Als gäbe es nicht die dunklen Stellen dazwischen

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Als gäbe es nicht die dunklen Stellen dazwischen
„Als gäbe es nicht die dunklen Stellen dazwischen“
Intertextuelle Bezüge und Gegensätze in der Kurzgeschichte
Landvermessung von Thomas Stangl
Bachelorarbeit
Anna Aula
Universität Jyväskylä
Institut für moderne und klassische Sprachen
Deutsche Sprache und Kultur
01.05.2016
JYVÄSKYLÄN YLIOPISTO
Tiedekunta – Faculty
Laitos – Department
Humanistinen tiedekunta
Kielten laitos
Tekijä – Author
Anna Aula
Työn nimi – Title
Als gäbe es nicht die dunklen Stellen dazwischen – Intertextuelle Bezüge und Gegensätze in der
Kurzgeschichte Landvermessung von Thomas Stangl
Oppiaine – Subject
Työn laji – Level
Saksan kieli ja kulttuuri
Kandidaatin tutkinto
Aika – Month and year
Sivumäärä – Number of pages
04/2016
23
Tiivistelmä – Abstract
Kirjallisuuden myötä avautuu uusia maailmoja, joita ei voisi muuten kokea. Kirjallisuuden
avartavan luonteen vuoksi koin mielenkiintoiseksi itävaltalaisen kirjailijan Thomas Stanglin
novellin Landvermessung, jota tutkin tässä kandidaatin tutkielmassani. Tutkin tekstin
intertekstuaalisia viitteitä Franz Kafkan romaaniin Das Schloss, sekä tekstin sisältämien kuvien
tarkoitusta. Pyrin myös työssäni tutkimaan tekstin eri motiiveja sekä teemoja, joiden avulla tutkin
tekstin sisältämää symboliikkaa.
Intertekstuaaliset viitteet olivat sanatasolta aina tekstien teemaan asti monipuolisia, joiden pohjalta
rakensin analyysia Kafkan romaanin ja oman primääritekstini välille. Johtomotiivien avulla
muodostin myös vastakohtapareja, jotka valottivat tekstin symboliikkaa.
Asiasanat – Keywords
intertekstuaalisuus, symboliikka, motiivit
Säilytyspaikka – Depository JYX
Muita tietoja – Additional information
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: .................................................................................................................................. 7
2 Intertextualität, Intermedialität, Motiv, Thema und Leerstelle ................................................ 8
2.1. Intertextualität ................................................................................................................... 8
2.2. Intermedialität ................................................................................................................... 9
2.3. Motiv, Thema, Leerstelle ................................................................................................... 9
3 Material und Methode............................................................................................................. 10
3.1. Information zum Autor und seinen Werken .................................................................... 10
3.2. Information zum Primärtext ............................................................................................ 11
3.3. Methode .......................................................................................................................... 13
4 Verbindung Sprache und Bild in Landvermessung................................................................... 14
4.1. Intertextualität ................................................................................................................. 14
4.2. Intermedialität ................................................................................................................. 15
5 Gegensätze in Landvermessung ............................................................................................... 16
5.1. Blindsein als Metapher .................................................................................................... 16
5.2. Gegensatz Leben und Tod ................................................................................................ 18
6 Fazit .......................................................................................................................................... 20
Literaturverzeichnis: ................................................................................................................... 21
Anhang ........................................................................................................................................ 22
Anhang 1: Textbeispiel ............................................................................................................ 22
Anhang 2: Foto 1 ..................................................................................................................... 23
Anhang 3: Foto 2 ..................................................................................................................... 23
1 Einleitung:
Literatur kann uns durch Sprache Welten und Phänomene vorstellen, denen wir sonst
nie begegnen würden. Ich habe immer viel gelesen, und manchmal bleiben die Bücher
lange. in meinen Gedanken. Ich habe meinen Primärtext gewählt, weil er mich wegen
seiner Komplexität und Mehrdeutigkeit berührt hat. In meiner Bachelorarbeit behandle
ich die Kurzgeschichte Landvermessung von Thomas Stangl. Während meines
Austauschjahrs in Erfurt habe ich einen Literaturkurs über die Werke des Autors
besucht, wo ich einen ersten Einblick in seine Texte bekommen habe. Ich habe mich für
dieses Thema entschieden, weil ich den Autor und seine Texte interessant und wichtig
finde. Thomas Stangl ist ein zeitgenössischer österreichischer Autor, der 2004 seinen
ersten Roman geschrieben hat, aber davor schon hat er Artikel und Kurzgeschichten
veröffentlicht.
Mein Primärtext Landvermessung ist eine Kurzgeschichte von einer Wanderung einer
Person von Untermieming nach Sautens in Österreich. Die Kurzgeschichte beinhaltet
Bilder und Text. Die Wanderung beginnt in Untermieming, und die Person erreicht
Sautens am Ende des Tages. Als er Sautens erreicht, wird der Text lebendiger, weil jetzt
auch andere Menschen im Text vorkommen, auch Sehenswürdigkeiten. Die Geschichte
endet in einem Gasthaus.
In dem ersten Theoriekapitel behandle ich den Begriff der Intertextualität, weil ich in
der Analyse Franz Kafkas Roman Das Schloss und meinen Primärtext miteinander
vergleiche. Ein weiteres Kapitel behandelt Intermedialität, um die Bedeutung der Bilder
in Landvermessung zu beleuchten. In dem dritten Kapitel gibt es Information über den
Autor, seine Werke und meine Analysemethode. Danach folgt das erste Analysekapitel
über Intertextualität und Intermedialität im Primärtext. In dem fünften Kapitel wird der
Primärtext
nach
leitmotivisch
verwendeten
Gegensatzpaaren
strukturiert
und
interpretiert. In meinem Schlusskapitel gebe ich meine Schlussfolgerungen und Ideen zu
weiteren Arbeiten.
7
2 Intertextualität, Intermedialität, Motiv, Thema und Leerstelle
2.1. Intertextualität
Jeder Text enthält immer Spuren von anderen Texten. Intertextualität bedeutet TextText-Beziehungen und ist auch die Bezeichnung der Theorie über Text-TextBeziehungen. Intertextualität als Theorie untersucht Texte in der Hinsicht, dass die
Beziehungen
zu
anderen
Texten
und
ihre
Funktionen
im
Primärtext
als
Bedeutungselemente gesehen werden, während zum Beispiel der Struktualismus nur
den geschlossenen Text als eine Einheit untersucht. (Brackert, Stückrath. Hg., 2001.)
Ein neuer Text entsteht nie aus dem Nichts, was bedeutet, dass es bei der Analyse und
der Interpretation hilft, in einem neuen Text Bezüge zu anderen bekannten Texten zu
suchen.
Die Beziehungen zwischen Texten wurden schon in der Antike erkannt,
obwohl Intertextualität als ein theoretischer Begriff erst im 20. Jahrhundert Interesse
weckte. Text-Text-Beziehungen können viele Phänomene wie Zitat, Anagramm,
Paraphrase, Adaption, Imitation usw. enthalten. Die Terminologie der Intertextualität
stammt aus der Rhetorik, der Poetik und der Ästhetik und auch aus der Gattungstheorie.
Die Begriffe Zitat, Anspielung, Paralepse, Paraphrase, Motto, Adaption usw. sind alle
Phänomene der Intertextualität, was zeigt, dass die Intertextualität eine große Auswahl
von kleinen bis großen Phänomenen beinhaltet. (Bernt und Tonger-Erk, 2013, 7.)
Wenn man über Intertextualität spricht, muss man auch den Begriff Textualität erklären.
Ein Text soll bestimmte Texteigenschaften besitzen, die im Begriff Textualität
zusammengefasst werden. Ein Text ist eine Bedeutungseinheit, die sinnvoll, kohärent
und semantisch geordnet ist, so dass der Leser den Text verstehen kann. Ein Text kann
sprachlich oder bildlich existieren, was auf den multimedialen Textbegriff verweist.
Auditive und visuelle Texte gibt es in elektronischen Medien wie Film, Fernsehen und
Rundfunk; die alle dieselben Eigenschaften haben wie ein Text, der eine schriftlich
fixierte Form besitzt. Intertextualität ist also eine Theorie, die auf alle Medien
anwendbar ist. (Berndt und Tonger-Erk, 2013, 9.)
8
2.2. Intermedialität
Intertextualität ist die Theorie, die Text-Text-Beziehungen untersucht. Die Theorie
konzentriert sich auf die Bedeutungen des Textes, wobei die Form und das Medium des
Textes keine Rolle spielt. Auch andere Medialitäten bieten als Texte Inhalte, die Bezüge
zu anderen Werken besitzen. Wenn es um die Bezüge zwischen Text-Film, Text-Bild
und Text-Musik geht, spricht man von Intermedialität. (Berndt und Tonger-Erk, 2013,
157.) Intermedialität habe ich als theoretischen Begriff gewählt, weil der Primärtext
viele Fotos, also visuelle Texte, enthält. Die Bedeutungen der Fotos werden aufgrund
ihrer Intermedialität mit den Bedeutungen des schriftlichen Primärtextes verbunden.
Bei der Intermedialität ist es wichtig zu erkennen, dass die gleichen Inhalte in den
verschiedenen Medien von der Bedeutung her Unterschiede aufweisen können. Bei
solchen Texten, die zwei verschiedene Medien beinhalten, spricht man von
Medienkombination. Bei solchen Medienkombinationen werden immer irgendwelche
Leerstelle gelassen, weil einige Teile der Information nicht völlig von einem Medium
zum anderen übertragen werden können. Die Beziehung zweier Medien in einer
Gesamtheit bedeutet Intermedialität. (Berndt und Tonger-Erk, 2013, 158-159.)
2.3. Motiv, Thema, Leerstelle
Thema bedeutet in der Literatur eine grundlegende Idee, die nicht explizit im Text steht
und für jeden Leser unterschiedlich, aber nicht widersprechend sein kann. Oft wird das
Thema mit dem Strukturbegriff Motiv vermischt. Die Identifizierung zwischen Motiv
und Thema besteht darin, dass Motive Elemente im Textstoff sind, während das Thema
eine abstraktere Grundidee ist. (Brackert, 2001, 31.)
Leitmotiv ist eine inhaltliche oder sprachliche Einheit, die im Text wiederholt wird.
Wenn die Leitmotive analysiert werden, können Hinweise auf die Symbolik und das
Thema des Textes gefunden werden. Leitmotive und andere Mittel der Sprache lassen
Leerstellen entstehen. Leerstellen entstehen, wenn z.B. die Textteile nicht kohärent
miteinander verbunden sind. Die Textteile brechen den roten Faden des Textes und der
9
Leser muss selbst denken, wie der Text weitergehen könnte. Bei Kurzgeschichten
werden oft Leerstellen gelassen, und zwar wegen der Kürze des Textes. (Wilfinger,
Kurshandout.)
3 Material und Methode
3.1. Information zum Autor und seinen Werken
Thomas Stangl wurde am 4.1.1996 in Wien geboren. Er machte seine Matura in Wien
und studierte Philosophie und Spanisch an der Universität Wien. Er schloss das Studium
1991 ab. Schon seit den neunziger Jahren publizierte er Essays, Rezensionen und
Prosaarbeiten in Tageszeitungen und Literaturzeitschriften. Stangl lebt und arbeitet in
Wien. (Internet 1.)
Sein erster Roman Der einzige Ort (Literaturverlag Dorschl) erschien 2004 und war ein
großer Erfolg. Stangl bekam den Aspekte-Preis für das beste deutschsprachige Debut
2004, das Hermann-Lenz-Stipendium 2004 und den Literaturförderpreis des
österreichischen Bundeskanzleramts 2005. Für seinen zweiten Roman Ihre Musik, der
2006 erschien, bekam er den zweiten Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb;
Literaturpreis der Deutschen Wirtschaft. (Internet 2.)
Sein erster Roman Der einzige Ort erzählt die Geschichte von zwei Abenteurern des 19.
Jahrhunderts. Beide Forscher, Alexander Gordon Laing und Rene Caillie, die
heutzutage kaum mehr bekannt sind, reisen nach Timbuktu, ohne dass sie voneinander
etwas wissen. Laing reist mit einer Karawane und hat den Schutz der anderen
Menschen. Er kämpft mit Liebesproblemen, während Caillie, der allein als Araber
verkleidet reist, immer in Gefahr ist. Zwei verschiedene Arten des Reisens werden im
Roman Stangls zu einer traumhaften Geschichte verbunden. (Internet 1.)
10
Stangls zweiter Roman Ihre Musik erzählt die Geschichte der Mutter Emilie und ihrer
Tochter Dora. Sie wohnen in Wien in einer Wohnung, wo Gespenster, Erinnerungen
und Realität sich vermischen. Das tragende Thema des Romans ist, wie Krankheit und
Erinnerungen die Realität verändern können. (s.o.)
Sein dritter Roman Was kommt ist 2009 erschienen. In dem Roman kommt nochmals
die Figur der Emilie vor, die schon im Roman Ihre Musik eine Hauptfigur ist. Emilie ist
eine junge Jüdin, die im Sommer 1937 in Wien, in dem Stadtviertel Leopoldstadt lebt.
Andreas, die zweite Hauptfigur, ist ein Pubertierender, der in den 70er Jahren in Wien
lebt und ein Antisemit ist. Die Hauptfiguren haben Gemeinsamkeiten: Beide wohnen
mit ihren Großmüttern und beide sind Außenseiter, aber sie unterscheiden sich in vieler
Hinsicht. Was für Andreas Geschichte ist, ist Emilies Alltag, was der Erzähler mit
„Geschichte heißt, das kommt erst“ kommentiert. (s.o.)
Stangls vierter Roman Reisen und Gespenster ist 2012 erschienen. Reisen und
Gespenster ist eine Sammlung von Essays und Kurzgeschichten, die über viele Jahre
hinaus entstanden sind. Die Erzählungsweise und Themen der Essays bilden eine
Einheit, die den Leser auf eine Reise um die Welt mitnehmen. Die Geschichten und
Texte erzählen über Mexikoreisen, Landschaften und die Rock-Ikone Iggy-Pop, und
alles wird in einem für Stangl typischen Stil miteinander verbunden. (s.o.)
Der fünfte Roman Regeln des Tanzes ist 2013 erschienen. Dr. Walter Steiner, ein alter
Kunsthistoriker, findet alte Fotos. Die Fotos zeigen eine Familie mit zwei Töchtern und
einem Begräbnis. Die Menschen auf die Fotos sind schon gestorben, als Steiner sich in
den Versuch, die Geschichte der Familie zu untersuchen, vertieft. Das Leben von
Steiner und das der mysteriösen Familie umschlingen einander. (s.o.)
3.2. Information zum Primärtext
Landvermessung ist eine Kurzgeschichte aus dem Buch Reisen und Gespenster (2012)
von Thomas Stangl. In Landvermessung geht es um einen Mann, der von Untermieming
11
nach Sautens wandert. Das ist eine Route im östlichen Teil Österreichs, die auf der
Karte eine gerade Linie darstellt. Das Thema der Geschichte kann unterschiedlich
vorgestellt werden. Inhaltlich erzählt die Geschichte von einer Reise eines Mannes, der
allein wandert und die Umgebung beobachtet. Es könnte auch eine Geschichte über die
Gedanken eines Mannes sein, bei der der Handlungsverlauf nicht erforderlich oder
zentral ist. Das Geschlecht der Hauptfigur ist nicht ausführlich gesagt, aber der Text
benutzt das Maskulin. Es könnte das generische Maskulin sein, das man noch oft im
Deutschen benutzt, aber in diesem Text spielt das Geschlecht der Hauptfigur eigentlich
keine Rolle und deswegen ist die Frage nach dem Geschlecht der Hauptfigur
unbedeutend. Die anonyme Hauptfigur wandert allein durch die Wälder und andere
Landschaften. Auf dem Weg trifft er zwar auf einige Menschen, aber er bleibt allein und
betrachtet die Umgebung. Der Erzähler ist ein autoritärer oder allwissender Erzähler,
der die Gedanken, die Gefühle, die Geschichten und die Zukunft der Figuren kennt, wie
auf Seite 87:
[…] kurze schneidende Sätze reihen sich in seinem Kopf aneinander.
Die erzählte Zeit des Textes, also die Zeitdauer des Geschehens, umfasst eine Nacht
und einen Tag, also cirka 24 Stunden.
In Landvermessung kommen viele Leerstellen vor. Der Erzähler versteckt die Wahrheit
unter anderem mit der Benutzung des Konjunktivs, und der Leser selbst kann die
Schlussfolgerungen ziehen. Die Benutzung des Konjunktivs bedeutet, dass irgendetwas
sein oder nicht sein kann. Der Konjunktiv verweist auf Möglichkeiten und nicht auf
sichere Fakten oder Lösungen. Auf Seite 90 gibt es viele Beispiele für die Benutzung
des Konjunktivs:
[…] käme ihr eine Bestimmung zu […] als gäbe es nicht die dunklen
Stellen dazwischen […].
Unwahrscheinlichkeit wird auch mit anderen Mitteln vorgestellt, wie auf Seite 90:
[…] vielleicht aber nur, weil sie durch die Nähe oder das Gegenüber der
Burg einen Ort und einen Maßstab haben.
Auch die Klammern im Text stören die Ordnung des Textes. Wenn man die Texte
Stangls liest und das Lesen oder der rote Faden der Geschichte zerstört wird, muss man
12
nochmals von vorne beginnen, um zu erfahren, was schon passiert ist. Dadurch, dass der
Leseprozess immer wieder gestört wird, werden auch die eigenen Gedanken und
Vorstellungen zum Text immer wieder in Frage gestellt. So wird der Text bzw. die
Bedeutungen für jeden Leser und für jeden Lesevorgang anders.
Beim Lesen merkt man auch, wie Sätze und Bilder konkret und realistisch behandelt
werden. Ein Beispiel dafür ist auf Seite 99:
[…] auf seinem Rückweg der Ötztaler Ache entlang zum Bahnhof lernt er,
die klare Luft zu atmen, wie von selbst gehen seine Schritte in Bilder und
Sätze über.
Die Gedanken und die Träume der Hauptfigur werden beim Wandern konkretisiert. Die
Bilder und die Sätze haben die Eigenschaft, dass sie jetzt wirklich und konkret sind. Die
Konkretisierung der Bilder und der Sätze führen auch die Vergleiche zwischen Leben
und Tod fort, weil man sie als Gegensätze beschreiben kann.
Das Thema des Textes ist vielschichtig und offen. Mein erster Eindruck war, dass man
die Natur schätzen und verherrlichen will. Die Natur ist farbig und sie wird vielseitig
vorgestellt. Die ganze Geschichte spiegelt das Gleichgewicht von Mensch und Natur.
Die beiden Bereiche existieren nebeneinander, ohne einander zu stören. Das Thema
könnte auch das Leben darstellen. Eine Reise mit ihren Höhepunkten und Niederlagen
könnte das Leben an sich symbolisieren. Auch im Leben muss jeder seinen eigenen
Weg finden zwischen den vielen Möglichkeiten.
3.3. Methode
Landvermessung habe ich als meinen Primärtext gewählt, weil es ein interessanter,
geheimnisvoller und neuer Text ist. Ich beginne in Kapitel 4 mit der Analyse der
Intertextualität, weil es bei Landvermessung um einen neuen Text geht. Ein neuer Text
enthält aber immer auch Verweise auf ältere Texte, deren Analyse hilft, um sich ein
13
Gesamtbild über den Text zu bilden. Die Verweise auf Kafka geben Hinweise auf
mögliche Bedeutungen, denn sonst würde der Autor sie nicht in seinen Text
einbeziehen.
Das Kapitel 5 behandelt die Textinhalte, die auf den Gegensatz Leben-Tod verweisen.
Das Leitmotiv Leben-Tod wird mit Hilfe von textuellen Strukturen untersucht.
4 Verbindung Sprache und Bild in Landvermessung
Wegen der unterschiedlichen Thematik habe ich das Analysekapitel in zwei eigene
Kapitel gegliedert. Das erste Analysekapitel beschäftigt sich mit der Analyse der
Intertextualität und der Intermedialität. Das zweite Kapitel behandelt die leitmotivische
Verwendung des Gegensatzpaars Leben-Tod.
4.1. Intertextualität
„Zum Schreiben gekommen bin ich, so wie wahrscheinlich fast alle, durchs Lesen.“
Thomas
Stangl
in
einem
Interview.
(Internet
3.)
In diesem Kapitel vergleiche ich meinen Primärtext Landvermessung mit dem Roman
Das Schloss (1926) von Franz Kafka. Kafka konnte den Roman nicht vor seinem Tod
zu Ende schreiben. Landvermessung hat schon im Titel einen intertextuellen Bezug zu
dem Roman Das Schloss, weil in dem Roman Das Schloss eine Figur vorkommt, der
Landvermesser von Beruf ist. Landvermesser ist ein älteres Wort, das heutzutage nicht
so oft vorkommt. Vermessen bedeutet etwas genau messen. In meinem Text wird die
Natur vermessen. Die Benutzung des Wortes Landvermessung vermittelt schon einen
anderen Eindruck und andere Assoziationen als zum Beispiel Schilderung der
Landschaften oder Beschreibung der Landschaften. Die Verweise auf die Figur des
14
Landvermessers verstärkt die Idee, dass Landschaften fast mathematisch genau zu
beschrieben werden.
Im Roman Schloss versucht der Landvermesser vergeblich seinen Weg zum Schloss zu
finden und eine Arbeitsstelle in dem Schloss zu bekommen. Beide Versuche sind aber
aussichtslos. Er wird den Weg zum Schloss nicht finden, und auch die Arbeitsstelle
nicht bekommen. Auch in Landvermessung verändert sich der Weg des Wanderers.
Manchmal wegen des Zustands des Wegs und manchmal wegen der Menschen, die sehr
skeptisch gegenüber fremden Leuten sind. In Landvermessung hat der Mann
Schwierigkeiten mit der Sprache, weil er lieber Hallo als Grüß di sagt. Der
Landvermesser hat Schwierigkeiten ins Schloss zu kommen, weil er ohne Erlaubnis ins
Schloss gehen will. Die Figuren versuchen ihr Ziel zu erreichen, obwohl die Ziele
unerreichbar erscheinen. Hier liegt auch ein Kontrast zur Realität, weil in der Realität,
die Route von Sautens nach Untermieming eine gerade Linie darstellt, obwohl im Text
der Weg große Umwege macht.
Der Erzählungsbau der beiden Texte ist auch ähnlich. Die Hauptfiguren werden kaum
vorgestellt. Der Leser bekommt zwar im Lauf des Textes neue Informationen zu dem
Benehmen der Figur. Die Figuren in beiden Texten sind zentral, aber verursachen auch
viele Fragen beim Leser bzw. sie enthalten Leerstellen. In Landvermessung kommen
auch an anderen Stellen viele Leerstellen vor. Wegen des Gebrauchs des Konjunktivs,
der Klammern und der Leitmotive wird der Text sehr mehrdeutig. Für Kafka ist es sehr
charakteristisch, dass er mehrdeutige Texte schreibt. Durch Mehrdeutigkeit erreicht man
es einen Text zu schreiben, dessen Bedeutungen zeitlos sind, so dass die Texte von
Kafka und Stangl immer auf eine neue Art mit dem Leser kommunizieren.
4.2. Intermedialität
Intermedialität untersucht die Bezüge, die zwischen verschiedenen Medien entstehen.
Der Roman Stangls hat viele Fotos, die vom Autor stammen, und ein Gemälde am
Anfang des Textes. Auf der ersten Seite von Landvermessung gibt es das Gemälde
15
Bildnis eines jungen Mädchens von Cornelius von Poelenburgh, das in der Alten
Pinothek in München ausgestellt ist. Das Gemälde hat keine direkte Bedeutung in
Landvermessung, aber indirekte Verweise gibt es. Als die Hauptfigur zu einem Friedhof
kommt, erzählt er über das Aussehen und das Leben der verstorbenen Menschen, deren
Fotos auf den Grabsteinen abgebildet sind. Das Bildnis eines jungen Mädchens ist ein
altes Gemälde, das ein Mädchen zeigt, das schon gestorben ist. Das Gemälde zeigt also
einen verstorbenen Menschen, der jedoch im Bild weiterlebt, wie eingefroren in der
Zeit, wie auch die Menschen auf den Bildern im Friedhof.
Die Fotos, die in Landvermessung vorkommen, sind im Text beschrieben. Sie stellen
Landschaften dar, die auch im Text bekannt sind. Wenn die Hauptfigur ein altes Haus
sieht und es beschreibt, zeigt das Foto ein ähnlich aussehendes Haus, obwohl man nicht
sicher sein kann, ob diese Fotos dieselben Landschaften beschreiben oder nicht. Wenn
die Hauptfigur einen Kirchenturm sieht und ihn beschreibt, wird der Kirchenturm
visuell dargestellt. Diese Medienkombination gibt eine umfassendere Beschreibung der
Landschaft. Obwohl die Fotos und der Text dasselbe Ding vorstellen, geben die beiden
Medien Text und Foto verschiedenen Informationen. Ein Foto zeigt die materielle Seite
von einem Phänomen, während der schriftliche Text abstraktere Information vermittelt.
5 Gegensätze in Landvermessung
5.1. Blindsein als Metapher
In Landvermessung formen Geräusche ein Leitmotiv. An vielen Stellen wird der Leser
etwas Neues bemerken und zwar wegen der Auffälligkeit der Geräusche, wie auf Seite
89:
[…] das Rauschen eines unsichtbaren Wasserfalls zu hören, von den
Fichtennadeln tropft es zu Boden.
Der Grund, für diese akustische Beschreibung könnte sein, dass die Hauptperson blind
ist. Sie muss die Landschaft auf bestimmte Weise beschreiben, weil die
Sinneswahrnehmung verschieden ist. An manchen Stellen des Textes wirkt es, wie
wenn die Landschaft nur mit Hilfe des Gehörs und der Erinnerungen beschrieben
16
würde, weil der allwissende Erzähler auch die Gedanken der Hauptfigur weiß. Mit dem
Satz:
[…] als gäbe es nicht die dunklen Stellen dazwischen (S. 90)
könnte gemeint sein, dass die Hauptfigur sich vorstellt, wie die Landschaft wäre, wenn
er sehen könnte.
Blindsein bedeutet konkret ohne Sehvermögen zu sein, aber blind für etwas sein ist auch
eine Metapher dafür, wenn man etwas nicht bemerkt oder nicht bemerken will. Man
kann blind für sein Glück, seine Liebe oder eine schöne Aussicht sein.
An einer Textstelle kommt die Hauptfigur zu einem Kreuz mit der Aufschrift:
[…] dem Auge fern, dem Herzen nah (S.88).
Hier ist ein junger Mann viele Jahre früher verunglückt. Diese Aufschrift gibt einen
Verweis auf etwas Vergangenes. Die Metapher und die Aufschrift symbolisieren
Augenblicke, die schon vorbei sind, die also auf Tod verweisen.
Wenn die Hauptfigur blind wäre, würde es auch verdeutlichen, warum sie sich anders
als die anderen Menschen verhält, wie es auch im Text beschrieben wird:
Er ist wirklich nicht unter Menschen. […] macht ihm schon den Eindruck
des ungehörigen Eindringens in die Privatsphäre, als würde es hier keinen
öffentlichen Raum geben. (S. 93).
Auch die Unterscheidung zwischen Schlaf und Wachsein wäre schwerer, weil nur die
Geräusche dem Blinden erzählen, ob es Tag oder Nacht ist, und nicht zum Beispiel das
Licht des Sonnenaufgangs und –Untergangs oder die Helligkeit. Der Blinde kann Tag
und Nacht nur vom Hören unterscheiden. Schlaf und Wachsein wird auch später im
Text miteinander verglichen:
17
[….] beinahe schweben, ohne den Boden zu berühren, wie er in manchen
Träumen gleitend. (S. 91).
Die Beschreibung der Landschaft beruht auch auf den Informationen einer Landkarte,
was eigentlich kein Sehvermögen voraussetzt; Im Text steht:
[…] der auf seiner Landkarte „Schöne Aussicht“ heißt. (S. 92).
Schöne Aussicht ist auch ein besonderes Beispiel, weil jeder Mensch seine eigene
Vorstellung von einer schönen Aussicht hat. Die Beschreibung der Landschaft ist auch
manchmal ebenso eindeutig wie auf einer Landkarte. Eine Karte kann man lesen und
erfährt so vieles über die Landschaft, aber immer bleibt dabei Platz für die eigene
Fantasie. Die Zweidimensionalität ist heutzutage leicht zu erreichen. Mit Google Maps,
Film, Fotos usw. erreicht man eine fast totale Erfahrung über beliebigen Ort. Mit einer
normalen Landkarte wie sie in Landvermessung vorkommt, gibt es wiederum Platz für
die eigene Fantasie, weil das Medium Landkarte abstrakter bzw. symbolischer ist als
z.B. Google Maps.
5.2. Gegensatz Leben und Tod
In Landvermessung wird mit Gegensätzen gespielt. Eine von diesen Gegensätzen ist der
Gegensatz zwischen Leben und Tod. Einerseits schildert der Text eine farbige
Landschaft mit Vögeln und Menschen, während andererseits die Welt des Textes wieder
farblos und einsam erscheint. Die Hauptfigur besucht eine Kirche, wo er sich mit
Grabsteinen bekannt macht. Er untersucht die Fotos und die kleinen Geschichten über
die verstorbenen Menschen, wie es z.B. auf Seite 96 steht:
Ein Herr mit Schnurrbart wird auf einer verblassenden Schrift als
Gerichts=Oberinspektor und Witzebürgermeister bezeichnet.
Die Geschichten und Fotos bilden eine Verbindung vom Tod zum Leben. Nachdem die
Hauptfigur die Kirche besucht hat, geht sie in einem Wirtshaus etwas trinken und essen.
Da wird ein sehr starker Kontrast zwischen den menschlichen Funktionen wie essen und
trinken einerseits und mit dem Tod andererseits gebildet.
18
Im Zusammenhang mit dem Gegensatz Leben und Tod könnte man auch daran
zweifeln, ob Bilder überhaupt lebendig sind. Sie besitzen Eigenschaften von etwas
Lebendigem. Ein Foto vermittelt auch einen Aspekte der Realität mit. Bildnis eines
jungen Mädchens, das am Anfang meines Primärtextes steht, stellt ein junges Mädchen
dar, dessen Blick geheimnisvoll nach unten gerichtet ist. Das Mädchen ist schon lange
gestorben, nur dieses Gemälde ist von ihr geblieben. Im Gemälde aber lebt sie weiter. 1
Um das Leben zu betonen, bekommen auch leblose Dinge wie Stoffhäschen und
Teddybären menschliche, lebendige Eigenschaften wie zum Beispiel auf Seite 99:
[…] auf den Fensterbänken schauen Osterhäschen und Teddybären mit
Schürzen nach draußen.
Die Farben schildern auch den Gegensatz zwischen Leben und Tod. Mit vielen Farben
erreicht man die Illusion einer realistischen, lebendigen Umwelt. Schwache und wenige
Farben geben einen Eindruck von einem unrealen, traumhaften Milieu. Schwarz
symbolisiert Trauer und Tod. Rot symbolisiert traditionell Liebe und die Farbe weiß
Unschuld. Die Farben funktionieren mit Licht. Ohne Licht gibt es keine Farben, aber
auch kein Leben. Wenn es dunkel ist, sieht man keine Farben, somit gibt es kein Leben.
Mit dem Wechsel des Farbenmilieus wird im Text gespielt, um verschiedene Arten von
Stimmungen zu erschaffen.
In Landvermessung kommt die Amsel zweimal vor. Die Amsel ist hier ein Motiv, das
auch im Zusammenhang mit Tod stehen kann. Die Amsel ist ein gewöhnlicher Vogel,
aber kommt wegen seiner dunklen Farbe und seines schönen Gesangs oft in der Lyrik
vor, wie auch auf Seite 90 und 89:
Könnte er besser pfeifen, würde er versuchen, den Amseln abseitige
Melodien
beizubringen.
[…]
Er
geht
auf
schwarzgewordenen
zusammengepressten Blättern durch Amselmusik [...]
1
Stangl hat einen Artikel über seine Assoziationen zu dem Gemälde geschrieben. Momente, nah am
Traum http://derstandard.at/1246541346804/Momente-nah-am-Traum
19
In der christlichen Symbolik wird die Amsel in Verbindung mit Einsiedlern wie dem
heiligen Kevin gebracht (Internet 4). Wie der heilige Kevin ist auch die Hauptfigur des
Textes eine Art von Einsiedler.
6 Fazit
Literatur kann man endlos untersuchen. Es gibt so viele Interpretationen wie Leser. Die
Arbeit ist eine subjektive Untersuchung, die Einblicke in den vielschichtigen Primärtext
Landvermessung gibt. Bei den intertextuellen Bezügen zu dem Roman Das Schloss von
Franz Kafka war die Form und die Mehrdeutigkeit ein gemeinsames Merkmal. Daraus
könnte man folgen, dass es auch
Übereinstimmungen in Bezug auf Thema und
Symbolik geben könnte, wie z.B. auf die Vorstellung des Lebens als eine sinnlose
ewige Suche.
Die Bedeutung der Bilder ist in meiner Arbeit von dem Blickwinkel der Intermedialität
untersucht worden. In Bezug die Intermedialität wird gezeigt wie Bilder und der
sprachliche Text zusammen Bedeutungen schaffen. Ein weiterer interessanter
Untersuchungsbereich wäre die Verbindung der Philosophie von Maurice Blanchot mit
der Erzählung, u.a. weil Blanchot im Vorwort des Romans Reisen und Gespenster
erwähnt wird.
20
Literaturverzeichnis:
Primärliteratur:
Stangl, Thomas. 2012. Reisen und Gespenster. Graz: Literaturverlag Droschl.
Sekundärliteratur:
Berndt, Frauke und Lily Tonger-Erk. 2013. Intertextualität: eine Einführung. Berlin:
Schmidt.
Brackert, Helmut und Stückrath, Jörn (Hg.). 2001. Literaturwissenschaft: Ein
Grundkurs. 7. erweitere und durschgesehere Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch
Verlag GmbH.
Wilfinger, Rolf. 2013. Erzählstrukturen. Literatur I Kurshandout.
Internet 1: Webseiten des Autors Thomas Stangl: http://www.thomasstangl.com/
Internet 2: http://www.droschl.com/programm/person.php?person_id=236
Internet 3: https://www.youtube.com/watch?v=barRIRYuNLU
Internet 4: Kafka, Franz: Das Schloss
http://www.digbib.org/Franz_Kafka_1883/Das_Schloss_.pdf
Internet 5: „Bildnis eines jungen Mädchens“ - Gemälde
http://www.bildergipfel.de/artist/cornelis_poelenburgh
21
Anhang
Anhang 1: Textbeispiel
Auf keinem der zweiundsiebzig Bilder ist eine Person zu sehen (es sei denn, man
rechnet die gemalten Figuren auf den Hauswänden und in den Kirchen, die Toten auf
ihren Fotografien dazu), erst nach und nach, in den Zwischenräumen, zeigen sich auch
Bewohner. Am Vorabend ist er in seinem Gasthof in Untermieming auf der großen
Terrasse im ersten Stockwerk mit dem Boden aus rauhen Steinplatten gestanden und hat
auf sein Zimmer zurückgeschaut, das einzige beleuchtete Zimmer rundum: ein kleines
Rechteck aus Licht, vom Weiß des Bettzeugs bestimmt; dort liegen ein Buch und eine
Landkarte, auf der dünne rote Linien die schneebedeckten Berge in seinem Rücken
durchziehen. Hinter dem Hoteldach ragen ein Baukran und der spitze Kirchturm in die
Höhe. Der Himmel ist schwarz und ohne Wolken, der Mond eine breite Sichel. Neben
der Terrassentür ist eine Satellitenschüssel aufgestellt; das österreichische Fernsehen ist
im Gasthof aber nur über die Zimmerantenne, mit krächzendem Ton und körnigem, sich
immer wieder auflösendem Bild zu empfangen, er stellt sich vor, daß im erwarteten
Regen die Landschaft in ähnlicher Weise aus einem fernen Geflimmer auftaucht, sich
für Momente in sein Gesichtsfeld schiebt.
Er wartet die ganze Nacht lang, mit geschlossenen Augen daliegend, vergißt, was Schlaf
ist, kurze schneidende Sätze reihen sich in seinem Kopf aneinander, während die Stille
rundherum wächst; gegen zehn Uhr vormittags bricht er auf, will im Gehen die fremden
Sätze in lange Perioden, nah an der Stille, auflösen, lernen, die klarere Luft hier zu
atmen. […]
In ein Dorf zu kommen, macht ihm schon den Eindruck des ungehörigen Eindringens in
die Privatsphäre, als würde es hier keinen öffentlichen Raum geben und die in den
Städten so klare Unterscheidung von Innen und Außen verschwimmen, vielleicht ist er
auch nur enttäuscht, wieder unter Menschen zu sein. Der Nah-und-Frisch-Markt in
Mötz ist über Mittag geschlossen, ebenso die Pfarrkirche Maria Schnee. Er ist nicht
wirklich unter Menschen: […]. Er macht ein Foto von Wolken, die sich in einer
Wasserlache spiegeln. Eine junge Frau mit Hund und rotem Anorak sagt Griaß di zu
ihm, der sich seit langem angewöhnt hat, mit Hallo zu grüßen. Der Fremde spürt jetzt
seinen Rücken und seine Beine; der Weg dem Inn entlang zieht sich, zwischen ihm und
dem Wasser wachsen kahle Sträucher, die Autobahn schneidet über den Fluß und füllt
das Tal mit ihrem Lärm, rechts läuft eine mächtige Hochspannungsleitung. Die Berge
dahinter werden zu einer einzigen bedrohlichen Wand, mit dem ihm vertrauten Namen
Simmering. Der weißgraue Himmel ist ohne alle Konturen: keine Wolken, kein Blau,
keine Sonne, keine Nebelstreifen, die sich ins Land herabsenken oder aus dem Land
aufsteigen, er geht auf Beton, durch einen Tunnel unter der Autobahn hindurch, durch
Matsch, weicht größeren Wasserlachen aus; der Fluß ist graugrün, ein Holztrumm liegt
am Kiesufer und sieht aus wie ein enthäuteter Riesenkopf. Eine Wegstunde: in
Vergessenheit geratene Maßeinheit; zwischen jedem der Orte im Inntal kann ein
Zwischenraum von einer Wegstunde liegen, der keine Bezeichnung braucht, weil er
nicht mehr recht weiß, wozu er überhaupt da ist; weil hier keiner etwas verloren hat und
keiner sich hier aufhalten will. […]
Im „Dorfgasthaus Bikertreff“, für das er sich entschließt, nachdem im anderen
Restaurant gerade der Koch fortgegangen ist, tönt aus dem Radio die Sendung
„Musikanten spielts auf“ mit Blasmusik aus Tirol, auf den Fensterbänken schauen
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Osterhäschen und Teddybären mit Schürzen nach draußen. Um acht Uhr abends ist er
der letzte Gast; als er hinausgeht, beginnt es stechend zu regnen. Er wird tief schlafen,
am nächsten Morgen vom Balkon aus auf die von frischem Schnee bedeckten Wälder
auf den Bergen gegenüber und auf die kleine weiße Kapelle schauen, die wie eine
Widerspiegelung der Kirche über Mötz erscheint; auf seinem Rückweg der ötztaler
Ache entlang zum Bahnhof lernt er, die klare Luft zu atmen, wie von selbst gehen seine
Schritte in Bilder und Sätze über.
Anhang 2: Foto 1
Kuva 1: Lähde: Internet 5
Anhang 3: Foto 2
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