viel Unterhalt sames, Informatives und Überraschendes zu diesem
Thema – denn für die meisten von uns scheint im Alltag
nichts ein so knappes Gut zu sein wie die Zeit.
Zum Beispiel im Alltag von Ärzten und Psychotherapeuten (ab Seite 12). Und
zwar so sehr, dass sie zwischen Sprechstunden, Hausbesuchen, Operationen,
Fortbildungen und Papierkram ihren eigenen ärztlichen Rat nicht immer
befolgen. Auf den Seiten 18 und 19 haben wir dabei übrigens nur so getan, als
würden wir gegen Verkehrsregeln verstoßen. Aber sehen Sie selbst.
Ab Seite 20 gehen wir dem „ewigen Rätsel“ auf den Grund, was Zeit eigentlich ist. Warum wir sie speziell beim Arzt mit Warten verbringen müssen, erklärt
auf Seite 25 einer, der es wissen muss: Dr. Andreas Gassen, niedergelassener
Orthopäde und Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).
Dass sich Zeiten ändern und warum es früher mehr Freiheiten gab, verrät
Hugo Egon Balder im großen Interview. Das TV-Urgestein gibt ab Seite 26 tiefe
Einblicke in seine ereignisreiche berufliche Laufbahn.
Doch selbst der 65-Jährige ist im Vergleich zu Filmpersönlichkeiten wie
Johannes Heesters, Hans Albers und Heinz Rühmann, die der Kostümbildner
Wolf Leder in seiner langjährigen Karriere eingekleidet hat, ein junger Hüpfer.
Leder ist einer von hundert 100-Jährigen, die der Fotograf Andreas Labes
porträtiert hat. Wir zeigen ab Seite 32 fünf dieser Geschichten und die Gesichter,
in denen sich ein ganzes Jahrhundert spiegelt.
Für Dr. Stefan Hertl zählt hingegen der Moment – besonders, wenn der
Mannschaftsarzt des Fußball-Bundesligisten Borussia Mönchengladbach sofort
zur Stelle ist, sobald die Wade eines Spielers zwickt. Ab Seite 40 erzählt er,
warum ihm trotz der Freude am Fußball die Arbeit in der Praxis wichtiger ist. Für
Patienten war die Arztpraxis übrigens nicht immer ein wohlbekannter Ort
verlässlicher Diagnosen. Ab Seite 54 werfen wir einen Blick in die Geschichte des
heutigen Hausarztes und auf die Entwicklung medizinischer Methoden.
Gut, dass es heute viel einfacher ist, gesund zu leben – auch wenn viele Apps
für Smartphones und Tablets das Streben nach Gesundheit mit strikten Tagesplänen genau durchorganisieren (Seite 58). Im Gegensatz dazu geht es in einer
Wohngemeinschaft gemeinhin eher locker zu. Das gilt auch, wenn die Bewohner
gar keine Studenten sind, sondern an Demenz leiden. Mehr dazu lesen Sie
ab Seite 44.
Doch „Zeit“ ist erst der Anfang. Oder anders gesagt: Wer A sagt, muss auch
B sagen. Deshalb werden Sie unserem Magazin ab jetzt regelmäßig im
Wartezimmer begegnen.
Wir wünschen Ihnen eine unterhaltsame Lektüre – und eine gute Zeit.
3
VORSCHAU
WARTEZIMMER
Heute ist alles besser
Wer sich krank fühlt, geht zum Arzt – zum Hausarzt. Doch das war
nicht immer so. Die Geschichte der Arztpraxis – Seite 54
SPRECHZEIT
HEILKUNDE
SCH W
ZEIT
E R PUN
KT
Sagen Sie mal „Aah!“
Das ewige Rätsel
Was an Arztwitzen so lustig ist, bei welchem Gericht Sie so
richtig viel Zeit mitbringen müssen und welche Fragen Sie
beim nächsten Arztbesuch unbedingt stellen sollten – Seite 6
Die Zeit ist ein Phänomen: Alle richten sich
nach ihr. Doch keiner weiß wirklich, was
sie eigentlich ist. Eine Annäherung – Seite 20
Der Fotograf Andreas Labes hat 100 Hundertjährige porträtiert
und zu ihrem Leben befragt. Wir zeigen seine Bilder und
erzählen ihre Geschichten – Seite 32
Wie die Uhr tickt
Warum warten?
Warum die Jahre vieler Tiere kürzer sind als die der Menschen,
wer das schnellste Tor der DFB-Geschichte erzielte, wie viele
Kinder in Deutschland geboren werden und warum sich Ärzte
mehr Zeit für Patienten wünschen – Seite 8
Dr. Andreas Gassen spricht im Interview über das Warten beim
Arzt – und warum es einfach nicht vermeidbar ist – Seite 24
Sprechstunde?
Samstags um
halb vier!
Mannschaftsarzt des Bundesliga-Vereins Borussia Mönchengladbach und gleichzeitig
niedergelassener Orthopäde –
wie das geht, erzählt Dr. Stefan
Hertl im Interview – Seite 40
TV-Ärzte im
Zeitraffer
George Clooney, Diana Amft
und Co. – seit dem Start
der ersten deutschen Arztserie im Jahr 1967 ist viel
passiert. Eine kleine Auswahl
berühmter „Götter in Weiß“
der Fernsehgeschichte
– Seite 10
So nicht, Herr Doktor
Stress ist nicht gut für die Gesundheit. Doch manchmal fällt es
selbst Ärzten schwer, ihren eigenen Rat zu beherzigen – Seite 12
4
100 Jahre Zeit
Das geheime Leben
der Zimmerpflanzen
Pflanzen in der Arztpraxis müssen ohne viel
Pflege auskommen. Die beliebtesten Gewächse
fürs Wartezimmer und ihre Ansprüche – Seite 50
Gesundheit „to go“
Wer gesund bleiben will, muss etwas dafür tun. Doch viele Apps
für Smartphones und Tablets verwandeln das Streben nach
Gesundheit in ein Pflichtprogramm. Muss das sein? – Seite 56
Erkennen Sie die
inneren Werte?
Beweisen Sie Ihr Wissen über die menschlichen
Organe – Seite 58
Morgen wird wie heute sein
In einer Wohngemeinschaft geht es gemeinhin locker zu.
Das gilt auch, wenn die Bewohner gar keine Studenten
sind, sondern an Demenz leiden. Eine Reportage – Seite 44
„Mich halten alle
für bekloppt“
Kaum ein Moderator prägte den Ruf des Privatfernsehens so sehr wie Hugo Egon Balder. Im Interview
verrät er, wie nützlich ein schlechtes Image ist
und warum er Helene Fischer bewundert – Seite 26
Kinder, Kinder!
Großes Rätselvergnügen für
kleine Patienten – Seite 60
Neulich beim Arzt
Der Arztwitz zum Schluss, Impressum – Seite 62
5
WARTEZIMMER
Sagen Sie mal
„Aah!“
Diese Aufforderung kennt
jeder, der schon einmal
beim Arzt war. Aber was
bedeutet das eigentlich?
Welche Neben- und Wechselwirkungen haben die verordneten Arzneimittel?
Vielleicht ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen:
Sie verlassen die Sprechstunde – und wenig später
fällt Ihnen ein, dass Sie Ihren Arzt gern noch ein paar
Dinge gefragt hätten. Hier finden Sie Fragen, die Sie
Ihrem Arzt in der Sprechstunde stellen sollten.
Wie wird die verordnete Arznei eingenommen? Fragen Sie
nach Tageszeiten, Dauer der
Behandlungsperiode und
Abstand zu den Mahlzeiten.
Gibt es medizinische Fachbegriffe, die Sie nicht verstanden haben? Bitten
Sie Ihren Arzt, Ihnen diese
genau zu erklären.
probleme schließen. Ist sie hingegen belegt,
weist dies auf Erkältungen, Erkrankungen im
Magen-Darm-Bereich oder auf Eisenmangel
hin. Ein geröteter Rachen kann auf eine Entzündung schließen lassen,
wie sie bei einer Erkältung
auftritt. Daran erkranken
Erwachsene immerhin
zwei- bis dreimal pro Jahr,
Kinder sogar bis zu 13-mal.
Ähnlich ist es bei den
Mandeln: Wenn sie belegt
sind, können sie entzündet
sein. Mit Hilfe eines Abstrichs kann der Arzt den Verdacht überprüfen.
Dazu nimmt er vorsichtig mit Watte eine Probe –
am besten dann, wenn der Patient „Aah“ sagt.
Was Mund
und Rachen
verraten
6
Arzt
Sie Ihren Ist es erforderlich, dass Sie
zur Kontrolle des Behandlungserfolgs erneut in der
Praxis vorsprechen?
O
b bei Schnupfen oder einem
Kratzen im Hals – häufig wird
man als Patient vom Arzt gebeten, den Mund aufzumachen
und dabei „Aah“ zu sagen. Dass
es genau dieser Laut sein muss, hat einen guten
Grund. Denn um unterschiedliche Klänge zu
erzeugen, müssen wir den Mundraum verformen. Wenn wir die Vokale a, e, i, o und u aussprechen, strömt die Luft ungehindert aus der
Lunge durch den Mundraum aus. Bei r, s, p
oder anderen Konsonanten hingegen wird der
Luftstrom im Mundraum blockiert. Bei d, bei t
und bei z geschieht das zum Beispiel durch die
Zunge, die an den Zahndamm stößt.
Der Blick in den Rachenraum ist dann für den
Arzt versperrt. Beim „Aah“ hingegen ist der Blick
in Mundhöhle und Rachen
frei – besser noch als bei
„Eeh“, „Iih“, „Ooh“ und Uuh“.
Denn beim „Aah“-Sagen ist
der Mund am weitesten geöffnet. Außerdem liegt die
Zunge dann locker im Mund
und kann vom Arzt gut nach
unten gedrückt werden.
Apropos Zunge: An ihr
kann der Arzt erkennen, ob der Patient vielleicht krank ist. Ist sie verfärbt, lässt das auf
Scharlacherkrankungen, Leber- oder Darm-
Fragen
Das längste
Von wegen
Kurzgebratenes: Wer Boston Baked
Beans kochen will,
muss richtig viel
Zeit mitbringen – Garzeit: 16 Stunden
Was hat Ihre Erkrankung
verursacht und was können Sie selbst tun, um Ihre
gesundheitliche Situation
zu verbessern?
Rezept der Welt
Zutaten:
400 g getrocknete weiße Bohnen
5 EL Ketchup
2 EL Zuckerrübensaft
Speck, Zwiebeln
Salz, Pfeffer
Die Zutaten miteinander vermengen und kochen, kochen,
kochen: auf kleiner Flamme
16 Stunden lang – mindestens.
„Kommt ein Mann
zum Arzt …“
Für Professor Dr. Winfried Ulrich ist
Komik eine ernste Sache: Der Sprachwissenschaftler erklärt, was an Arztwitzen so lustig ist.
Herr Professor Dr. Ulrich,
welcher ist Ihr liebster
Arztwitz?
PROF. DR. ULRICH: Fragt der
Chefarzt den jungen Chirurgen: „Wie ist Ihre erste Operation verlaufen?“ Der wird
kreidebleich. „Welche Operation? Ich dachte, es handele
sich um eine Obduktion.“
Prof. Dr. Winfried Ulrich
Was macht diesen Witz lustig?
Wie in allen Witzen treffen hier zwei Vorstellungen
aufeinander, die eigentlich nicht zusammenpassen, es aber auf überraschende Weise dann doch
tun. Alle Menschen haben mit Ärzten Er fahrung
und lachen am liebsten über deren Macken. Im
Witz tauschen wir die unterlegene, hilfsbedürf tige
Rolle des Patienten gegen die überlegene Rolle
dessen, der den Arzt auslacht. In Psychologen- und
Psychiaterwitzen geht es hingegen um das Irresein
des Patienten und oft auch des Therapeuten.
Beide machen also die Berufsgruppen schlecht?
Im Schottenwitz wird der Geiz verlacht, im Blondinenwitz die Dummheit, im Professorenwitz die
Zerstreutheit. Immer werden den Menschen Eigenschaften zugesprochen und dann aufgespießt. Im
Witz wird das alles nicht ernst genommen. Das
Körnchen Wahrheit im Witz fördert letztlich das
Lachen über sich selbst.
Winfried Ulrich
Treffliche Pointen
Humor und Scharfsinn in Aphorismen,
Cartoons, Anekdoten, Witzen
Schneider Verlag Hohengehren,
Baltmannsweiler 2010.
ISBN-13: 978-3-8340-0768-1
7
WARTEZIMMER
Wie
Die Jahre von Hund,
Katze & Co. sind kürzer
als die der Menschen.
Aber warum eigentlich?
die Uhr
für Tiere
F
tickt
Nur halb so schnell wie der Mensch
altert die Seychellen-Riesenschildkröte.
Lebenserwartung: > 150 Jahre
3-mal so schnell wie der
Mensch altert das Pferd.
Lebenserwartung: 20–30 Jahre
7-mal so schnell wie der
Mensch altern Hund und Katz.
Lebenserwartung: 10–15 Jahre
ür viele Tiere tickt die Uhr schneller als für den Menschen. Wie
schnell, lässt sich anhand einer
alten Faustregel zumindest theoretisch ausrechnen: Man dividiert
die durchschnittliche Lebenserwartung
des Menschen durch die des Tieres. Das Ergebnis gibt die Menschenjahre an, denen
ein Tierjahr entspricht – ein Menschenjahr
zum Beispiel zählt etwa sieben Hundejahre.
Das heißt, der Hund altert etwa siebenmal
so schnell. Doch die alte Faustregel ist umstritten. Denn jedes Tier altert im Laufe
seines Lebens unterschiedlich schnell. Zudem variiert die Lebenserwartung je nach
Rasse und Geschlecht, sodass die genaue
Altersbestimmung äußerst kompliziert ist.
Doch zur Orientierung ist die Rechnung
völlig in Ordnung.
Wer altert am schnellsten?
Und so geht die Rechnung:
11-mal so schnell wie der
Mensch altert der Wellensittich.
Lebenserwartung: 6–8 Jahre
* in Deutschland ca. 80 Jahre
In Rekordzeit
3,253 Sekunden
benötigt der Lego-Roboter „Cubestormer 3“, um
die Farben eines Zauberwürfels in die korrekte
Anordnung zu bringen.
9 Sekunden
lief das Fußballspiel zwischen Ecuador und Deutschland am 29. Mai 2013, dann schoss Lukas Podolski
ein Tor. Dieses ist bis heute das schnellste Tor der
deutschen Länderspielgeschichte.
... in den ersten drei Tagen nach einer Zeitumstel-
lung im Vergleich zum Jahresdurchschnitt
rund 25 Prozent mehr Krankenhausbehandlungen wegen Herzbeschwerden
durchgeführt werden?
... in Deutschland 2013 im Schnitt pro Stunde
77,8 Kinder geboren wurden? Laut Statistischem Bundesamt liegt Deutschland in
der EU damit an dritter Stelle – hinter Frankreich und Großbritannien.
... weltweit pro Tag knapp 210 Milliarden E-Mails verschickt werden – genauer
36,48 Sekunden
gesagt 209.996.664.788? Das sind 2.430.517
pro Sekunde.
47 Sekunden
Bis der Arzt
kommt ...
lang machte der Russe Jewgenij Kuschnow einen
Spagat zwischen zwei stehenden Autos. Das ist
Weltrekord.
dauert der kürzeste Linienflug der Welt. Er verbindet
die Inseln Westray und Papa Westray vor der schottischen Küste. Bei schlechtem Wetter ist die Maschine
allerdings auch mal zwölf Minuten in der Luft.
803 Tage, 9 Stunden und
ca. 40 Minuten
verbrachte der Kosmonaut Sergei Krikaljow insgesamt schon im Weltraum. Sechsmal flog er ins All,
zum letzten Mal im Jahr 2005.
40-mal so schnell wie der
Mensch altert der Goldhamster.
Lebenserwartung: ca. 2 Jahre
29.200-mal so schnell wie
der Mensch altert die Eintagsfliege.
Lebenserwartung: 1 Tag
8
Wussten
Sie, dass ...
... kann es schon mal etwas dauern. Denn
spontane Termine sind manchmal nicht
so einfach zu bekommen. Das ärgert nicht
nur die Patienten, sondern auch die Ärzte
und Psychotherapeuten. Deshalb würden
sich 66 Prozent von ihnen gerne mehr
Zeit für die Behandlung ihrer Patienten
nehmen.
Doch von den 54 Stunden, die sie im
Schnitt pro Woche arbeiten, müssen
sie einen Großteil mit Verwaltungsaufgaben verbringen. Für die 45 Patienten,
die Ärzte im Durchschnitt pro Tag behandeln, bleiben ihnen wöchentlich nur
32 Stunden Zeit. Zu diesem Ergebnis kommt
der „Ärztemonitor 2014“, für den mehr
als 10.000 Ärzte und Psychotherapeuten
in Deutschland befragt wurden.
9
WARTEZIMMER
Landarzt Dr. Brock
1967 startet die erste deutsche Fernsehserie mit einem Humanmediziner nach dem Vorbild damaliger Arztromane und -filme.
Hauptdarsteller Rudolf Prack spielt sich durch eine Mischung aus
Familien-, Heimat- und Arztgeschichten. Die Erfolgsformel
für Arztserien ist gefunden.
Die Schwarzwaldklinik
In der „Mutter aller deutschen Arztserien“ steht ab 1985
das Wohl der Patienten bei Chefarzt Professor Klaus Brinkmann
(Klausjürgen Wussow, Foto) an oberster Stelle. Er ist souverän,
kompetent und väterlich gegenüber Patienten – und streng
gegenüber seinem hitzigen Sohn Udo (Sascha Hehn).
TV-Ärzte im Zeitraffer
Emergency Room
Eine der erfolgreichsten Arztserien überhaupt zeigt ab 1994
den stressigen Alltag in der Notaufnahme einer Chicagoer Klinik.
In „Emergency Room“ wird Kritik am amerikanischen Gesundheitssystem ebenso thematisiert wie erstmals auch persönliche
Abgründe im Leben der sonst so strahlenden „Götter in Weiß“.
Einer von ihnen: Dr. Douglas Ross (George Clooney).
10
Dr. House
Genie und Wahnsinn statt Harmonie und Menschenliebe:
Von 2006 bis 2012 kümmert sich Dr. Gregory House (Hugh Laurie)
um außergewöhnliche Krankheitsbilder – nicht etwa um Patienten,
denn Menschen sind ihm genauso gleichgültig wie Krankenhausregeln. Seine Schmerzmittelabhängigkeit hält ihn im Klinikalltag
nicht davon ab, die richtigen Diagnosen zu stellen.
Der Landarzt
In der norddeutschen Idylle des Ortes Deekelsen wird der
TV-Arzt ab 1987 zum Helfer bei Krankheiten, Liebeskummer und
anderen Sorgen. Bis 1992 kümmert sich Dr. Karsten Mattiesen
(Christian Quadflieg) um die Nöte der Menschen. Nach dessen Serientod
übernehmen Dr. Ulrich Teschner (Walter Plathe, Foto) und
dann der junge Dr. Jan Bergmann (Wayne Carpendale) die Praxis.
Frauenarzt Dr. Markus Merthin
Frauenärzte bestimmen das Bildschirmgeschehen Mitte der
1990er-Jahre. Nach der Schwarzwaldklinik liegen Sascha Hehn
auch als Frauenarzt Dr. Markus Merthin (Foto) die Frauen vor und
auf dem Bildschirm zu Füßen. Sein Kollege „Dr. Stefan Frank“
(Sigmar Solbach) scheint als „Arzt, dem die Frauen vertrauen“
auch dramatische Unfälle magisch anzuziehen.
Seit dem Start der ersten deutschen Arztserie im Jahr 1967 ist viel passiert.
Eine kleine Auswahl berühmter „Götter in Weiß“ der Fernsehgeschichte.
Doctor’s Diary
2008 übernimmt endlich eine Frau die Hauptrolle im OP.
Gleichzeitig halten ein hohes Tempo und gute Gags ihren Einzug
in eine deutsche Arztserie. Dr. Margarethe Haase, genannt
Gretchen (Diana Amft), will im Krankenhaus ihres Vaters Karriere
machen. Im Kopf hat sie dabei vor allem Männer und Schokolade.
Ihre Erlebnisse hält sie bis 2012 in ihrem Tagebuch fest.
In aller Freundschaft
Wie einst Klaus und Udo Brinkmann in der Schwarzwaldklinik,
so beschäftigen sich seit 1998 die Mediziner in der Sachsenklinik
„In aller Freundschaft“ nicht nur mit Patienten, sondern auch
mit den Beziehungen untereinander. Affären, Freund- und
Feindschaften sowie Konkurrenzkämpfe stehen auf der Intensivstation und in der Cafeteria auf der Tagesordnung.
11
WARTEZIMMER
So
nicht,
Herr
Doktor
8.05 Uhr
Dr. Tarek Raslan
Orthopäde und Unfallchirurg
Stress ist schlecht für die Gesundheit.
Doch den ärztlichen Rat zu einem ausgeglichenen
Tagesablauf zu beherzigen, ist gar nicht so leicht –
auch und gerade für Ärzte nicht.
Das wird dem Rücken nicht
gefallen: Auf dem Weg
zur Sprechstunde besorgt
Dr. Raslan noch schnell
neue Getränke. Der Orthopäde möchte pünktlich
anfangen – und hebt den
schweren Wasserkasten nur
mit einem Arm.
12
13
14.05 Uhr
Hürrem Ziir
Frauenärztin
Fürs Essen sollte man sich
Zeit nehmen: Manchmal
reicht es jedoch nur für eine
Suppe im Vorbeigehen.
Weil in der Praxis schon die
nächsten Patienten warten,
muss Hürrem Ziir die
kurze Pause für wichtige
Telefonate nutzen.
14
15
15.53 Uhr
Martin Linhardt
Frauenarzt
Viele kleine Mahlzeiten,
reichlich Obst und Gemüse:
Das waren die Vorsätze.
Doch nach fünf Operationen
hintereinander hat Linhardt
einen schwachen Moment
und kann der Kalorienbombe
einfach nicht widerstehen.
16
17
17.38 Uhr
Boris Grundt
Hautarzt
Im Auto ganz schnell nochmal die E-Mails checken:
Boris Grundt muss nach der
Sprechstunde rasch zum
Qualitätszirkel – und gefährdet sich und andere.
18
19
SPRECHZEIT
Das
ewige
Rätsel
20
Die Zeit ist ein Phänomen: Alle richten sich nach ihr.
Doch keiner weiß, was sie eigentlich ist. Eine Annäherung.
E
s war einmal ein Reisender, der
besuchte ein kolumbianisches
Dorf namens Cartagena und lern­te dort alles, was es zum Wesen
der Zeit zu wissen gibt. Jeden
Mittag feuerte das ortsansässige Militär
von einer den Hafen überlagernden Festung
einen lauten Kanonenschlag ab – das Zeitzeichen, nach dem alle Leute in Cartagena
ihre Uhren stellten.
Als dem Reisenden auffiel, dass die
Uhren der Dorfbewohner allesamt satte
20 Minuten nachgingen, stieg er hinauf zur
Festung und fragte den Kommandanten,
woher er denn eigentlich die exakte Zeit für
den Kanonenschlag nehme. Der Kommandant wurde nervös vor Stolz und sagte, da
es sich um eine derart wichtige Sache handele, schicke er jeden Tag einen seiner Soldaten hinunter ins Dorf. Dort stehe in der
Auslage des einzigen Uhrenhändlers ein auf­wendig konstruiertes nautisches Chrono­meter. Der Soldat gleiche seine Uhr mit
jenem Chronometer ab und trage diese Zeit
dann dem wartenden Kanonenmeister an.
Da wollte der Reisende mehr wissen.
Er besuchte den besagten Uhrmacher und
fragte, woher denn nunmehr dieser die
exakte Zeit für sein Chronometer nehme.
Der Uhrmacher wurde nervös vor Stolz und
sagte, da es sich um eine derart wichtige
Sache handele, vergleiche er jeden Tag sein
Chronometer mit einem Kanonenschlag,
der jeden Mittag von der Festung gegenüber
zu hören sei. Diese pflege er seit Jahren zu
tun – und nie habe sich auch nur eine einzige
Sekunde Differenz ergeben. – Diese kleine
Geschichte stammt vom großen Psychologen Paul Watzlawick. Vielleicht ist sie wahr,
wahrscheinlich ist sie erfunden. So oder so
bringt sie jenen Aspekt zum Ausdruck, der
die Zeit zum Rätsel macht: ihre Relativität.
DIE ZEIT – MADE IN FRANCE
Das Maß aller Dinge wohnt in Paris. Und
zwar buchstäblich. Denn im „Bureau Interna-­­
tional des Poids et Mesures “ lagert nicht
nur der Ur-Meter. Hier laufen auch die Mess­daten von weltweit mehr als 260 CäsiumAtomuhren zusammen, nach denen die Welt
ihre Kanonenschläge ausrichtet. Öffentlicher Raum, Industrie, Medien, Politik: Der
Globus tanzt nach dem atomaren Tick und
Tack aus Frankreich. Eine Referenz, die zu­­mindest alle Uhren im selben Tempo arbei­
ten lässt, denn die Atomuhr ist ziemlich
genau: Mit einer Abweichung von nur einer
Sekunde in drei Millionen Jahren lässt sich
durchaus arbeiten. Wonach aber richtet
sich die Zeit selbst? Warum läuft sie immer
überall für alle im selben Tempo ab? Tut sie
das überhaupt? >
21
SPRECHZEIT
Wie lange dauert eigentlich …
… das Bild?
0,06
SEKUNDEN
MINDESTENS
Einzelbilder brauchen Zeit.
Wenn zu viele von ihnen zu
schnell hintereinander auf
unsere Netzhaut treffen, kann
unser Gehirn die eintreffenden Signale nicht mehr auseinanderhalten. Ab 16 Bildern
pro Sekunde ist Schluss
und wir nehmen das Ganze
als Bewegung wahr. Wenn
die Bilder dann zueinanderpassen und aufeinanderfolgen
und die Betrachter dazu
Popcorn einnehmen, heißt
das Ganze „Kino“.
22
RELATIV KLAR: EINE FRAGE
DES STANDPUNKTS
Uhren können ‚vor‘gehen oder ‚nach‘. Das
bedeutet, sie verhalten sich relativ zu anderen Uhren. Doch nicht nur Uhren sind relativ, auch die Zeit selbst führt keine unabhängige Existenz, sondern ist abhängig von
einer weiteren Größe: dem Raum. Physiker
und Drehbuchautoren von Science-FictionStreifen sprechen deshalb gerne von der
„Raumzeit“. In der Nähe besonders großer
Körper wie blauer Planeten, roter Riesen
oder schwarzer Löcher verrinnt die Zeit deutlich langsamer. Sollten Sie vorhaben, mittelfristig einmal Urlaub am Schwarzen Loch
zu machen – bringen Sie Zeit mit! Wenn
Sie nach gefühlten 14 Tagen bestens erholt
zurück ins Büro möchten, wird es Ihre
Arbeitsstätte kaum mehr geben. Denn inzwischen dürften mehrere Milliarden Erdenjahre vergangen sein, die Sonne wird implodiert sein – und unsere Erde mitsamt den
lieben Kollegen verschlungen haben.
Wie lange dauert eigentlich …
… die Gegenwart?
3
SEKUNDEN
Die Gegenwart ist genau die
Stelle in der Realität, an der
die Zukunft zur Vergangenheit
wird – und damit ist sie eigentlich
ein Unding. Denn sobald wir
einen Moment bewusst wahrnehmen, ist er bereits passé.
Erledigt. Erinnerung. Da Yogalehrer aber nach wie vor dazu
raten, brav in der Gegenwart
zu leben, haben Neurobiologen
die Gegenwartsdauer jetzt
erst einmal auf drei Sekunden
festgesetzt. Aber das ist
KOMMT ZEIT, KOMMT REIS –
EIN BLICK ÜBER DEN TELLERRAND
Der Blick in andere Kulturen verrät, dass
sich die Zeit noch in einer zweiten Hinsicht
relativ verhält. Nicht nur, dass Spanier und
Griechen im Geschäftsleben durchaus gerne
mal zu spät kommen. Entlegene Völker
benutzen bisweilen auch für unsereins vollkommen abwegige Maßeinheiten zur Bemessung von Zeit.
In Madagaskar ließen bestimmte Völker
lange Zeit die liebe Sonne einen guten
Stern sein und organisierten alltägliche Termine lieber mit dem Hinweis „Wir treffen
uns nach dreimal Reiskochen“. Solange die
Bewohner bei der Einhaltung ihrer Speisepläne einigermaßen gewissenhaft zu Werke
gehen, ist gegen das Reiskochen als Zeiteinheit nicht mehr einzuwenden als gegen
abendländisch-kosmische Übereinkünfte
von der Sorte „Wir treffen uns, wenn der
Mond die Erde ein zweites Mal geküsst hat“,
die man aus alten Indianerfilmen kennt.
Doch ob man nun gen Himmel schaut,
auf die Atomuhr oder in den Kochtopf:
Unsere menschliche Vorliebe für Ordnung
wird von der Natur nirgendwo erwidert.
Unsere Mutter hält sich partout an keinen
Takt. So tobt die ewige Schlacht „Ordnungsmenschen gegen Chaosnatur“ seit Jahrhunderten und noch ist kein Ende in Sicht.
Immerhin: Beim Ausbau der Eisenbahnnetze im 19. Jahrhundert führten die Staaten,
Wie lange dauert eigentlich …
… das Leben?
79
JAHRE
Wir leben immer länger:
Wer heute geboren wird, hat in
Deutschland eine Lebenserwartung von 79 Jahren. Vor
durch die die Schienen liefen, eine standardisierte Uhrzeit ein. Und als auffiel, dass die
Sonne im Winter mit ihren wertvollen Strahlen geizt, wurde das Jahr in Sommer- und
Winterzeit aufgeteilt. Nun konnte die Bevölkerung das Tageslicht besser nutzen und
die Wirtschaft die Produktion von teurem
Kerzenwachs herunterfahren. Schöne Teilerfolge, doch die Welt dreht sich weiter. Und
das – Frechheit! – fast unmerklich immer
langsamer, wie verblüffte Kosmologen einmal durch Zufall feststellten. Die Entdeckung: Die Rotation der Erde verliert an Fahrt,
und unsere Tage werden länger und länger.
Leider lässt sich mit der von Mutter Erde
spendierten Extra Time von knapp drei Millisekunden pro Jahr nicht allzu viel anfangen. >
hundert Jahren lag diese noch bei
lediglich 49 Jahren. Weltweit
leben Männer in Island (79,6 Jahre)
und Frauen in Japan (86 Jahre)
am längsten. Im internationalen
Vergleich liegt Deutschland
mit Lebenserwartungen von
77 Jahren (Männer) und 82 Jahren
(Frauen) auf Platz 20.
Die kürzeste Lebenszeit haben
mittlerweile auch fast schon
mit 43,8 Jahren die Menschen
wieder Geschichte.
in Sierra Leone.
23
SPRECHZEIT
Warum
warten?
ZEIT IST, WAS MAN DARAUS
MACHT
Die Zeit als solche bleibt rätselhaft – vielleicht für alle Zeit. Vielleicht sollten wir
einfach versuchen, unsere Zeit so gut es
geht zu nutzen. Stichwort: Zeitgefühl. Hier
herrscht plötzlich traute Einigkeit. Irgendwie auch schon wieder komisch.
Nehmen Sie diesen Artikel. 994 Wörter
haben sie bis hierhin gelesen. Wahrscheinlich
schaffen Sie etwa 250 Wörter pro Minute.
Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, dürften
Sie also etwa vier Minuten dafür gebraucht
haben. Geübte Schnellleser verarbeiten in
einer Minute bis zu 800 Wörter, Drittklässler
kommen übrigens auf kaum mehr als 50.
Doch egal, wie schnell man diesen Text
tatsächlich liest – die benötigte Zeit wird
im Nachhinein jedem nahezu gleich lang vorkommen. Studien bieten eine angenehm
kurze Erklärung: Je mehr man erlebt, desto
länger erscheint die betreffende Zeitspanne
im Rückblick. Beispiel Warteschleife. Gefühlte Zeit währenddessen: eine Epoche. Gefühlte Zeit im Rückblick: ein Wimpernschlag.
Dem Gehirn sei Dank.
3, 2, 1 … ACTION!
So wenig wir über das Wesen der Zeit wissen, so sicher ist am Ende eines: Wer seine
Zeit sinnvoll nutzt, hat buchstäblich mehr
davon. Daran dürfen Sie gerne denken, wenn
es vorm Sprechzimmer einmal länger dauern
sollte. Hauptsache, es gibt Lesestoff.
DR. ANDREAS GASSEN
Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie
An dieser Stelle geben Dipl.-Med. Regina Feldmann und Dr. Andreas Gassen
in jeder Ausgabe des Magazins Einblicke in die Arbeit von Haus- und
Fachärzten. Den Anfang macht Dr. Gassen. Der Vorsitzende der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung spricht im Kurzinterview über das
Warten beim Arzt – und warum es einfach nicht vermeidbar ist.
und Rheumatologie
DIPL.-MED. REGINA FELDMANN
Fachärztin für Allgemeinmedizin
Dr. Andreas Gassen ist seit 1996 Facharzt für
Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie in
einer Gemeinschaftspraxis in Düsseldorf.
Dipl.-Med. Regina Feldmann ist seit 1991 in ihrer eigenen
Praxis in Meiningen als Hausärztin niedergelassen.
Zudem vertreten beide die Interessen der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland im Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Dipl.-Med. Regina Feldmann
setzt sich dort für die Belange der Hausärzte ein,
Dr. Andreas Gassen für die der Fachärzte.
Herr Dr. Gassen, warum müssen Patienten
beim Arzt eigentlich warten?
DR. ANDREAS GASSEN: Bei uns in
Deutschland gibt es die freie Wahl des Arztes oder Psychotherapeuten. Das ist eine
Selbstverständlichkeit und ein von unserer
Gesellschaft hochgeschätzter Wert. Immerhin durchschnittlich 17-mal im Jahr suchen
die Bürger eine Arztpraxis auf. Angesichts
der Bevölkerungszahl von über 80 Millionen
ist da eine enorme Menge an Terminen
zu koordinieren. Gelegentliche Wartezeiten
gehören da einfach dazu. Vor allem, wenn
jeder zu seinem Wunscharzt an seinem
Wunschtermin möchte. Doch auch wenn
das Warten manchmal ärgerlich ist, spätestens wenn der Patient selbst im Sprechzimmer sitzt, wird er es wertschätzen, dass
der Arzt individuell auf ihn eingeht. Im
Übrigen haben wir in Deutschland ein Gesundheitssystem, um das uns die ganze
Welt beneidet. In den meisten anderen
Industrieländern gibt es weitaus längere
Wartezeiten auf Arzttermine.
Woran liegt es, dass man von Arzt zu
Arzt unterschiedlich lange warten muss?
An einem Montagmorgen wird man während einer Grippewelle sicher länger auf
den Arzt warten müssen als üblicherweise.
Bestimmte Dinge lassen sich eben nur
bedingt planen. Mancher Termin beim Facharzt erfordert außerdem eine zeitaufwendige individuelle Diagnose und Behandlung.
Und auch ein Notfall kann den eigentlichen Terminplan durcheinanderbringen. Im
internationalen Vergleich stehen wir mit
unseren Wartezeiten hervorragend da. Ich
betone das nochmals: In den meisten anderen Ländern warten Sie deutlich länger
auf Termine beim Arzt bzw. sind die gesetzlichen Vorgaben von vornherein deutlich
länger ausgelegt.
Können wir davon ausgehen, dass
wir künftig weniger Zeit mit Warten
verbringen müssen?
Einen Einfluss auf die Termine beim Arzt
oder Psychotherapeuten haben auch die
Rahmenbedingungen, unter denen die Praxen arbeiten. Sind diese nicht attraktiv,
wird es immer weniger junge Ärzte geben,
die sich in eigener Praxis niederlassen wollen. Dabei ist das dringend nötig, denn in
den kommenden sechs Jahren werden bis
zu 51.000 Ärzte in den Ruhestand gehen.
Leider sind die Maßnahmen der Regierung,
die sie im neuen sogenannten Versorgungsstärkungsgesetz plant, nicht geeignet,
den Medizinernachwuchs für die Niederlassung zu begeistern. Dabei müssten wir
alles dafür tun, die Bedingungen dafür so
gut wie möglich zu gestalten. Nur so können
wir die wohnortnahe hochwertige ärztliche
und psychotherapeutische Versorgung
auch in Zukunft sichern – ohne überfüllte
Wartezimmer.
LINK ZUM WEITERLESEN
Mehr zur Terminvergabe
und warum sich Ärzte
für die Versorgung starkmachen, lesen Sie auf
www.ihre-aerzte.de
24
25
SPRECHZEIT
„Mich
halten
alle für
bekloppt“
Und immer wieder „Tutti Frutti“: Kaum ein
Moderator prägte den Ruf des Privatfernsehens
so sehr wie Hugo Egon Balder. Im Interview
verrät er, wie nützlich ein schlechtes Image ist
und warum er Helene Fischer bewundert.
26
27
SPRECHZEIT
Warum ist es so ein wahnsinniges Drama,
so etwas heute zu machen?
Weil heute alles ein Drama ist! Ich bin jetzt 65.
Großgeworden bin ich in den Sechzigerjahren. Ich bin also ein Alt-68er, wenn man
so will. Ich stelle jeden Tag fest, dass wir
damals mehr Freiheiten hatten als heute.
Meine Kinder haben heute weniger Freiheiten als ich früher. Das liegt daran, dass
wir so viele Verbote haben. Auf der einen
Seite sagen die Politiker, dass wir mündige
Bürger sind. Und dann werden die kleinen
Plastiktüten verboten, nicht die großen,
sondern die kleinen an der Gemüsetheke.
Irgendwas ist immer. Ich finde das traurig,
darunter leiden wir alle. Es ist stinklangweilig geworden!
Woran liegt das?
Das liegt daran, dass es uns zu gut geht.
Wir leben ja nicht in einem Land wie der
Ukraine oder Afghanistan, wo die Hölle los
ist und die Leute andere Sorgen haben als
diesen Blödsinn. Wenn wir kein Problem
finden, dann denken wir uns eins aus.
H
err Balder, Sie sind doch
TV-Produzent. Ich habe
eine tolle Idee für eine
Sendung: Ich treffe mich
mit Freunden im Café
und rede mit denen über alles Mögliche.
Wäre das schon Fernsehen?
HUGO EGON BALDER: Unter Umständen
schon. Kommt drauf an, wer dabei ist.
„Meine Kinder
haben heute
WENIGER
FREIHEITEN
als ich früher.“
28
Ich.
Das müsste man dann vielleicht noch etwas
aufpeppen.
Und wenn Sie in der Sendung aufträten?
Das reicht auch noch nicht.
Auf „Tele 5“ haben Sie neulich etwas ganz
Ähnliches gemacht: In der Sendung
„Der Klügere kippt nach“ trafen sich vier
Talk-Gäste bei Moderator Wigald Boning
in Ihrer Kneipe „Zwick“ und unterhielten
sich einfach über Gott und die Welt. Was
haben Sie dem Sender erzählt, dass der
das machen wollte?
Ich habe denen gar nichts erzählt. Die kannten die Idee schon. Die geistert schon seit
Jahrzehnten herum. Das war eine Schnapsidee, die ich mit meinem Freund, dem TVProduzenten Jacky Dreksler, in einer Hotelbar hatte. Und dann kam Herr Blasberg
(der Geschäftsführer des Senders Tele 5, d. Red.)
und hat gesagt: „Wir machen das mal.“
Wenn man das Fernsehen von früher und
heute vergleicht: Ist das eine ähnliche
Entwicklung wie mit der Plastiktüte, die
verboten wird? Gibt es weniger Freiheiten?
Na ja, es gibt ja auch immer noch Menschen
im Fernsehen, die auch mal andere Sachen
versuchen. Leider sind das nicht mehr so
viele wie früher. Manchmal werde ich als
Greis in eine Sendung eingeladen, die mehr
das jüngere Publikum anspricht. Wenn ich
die Jungs und Mädels sehe, die da vor und
hinter der Kamera arbeiten, frage ich mich:
Warum sind die denn plötzlich alle so verbeamtet? Wenn die Sendung vorbei ist, gehen
die sofort auseinander, tschüss! Und morgen um zehn treffen sie sich wieder. Keiner
kommt auf die Idee, zusammen noch ein
Bier zu trinken. Das gibt es heute nicht mehr.
Warum hat das vorher keiner gemacht?
Weil die alle Schiss hatten. Weil sie alle gesagt haben, das geht nicht, man kann
doch im Fernsehen keinen Alkohol trinken.
Obwohl – das ging ja alles mal. Ich habe
es noch erlebt. Wenn man so etwas macht,
dann muss man damit rechnen, dass alle
Zeitungen etwas von „Sauf-TV“ schreiben.
Das ist natürlich Blödsinn: Die Leute trinken ein Weinchen oder zwei Bierchen und
können immer noch klar reden.
War es denn früher wirklich anders?
Früher hat man die Dinge nicht so ernst genommen – das Fernsehen nicht, die Unterhaltung nicht. Heute ist alles ganz ernst.
Darf man auch rauchen?
Das hätte ich gerne gehabt. Das ging aber
leider nicht. Dafür hätten wir das komplette
Haus mit Rauchmeldern versehen müssen.
In der Zeit der großen Samstagabendunterhaltung – denken wir nur an
„Wetten, dass …?“ – hatte das Fernsehen
eine ganz andere Bedeutung. Hätte man
damals nicht viel vorsichtiger sein müssen,
wenn doch die ganze Nation zuschaut?
Eine Livesendung kann man nie planen. Und
wenn Thomas Gottschalk sie moderiert
schon gar nicht. Das war ja das Gute an der
Sache! Als dann das Privatfernsehen anfing,
wurde alles noch chaotischer. Das hat sich
auch geändert. Die privaten Sender experimentieren heute ja auch nicht mehr, sondern überlegen sich alles tausend Mal und
sagen: „Och, lieber nicht.“
Wie chaotisch war die Anfangszeit des
Privatfernsehens?
RTL – damals noch RTL plus – hat in einem
Studio angefangen, das so groß wie ein
Wohnzimmer war. Vor allem haben dort Radiomoderatoren gearbeitet – Geert MüllerGerbes, Hans Meiser, wie sie alle hießen …
„Eine Livesendung
kann man
NIE PLANEN.
Und wenn Thomas
Gottschalk sie
moderiert schon
gar nicht.“
Aus der Tatsache heraus, dass alle keine
Ahnung vom Fernsehen hatten, hat man gesagt: Wir machen das mal irgendwie so.
Und dann hat man gemerkt, dass das funktioniert, dass man gar nicht so viel Geld
ausgeben muss. Natürlich sind die Zeiten
längst vorbei. Auch bei den privaten Sendern gibt es mittlerweile mehr Verwaltungsmitglieder als kreative Leute.
Haben Radiomoderatoren einen anderen
Zugang zum Fernsehen?
Das geschah aus einer Not heraus. RTL plus
hatte ja gar keine anderen Leute. Ich wollte
ja damals auch sofort zum Fernsehen. Da
hat RTL-Chef Helmut Thoma zu mir gesagt:
Von 1990 bis 1992 ist Hugo Egon Balder
Gastgeber von „Tutti Frutti“.
Wir brauchen noch ein paar Leute, die Radio
machen, sonst haben wir ja keine mehr.
Generell gibt es wenig Radiomoderatoren,
die Fernsehen machen. Das ist ja deren
Problem: Die leiden darunter, dass niemand
weiß, wie sie aussehen. Ich finde Radio
ja viel schöner: Man kann im Radio auch im
Liegen moderieren, sieht einen ja keiner.
Haben wir auch gemacht.
Wenn man sich alte Sendungen von Ihnen
auf YouTube ansieht, dann zieht sich das
ganz schön in die Länge: Bei „Alles Nichts
Oder?!“ haben Sie und Hella von Sinnen
mitunter fünf Minuten gebraucht, um das
Publikum zu begrüßen.
Es war nie etwas abgesprochen. Alles hing
davon ab, wie wir drauf waren. Manchmal hatte Frau von Sinnen Lust zu reden,
mal nicht. Für uns oder den Sender war
es nie ein Thema, ob wir das Publikum nun
zwei oder fünf Minuten lang begrüßen.
Hans-Joachim Kulenkampff hat in der Quizshow „Einer wird gewinnen“ das Publikum
eine halbe Stunde lang begrüßt. Der hat
erst einmal erzählt, was er an dem Tag so
alles erlebt hat.
Hatte man früher mehr Zeit?
Ja, klar. Mehr Zeit und mehr Freiheiten.
Heute übt vor der Sendung auch erst mal
ein Warm-Upper mit dem Publikum, wie
man applaudiert, weil man glaubt, die Leute
sind sogar dazu zu blöde. Das Publikum
wird auch dazu angehalten zu lachen, auch
wenn es mal nicht komisch ist. Das gab’s ja
früher nicht. Die Leute haben gelacht und
gejohlt, wenn es komisch war. Und sie haben
nicht gelacht und gejohlt, wenn es nicht
komisch war. Das war damals völlig egal. >
29
„Man kann im Radio
auch IM LIEGEN
moderieren, sieht
einen ja keiner. Haben
wir auch gemacht.“
ZUR PERSON
HUGO EGON BALDER
Mit Hella von Sinnen moderiert Balder
ab 1992 „Alles Nichts Oder?!“.
Stefan Wigger, der leider verstorben ist,
habe ich ein sehr komisches Zwei-MannProgramm gemacht. Der hat mir dann
schon gesagt, wo ich mal etwas langsamer
machen muss. So lernt man das.
Ist Theater Ihre große Liebe? Ein Ort der
wahren Kunst?
Was heißt „wahre Kunst“? Wenn ich Theater
spiele, mache ich nur Boulevard. Das war
früher anders. Am Schillertheater musste ich
ja alles machen. Das war zum Teil sehr, sehr
langweilig. Wenn du so endest, habe ich
mir gesagt, dafür hast du die Ausbildung nicht
gemacht. Es ist schöner, Leute zum Lachen
zu bringen. Die Kollegen, die beim Staatsschauspiel sind, nehmen uns natürlich nicht
für voll, obwohl unsere Läden voller sind
als deren. Man macht das ja für die Leute, die
im Publikum sitzen. Sollte man normalerweise. Viele Regisseure machen Theater nur
für sich selbst.
„Genial daneben“ funktionierte ja ähnlich: Ohne erkennbares Skript setzen sich
einige Comedians zu einem Ratespiel in
die Sendung, erzählen was und fertig.
Wie erkannten Sie den Zeitpunkt, an dem
Sie das Rätsel auflösen mussten?
Auf der einen Seite ist das eine Frage der
Routine, auf der anderen Seite eine Frage des
Spaßes. Manchmal hatte ich auch Lust, es
nicht aufzulösen und sie einfach ins Leere
laufen zu lassen. Es kann auch komisch werden, wenn überhaupt nichts mehr kommt.
Das ist eine Frage von Timing. Es ist wie
im Theater: Manchmal bleibt einem nichts
anderes übrig, als das Tempo anzuziehen,
ohne dass es verhetzt wird.
30
Spielen Sie noch Schlagzeug?
Ich habe eine Kneipe in Hamburg. Da spiele
ich öfter Keyboard. Das geht dann teilweise
bis morgens um sechs. Unser Schlagzeuger
musste vor kurzem früher weg. Da habe ich
Vollidiot gesagt: Okay, ich mach das. Ich
habe mich an das Schlagzeug gesetzt und
nach einer Stunde habe ich gedacht: Ich bin
90 Jahre alt. Mir taten alle Knochen weh.
Ich hatte Blasen überall, weil ich ewig nicht
gespielt habe.
Lernt man Timing beim Schlagzeugspielen?
Nein, da muss man nur versuchen, den Takt
zu halten. Timing habe ich am Schillertheater
in Berlin gelernt. Mit meinem Lehrmeister
Schauen Sie manchmal Fernsehen?
Eher selten. Es gibt nicht viel, was ich mir
ansehe. Das „Dschungelcamp“ habe ich noch
nie gesehen. Das interessiert mich nicht.
Genauso wie mich eine Sendung über Steine
in 2.000 Metern Tiefe in der Schweiz auch
nicht interessieren würde. DSDS habe
ich einmal gesehen, bei der ersten Staffel.
Finden Sie es nicht erstaunlich, dass sich
seit Jahrzehnten alle einig sind, dass
im Fernsehen nur Mist läuft? Liegt das am
Fernsehen oder an den Leuten?
Das liegt an den Leuten. Das Fernsehen kann
machen, was es will: Es gibt immer einen, der
meckert. Wir neigen ja eh dazu. Ein Beispiel:
Man kann ja über Mario Barth denken, was
man will. Ob einem der Humor gefällt oder
nicht – wichtig ist doch, dass er es schafft,
diese Stadien vollzukriegen. Hut ab! Oder
Helene Fischer: Ob einem die Musik gefällt oder nicht – man kann doch anerkennen,
was die Frau geschafft hat! Warum muss
man sie denn fertigmachen? Das haben wir
Deutschen schon immer geschafft. Deswegen sind wir auch so gut im Biathlon:
Schießen und wegrennen konnten wir schon
immer gut. Ich habe lange in Luxemburg
gelebt, war mit einer Französin verheiratet
und oft in Frankreich. Die Franzosen lieben
ihre Leute. Auch junge Leute verehren
Charles Aznavour oder Catherine Deneuve.
Bei uns hingegen gibt es in der Zeitschrift
„Stern“ die Rubrik „Was macht eigentlich …?“
Ach, lebt der denn noch? Es ist traurig: Wir
sind ein Volk von Pessimisten. Wir klagen
und klagen. Wir können uns nicht mehr freuen, wir sind traurig.
Moderator, TV-Produzent, Schauspieler, Regisseur,
Musiker, Kabarettist, Gastronom – Hugo Egon Balders
berufliche Laufbahn ist so ereignisreich wie vielfältig. 1968 spielte er als Schlagzeuger in der legendären Krautrockband „Birth Control“. In den Siebzigerjahren studierte er in seiner Geburtsstadt
Berlin zunächst Kunst und Grafik, später Schauspiel.
Die Bretter, die die Welt bedeuten, lernte er im
Berliner Schillertheater kennen. In den 1980ern
spielte er neben Harald Schmidt im Ensemble des
Düsseldorfer Kabaretttheaters „Kom(m)ödchen“.
Zeitgleich war er in ersten Rollen auf der Kinoleinwand zu sehen und sammelte erste Modera-
Sie selbst waren ja mal für den Untergang der abendländischen Unterhaltung
zuständig …
Natürlich!
Wie überlebt man das denn?
Sie sprechen von „Tutti Frutti“. Das habe
ich von 1990 bis ’92 gemacht. Etwas
später habe ich mit dem Schauspieler
Walter Giller „Geschichten aus der
Heimat“ gedreht. Er hat zu mir gesagt,
dass er mich beneidet. Das habe ich
zuerst nicht ganz verstanden, dann hat
er es mir erklärt: „Guck, du kannst dir
doch alles erlauben. Dich halten sie
alle für einen Vollidioten, das ist doch
großartig!“ Besser geht es nicht. Ich fühle
mich damit immer noch sehr wohl. Es ist
doch schöner, wenn einen alle für bekloppt
halten, als wenn sie einen für ganz toll
halten und irgendwann merken: So doll ist
der eigentlich gar nicht.
tionserfahrungen bei Radio Luxemburg.
1990 wurde Hugo Egon Balder als Moderator der
Erotik-Gameshow „Tutti Frutti“ einem breiten
Fernsehpublikum bekannt. Es folgten die Shows
„Alles Nichts Oder?!“ mit Hella von Sinnen sowie
ab 2003 „Genial daneben“ und „Die Hit-Giganten“.
In der Zwischenzeit verlegte sich Balder auf die
Entwicklung und Produktion von TV-Formaten, darunter „RTL Samstag Nacht“ und „Freitag Nacht
News“. 1998 führte er beim TV-Film „Silvias Bauch“
Der Musiker und Solointerpret
Hugo Egon Balder Anfang der
1980er-Jahre.
Regie. In der Saison 2014/2015 kehrte er auf die
Theaterbühne zurück und spielte im Theater am
Dom in Köln. Am 6. April 2015 startete der TV-Talk
„Der Klügere kippt nach“, live übertragen aus
seiner Hamburger Kiez-Kneipe „Zwick“.
31
SPRECHZEIT
100
Jahre
Zeit
Edith Wolffberg
Das Leben hinterlässt Spuren. Falten auf der
Stirn, Lachfältchen um Augen und Mund, feine Linien
zwischen Nase und Oberlippe oder markante
Mundwinkelfalten. Die Spuren zeugen von Freud
und Leid, von Glück und Unglück. Und in manchen
Gesichtern spiegeln sich gar die Geschehnisse
eines ganzen Jahrhunderts.
1939 verließ Edith Wolffberg
mit ihrem Mann und den
beiden Töchtern ihre Geburtsstadt Berlin. Über Bolivien
floh die jüdische Familie in
die USA – Texas wurde ihre
neue Heimat. Erst im Jahr
2006, im Alter von 102, kehrte
sie zurück und besuchte gemeinsam mit Tochter und
Enkelkind ihre Heimatstadt.
32
33
„Johannes Heesters,
Hans Albers,
Gustav Gründgens,
Heinz Rühmann,
ALLE HABE ICH
EINGEKLEIDET.“
— WOLF LEDER
Wolf Leder im Varieté-Theater „Plaza“
1939 bei einer Kostümprobe.
H
Wolf Leder
Auf ein Leben als erfolgreicher
Kostüm- und Bühnenbildner
blickte Wolf Leder zurück.
Unzählige Kulissen hat er entworfen und für mehr als
100 Filme Stars wie Marlene
Dietrich, Johannes Heesters,
Gustav Gründgens und
Heinz Rühmann die Kostüme
auf den Leib geschneidert.
2009 starb Wolf Leder im
Alter von 103 Jahren in Berlin.
34
undert Jahre alt zu werden –
das hat etwas Magisches.
Zwei Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise von 1929
und das Wirtschaftswunder –
das ist der Stoff, aus dem die Erinnerungen
von Hochbetagten sind. Sie lebten im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland, erlebten persönliche Krisen und Erfolge, Liebesgeschichten und Karrieren. Der
Fotograf Andreas Labes hat 100 Hundertjährige aus ganz Deutschland porträtiert und
ihre Geschichten aufgeschrieben. Der Anlass: ein Studienprojekt der Universität Kiel,
bei dem die Bedingungen für gesundes
Altern untersucht wurden. Entstanden sind
Bilder, in denen sich das Leben spiegelt.
Zum Beispiel das von Wolf Leder. Trotz
seiner 100 Jahre ist die Stirn der Theaterlegende frei von Sorgenfalten. Seine Augen
verschwinden hinter dunklen Brillengläsern,
unterhalb der Fassung durchziehen kleine
Fältchen die Haut. Das breite Gestell verdeckt
die Schläfen, grau melierte Augenbrauen
lugen darüber hervor. Seine Sonnenbrille
legt er nie ab. Das hat keine modischen Gründe, obwohl Leder einst farbenprächtige
Bühnenbilder und extravagante Kostüme entwarf: Er arbeitete im Licht einer Gaslampe
und ruinierte sich dabei die Netzhaut.
Mehr als 50 Jahre waren „Friedrichstadt-“
und „Admiralspalast“, der „Wintergarten“
oder die „Scala“ Leders zweites Zuhause.
Er schneiderte Stars wie Marlene Dietrich,
Heinz Rühmann, Johannes Heesters und
Gustav Gründgens für mehr als hundert
Filme die Kostüme auf den Leib. 1992 verabschiedete sich der Vollblutkünstler aus
dem Arbeitsleben, nicht aber von seiner Leidenschaft für Kostüme und Kulissen. „Ich
träume bis heute in Farben und meistens
von Bühnenbildern. Früher habe ich die am
nächsten Morgen gleich gemalt.“
GESICHTER SIND WIE
OFFENE BÜCHER
Eine Leidenschaft für die bunte Welt des
Theaters hegte auch Edith Wolffberg.
Doch dass sie als Gast im Publikum des
Berliner „Walhalla“-Theaters saß, in das sie
so gerne ging, ist lange her. 1939 verließ
Wolffberg mit ihrem Mann und den beiden
Kindern ihre Heimatstadt. Das Ziel der jüdischen Familie: Amerika. 67 Jahre vergingen,
bevor Wolffberg mit 102 Jahren besuchsweise nach Berlin zurückkehrte. Eine Zornesfalte zwischen ihren Augen, als Hinweis
auf Wut, Sorge und Trauer, etwa über den
Verlust der Heimat, sucht man in ihrem
Gesicht dennoch vergebens. Vielmehr lässt
sich der Ausdruck von Ernsthaftigkeit in
ihrem Gesicht erkennen. Die Augen sind
weit geöffnet, der Blick ist fest. Tief verzweigen sich die Falten zwischen Nase, Mund
und Kinn. Kaum sichtbar sind die Lippen –
der Mund, ein schmaler Strich. >
35
Harald Timm
Wie sich der 100. Geburtstag
anfühlt, weiß Harald Timm
ganz genau. „Der 100. Geburtstag war für mich ganz
schlimm. Das war wie Sterben. Ab 101 fängt das Leben
dann aber wieder neu an“,
sagt Timm.
Anna Gerold
Mit 40 bekam Anna Gerold
ihr erstes Kind, mit 43 Jahren
das zweite. In ihrer Münchener Wohnung waren die
Freunde der Kinder stets
willkommen. Besonders an
einen fußballbegeisterten
Schulkameraden ihrer Töchter erinnert sich Gerold. Aus
dem sollte später sogar einmal ein Weltmeister werden.
36
37
ZUR PERSON
ANDREAS LABES
Walter Jonigkeit mit Hollywood-Diva Ava Gardner
auf den Filmfestspielen im Jahr 1952.
Fotograf
Ein breites Lächeln und tiefe Mundwinkelfalten bestimmen dagegen den Gesichtsausdruck von Walter Jonigkeit – im Alter
von 101. Wache Augen, umspielt von Lachfältchen, und ein schelmischer Blick sprechen
von Lebenslust. Als ältester Kinobesitzer
Berlins führte ihn sein Weg noch täglich in
sein kleines Büro über dem Kinosaal des
„Delphi Filmpalast“ am Bahnhof Zoo. 1949
hatte Jonigkeit das im Krieg zerstörte Haus
wiedereröffnet. Mit seiner großen Leinwand, der neuesten Technik und mehr als
1.000 Sitzplätzen galt das „Delphi“ als größtes und modernstes Kino seiner Zeit.
Der älteste Kinobesitzer war auch mal
der jüngste Kinobesitzer Berlins. Mit 27 Jahren eröffnete der Kaufmann 1934 sein
erstes Kino, die „Kamera Unter den Linden“.
Drei Jahre später kaufte er die „Kurbel“.
Walter Jonigkeit
Walter Jonigkeit war Berlins
dem Kinosaal des Berliner
fängt das Leben
dann aber wieder
neu an.“
„Delphi-Filmpalast“ am Bahn-
— HARALD TIMM
ältester Kinobetreiber. Mit
über 100 Jahren zog es ihn
noch täglich in sein Büro über
hof Zoo. Im Alter von 102 verstarb Jonigkeit 2010 in Berlin.
38
„AB 101
Jonigkeit erinnert sich: „In der ‚Kurbel‘ haben wir zweieinhalb Jahre lang ‚Vom Winde
ver weht‘ gespielt. ‚Ku’damm, Ecke Giesebrechtstraße. Vom Winde verweht. Bitte
aussteigen!‘ riefen die Schaffner in der Straßenbahn immer.“
Einen weiteren Jahrhundertmenschen
fand Fotograf Andreas Labes in Harald Timm.
An das Gefühl, 100 Jahre alt zu werden, erinnert er sich mit Grausen: „Der 100. Geburtstag war für mich ganz schlimm. Das war wie
Sterben. Ab 101 fängt das Leben dann aber
wieder neu an.“ Wie Timm die magische
Hundert-Jahre-Grenze erreichen und überwinden konnte? „Wichtig ist der innere Frieden, den muss man suchen. Wenn man ihn
gefunden hat, kann er das Leben verlängern.“
Anna Gerold hat auf das Glück ihres
Lebens lange warten müssen. 13 Jahre vergingen, bevor sie ihren Johann heiraten konnte.
Denn Gerold arbeitete als Hausmädchen
bei einem älteren Ehepaar und hatte zugestimmt, sich um beide bis zu ihrem Tode
zu kümmern. Eine eigene Familie hatte da
keinen Platz. Erst 1944 wurde geheiratet.
Ein Jahr später, im Alter von 40, wurde Anna
Gerold zum ersten Mal Mutter, drei Jahre
später kam ihre zweite Tochter zur Welt.
Ab da ging es in ihrem Haus laut und lebhaft zu. Nur zu gerne brachten die Töchter
nach der Schule ihre Freunde mit. Besonders
an einen Schulkameraden ihrer Töchter erinnert sich Gerold: an den fußballbegeisterten Franz, dessen Nachname damals noch
niemandem etwas sagte: Beckenbauer.
Andreas Labes arbeitet für
verschiedene Verlage, Zeitungen
und Zeitschriften, unter anderem für „Handelsblatt“, „Mare“
und „Stern“, sowie für Kunden
wie das Bundesministerium
für Gesundheit, das Institut für
Medizinische Diagnostik, die
Deutsche Bahn oder die
Deutsche Bank. Der Fotograf
lebt und arbeitet in Berlin.
Andreas Labes (Hg.)
100 Jahre Leben
Porträts und Einblicke
29,95 Euro
39
SPRECHZEIT
Dr. Stefan Hertl, Mannschaftsarzt von
Borussia Mönchengladbach, mit seinem
Patienten Martin Stranzl.
Sprechstunde?
Samstags
um halb vier!
Wenn samstags im Borussiapark in
Mönchengladbach der Fußball rollt, sitzt
Dr. Stefan Hertl wie immer an der Außenlinie.
Denn wenn die Wade eines Spielers zwickt,
ist der Bundesliga-Mannschaftsarzt
sofort zur Stelle. Doch auch in seiner Praxis
kümmert sich der Orthopäde um seine
Patienten. Im Interview spricht Dr. Hertl über
sekundenschnelle Entscheidungen auf
dem Spielfeld und über die medizinische
Entwicklung im Leistungssport.
40
41
SPRECHZEIT
„Wer die Arbeit mit der Mannschaft
nicht auch als Hobby betrachtet, hält das nicht lange durch.
Es macht mir einfach Spaß.“
ZUR PERSON
H
err Dr. Hertl, meist sieht man
Sie, wenn Sie auf das Feld
rennen, um einen Spieler zu
verarzten. Hat Ihr Arbeitstag nur 90 Minuten?
DR. STEFAN HERTL: Natürlich nicht. Mannschaftsärzte leisten eine Rundumbetreuung
der Spieler. Während der Saison begleiten
sie die Mannschaft vor und nach den Spieltagen intensiv. Dazu kommen orthopädische, zahnärztliche, augenärztliche und physiotherapeutische Untersuchungen in der
Sommer- und der Winterpause. So stellen
wir die Leistungswerte jedes Spielers fest.
Diese helfen uns, den Heilungsprozess nach
einer Verletzung einzuordnen: Erst wenn
der Spieler seine „Normalwerte“ wieder erreicht, ist er gesund.
Sie arbeiten nicht nur als Mannschaftsarzt für die Borussia, sondern haben
auch eine eigene Praxis als Orthopäde.
Wie sieht Ihre Arbeitswoche aus?
Von Montag bis Freitag bin ich in der Praxis für meine Patienten da. Zum Glück
ist sie nah am Borussiapark in Mönchengladbach, sodass die Spieler mich auch
schnell in der Praxis erreichen können. Mittwochs bin ich ohnehin immer am Stadion
und wenn wir samstags ein Heimspiel
haben, bin ich schon beim Abschlusstraining am Freitag vor Ort. Samstags bin ich
zwei Stunden vor dem Anpfiff im Stadion
und dann begleite ich natürlich das Spiel.
Fahren Sie auch zu Auswärtsspielen?
Bei Auswärtsspielen ist mein Kollege im
42
DR. STEFAN HERTL
Verein im Einsatz. Ich bin nur bei den Heimspielen dabei. Nach dem Spiel bleibe ich
so lange wie nötig, etwa um Verletzungen
zu behandeln oder auch Dopingkontrollen
zu begleiten. Meistens komme ich erst
am Samstagabend nach Hause. Sonntags
geht es um neun Uhr weiter, wenn sich
die Spieler zum Auslaufen treffen. Dann
schaue ich, wie sich Erkrankungen entwickelt
haben, und leite gegebenenfalls weitere
Untersuchungen wie Ultraschall oder Kernspin ein, damit wir keine Zeit verlieren.
Apropos Zeit: Klingt wie ein stetiger
Wettlauf gegen die Uhr.
Ich sehe das so: Mannschaftsarzt ist nicht nur
ein Beruf. Wer die Arbeit mit der Mannschaft
nicht auch als Hobby betrachtet, hält das
nicht lange durch. Es macht mir einfach Spaß.
„Wenn ich
mich entscheiden
müsste, würde
ich meine Praxis
DEM VEREIN
VORZIEHEN.“
Ist es nicht schwierig, auf dem Spielfeld
innerhalb von Sekunden eine Diagnose
stellen und entscheiden zu müssen, ob
ein Spieler weiterspielen kann oder nicht?
Mit den Jahren sieht man schon am Bewegungsablauf, ob etwas passiert ist oder
nicht. Seit 1989 habe ich, zunächst für
Borussia Dortmund und für den Deutschen
Fußball-Bund, hunderte Spiele von der Bank
aus gesehen. Von dort sieht man Spiele
ganz anders als von der Tribüne aus. Ich erkenne schon an der Art, wie ein Zweikampf
entsteht, ob etwas passieren kann. Der
präzise Blick auf einzelne Details im Spielgeschehen hilft mir immens dabei, Verletzungen richtig einzuschätzen und schnell
die richtige Entscheidung zu treffen.
Wer rasch gesund wird, schießt eher
wieder Tore. Geht schnelle Heilung
nicht zulasten der langfristigen Gesundheit eines Spielers?
Deshalb versuchen wir Mannschaftsärzte,
schwere Verletzungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Man kann natürlich nicht
vermeiden, dass ein Spieler sich das Knie
verdreht. Aber schwere Muskelverletzungen
bahnen sich zum Beispiel durch kleinere an,
vor allem, wenn man zu früh oder zu stark
weiterbelastet. Dann bespreche ich mit
dem Trainerstab, dass der Spieler vielleicht
ein, zwei Tage individuell trainiert und
die Belastung reduziert. Mit dem jetzigen
Trainer Lucien Favre klappt das hervorragend. Wir sprechen jeden Tag darüber.
Frühere Spitzensportler werden nach
ihrer aktiven Karriere im schlimmsten Fall
ein Leben lang von körperlichen Leiden
geplagt. Ist das Berufsrisiko?
Vermeidbar ist es auf keinen Fall, denn dafür
ist die körperliche Belastung für professionelle Fußballer zu hoch – Tendenz: steigend,
übrigens. Vergleichen Sie das heutige Tempo mal mit dem der Weltmeisterschaft 1970!
Damals konnten Spieler den Ball annehmen und sich in Ruhe eine Anspielstation
suchen. Heute liegen bei Topteams zwischen
Ballannahme und Abspiel im Schnitt weniger als 1,5 Sekunden. Auch die Athletik
hat deutlich zugenommen. Die Spieler laufen schneller und viel mehr als früher.
Dadurch werden Sehnen, Muskeln, Knochen
und Gelenke wesentlich intensiver belastet als früher.
Die Spieler heute sind also gefährdeter
als früher?
Nein. Viele Spieler gehen zwar durch die
Vielzahl an Wettbewerben und die Schnelligkeit des Spiels an ihre Belastungsgrenze.
Doch die gute Nachricht ist: Nicht nur der
Sport hat sich weiterentwickelt, sondern
auch die medizinische Ausbildung. Die Gesundheit der Spieler ist viel wichtiger geworden. 1970 zum Beispiel konnte man
Spieler nicht auswechseln, auch nicht, wenn
sie verletzt waren. Die Topvereine hatten
damals nicht mehr als 15 Spieler im Kader
und haben eine ganze Saison quasi mit derselben Aufstellung durchgespielt. Viele
Spieler aus den 1970er-Jahren haben heute
künstliche Gelenke, auch weil sie früher
Mannschaftsarzt von Borussia Mönchengladbach
und niedergelassener Orthopäde
Dr. Stefan Hertl (55) führt gemeinsam mit einem anderen
Arzt eine Gemeinschaftspraxis in Mönchengladbach. Nach
seiner Promotion und Tätigkeit als chirurgischer Assistenzarzt
ließ sich Hertl 1994 als Facharzt für Orthopädie nieder.
Dr. Stefan Hertl gehört zu den Urgesteinen der Mannschaftsärzte in der Fußballbundesliga. Seine Laufbahn begann er
bereits 1989, als Trainer Horst Köppel ihn zur Borussia nach
Dortmund holte. Schon nach der WM 1990 folgte Hertl seinem
Freund Rainer Bonhof, damals Jugendtrainer, zum Deutschen
Fußball-Bund. Dort arbeitete der Orthopäde 15 Jahre lang für
verschiedene Jugendmannschaften, bevor er 2003 zu „seiner“
Borussia nach Mönchengladbach wechselte.
fitgespritzt wurden. Das alles gibt es heute
nicht mehr. Die medizinische Betreuung
ist heute eine ganz andere als früher.
Wirkt sich diese Entwicklung auch auf
die Arbeit in Ihrer Praxis aus?
In unserer Praxis haben wir sehr viele Breitensportler. Auch deren langfristige Gesundheit ist viel wichtiger als früher. Im Prinzip
versuchen wir, den gleichen Standard zu
halten und die Patienten lange zu begleiten.
Ihre Vorgeschichten zu kennen, hilft bei der
Behandlung immer.
Wenn Sie sich zwischen Praxis und Verein
entscheiden müssten – was würden Sie tun?
Wenn ich mich entscheiden müsste, würde
ich meine Praxis dem Verein vorziehen.
Denn mein Geld verdiene ich als freiberuflicher, niedergelassener Arzt. Die Arbeit im
Verein muss man eher als zeitaufwendiges
Hobby betrachten.
43
Hier soll sich jeder heimisch
fühlen: die Demenz-WG
am Spittelmarkt in Berlin-Mitte.
Kein Stress, keine festen
Frühstückszeiten: In einer WG
geht es gemeinhin locker zu.
Das gilt auch, wenn die Bewohner
gar keine Studenten sind,
sondern an Demenz leiden.
SPRECHZEIT
Morgen
wird wie heute
sein
44
Zu Besuch in einer
Wohngemeinschaft für
Demenzpatienten
B
erlin, im Februar. Es ist ein kaltsonniger Morgen, die Temperaturen liegen noch um den Gefrierpunkt. In der fünften Etage
eines Hochhauses im Bezirk Mitte
ist es jedoch schon Frühling: Weidenkätzchen und Blumen schmücken die gemütliche
Wohnküche der Demenz-WG am Spittelmarkt. Das ist mehr als nur Dekoration.
„Die Jahreszeiten bieten unseren Bewohnern
Halt und Orientierung“, sagt Nils Harm.
Er leitet die Wohngruppe. „Wenn die Jahreszeiten wechseln – oder zu Feier tagen wie
Ostern oder Weihnachten –, dekorieren wir
den Raum um. Wir wollen nicht, dass unsere Bewohner jeden Tag genau gleich erleben. Und der Rhythmus der Jahreszeiten
ist etwas, was man auch als Demenzkranker
noch gut mitbekommt.“
Zeit ist relativ. Das wird schnell klar,
wenn man die Zimmer der WG-Bewohner
betritt. Wer hier wohnt, ist zwischen 60
und 85 Jahre alt und hat – je nachdem, wie
weit die Erkrankung fortgeschritten ist –
eine sehr individuelle Vorstellung von der
Zeit. Einer hat in seinem Zimmer gleich drei
Uhren und einen Kalender, andere wiederum nichts davon. Nils Harm erklärt: „Viele
Menschen spüren zu Beginn der Krankheit, wie ihnen die Zeit Stück für Stück entgleitet. Sie kommen zu spät oder sie stehen
mitten in der Nacht auf, weil sie glauben,
dass der Tag schon begonnen hat.“ Anfangs
leiden die Menschen sehr darunter, dass >
45
SPRECHZEIT
Die Stimmung in der
Demenz-WG hat nichts
von der häufig bedrückenden Atmosphäre
eines Pflegeheims.
Ausflüge oder Aktivitäten wie die
Kunsttherapie sind freiwillig.
Nur wer Lust hat, macht mit – und auch
nur so lange, wie es Spaß macht.
sie nicht mehr so funktionieren wie früher.
Es setzt sie unter Druck, dass sie solche
vermeintlich einfachen Dinge nicht mehr
können. „Später, wenn die Krankheit
fortschreitet, merken sie auch das nicht
mehr – aber dann brauchen sie Hilfe, weil
sie so nicht mehr allein leben können.“
ZUM FRÜHSTÜCK LÄUFT
ANDY BORG IM RADIO
In der Demenz-WG wohnen Menschen
mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen
der Krankheit. Das in drei Schichten arbeitende Betreuerteam der Wohngemeinschaft
lässt den Bewohnern ihre persönlichen
Freiheiten: Da gibt es keine festen Termine
für Mahlzeiten. Und Veranstaltungen wie
Musik- und Kunsttherapie oder Ausflüge sind
freiwillig. Wer Lust hat, macht mit – und
wer keine Lust hat, bleibt einfach zuhause.
Der lockere Umgang miteinander macht sich
bemerkbar: Die Stimmung in der DemenzWG hat nichts von der häufig bedrückenden
Atmosphäre eines Pflegeheims. Morgens
um zehn trifft man einige der Bewohner beim
gemeinsamen Frühstück, es läuft Schlagermusik von Andy Borg – und manch einer
summt die vertrauten Melodien mit. Andere
46
„Viele Menschen
spüren zu Beginn
der Krankheit,
wie ihnen die Zeit
Stück für Stück
ENTGLEITET.“
— NILS HARM
schlafen noch in ihrem Zimmer oder sitzen
auf dem Sofa neben einem großen Käfig
mit Wellensittichen. Später wird eine Kunsttherapeutin kommen, die gemeinsam mit
den Bewohnern Bilder malt. Sie geht liebevoll auf jeden einzelnen ein: Eine Dame hat
mittendrin keine Lust mehr zu malen und
legt mit einer resoluten Geste ihren Zeichenstift beiseite – und das ist okay so. Eine
andere ist völlig vertieft in ihr Bild und malt
mit sichtlicher Freude. Am Schluss darf jeder Künstler sein Blatt signieren.
ES IST WICHTIG, DASS SICH
JEDER EINZELNE WOHLFÜHLT
Im Alltag gehen sich die Bewohner gegenseitig zur Hand: So ist einer noch in der Lage,
Brote zu schmieren, der andere räumt die
Spülmaschine ein. Und wenn die Demenz
fortschreitet, ist es den Bewohnern so noch
möglich, voneinander zu lernen. Nicht zuletzt sitzen alle durch ihre Erkrankung im
selben Boot. Niemand muss sich für seine
Demenz schämen. Niemanden stört es,
wenn bei der Kunsttherapie ein Bewohner
zufrieden in seinem Stuhl schläft, statt an
seinem Bild weiterzuarbeiten.
Probleme lösen sie selbst, kleinere Streitigkeiten legen sie friedlich bei. Vor einiger
Zeit gab es einen Neuzugang in der Wohngemeinschaft: eine ältere Dame, die mit
Vorliebe und erstaunlichem Geschick stets
alle Weintrauben vom Obstteller stibitzte,
bevor die anderen zugreifen konnten.
„Die war ein paar Tage lang unten durch“,
lacht Nils Harm. Das Problem wurde ausdiskutiert – und inzwischen ist die Dame
voll in der WG angekommen. Sie fühlt sich
wohl hier, sagt sie. Und sie weiß, wovon
sie spricht, denn vorher wohnte sie in einem
städtischen Pflegeheim, wo es wesentlich
anonymer zuging. „Hier gefällt es mir viel
besser“, sagt sie. „Als ich einen Rollator
brauchte, haben die Pfleger sich sofort darum gekümmert. Wir haben ihn sogar zusammen ausgesucht und gekauft.“
WER EINZIEHT, ENTSCHEIDEN
ALLE ZUSAMMEN
Solche „Highlights“, aber auch der kleine
Zwist um die Weintrauben zeigen, dass
auch Demenzkranke noch in der Lage sind,
sich an Ereignisse aus der Gegenwart oder
jüngeren Vergangenheit zu erinnern. „Ich
bin immer wieder erstaunt, wie manche
Bewohner sich plötzlich wieder an Erlebnisse
und Begegnungen aus der Vergangenheit
erinnern“, erzählt Harm. „Manche erzählen
mir Dinge, die ich erst für ein Märchen
halte – und hinterher stelle ich fest: Die
Dame hatte Recht.“
Vieles an der Demenz-WG erinnert an
eine Studentenwohngemeinschaft: Es gibt
Gemeinschaft und Rückzugsmöglichkeiten,
schöne Erlebnisse und Konflikte. Auch bei
Neuzugängen haben die Bewohner ein Mitspracherecht. Wer in die WG aufgenommen werden möchte, kann einige Wochen
zur Probe wohnen. Gemeinsam mit den >
47
Medizin im Team
Was ist
Demenz?
Nils Harm (links) ist Pfleger
und zugleich Vertrauensperson
für die Bewohner.
„Altbewohnern“ entscheidet das Betreuerteam danach darüber, ob diese Person in
die WG passt. Manchmal gehen die Bewohner zum Seniorentanz oder zum Weihnachtsmarkt. Die WG-Bewohner sind unabhängige
Mieter ihrer Wohneinheit und entrichten
dafür eine ganz normale Miete. Der Einsatz
der Pflegekräfte wird umgelegt und mit der
Pflegeversicherung abgerechnet.
ALLES GANZ NORMAL – NUR
EBEN ANDERS ALS BEI ANDEREN
Manches ist allerdings auch anders als in
einer klassischen Wohngemeinschaft: Die
Wohnungstür ist hinter einem Vorhang versteckt, sodass Bewohner nicht versehentlich
im Treppenhaus landen und dann den Weg
zurück nicht finden. Die Sanitärräume sind
geräumig und behindertengerecht. Wer
Hilfe bei der persönlichen Pflege oder beim
Ankleiden benötigt, der bekommt sie – und
wer noch gut alleine zurechtkommt, dessen Privat- und Intimsphäre wird gewahrt.
Und noch einen gewichtigen Unterschied
gibt es: „Der andauernde Streit um die Putzdienste fehlt“, sagt Nils Harm und lacht.
48
Unter Demenz versteht man den stetigen Verlust der Fähigkeiten des Gehirns. Zunächst leiden darunter das Kurzzeitgedächtnis, die Merkfähigkeit und später auch das Langzeitgedächtnis. Damit verändern sich die Wahrnehmung
und das Verhalten der Betroffenen, die im Verlauf der Krankheit viele grundsätzliche Fähigkeiten verlieren.
Eine Demenz hat verschiedene Ausprägungen und Ursachen. Primäre Demenzen entstehen direkt im Gehirn
und machen 90 Prozent der Krankheitsfälle aus. Dazu gehört auch die häufigste Form, die Alzheimer-Krankheit.
Sekundäre Demenzen treten als Folge einer anderen Krankheit, zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen oder Alkoholismus, auf. In diesen Fällen gibt es Chancen auf Heilung,
wenn die Grunderkrankung erfolgreich behandelt wird.
Demenzerkrankungen gehören zu den häufigsten gesundheitlichen Problemen im höheren Lebensalter. Im Jahr
2014 litten allein in Deutschland bis zu 1,5 Millionen Menschen an Demenz, jährlich erkranken rund 300.000 Menschen neu. Vor dem Hintergrund des demographischen
Wandels stellt deren Versorgung eine immer größere Herausforderung für das Gesundheits- und Sozialwesen dar.
Rat und Hilfe
Bei Fragen zu Diagnose und Therapie von Demenz oder zu
Betreuung, Pflege und Umgang mit Demenzkranken stehen
die Beraterinnen und Berater der Deutschen Alzheimer
Gesellschaft e. V. zur Verfügung.
030 259 37 95 14
www.deutsche-alzheimer.de
Der Neurologe und Psychiater Dr. Jens Bohlken spricht
im Interview über die Bedeutung der Diagnose und die Therapie
bei einer beginnenden Demenzerkrankung.
H
err Dr. Bohlken, wie
macht sich eine Demenz
bemerkbar?
DR. BOHLKEN: Meist treten
die ersten Symptome einer
beginnenden Demenzerkrankung bei Menschen auf, die über 60 Jahre alt sind. Zu
den ersten Anzeichen zählen Gedächtnisstörungen, aber auch Verhaltensänderungen der Patienten – zum Beispiel traurige
Stimmung oder sozialer Rückzug.
Worin unterscheidet sich „normale“
Vergesslichkeit von den Anzeichen einer
Demenz?
Die Gedächtnisstörungen im Rahmen einer
Demenz sind meist so stark ausgeprägt,
dass der Patient seine bisherigen Alltagsaufgaben – zum Beispiel eine Reise planen
oder ein Bankkonto eröffnen – nicht mehr
bewältigen kann. Doch auch vorher, sprich
bei zunehmender Vergesslichkeit, sollte
man den Hausarzt aufsuchen, um Ursachen
möglichst früh zu erkennen. Im Rahmen
einer Grunduntersuchung kann der Hausarzt eine kurze testpsychologische Untersuchung durchführen. Wird keine Demenz
festgestellt – was oft der Fall ist –, sollten
Patienten jenseits der 60 Jahre bei weiter
zunehmender Vergesslichkeit mindestens einmal im Jahr die Untersuchung wiederholen.
Und was, wenn eine Demenz diagnostiziert wird?
Dann sollte man sich weiter untersuchen
lassen. Am besten kann das ein Facharzt, der
sich auf Gedächtnisstörungen spezialisiert
hat und entsprechende Medikamente, sogenannte Antidementiva, verordnen kann.
Durch sie kann der Krankheitsverlauf verzögert werden.
Verzögern ja, heilen nein?
Das ist leider richtig. Wir können Demenz
heute nicht heilen. Aber mit dem richtigen
Behandlungsplan können wir Demenzpatienten und deren Angehörigen helfen, die
Erkrankung besser zu bewältigen. Dabei
sind auch nichtmedikamentöse Therapie formen wichtig.
Welche sind das?
Besonders Ergotherapie ist hilfreich, um die
Fähigkeiten der Patienten zu erhalten. Die
Therapie ist dann wirksam, wenn sie sich nah
am Alltagsleben der Patienten orientiert.
Daneben gibt es lebensgeschichtlich orientierte Verfahren, die die meist besser erhaltenen Inhalte des Altgedächtnisses nutzen.
Reine Übungsprogramme ohne Bezug zum
Leben der Patienten sind nur für wenige Patienten geeignet. Und schließlich darf die
therapeutische Unterstützung der pflegenden Angehörigen nicht vergessen werden.
ZUR PERSON
DR. JENS BOHLKEN
Facharzt für Neurologie,
Psychiatrie
und Psychotherapie
Dr. med. Jens Bohlken ist Fach-
Welche Rolle spielt die medizinische Betreuung während der Krankheit?
Bei Demenzen handelt es sich um ein weites
Spektrum unterschiedlicher Erkrankungen
des Gehirns. Dies erfordert zunächst eine genaue Diagnostik, die oft nur der Facharzt
leisten kann. Erst dann können die medikamentöse und die nichtmedikamentöse Therapie er folgen. Die Patienten mit Demenz
sind meist alt und haben oft noch viele
andere Erkrankungen. Deshalb ist der enge
Kontakt zwischen Hausarzt und Facharzt
wichtig. Überhaupt kommt es bei der kontinuierlichen Behandlung der Patienten mit
Demenzen auf ein gutes Zusammenspiel
von Hausarzt, Facharzt, Heilmittelerbringern
und Pflegeeinrichtungen an, in das auch
die Angehörigen der Patienten immer mit
einbezogen werden sollten.
arzt für Neurologie, Psychiatrie
und Psychotherapie. Er ist
seit 1994 in einer Facharztpraxis
in Berlin niedergelassen und
Autor zahlreicher Veröffentlichungen und Vorträge zum
Thema Demenz. Zudem ist
Dr. Bohlken lang jähriger Leiter
des Demenzreferates
im Berufsverband Deutscher
Nervenärzte (BVDN).
49
HEILKUNDE
Das geheime
Leben der
Zimmer pflanzen
Haben Sie schon einmal gesehen, wie Pflanzen in einer
Arztpraxis gepflegt werden? Nein? Eben!
Wir stellen sechs pflegeleichte Pflanzen fürs Wartezimmer
und ihre Ansprüche vor.
50
51
Pflanzliche
Pflegestufen
Der Klassiker
Der Sparsame
Der Evergreen
Die Beliebte
Die Anspruchsvolle
Die Ewige
Die Pflege eines Ficus’ ist ein Kinderspiel. Kein Wunder, dass sich die
Pflanze in Büros und Praxen großer
Beliebtheit erfreut: Sie verträgt
Heizungsluft besonders gut.
Kakteen eignen sich bestens für die
Fensterbank. Sie sind ausgesprochen
robust und lassen sich sehr viel
Zeit mit dem Wachstum. Nur gießen
darf man sie nicht zu oft – ideal
für alle, die nicht viel Zeit für die
Pflanzenpflege haben.
Diese Pflanze verzeiht alles – nur keine
Ruhestörung. Die Aglaonema hält
Winterschlaf. Während dieser Zeit will
sie nur selten gegossen werden. Sie
sollte aber regelmäßig gedüngt werden.
Die Yucca-Palme gehört zu den beliebtesten Palmenarten, was an ihrer
pflegeleichten Art liegen mag. Sie hat
die Fähigkeit, Wasser über einen längeren Zeitraum zu speichern und auch
ohne Dünger bis zu fünf Meter
hoch zu werden. Licht tut ihr gut.
Die Orchidee ist nicht nur etwas für
Liebhaber, sondern gedeiht auch
in zweckmäßiger Atmosphäre.
Alle zwei Jahre muss sie umgetopft
werden. Nicht zu oft gießen!
Die Kunstpflanze ist ein sehr beständiges Wesen: Ihr Aussehen verändert
sich nicht, auch ihre Größe bleibt
immer gleich. Wo sie steht, ist ihr egal.
Ob Heizungsluft oder dunkle Ecken –
sie hält einfach alles aus. Doch ganz
ohne Pflege kommt auch sie nicht aus:
Kunstpflanzen sind wahre Staubfänger
und müssen regelmäßig feucht entstaubt werden, sonst verlieren sie an
Glanz und Schönheit.
Der
Der
Die
Die
Die
Die
Ficus
Kaktus
Aglaonema
Yucca-Palme
Orchidee
Plastikpflanze
ZEITAUFWAND:
ZEITAUFWAND:
ZEITAUFWAND:
ZEITAUFWAND:
ZEITAUFWAND:
ZEITAUFWAND:
LICHTBEDARF:
LICHTBEDARF:
LICHTBEDARF:
LICHTBEDARF:
LICHTBEDARF:
LICHTBEDARF:
/
AUSSEHEN:
52
AUSSEHEN:
AUSSEHEN:
AUSSEHEN:
AUSSEHEN:
AUSSEHEN:
53
HEILKUNDE
Heute ist
alles besser
Wer sich krank fühlt, geht
zum Arzt – zum Hausarzt. Die
Praxis des Arztes ist für seine
Patienten ein wohlbekannter
Ort mit der Gewissheit verlässlicher Diagnosen. Doch
das war nicht immer so.
Patientenaufzeichnungen waren schon Mitte des 17. Jahrhunderts
ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen Arbeit.
EIN KESSEL BUNTES
So unterschiedlich wie die beruflichen Möglichkeiten der damaligen Ärzte waren, so
vielfältig waren auch die Behandlungsmethoden. Eine der ältesten medizinischen Behandlungsformen, die des Aderlasses, galt
bis ins 17. Jahrhundert als eine der wichtigsten überhaupt. Den Patienten wurden erhebliche Mengen Blut abgenommen – ganz
K
Landärzte begleiteten ihre Patienten schon Ende des 19. Jahrhunderts über längere Zeit.
Die weiten Wege waren für Ärzte jedoch sehr mühsam und oft kam ihre Hilfe zu spät.
54
rankheiten sind so alt wie die
Menschheit selbst. Genauso lange gibt es Menschen, die es sich
zur Aufgabe gemacht haben,
sie zu heilen. Erst vor geschätzten 10.000 Jahren jedoch entstand so etwas
wie der Beruf des Arztes. Von einem einheitlichen Berufsbild konnte dennoch lange Zeit
keine Rede sein, ebenso wenig wie von einer
Arztpraxis. Die etablier te sich erst Mitte des
19. Jahrhunderts als feste Adresse. Bis dahin
besuchte der Arzt seine Patienten zuhause.
Dabei war ein Arzt bis ins 17. Jahrhundert nicht nur Arzt. Er konnte, ja er musste
gleichzeitig als Mathematiker, Baumeister,
Astrologe sein Geld zu verdienen. Mitte
des 18. Jahrhunderts besaßen Ärzte mancherorts sogar das Recht, Bier zu brauen, Arzneimittel herzustellen und sie zu verkaufen. Im
19. Jahrhundert bekleideten Ärzte häufig
öffentliche Ämter. Oft hatten sie sogar mehrere Ämter gleichzeitig inne.
1850 gehörten Abklopfen und Abhören zu den
modernsten Untersuchungsmethoden.
gleich ob sie von Kopfschmerzen, Fieberkrämpfen oder Herzdrücken geplagt
wurden. Der Aderlass beruhte auf der Vorstellung, dass zwischen den Körper flüssigkeiten, wie Blut, Schleim, gelber und
schwarzer Galle, ein Ungleichgewicht herrsche. Durch die Blutentnahme sollte das
Gleichgewicht wiederhergestellt und die
Krankheit geheilt werden.
So mancher Hausarzt setzte hingegen auf
heilkundliche Methoden, wenn es darum
ging, die Schmerzen der Patienten zu lindern.
Gegen Kopfschmerzen sollten zum Beispiel
Pflaster an den Schläfen helfen, von Sauerteigpackungen versprach man sich Linderung
bei Schmerzen an den Füßen. Von pulverisiertem Rhabarber versprach man sich sogar
eine heilende Wirkung gegen zwei sehr unterschiedliche Leiden: gegen Magenschmerzen und gegen Panikattacken.
Die damaligen Methoden wirken aus heutiger Perspektive eher amüsant und willkürlich. Das liegt vor allem an Diagnosen, die
noch nicht auf Basis medizinischer Erkenntnisse gestellt werden konnten. Entsprechend kreativ waren die Ärzte bei der Wahl
der Diagnoseverfahren: Im 16. Jahrhundert
stand selbst bei akademisch gebildeten
Ärzten die Behandlung von Krankheiten anhand kosmischer Konstellationen hoch im
Kurs. Dabei galten bestimmte Planetenund Sternenpositionen entweder als gesundheitsfördernd oder als schädlich. Zur gleichen Zeit begann man übrigens, die medizinischen Prognosen in Kalender zu drucken,
und machte sie so erstmals für jeden zugänglich. Ein Erbe dieser Praktik gibt es auch
heute noch: in Horoskopen nämlich.
EINE FRAGE DER TECHNIK
Dass die damaligen Mediziner so gut wie
nichts über Infektionen, Viren und Bakterien
wussten, hing jedoch schlicht mit der technischen Entwicklung zusammen. Das änderte
sich schließlich Ende des 19. Jahrhunderts,
als der ärztliche Blick durch die Weiterent-
Bessere Diagnose durch bessere Technik:
Mikroskop von 1850.
wicklung des Mikroskops entscheidend geschärft wurde: Erstmals war es möglich,
menschliches Gewebe detailliert zu betrachten. Heute ist ein medizinisches Labor ohne
Mikroskop unvorstellbar.
Einen Bestandteil der heutigen ärztlichen
Untersuchung gab es übrigens schon in
den Zeiten von Aderlass und Astrologie: die
Anamnese. Schon vor Jahrhunderten haben
Arzt und Patient zunächst über aktuelle und
vergangene Beschwerden und Behandlungen gesprochen. Und so wie heute wurde
auch schon damals alles sorgfältig in Krankenakten dokumentiert. Karteien, Hefte,
Bücher, Praxisjournale oder Fallsammlungen
dienen heute wie damals als eine Gedächtnisstütze, als Wissens- und Erfahrungsspeicher für die Vorgeschichte eines Patienten.
Und der stand schon immer im Mittelpunkt
der ärztlichen Arbeit. Damals wie heute.
LINK ZUM WEITERLESEN
Mehr über den heutigen
Beruf des Arztes lesen
Sie hier:
www.ihre-aerzte.de
55
HEILKUNDE
Von Mega- und Antitrends
Gesundheit
„to go“
Wer gesund bleiben will, muss etwas dafür
tun. Doch viele Apps für Smartphones und
Tablets verwandeln das Streben nach
Gesundheit in ein echtes Pflichtprogramm
mit Ernährungs- und Trainingsplänen –
und Überwachung inklusive.
I
n der Ruhe liegt die Kraft, heißt ein altes
Sprichwort. Doch wenn es um Fitness
und gesunde Ernährung geht, scheint
diese Weisheit immer mehr in den Hintergrund zu rücken. Das Streben nach
Gesundheit verfolgt uns im wahrsten Sinne
des Wortes auf Schritt und Tritt: Unzählige
Anwendungen für Smartphones und TabletComputer, sogenannte Apps, übernehmen
das Kalorienzählen, bieten Nährwerttabellen
und organisieren ganze Ernährungs- und
Trainings-, vor allem aber: ganze Zeitpläne.
Etwa 15.000 Gesundheits-Apps gab es
im Jahr 2011 auf dem deutschen Markt,
weltweit waren es rund 40.000. Das hat der
Bundesverband Informationswirtschaft,
Telekommunikation und neue Medien e. V.
(Bitkom) errechnet. „Gesundheit to go“
heißt die Devise. Doch was eigentlich dabei
helfen soll, gesund zu werden und gesund
zu bleiben, übernimmt in vielen Fällen die
Kontrolle: Die Apps geben den Rhythmus vor,
takten den Tagesablauf der Nutzer durch
und bestimmen, was zu tun ist, um möglichst
gesund zu leben. Täglich fordert die App die
volle Aufmerksamkeit ihres Nutzers. Kalo-
56
rientabellen müssen gefüllt, sportliche Aktivitäten protokolliert werden. Die App mahnt
und motiviert und übernimmt ganz nebenbei die Überwachung von Körper und Geist.
SCHUTZ PERSÖNLICHER DATEN
Viele Nutzer von Gesundheits-Apps gehen
allzu sorglos mit privaten Daten um. Fakt
ist jedoch, dass die Anbieter der Apps mit
jeder Information, die preisgegeben wird,
das Bild des Users vervollständigen. Und
mehr noch: Verhaltensweisen und Vorlieben lassen nicht nur Rückschlüsse auf den
Nutzer zu – etliche Apps geben diese sehr
persönlichen Daten sogar ungefragt weiter.
Nichtsdestotrotz hat das Sammeln von
Daten über den eigenen Gesundheitszustand Hochkonjunktur. Fitnessarmbänder
und Pulsuhren überwachen mit Bewegungssensoren, wie viele Schritte täglich zurückgelegt wurden, messen zudem die Herzfrequenz und dokumentieren den Kalorienverbrauch. Die Daten werden per Bluetooth
oder USB-Verbindung mit Smartphone
Judith Mair entgeht kein Trend. Warum Gesundheit viel mehr ist
als das und was sie an „Quality Time“ und „Work-Life-Balance“ furchtbar
findet, erklärt die Trendforscherin im Interview.
oder Tablet synchronisiert. So entsteht ein
detailliertes Bewegungsprofil. Die App weiß
so, ob der Nutzer seine Tages- und Wochenziele erreicht hat. Ist das nicht der Fall, signalisiert sie Nachholbedarf und diktiert, wie
viel Leistung auf dem Weg zu einem gesunden Körper noch erbracht werden muss.
Es gibt sogar Zahnbürsten, die kontrollieren, wie lange und wie regelmäßig man
sich die Zähne putzt – virtuelle Belohnung
inklusive: Via Bluetooth werden auch hier
die Daten in einer App gesammelt und können mit denen der Familienmitglieder verglichen werden. Der beste Putzer bekommt
am Ende des Tages die meisten Punkte.
Ähnlich funktioniert die erste „Smart Gabel“,
die nicht nur misst, wie schnell man isst,
sondern auch, in welchen Mengen sich ein
Esser wovon ernährt. Natürlich sendet auch
die Gabel die Daten an eine App, mit deren
Hilfe die volle Ernährungskontrolle schließlich zum Gewichtsverlust führen soll.
MIT RISIKEN UND NEBEN­
WIRKUNGEN
Kein Wunder, dass all diese digitalen Gesundheitsprogramme nicht ohne Risiken und
vor allem nicht ohne Nebenwirkungen bleiben. Denn je mehr digitale Helfer das gesunde Leben vorschreiben, desto mehr Zeit
verbringen wir damit, sie mit Daten zu füttern. Zudem kann der ständige Druck, auf
Ernährung und Trainingspläne achten zu
müssen sowie den Tagesablauf gezielt daran
anzupassen, anstrengend sein und Stress
verursachen. Dagegen soll wiederum eine
Auszeit helfen: „Digital Detox“, zu Deutsch
„digitale Entgiftung“. Wer die Digitaldiät
macht, verzichtet für eine gewisse Zeit bewusst auf Smartphones, Tablets und Computer. Die Devise: Abschalten. Endlich Ruhe.
Und Zeit, wieder Kraft zu tanken.
F
rau Mair, ausgewogene Ernährung, viel Sport, der Verzicht auf
Alkohol und Nikotin – alles nur
ein zeitlich begrenzter Trend?
JUDITH MAIR: Nein, das Thema
Gesundheit ist mehr als ein Trend. Es ist ein
Megatrend, der das Leben nachhaltig und
grundlegend verändert – egal, in welchem
gesellschaftlichen Bereich.
Inwiefern?
Das sieht man zum Beispiel an der Ernährung.
Früher hat man „Centrum“ genommen und
heute trinkt man einen grünen Smoothie,
also einen Gemüse- oder Vitaminsaft. Oder
am Trend Überalterung: Alt werden, das
wollen alle – alt sein, das will keiner. Deshalb
versuchen die Menschen, die Zeit bis dahin
zu verlängern, indem sie fit bleiben.
Seine Zeit optimal zu nutzen ist also
auch ein Trend?
Definitiv. Digitalisierung und Mobilität sind
ja Entwicklungen, die im Kern vieles beschleunigen. Ich glaube allerdings, dass sie
das Leben für die meisten anstrengender
machen – was dann zu dem verzweifelten
Versuch führt, sich dem Stress zu entziehen:
Man geht zum Yoga und legt sich danach
in einen Flowting-Tank, nur um danach mit
allem weitermachen zu können. In den
1980ern hat man Flash Dance oder Aerobic
gemacht. Heute zählt, wie man sich fühlt
und wie man auftankt. Das macht die Antitrends so interessant.
… die da wären?
Zum Beispiel „Quality Time“ und „Work-LifeBalance“. Die Menschen haben das Gefühl,
zwischen Arbeit und Familie aufgerieben
zu werden, und wollen ihre Zeit anders gewichten. Das Phänomen „Quality Time“, also
die Aufwertung der wenigen Zeit, die man
hat, finde ich ganz schlimm. Da heißt es dann:
„Ich sehe mein Kind zwar nur eine Stunde
am Tag, aber die ist dann besonders intensiv.“
Ähnlich ist es mit der „Work-Life-Balance“,
die gern mit einer Frau dargestellt wird, die
bügelt, und auf dem Bügelbrett steht ein
Laptop. Oder mit einer Frau, die am Computer sitzt und ein Kleinkind auf dem Schoß
hat. Da frage ich mich: Welche Doktorarbeit,
Präsentation oder Kalkulation ist so jemals
verfasst worden? Da werden Idealbilder
erzeugt, an denen man nur scheitern kann.
Das sind Scheinwelten.
Judith Mair und Bitten Stetter
Moral Phobia
Ein Zeitgeist-Glossar von
Achtsamkeit bis Zigarette
Gudberg Verlag, 2015
29,90 Euro
ZUR PERSON
JUDITH MAIR
Trendforscherin
Judith Mair ist Trendforscherin
und Unternehmerin. Sie unterrichtet an der Zürcher Hochschule
der Künste und hat mehrere
Bücher veröffentlicht.
57
Erkennen Sie die inneren
HEILKUNDE
1.
2.
3.
4.
Acht Organe des Menschen
sind auf dieser Seite abgebildet,
acht Fragen müssen Sie beantworten. Doch welche Frage zu
welchem Organ gehört, das
verraten wir nicht – das ist Ihre
Aufgabe! Nach dem Lösen jeder
Frage tragen Sie die Antwort
in das Kreuzworträtselraster ein.
Aus den markierten Feldern
ergibt sich das Lösungswort.
Viel Spaß!
5.
Auseinandergefaltet ist dieses Organ mehr als
viermal so lang wie sein Besitzer. Manchmal
muss der unbenutzte Teil dieses Organs operativ entfernt werden.
1
Dieses Organ besteht hauptsächlich aus
Lappen – sehr vielen kleinen und zwei großen.
5
6
2
6
1928 wurde erstmals ein Gerät verwendet,
das dieses Organ eine Zeitlang ersetzen kann.
Im umgangssprachlichen Namen des Geräts
kommt ein Metall vor. Welches?
3
2
8
Nach der Form dieses Organs ist eine Hülsenfrucht benannt. Wie heißt das Organ?
1
4
6.
7.
8.
3
Dieses Organ kann etwa einen Liter Flüssigkeit fassen. Es liegt in einem Körperabschnitt,
dessen Name auch Schwimmbad-Besuchern
geläufig ist. Wie heißt dieser Körperabschnitt?
Ganz schön überflüssig ist eine Erkrankung
dieses Organs, welche man früher wie nannte?
5
7
Es macht nur zwei Prozent der Körpermasse
aus, verschlingt aber 20 Prozent des menschlichen Energiebedarfs. Von welchem Organ
ist die Rede?
Die Auflösung des Rätsels finden Sie auf Seite 62.
58
Werte?
Es hat immerhin eine Kammer und einen
Vorhof, doch es ist kein Gebäude. Wovon ist
die Rede?
1
2
3
U
5
6
59
HEILKUNDE
Kinder, Kinder!
Kannst du Emma helfen?
Emma hatte einen Fahrradunfall. Welchen Weg
muss sie nehmen, um so schnell wie möglich zu
Dr. Schneider zu kommen?
Wann lebten
die Dinos?
Einen echten Dinosaurier hat noch kein Mensch
gesehen. Denn als die Dinos vor vielen Millionen
Jahren ausgestorben sind, gab es noch gar keine
Menschen. Doch nicht alle Dinosaurier lebten zur
gleichen Zeit. Deshalb hat ein Tyrannosaurus Rex
zum Beispiel nie gegen einen Plateosaurus gekämpft.
Wenn du wartest, vergeht
die Zeit viel langsamer
als sonst, oder?
Nein, wenn wir warten, fühlt es sich nur so an,
als würde die Uhr langsamer laufen. Wenn
du aber etwas tust, das dir viel Spaß macht, bist
du abgelenkt und die Zeit vergeht scheinbar
wie im Fluge.
Plateosaurus
Vor 217 bis 201 Millionen Jahren
EMMA FRAGT DR. SCHNEIDER
„SAG MAL,
DR. SCHNEIDER,
Was ist eigentlich
Schau genau!
Emma hat den schnellsten Weg zu Dr. Schneider gefunden.
Der Arzt hat Emmas Wunde versorgt und ihr fünf Pflaster
mitgegeben. Leider kann Emma sie nicht mehr finden.
Kannst du ihr helfen?
60
eine Impfung?
Zum Schutz vor einigen Krankheiten gibt der Arzt dir eine Spritze
mit Krankheitserregern. In der Impfung gegen Masern sind zum
Beispiel Masernviren. Dein Körper bildet dann Stoffe, mit denen
er eine Zeitlang genau diese Krankheit abwehren kann. In dieser
Zeit wirst du nicht mehr krank, wenn du wieder mit den Viren
in Kontakt kommst. Danach musst du die Impfung wiederholen.
warum muss ich manchmal
zum Arzt gehen, obwohl ich
gesund bin?“
Bis du sechs Jahre alt bist,
Emma, musst du regelmäßig
zum Kinderarzt gehen. Er
sorgt dafür, dass du gesund
bleibst, und kann etwas
gegen eine Krankheit tun,
sobald sie sich anbahnt. Mit
13 Jahren solltest du dich
dann noch mal untersuchen
und deine Impfungen überprüfen lassen.
Diplodocus
Vor 157 bis 145 Millionen Jahren
Tyrannosaurus Rex
Vor 68 bis 66 Millionen Jahren
61
HEILKUNDE
Neulich beim Arzt
IMPRESSUM
Herausgeber
Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)*,
gesetzlich vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden,
Dr. Andreas Gassen
Verantwortlich (i. S. d. P.)
Dr. Andreas Gassen
Kontakt
D
Das P
Patientenmagazin
Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)
Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin
n
Postfach 12 022 64, 10592 Berlin
Dr. Roland Stahl, Leiter Kommunikation
E-Mail: RStahl @ kbv.de
www.kbv.de
Konzeption, Redaktion und Gestaltung
ressourcenmangel GmbH, Berlin
www.ressourcenmangel.de
Fotos
Maya Claussen (Titelbild, S. 4, 26–28, 30, 31), ddp
images GmbH (S. 4, 10), RTL/Kraehahn (S. 4, 11),
Britta Leuermann (S. 5, 44–48), Witters (S. 5, 40–41),
Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt
(S. 5, 55), Science Photo Library – PASIEKA/Gettyimages (S. 5, 58), Katka Pruskova/Shutterstock (S. 5, 52),
gulserinak1955/Shutterstock (S. 6), Michael . Gray/
Shutterstock (S. 7), Schneider Verlag (S. 7), Privat (S. 7,
49, 57), Eric Isselee/Shutterstock (S. 8, 9), Alexander
Ermolaev/Shutterstock, Antonio Gravante/Shutterstock, Smileus/Shutterstock, Denis Tabler/Shutterstock,
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Germany GmbH, ZDF/Thomas Waldheim, RTL (S. 10),
ZDF/Nicole Manthey, ZDF/novafilm fernsehprod.
Berlin, MDR/Rudolf K. Wernicke (S. 11), Andreas Labes
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Mönchengladbach (S. 43), Zhu Difeng/Shutterstock
(S. 50–51), Teerasak/Shutterstock, spinetta/Shutterstock (S. 52), Danny Smythe/Shutterstock, Vinicius
Tupinamba/Shutterstock, Stephane Bidouze/Shutterstock (S. 53), Universitätsbibliothek Marburg (S. 54),
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Gettyimages (S. 59)
Illustrationen
Annika Linke (S. 5, 60–61), Sina Brückmann (S. 20–25,
56–57), Ralf Ruthe/Distr. Bulls (S. 62)
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* Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zuständige Aufsichtsbehörde ist das Bundesministerium für Gesundheit
(Rochusstr. 1, 53123 Bonn).
» Ich vertraue
auf ihre
Behandlung … «
Auflösung des Rätsels auf Seite 59:
1. Herz – 2. Darm – 3. Leber – 4. Eisen – 5. Niere – 6. Becken – 7. Kropf –
8. Gehirn – Lösung: Gesund
Anja Höfler
PATIENTIN
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» Ich
behandle alles
vertraulich.« Eva Pauly
HAUSÄRZTIN
Wie wir niedergelassenen Haus- und Fachärzte für
unsere Patienten sorgen: unter www.ihre-aerzte.de
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