Geschichte der nationalsozialistischen Patientenmorde
Transcription
Geschichte der nationalsozialistischen Patientenmorde
Entwurf Wettbewerbsunterlagen Neugestaltung Tiergartenstraße 4 der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas unter Einbezug der Stiftung Topographie des Terrors Historische Einführung Stand 24 24. April 2012 Inhalt Einführung in das Thema Seite 3 Zur Geschichte der nationalsozialistischen Patientenmorde (»Euthanasie«) Seite 5 Die Vorgeschichte Seite 7 Die nationalsozialistischen Verbrechen 1. Zwangssterilisationen Seite 9 2. Verbot der Beschulung geistig- und schwerbehinderter Kinder Seite 9 3. »Kindereuthanasie« Seite 10 4. Der Patientenmord im Rahmen der »Aktion T 4« (1940/41) Seite 10 5. Die »T 4«-Zentrale und die Ermordung von KZ-Häftlingen (»14 f 13«) Seite 12 6. Parallele Verbrechen: Patientenmorde der SS nach Kriegsbeginn Seite 12 7. Einstellung der Tötungen durch Gas, »T 4« und die Ermordung der Juden Seite 13 8. Die dezentralen Krankenmorde 1941 – 1945 Seite 14 9. Übersichtskarten zur »Euthanasie«-Aktion 1939 – 1945 Seite 16 Nach Kriegsende Seite 17 Inhalte einer Dokumentation am historischen Ort Vorbemerkung Seite 19 Gliederung Seite 20 Dimensionen des Verbrechens: Biographien von Opfern und Tätern Vorbemerkung Seite 25 Biographien von Opfern Maria W. (1899 – 1941) und Hermine W. (1900 – 1941) Seite 25 Ernst Lossa (1929 – 1944) Seite 26 Fritz Niemand (*1915) Seite 27 Exemplarische Täterbiographien Horst Schumann (1906 – 1983) Seite 29 Carl Schneider (1891 – 1946) Seite 29 Photographische Überlieferung Seite 31 Geschichte des Hauses Tiergartenstraße 4 und seiner städtischen Umgebung 1. Ort der Täter Seite 38 2. Stadtpalais im Villenviertel Seite 38 3. Die Villa als Verbrechenszentrale Seite 41 4. Vom Tiergartenviertel zum Kulturforum Seite 43 5. Das Kulturforum heute Seite 44 Schwarzpläne der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Seite 46 2 Einführung in das Thema In der Berliner Tiergartenstraße 4 befand sich ab April 1940 die Zentrale für die Organisation, die unter dem Decknamen »T 4« – oder schlicht »Aktion« – den Massenmord an Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich initiierte, koordinierte und durchführte. Über 70.000 Menschen fielen ihm zum Opfer, bis die Aktion am 24. August 1941 aufgrund öffentlicher Unruhe unterbrochen wurde. Das Morden begann bereits mit Kriegsbeginn im September 1939 und wurde sowohl nach dem »Euthanasiestopp« im August 1941 als auch mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 im gesamten Deutschen Reich und in vielen besetzten Gebieten, insbesondere im Osten, fortgesetzt. Die Erfassung, »Selektion« und Tötung der Anstaltspatienten war die erste zentral organisierte und systematische Massenvernichtung von Menschen durch die Nationalsozialisten. Dabei stellt »T 4« nur einen Teilkomplex des Gesamtverbrechens gegen Anstaltsbewohner dar. Die Forschung geht derzeit von insgesamt 300.000 Opfern des sogenannten Euthanasie-Programms in Europa aus. Allerdings liegen verlässliche Zahlen insbesondere für Osteuropa noch nicht vor. Seit 1989 erinnert zwar eine Gedenktafel an den historischen Ort Tiergartenstraße 4 und würdigt die Opfer. Und von Januar 2008 bis Januar 2009 stand dort das Denkmal der Grauen Busse des deutschen Künstlers Horst Hoheisel und Andreas Knitz. Eine Informationstafel folgte am 10. Juni 2008. Doch für die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung dieses Massenmordes ist »eine Dokumentation des Verbrechens und die Würdigung der Opfer in Berlin, am Ort der Täter in der Tiergartenstraße 4, dem historischen Ort der Planung der Verbrechen, von übergreifender nationaler Bedeutung«, wie es der Deutsche Bundestag in seiner Beschlussfassung formuliert. Weiterhin, so das Parlament, sollte das Ziel sein, »das bestehende Denkmal und den Gedenkort so aufzuwerten, dass dem Anliegen, am Ort der Täter über die Dimension des Verbrechens und seine Opfer zu informieren, entsprochen werden kann. Es geht um den Einbezug des bereits Vorhandenen und darum, am Ort der Organisation des Verbrechens über die Massenmorde an kranken und behinderten Menschen bzw. einfachen Patienten aufzuklären und zu erinnern«. Der historische Ort Tiergartenstraße 4 befindet sich im Geländekomplex des Kulturforums, für das das Land Berlin einen Masterplan verabschiedet hat. Somit wird es zwar eine neue 3 örtliche Einbindung geben, innerhalb derer aber der Tiergartenstraße 4 eine besondere Rolle zukommt. Durch die Kulturverwaltung des Berliner Senats soll daher ein Ideenwettbewerb durchgeführt werden, der die genannten Aspekte – Information und Erinnerung – berücksichtigt. Hierzu gehören mindestens Grundinformationen über das Verbrechen und seine deutschland- wie europaweite Dimension, über Täter und Opfer (etwa mit exemplarischen Biographien), die Sichtbarmachung des historischen Geländes und Gebäudes sowie der gesellschaftliche Umgang mit Tätern, Opfern und dem Gelände nach 1945. Das »aufklärerische Erinnerungszeichen« kann die bereits bestehenden Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen nicht ersetzen, sondern muss vielmehr auf sie verweisen. Beispiel für eine überaus gelungene Gestaltung öffentlichen Raums mit historischen Informationen ist die Gedenkstätte Berliner Mauer (allerdings verfügt sie zusätzlich über ein Besucher- und Ausstellungszentrum). 4 Zur Geschichte der nationalsozialistischen nationalsozialistischen Patientenmorde (»Euthanasie«) (»Euthanasie«) Das Gelände des Grundstücks Tiergartenstraße 4 in Berlin steht für eines der zentralen Verbrechen der Nationalsozialisten, den Mord an Zehntausenden von Patienten und Heimbewohnern. Der Mord ist, neben den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern, die dunkelste Seite der Geschichte der Medizin in Deutschland und der Geschichte der Heilberufe weltweit. Seine Methode, die »industrielle« Menschenvernichtung und die Weiterverwendung des Tötungspersonals kennzeichnen ihn als Vorstufe zum Holocaust. Das Mordprogramm wurde von einer Unterabteilung der »Kanzlei des Führers« von etwa 100 Mitarbeitern entwickelt. Diese »Zentraldienststelle T4«, benannt nach dem Kürzel der Adresse Tiergartenstraße 4, organisierte zunächst die Tötung von Kranken oder behinderten Menschen mittels Kohlenmonoxid. Bis zur formalen Einstellung der Gasmorde im August 1941 starben so im Deutschen Reich und im annektierten Österreich über 70.000 Menschen in sechs eigens dafür eingerichteten Tötungsanstalten. Zwischen August 1941 und 1945 wurde der Mord dann dezentral fortgesetzt und Patienten durch Nahrungsentzug oder die Verabreichung von Luminal oder Morphium umgebracht, wobei diese Tötungsmethoden auch vor 1941 bereits angewandt worden waren. Auf diese Weise wurden allein auf dem Gebiet des Deutschen Reichs (ohne Österreich) etwa weitere 90.000 Menschen zu Tode gebracht. Das später als »Aktion T 4« bezeichnete Verbrechen war dabei nur ein Teil eines umfassenden Massenmordes an Patienten, Pflegebedürftigen oder sozial Ausgegrenzten während der nationalsozialistischen Herrschaft in nahezu ganz Europa. Die geschätzte Gesamtzahl der Opfer liegt bei 300.000 Menschen. So wurden nach Beginn des Zweiten Weltkrieges in Ostmittel- und Osteuropa, beispielsweise in Polen und Weißrussland, Krankenhäuser von SSEinheiten »leergemordet«, um Platz zur Unterbringung von Wehrmachteinrichtungen zu schaffen. Wirtschaftliches Gewinninteresse beziehungsweise Rationalisierungsstreben im Rahmen des »totalen Krieges« war einer von mehreren Faktoren für die mörderische Radikalisierung der Politik gegen Kranke und Behinderte. Ihre Basis bildeten jedoch die »rassehygienischen« und sozialdarwinistischen Grundüberzeugungen der Nationalsozialisten und von Teilen der ärztlichen, juristischen und bürokratischen Elite in Deutschland. Bevölkerungspolitik sollte auf Auslese beruhen. Dazu gehörte auch der »Gnadentod« für angeblich »unheilbar Kranke«. Die »Euthanasie« (griechisch: schöner Tod), wie das Morden verschleiernd und zynisch genannt 5 wurde, war dabei eine Konsequenz der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Politik der deutschen Führung fußte dabei allerdings auf einem viel breiteren, quer durch politische Lager verlaufenden gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskurs der Jahrzehnte vor 1933. Wie bei der Ermordung der europäischen Juden bestand für die Nationalsozialisten aber nicht von vornherein ein Plan zur praktischen Umsetzung. Dieser wurde von den – teilweise miteinander konkurrierenden – nationalsozialistischen Akteuren erst schrittweise entwickelt. Lange Zeit standen, wenn überhaupt historisch geforscht wurde, die Täter im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Erst in jüngster Zeit wandte sich die historische Forschung den Opfern zu. Sie waren in der Nachkriegszeit nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Mehr noch: Körperlich und geistig Behinderte sowie psychisch Kranke standen schon lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten am Rand der Gesellschaft. So hatten sie nach 1933 kaum Möglichkeiten, sich auf breiter Basis gegen die eugenische Politik der neuen Machthaber und die Organisation des Massenmordes zur Wehr zu setzen. Die Überlebenden blieben nach 1945 noch über Jahrzehnte im gesellschaftlichen Abseits. Über ihre Integration und ihre Befreiung aus der Abgeschlossenheit der Anstaltsexistenz wurde von Seiten der Mehrheitsgesellschaft nicht nachgedacht. Ein veränderter Umgang mit Beeinträchtigung, abweichendem Verhalten und psychischer Erkrankung stellte sich erst langsam ein. Und auch der Leidtragenden von Zwangssterilisationen während der NS-Herrschaft, etwa 360.000 Menschen, nahm sich niemand an. Der Mehrzahl von ihnen wurde keine Entschädigung gewährt. Eine gedenkpolitische und gestalterische Auseinandersetzung mit dem historischen Gelände Tiergartenstraße 4 ist ohne die Einbeziehung der Perspektive der Opfer und ihrer Biographien nicht denkbar. Die Dimension des von hier geplanten und verwalteten Verbrechens bleibt ansonsten nicht nachvollziehbar. Dabei geht es auch um den Leidensweg der Überlebenden in der Nachkriegszeit. Zugleich ist am Ort der Täter auch das Fortbestehen einer Denkweise von »unwertem Leben« im Zusammenhang mit dem alten »Euthanasie-Diskurs« kenntlich zu machen, hier bezogen auf Äußerungen in der Debatte um Spätabtreibungen, um die Verweigerung lebensrettender Maßnahmen bei Neugeborenen sowie um die Sterbehilfe. 6 Die Vorgeschichte Körperlich oder geistig behinderte Menschen und psychisch Kranke als Subjekte der Geschichte, mit Handlungsspielräumen und eigenen Lebenswelten, sind von der historischen Wissenschaft lange ignoriert worden. Wo standen beeinträchtigte Menschen in den unterschiedlichen Epochen der europäischen Geschichte, wie ging die Gesellschaft mit ihnen um? Mittlerweile hat sich eine Denkschule entwickelt, die unter dem Stichwort »Disability Studies« (bezeichnenderweise existiert kein deutscher Begriff) für diese Fragen Antworten sucht. Sie versteht Behinderung als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse. Dem stand lange unwidersprochen das sogenannte individuelle Modell von Behinderung entgegen, das diese mit der Schädigung oder Beeinträchtigung gleichsetzt. Behinderung wird selbst heute noch häufig als schicksalhaftes persönliches Leid aufgefasst, das der Behandlung durch Fachleute bedürfe. Ziel war und ist die (Wieder-) Eingliederung der Patienten in die Volkswirtschaft, früher auch in das Militär. In historischer Perspektive befand sich dieses »Rehabilitationsparadigma«, wie es von der kritischen Wissenschaft genannt wird, seit dem 19. Jahrhundert auf dem Siegeszug. Mit der Professionalisierung der medizinischen Berufe hatten immer uneingeschränkter Ärzte und Pfleger das Sagen, während Patienten oder Hilfsbedürftige als schwach und unmündig gesehen wurden. Die Fürsorgepolitik des modernen sich entwickelnden Wohlfahrtsfahrtsstaates entsprach diesem Schema. Die soziale Not von Kranken oder Beeinträchtigten wurde zwar gelindert. Sie erhielten ein Dach über dem Kopf zugesichert und hatten regelmäßig zu essen. Andererseits wurden sie in weitgehend sozial isoliert und rechtlos gehalten. Auch wenn die Formen des Eigensinns und der Selbstbehauptung von Behinderten oder psychisch Kranken in dieser Epoche nicht übersehen werden sollten, so lebten sie nun in Anstalten am Rande der sich entwickelnden Industriegesellschaften. Deren zentraler Wert war die Leistungsfähigkeit ihrer Mitglieder. »Stark« und »schwach« wurden in der gleichen Zeit auch zu Leitbegriffen des extremen Nationalismus und des Rassismus, die sich immer bedrohlicher gegen die bürgerlichen Gleichheitsideale in Europa wandten. Im Rahmen dieser Bewegungen – oder beeinflusst durch sie – diskutierten Ärzte und Gesundheitspolitiker in zahlreichen Ländern bereits Ende des 19. Jahrhunderts über Maßnahmen zur »Gesundung« des »Volkskörpers«, über ›Rassenhygiene‹ und Eugenik. Auch die Sterilisation psychisch Kranker und der »Gnadentod« unheilbar Kranker standen bereits im Raum. Im Verständnis der »Rassehygieniker« gab es einen engen Zusammenhang zwischen dem »Volkskörper« und der Nation. Je »gesünder« das 7 Volk sei, umso stärker die Nation. Zentralen Stellenwert besaß die Aufopferung des Individuums für die Nation, bewertet nach den Kriterien seiner Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Erkrankung wurde vor allem als Einschränkung zu Ungunsten der Allgemeinheit betrachtet. Die Geringschätzung, die Ärzte und Gesellschaft psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen entgegenbrachten, wurde während des Ersten Weltkriegs deutlich, als über 70.000 Anstaltspatienten schlicht verhungerten oder aufgrund von Vernachlässigung starben. Dabei wurden bereits die ökonomischen Kriterien (»Ballastexistenzen«) deutlich, die beim nationalsozialistischen »Euthanasie«-Programm eine maßgebliche Rolle spielen sollten. Auch der Gedanke einer ärztlichen Erlösung unheilbar kranker Menschen (»Recht auf Tod«) radikalisierte sich zur Forderung nach der »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«, die 1920 von dem einflussreichen Strafrechtler Karl Binding und dem bekannten Psychiater Alfred Hoche formuliert worden ist. Mit der wirtschaftlichen Stabilisierung in den 1920er Jahren entwickelte das psychiatrische Denken neue Ansätze. Anstalten sollten nicht mehr bloße »Verwahrungsorte« sein, »Kranke« und »Gesunde« weniger stark als bisher voneinander getrennt werden. Die Reformpsychiatrie hatte einen integrativen Anspruch, der auf eine möglichst frühe Entlassung und ambulante Betreuung der Patienten ausgerichtet war. Familienpflege, aktive Fürsorge und Arbeitstherapie wurden zu wichtigen Schlagworten und deuteten eine Veränderung im Umgang mit den Insassen Wirtschaftlichkeitsgedanken und an. Allerdings Vorstellungen waren sozialer auch diese Kontrolle Ideen von beeinflusst. Die Patientenzahlen stiegen, die Aufnahmekapazität stieg an. Ein jähes Ende fanden diese Ansätze mit der Wirtschaftskrise 1929. Fortan fungierten die Anstalten wieder im hergebrachten Sinn als Verwahrungseinrichtungen und zeugten durch erneute Rationierung von Nahrungsmitteln und therapeutischen Ressourcen von der beiläufigen Hinnahme etlicher Sterbefälle. Neben der Reformbewegung kam es auch gleichzeitig zu einer zunehmenden Radikalisierung im Umgang mit psychisch und körperlich beeinträchtigten Menschen. Offen wurde nun gerade von Vertretern der Medizin, des Gesundheitswesens und der Politik die Sterilisation »Minderwertiger« gefordert. 8 Die nationalsozialistischen Verbrechen 1. Zwangssterilisation Zwangssterilisationen terilisationen Die Nationalsozialisten konnten mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 denn auch auf einen preußischen Gesetzentwurf aus der Weimarer Zeit zurückgreifen. Der Zwangscharakter des Gesetzes und die Radikalität seiner Umsetzung machten jedoch die ›rassenpolitische‹ Dimension, die die neuen Machthaber damit verfolgten, deutlich. Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, an erblichen Formen von Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit, »angeborenem Schwachsinn« und schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden. Viele Sterilisationen erfolgten ohne das Wissen der Betroffenen. Mehrere Tausend Menschen, vorwiegend Frauen, starben infolge des Eingriffs. Wie bereits ausgeführt, befanden sich viele der von den eugenisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten Betroffenen bereits am Rande der Gesellschaft – in Anstalten; ein breiterer Zusammenschluss zum Zwecke des Widerstands blieb aus. Für die Interessenvertretung von Behinderten, so zum Beispiel den Reichsbund der Körperbehinderten, ist sogar das Gegenteil festzustellen. Der Verband wurde 1933 im Sinne der Nationalsozialisten gleichgeschaltet. Er betonte, die Mehrzahl seiner Mitglieder unterscheide sich in eugenischer Hinsicht von psychisch Kranken und geistig Behinderten. Darüber versuchte er Verbandsangehörige mit angeblich vererbbaren Behinderungen propagandistisch davon zu überzeugen, sich »freiwillig« einer Sterilisation zu unterziehen. 2. Verbot der Beschulung geistiggeistig- und schwerbehinderter Schüler Die Debatte um »Minderwertigkeit« wurde auch zunehmend im Bereich von Pädagogik und Schulpolitik geführt. Während in der Weimarer Republik bereits Schulklassen für »geistesschwache« Kinder eingerichtet worden waren, wurden alle Bildungsangebote für behinderte Schüler mit Machtantritt der Nationalsozialisten zurückgefahren. Mit der »Allgemeinen Anordnung über die Hilfsschule in Preußen« 1938 verbot der Staat sogenannte Sammelklassen und damit jegliche Beschulung geistig- und schwerbehinderter Schüler. Damit wurde der enge Zusammenhang zwischen einem Recht auf Bildung und einem Recht auf Leben behinderter Menschen augenfällig. 9 3. »Kindereuthanasie« Die Radikalisierung der rassenhygienischen Politik der Nationalsozialisten entwickelte sich stufenförmig und war offenbar in hohem Maße improvisiert. Maßgebliche Akteure waren Mitarbeiter der »Kanzlei des Führers«, Teile der Ministerialbürokratie und einzelne Ärzte, die die Bezeichnung »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden« trugen. Der »Ausschuss« setzte ab August 1939 eine reichsweite Meldepflicht für behinderte Kinder bis zum dritten Lebensjahr in Gang. Ab Sommer 1940 wurden im gesamten Deutschen Reich etwa 30 Kinderfachabteilungen an Heilund Pflegeanstalten oder Kinderkliniken eingerichtet, in die geistig bzw. körperlich behinderte Kinder durch die Gesundheitsämter eingewiesen, beobachtet und schließlich mit Medikamenten getötet wurden. Den Eltern wurde die Durchführung moderner Diagnostik und Therapie vorgespielt, der Tod der Kinder als »Erlösung« durch eine Lungenentzündung inszeniert. Ein Anstoß für den Beginn der »Kindereuthanasie«, der bis 1945 mindestens 5.000 Kinder zum Opfer fielen, war der »Fall Knauer«. Er ist bis heute nicht genau zu datieren. Eltern eines behinderten Säuglings hatten sich an die »Kanzlei des Führers« gewandt, um die Tötung des Kindes zu erreichen. Das Kind wurde dann in der Leipziger Universitätsklinik umgebracht. 4. Der Patientenmord im Rahmen der »Aktion T 4« (1940/ (1940/41) Die »Kindereuthanasie« markierte den Auftakt zu weiteren Verbrechen. Seit Sommer 1939, zeitgleich mit der Vorbereitung des Angriffs auf Polen durch die Wehrmacht, plante das Hauptamt II der »Kanzlei des Führers« auch den Mord an jugendlichen und erwachsenen Patienten in Heil- und Pflegeanstalten. Der Würzburger Psychiater und Neurologe Prof. Werner Heyde übernahm die medizinische Leitung des Tötungsprogramms. »Legalisiert« wurde der Mord durch ein Schreiben Hitlers vom Oktober 1939, das auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatiert wurde. NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler sowie Hitlers Begleitarzt Dr. Karl Brandt erhielten darin den Auftrag, ärztliche Befugnisse so zu erweitern, dass unheilbar Kranken der »Gnadentod gewährt werden kann«. Die Rückdatierung des Erlasses macht deutlich, dass für die deutsche Führung mit der militärischen Expansion endgültig auch der ›Krieg im Inneren‹ begonnen hatte – gegen all jene, die ihren rassistischen und bevölkerungspolitischen Vorstellungen nicht entsprachen. Von der Berliner Zentraldienststelle aus (als Absender diente allerdings das Reichsinnenministerium) wurden an die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich und den angegliederten Gebieten 10 Meldebogen versandt, die die mit der Patientenbehandlung betrauten Psychiater vor Ort ausfüllten und die schließlich etwa 40 von der Zentrale angeworbene Ärzte begutachteten. Sie entschieden über Leben und Tod. Die ausgewählten Patienten – Kinder, Frauen und Männer– wurden zur Tarnung in sogenannte Zwischenanstalten (eingerichtet ab Frühjahr 1940) gebracht. Busse der »Gemeinnützigen Krankentransport GmbH« (GeKraT), einer Tarnfirma der Zentrale in der Tiergartenstraße, transportierten die Patienten zwischen Januar 1940 und August 1941 von den Zwischenanstalten in eine der sechs Tötungsanstalten – Grafeneck (Württemberg), – Brandenburg/Havel, – Hartheim (Oberösterreich), – Pirna-Sonnenstein (Sachsen), – Bernburg (Anhalt), – Hadamar (Hessen-Nassau). Hier kamen die Verschleppten in eigens eingerichteten Gaskammern nach der Einleitung von Kohlenmonoxid qualvoll um. Angestellte der Tötungsanstalten verbrannten ihre Leichen in eigens installierten Krematorien. Den Angehörigen wurde angeboten, die sterblichen Überreste auf einen Friedhof zugestellt zu bekommen. Der Mordarzt hatte bereits bei der »Untersuchung« vor der »Vergasung« eine unverfängliche Todesursache vermerkt. Dazu wählte er aus einem Katalog vorgegebener Möglichkeiten aus. Angehörige wurden in sogenannten Trostbriefen nach festem Schema benachrichtigt. Auch Todesorte und Todesdaten wurden gefälscht. Die Mordärzte verwendeten bei der Unterschrift Decknamen. Zu besonders aufwendigen Methoden der Täuschung griff die Berliner Zentrale hinsichtlich ermordeter jüdischer Heimbewohner und Patienten im Deutschen Reich. Die Mehrzahl von ihnen wurde 1940/41 in drei Wellen, getrennt von den nichtjüdischen Opfern, verschleppt und in Hartheim, Brandenburg und Hadamar mit Gas erstickt. Die Sterbeurkunden enthielten als Angabe zum Todesort »Irrenanstalt Cholm, Post Lublin«. Dabei handelte es sich um eine nicht mehr bestehende psychiatrische Anstalt im besetzten Polen, in der sämtliche Patienten im Januar 1940 durch die SS ermordet worden waren. Cholm fungierte also nur als Briefkastenadresse. In Wirklichkeit hatten Mitarbeiter der »T 4«-Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße die Todesnachrichten verfasst; anschließend wurden sie von einem Kurier nach Lublin gebracht und von dort per Post an die Angehörigen verschickt. 11 5. Die »T 4«-Zentrale und die Ermordung von KZKZ-Häftlingen (»Sonderbehandlung 14 f 13«) Ein weiteres Verbrechen, bei dem die Mordzentrale in der Tiergartenstraße 4 zumindest anfänglich eine Schlüsselrolle spielte, richtete sich gegen Häftlinge von Konzentrationslagern. Dieser Massenmord erhielt von der SS die Bezeichnung »Sonderbehandlung 14 f 13«. Das Wort Sonderbehandlung verwendeten die Täter für die physische Vernichtung von Menschen, »14f« für Todesfälle in Konzentrationslagern und »13« für die Todesart: Erstickung durch Gas. Nach dem Krieg haben sich Verantwortliche für das ›Euthanasie‹-Programm zwar von diesen Morden distanziert. Jedoch waren es Ärzte aus dem Bereich der »Euthanasie«-Aktion, die seit Frühjahr 1941 arbeitsunfähige Häftlinge in Konzentrationslagern »selektierten«, um sie dann in Tötungsanstalten verbringen zu lassen. Die »Aktion T 4« sollte dabei helfen, die Leidtragenden der katastrophalen Verelendung geräuschlos aus den Lagern verschwinden zu lassen: durch Mord außerhalb der Internierungsorte. Den Betroffenen wurde vorgetäuscht, sie würden in Sanatorien und Krankenhäuser verlegt. Ab März 1942 übernahm das SS-WirtschaftsVerwaltungshauptamt die Federführung bei »14 f 13«. Die Ärzte kamen weiterhin aus dem Umkreis der »Euthanasie«, mussten nun aber der SS und Polizei angehören. Zu den Opfern der »Sonderbehandlung« gehörten jetzt auch arbeitsfähige Häftlinge, die als Juden, Zigeuner oder Homosexuelle inhaftiert waren und nun systematisch ausgesucht und umgebracht wurden. Bis Ende 1943 sind dem Komplex »14 f 13« bis zu 20.000 Menschen zum Opfer gefallen. 6. Parallele Verbrechen: Patientenmorde Patientenmorde der SS nach Kriegsbeginn Während die Berliner Zentrale im Herbst 1939 noch den Gasmord an Patienten plante, schritt der NSDAP-Gauleiter von Pommern, Franz Schwede, bereits zur Tat. Er ließ die Anstaltsbewohner pommerscher Anstalten zusammenziehen und in den Gau DanzigWestpreußen, in den ehemaligen polnischen Korridor, bringen. Dort wurden sie durch eine SS-Einheit erschossen. Dieses Verbrechen an deutschen Patienten war Teil der bereits im September 1939 angelaufenen Massenmorde im besetzten Polen, denen 80.000 Angehörige der polnischen Oberschicht und bis zu 17.000 psychisch Kranke zum Opfer fielen. Auch die Gauleiter des Warthegaus und Ostpreußens, Greiser und Koch, waren an Patientenmorden beteiligt. So wurden über 1.500 Bewohner ostpreußischer Provinzialanstalten und bis zu 300 Patienten aus Polen im Mai und Juni 1940 in Soldau, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehört hatte, durch das SS-Sonderkommando Lange erschossen oder in einem Gaswagen ermordet. In Posen wurden bereits zuvor, im Oktober und November 1939, verschleppte 12 Heimbewohner bzw. Patienten in einer stationären Gaskammer im Festungswerk Fort VII ermordet. Die Tötungsmethode – Giftgas – stimmte nicht zufällig mit jener überein, die die Berliner »T 4-Zentrale« für ihre Verbrechen wählte. Mit großer Wahrscheinlichkeit beteiligte sich der »Chemiker der Vernichtung« Albert Widmann, auf den der Einsatz von Kohlenmonoxid im Rahmen von »T 4« zurückgeht, auch an der Entwicklung der Gaswagen für das Sonderkommando Lange. Am 22. Juni 1941 marschierte die Wehrmacht in die Sowjetunion ein. In ihrem Gefolge führten Einsatzgruppen der SS Massenmorde an über einer Million Juden, an Kommunisten, Roma und psychisch kranken Menschen aus. Sie wurden erschossen oder – im Falle von Minsk – in geschlossenen Räumen mit Sprengstoff getötet; zusätzlich waren auch etwa 30 sogenannte Gaswagen im Einsatz. Im weißrussischen Mogilew richteten die deutschen Besatzer auch eine stationäre Gaskammer ein, die mit Autoabgasen betrieben wurde. Neuere Schätzungen gehen von einer Zahl von 20.000 ermordeten Patienten in der besetzten Sowjetunion aus. Mittlerweile hatte ein Transfer der Tötungstechniken stattgefunden: Die an Behinderten und Kranken ›erprobte‹ Mordmethode wurde nun auch massenhaft an Juden verübt, und dies nicht nur in den besetzten sowjetischen Gebieten. Im Herbst 1941 richtete das Sonderkommando Lange in Kulmhof (Chełmno nad Nerem) im Warthegau, nördlich der polnischen Stadt Lodz, ein Vernichtungslager mit Gaswagen ein. Am 8. Dezember 1941 begann dort der Mord an über 150.000 Menschen – vornehmlich an Juden, aber auch an Sinti, Roma und anderen. 7. Einstellung der der Tötungen durch Gas, »T »T 4« und die Ermordung der Juden in Zentralpolen Die wegen der Patientenmorde aufkommende Unruhe in der Bevölkerung wurde in den Augen der NS-Führung zunehmend zum Problem. Nach einer Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, in der er die ›Euthanasie‹ geißelte, ordnete Hitler am 24. August 1941 die Einstellung der Gasmorde an. In der »T 4-Zentrale« in der Tiergartenstraße 4 war man von dieser Entscheidung völlig überrascht. Man ging davon aus, dass die Gasmorde nach einer Pause fortgesetzt würden. Dies geschah hinsichtlich Patienten und Anstaltsbewohnern bis Kriegsende nicht mehr; die Gaskammern von Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hartheim wurden allerdings, wie erwähnt, weiterhin zum Mord an Konzentrationslagerhäftlingen benutzt. Die »Kanzlei des Führers« stellte Ende 1941 und Anfang 1942 insgesamt 92 Angestellte der »T 4«-Zentrale an die SS ab. Kraftfahrer, Leichenverbrenner, aber auch Bürokräfte beteiligten 13 sich nun an der Umsetzung der »Aktion Reinhardt«, dem Massenmord an den Juden Zentralpolens in den drei Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Kommandant von Belzec (ab August 1942 Inspekteur aller drei Lager der »Aktion Reinhardt«) wurde Christian Wirth, der frühere Büroleiter der »T 4«-Tötungsanstalten Grafeneck, Brandenburg, Hadamar und Hartheim. Irmfried Eberl, Tötungsarzt in Brandenburg und Bernburg, leitete das Lager Treblinka. Dort wurde er von Franz Stangl abgelöst, der zuvor für Wirth in Hartheim unter anderem als Leiter des Standesamtes fungiert und zahlreiche Sterbeurkunden ermordeter Patienten gefälscht hatte. Der »Aktion Reinhardt« fielen bis 1943 etwa 1,75 Millionen Juden sowie Tausende Sinti und Roma zum Opfer. 8. Die Die dezentralen dezentralen Krankenmorde Krankenmorde 1941 – 1945 Nach dem Ende des Gasmordes endete die Tötung von Patienten und Heimbewohnern nicht; sie geschah jetzt durch Aushungern und durch die Verabreichung von Medikamenten. Das Verbrechen fand nun in vielen Heil- und Pflegeanstalten statt. Erst in jüngerer Zeit ist es der historischen Forschung durch Einzelfallstudien gelungen, die den Morden vorangegangenen Patientenverlegungen detailliert zu belegen und die dafür Verantwortlichen zu benennen. Diese sind sowohl auf regionaler Ebene als auch auf Reichsebene zu finden, wo die weiter bestehende »T 4«-Zentrale in Berlin zusammen mit der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums ein bestimmender Akteur blieb. Der Verlauf des Verbrechens hing nun eng mit der veränderten Kriegssituation zusammen. Die Wehrmacht befand sich in verlustreichen Rückzugsgefechten, zugleich trafen alliierte Flächenbombardements zahlreiche deutsche Großstädte. Die Wehrmacht benötigte zunehmend Raum für Lazarettzwecke; auf der anderen Seite suchten immer mehr Krankenhäuser durch die Folgen des Luftkrieges nach Ausweichquartieren. Die Gesundheitsverwaltung sah in psychisch Kranken »Platzhalter für den Bedarfsfall. Sie hielten die Betten warm, […] die Anstalt konnte nicht zur Kaserne umgewandelt werden« (Götz Aly). Trat der Bedarfsfall in den Augen der NSGesundheitspolitiker bzw. regionaler Verantwortlicher ein, wurden psychisch Kranke oder Behinderte in andere Anstalten verlegt und ihre Betten an Patienten städtischer Krankenhäuser vergeben. Die »T 4«-Zentrale koordinierte zahlreiche dieser Transporte. Mit der Einstellung der Gasmorde hatte die Verwaltung in der Tiergartenstraße 4 zwar ihre Machtstellung auf Reichsebene verloren, sie übte durch die Erfassung der Pflegekapazitäten dennoch weiterhin Planungskontrolle über die Heil- und Pflegeanstalten aus. 14 Zugleich entwickelte die »T 4«-Zentrale zusammen mit den führenden Psychiatern in Deutschland Pläne für die zukünftige Organisation der Psychiatrie: Für die heilbaren Kranken sollte alles therapeutisch Mögliche getan werden, während die »unheilbar Kranken« und die »Pflegefälle« einer unauffälligen »Euthanasie« anheimfallen sollten. Heilen und Vernichten lagen in diesen Vorstellungen nah beieinander. Die Verschleppung von psychisch Kranken zur Gewinnung von Krankenhausbetten wird auch als »Aktion Brandt« bezeichnet, benannt nach Karl Brandt, der 1942 zum »Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen« aufgestiegen war. Er spielte bei der Verlegungspolitik schon ab 1941, und dann wieder ab 1943, eine entscheidende Rolle. Die »Aktion Brandt« kann zunächst als Deportation von psychisch kranken und gebrechlichen Patienten im Rahmen einer totalitären Katastrophenmedizin aufgefasst werden; in ihrem weiteren Verlauf wurde der Kreis der verlegten Menschen immer weiter ausgeweitet, auch auf traumatisierte Opfer des Bombenkriegs, Wehrmachtsoldaten und psychisch und körperlich kranke Zwangsarbeiter. Zunehmend war sie an die Tötung der Patienten gekoppelt. Diese Morde wurden nun in den aufnehmenden Anstalten begangen. Ein reichsweit gesteuertes Gutachterverfahren über das Schicksal der Patienten entfiel; Ärzte, Schwestern und Pfleger vor Ort entschieden selbst. Maßgeblich waren hier die mangelnde Arbeitsfähigkeit und der Pflegeaufwand, aber auch solche Patienten wurden hingerichtet, die dem Personal lästig wurden, beispielsweise Heimbewohner, die durch Bettnässen, Fluchtversuche oder Diebstahl aufgefallen waren. Auch Unruhe, Widersetzlichkeit, Masturbation oder Homosexualität konnten das Todesurteil bedeuten. 90.000 Menschen wurden in der Phase des dezentralen Krankenmordes allein auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 umgebracht. Zu den Toten dieser Phase des Verbrechens zählen auch zahlreiche ausländische Zwangsarbeiter, die in Sammelanstalten verbracht und dort ermordet wurden. Dies betraf nicht nur geistig erkrankte Arbeiter, sondern auch Tuberkulosekranke. 15 9. Übersichtskarten zur »Euthanasie«»Euthanasie«-Aktion 1939 – 1945 Quelle: Institut für Zeitgeschichte München – Berlin 16 Nach Kriegsende Das Sterben der Patienten in Deutschland hörte mit der Befreiung durch die Alliierten nicht auf. Im Krankenhaus Eglfing-Haar bei München gewann der Psychiater Gerhard Schmidt im Juni/Juli 1945, Wochen nach dem Einmarsch der Amerikaner den Eindruck »eines Siechenasyls. Kein Lärm. Keine Bewegung. (…) Und doch gab es einige der fast verhungerten Patienten, die ihre Situation sehr gut erkannten.« Noch bis etwa 1947 wurden Psychiatriepatienten Opfer des Hungersterbens. Die Schwächsten der Gesellschaft erhielten angesichts der allgemeinen Nahrungsmittelknappheit am wenigsten. Der Nachweis weiterer gezielter Tötungen nach dem 8. Mai 1945 ist bis jetzt nur für die Anstalt Kaufbeuren zu erbringen. Zwar war der dortige Leiter Valentin Faltlhauser, der die »Hungerkost« in Bayern eingeführt und diese 1942 auf einer Direktorenkonferenz in München vorgestellt hatte, bereits verhaftet worden. Unter seinem Stellvertreter gingen die Morde aber noch bis Anfang Juli 1945 weiter. Erst elf Stunden vor Eintreffen der zur Hilfe gerufenen Amerikaner war der letzte Patient getötet worden. Am Beispiel Faltlhausers lässt sich der Umgang der Nachkriegsjustiz mit dem Thema »Euthanasie« gut belegen. Ein erstes Euthanasieverfahren hatte ein amerikanisches Militärgericht in Wiesbaden im November 1945 gegen sieben Ärzte und Angestellte aus Hadamar durchgeführt. Weitere Verfahren folgten, von denen der sogenannte Nürnberger Ärzteprozess (1946/47), in dem unter anderem Karl Brandt zum Tode verurteilt wurde, der bekannteste war. Valentin Faltlhauser und vier weitere Angestellte der Anstalt Kaufbeuren standen 1949 vor dem Landgericht Augsburg. 200 Mitarbeiter der Anstalt wurden als Zeugen gehört; außer Faltlhauser selbst stritten die befragten Ärzte jedes Wissen um die Morde ab. Widersprüche in den Aussagen bzw. offenkundige Lügen wurden durch die Ermittler nicht weiterverfolgt, überhaupt verzichtete die bayerische Justiz auf Strafverfolgung eines großen Teils des Kaufbeurener Klinikpersonals. Faltlhauser erhielt eine Haftstrafe von drei Jahren. Während die Täter und Mittäter also nur selten zur Rechenschaft gezogen wurden, verweigerten Staat und Gesellschaft den überlebenden und den ermordeten Opfern lange Anerkennung und Mitgefühl. So blieben Zwangssterilisierten in Westdeutschland nach dem Bundesentschädigungsgesetz nur wenige Möglichkeiten, einen finanziellen Ausgleich für ihre Leiden zu erhalten; Dreh- und Angelpunkt war der Umgang mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, dem die Bundesregierung 1957 attestierte, es sei kein typisch 17 nationalsozialistisches Gesetz. Erst 1988 ächtete es der Bundestag und sprach den Opfern sein Mitgefühl aus, hob das Gesetz aber nicht auf. Mit dem NS-Aufhebungsgesetz von 1998 wurden schließlich die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte für ungültig erklärt. Einen Rechtsanspruch auf Entschädigung haben die Opfer allerdings nicht. Sie sind bis heute nicht als Opfer der NS-Verfolgung gemäß Bundesentschädigungsgesetz anerkannt. Während hier also ein Stillstand in der Aufarbeitung historischen Unrechts und individuellen Leids zu beklagen ist, so hat sich die Situation von psychisch Kranken, von körperlich und geistig Behinderten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland deutlich verbessert. Dass in der Bundesrepublik ein Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung von Behinderung und psychischer Erkrankung eingetreten ist, liegt auch an der Entwicklung einer eigenständigen Behindertenbewegung. Es sei allerdings angemerkt, dass alte Denkmuster weiter wirken und dass die UN-Konvention zur »Inklusion« von Behinderten, die die Bundesrepublik 2008 ratifiziert hat, noch mit Leben zu füllen ist. Vorstellungen von »unwertem Leben« in der Tradition von »Euthanasie«- Verfechtern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existieren weiterhin in den Köpfen. Sie sind im sogenannten bioethischen Diskurs erkennbar geworden – in der Auseinandersetzung um Spätabtreibungen und die Tötungen von behinderten Neugeborenen. Nicht aus dem Blick geraten sollte auch, dass in globaler Perspektive die Behandlung behinderter oder psychisch kranker Menschen in vielen Staaten beklagenswert ist, – angefangen mit einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. 18 Inhalte einer Dokumentation am historischen Ort Vorbemerkung Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas hat vor längerem ein Grundkonzept für eine historische Dokumentation erstellt, das den Gesamtkomplex umreißen soll. Es reicht von der Vorgeschichte zwischen 1895 und 1939 im der nationalsozialistischen Rassenideologie und den Planungen für Patiententötungen, über die Krankenmorde in Pommern, dem ehemals polnischen Westpreußen und Wartheland von September 1939 bis April 1940, die Rolle der Zentrale von »T 4« und das reichsweite Morden in sechs Anstalten (Januar 1940 – August 1941), »Euthanasie« und Holocaust (»Aktion Reinhardt«) sowie die Darstellung des Zusammenhangs mit dem Holocaust und die Weiterführung der Behindertentötung in Deutschland und den besetzten Gebieten (1941 – 1944/45) bis zur Nachkriegszeit. Hierbei sollen exemplarische Opferbiographien, die die Bandbreite des Mordens und der Opfergruppen zwischen 1939 und 1945 widerspiegeln, ein besonderes Gewicht erhalten, ebenso wie die Ausgrenzung der Betroffenen als Opfer nach dem Krieg und ihr Kampf um Anerkennung. Zugleich geht es darum, exemplarisch das Handeln der Täter und auch ihre Karrieren nach dem Krieg zu dokumentieren. Was den Umfang einer solchen Dokumentation anbelangt, so gilt der Grundsatz: So viel Wissensvermittlung wie notwendig, um einen Ort ohne historische Spuren als Ausgangspunkt eines Jahrhundertverbrechens zum Sprechen zu bringen, und so viel Information wie am historischen Standort möglich, um Opfer und Akteure sichtbar zu machen. 19 Gliederung: 1) Geschichte des Gebäudes a. Kurzer Abriss zur Vorgeschichte des Areals im Berliner Tiergartenviertel und des Gebäudes bis zu seiner Inbesitznahme für »T 4« (inkl. »Arisierung«) 2) Eugenik, NSNS-Rassenideologie, -psychiatrie und -gesetzgebung – die Vorgeschichte (1895 (1895 – 1939) a. Exklusion und soziale Kontrolle: Kranke und behinderte Menschen und die Entwicklung des modernen Fürsorgewesens. b. Erläuterung der und kurzer Abriss zur Idee der Eugenik weltweit c. Die Debatte um die ärztliche »Erlösung« unheilbar Kranker und die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« d. NS-Rassenideologie und Propaganda (Stichwort: »der arische Mensch«) e. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« als erstes Rassegesetz (14. Juli 1933) f. Gleichschaltung der Behindertenorganisationen g. Umgang mit behinderten Menschen (»Erbgesundheitspflege«) und »Auskämmung von Asozialen« sowie Zwangssterilisationen, Verbot der Beschulung, Exklusion und »Volksgemeinschaft« h. Planung der »Euthanasie« bis 1. September 1939 i. Rolle der NS-Psychiatrie und -neurologie in der Rassenideologie, bei Planung und Durchführung des Mordens / Reaktionen (»Euphorie« angesichts erwarteter wissenschaftlicher Meriten und Fortschritte, Zusammenhang von Heilen und Vernichten) 3) Krankenmorde in Pommern, dem ehemals polnischen Westpreußen und dem Wartheland (September (September 1939 – April 1940) a. Angriff auf Polen und Beginn der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« von Polen, Juden und Deutschen durch Erschießen und in Gaswagen b. Regionale Verantwortung und Rolle der SS: Platz für umgesiedelte »Volksdeutsche« und SS schaffen 20 4) Die Zentrale der »Euthanasie« im Rahmen von »T 4« – Organisation und Personal a. Zentrale und reichseinheitliche Organisation des Patientenmordes – Struktur und Topographie in Berlin b. Personal; exemplarische Täterbiographien (SS, Ärzte, Juristen) c. Der rückdatierte »Führererlass« vom 1. September 1939 5) Das reichsweite Morden in Anstalten (Januar 1940 – August 1941) – »T 4«4«-Aktion a. System der Erfassung von Patienten b. System der Selektion und die Selektionskriterien der Täter c. die Tötungsanstalten (Brandenburg/Havel und Grafeneck, dann Hadamar, Pirna-Sonnenstein, Hartheim und Bernburg) d. Topographie des weitverzweigten Netzes der Durchgangsanstalten (Zwischenanstalten) e. Der angebliche Sterbeort »Irrenanstalt Cholm« bei Lublin – Sonderaktion gegen jüdische Patienten f. »Euthanasie« und Gesellschaft zwischen Zustimmung, Hinnahme und Widerstand; Abbruch der »T 4«-Aktion g. Nutznießer der »Euthanasie« (Wehrmacht, Staat und Partei sowie Wissenschaft) h. Opferzahlen 6) »Kindereuthanasie« und »Aktion 14 f 13« a. Mord an geistig oder körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen b. Tötung von kranken und nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlingen (1941 – Winter 1944/45) 7) »Euthanasie« und Holocaust (»Aktion Reinhardt«) a. Methoden (Selektion der Opfer durch Ärzte, Massenmord durch Giftgas, die Täuschung der Opfer durch Tarnung der Gaskammer als Duschraum, das Fleddern der Leichen durch Ausbrechen des Zahngoldes und die wissenschaftliche Verwertung innerer Organe, Beseitigung der Leichen, die Täuschung der Angehörigen durch Sterbedokumente mit falschen Daten) 21 b. Personal: über 100 der in der »Euthanasie« ausgebildeten und tätigen Beschäftigten stellten das »Fachpersonal« für die Durchführung des Massenmordes durch Giftgas im besetzten Polen c. »Aktion Reinhardt« 1942/43 (Belzec, Sobibor, Treblinka mit etwa 1,75 Millionen ermordeten Juden) 8) Weiterführung der Krankenmorde / Behindertentötung in Deutschland und den besetzten Gebieten (1941 – 1944/45) a. Deutsches Reich: Wechsel der Tötungsmethode (statt Gas Vernachlässigung der medizinischen Pflege, Hungerkost oder Überdosen von Medikamenten) – regionaler (Hadamar und Meseritz-Obrawalde) und dezentraler Mord b. Verdrängung und Vernichtung der Psychiatriepatienten unter den Bedingungen des »totalen Krieges« i. Zusätzliche Opfergruppen: erkrankte Zwangsarbeiter, durch den Bombenkrieg Verwirrte sowie nervenzerrüttete Soldaten c. Besetztes Europa: Massenmord auf sowjetischem (Lettland, Ukraine und Weißrussland) und auf ehemals tschechoslowakischem Gebiet, in ElsassLothringen sowie Planungen für Italien (Vernichtungslager Risiera di San Sabba in Triest) 9) Nachkriegszeit a. Strafverfolgung der Täter seit 1945 (Bundesrepublik, DDR und Österreich) b. Kontinuität von Denkweisen, Strukturen und Fragestellungen in der Ärzteschaft c. Täterbiographien (Karrieren in der Nachkriegszeit) d. Psychiatriereform und Behindertenbewegung in der Bundesrepublik und Westeuropa bis 1989 e. Behinderung und Krankheit im »bioethischen Diskurs« heute 10) Exemplarische Opferbiographien, Opferbiographien die die Bandbreite des Mordens und der Opfergruppen zwischen 1939 und 1945 widerspiegeln (inkl. Berliner, jüdischer und zweier ausländischer, zum Beispiel polnischer, lettischer oder ukrainischer, Mordopfer; Opfer kamen aus allen Schichten der Bevölkerung.) 22 11) Ausgrenzung der Betroffenen als Opfer nach dem Krieg, Kampf um Anerkennung, rechtliche Rehabilitierung und Erinnerung an die Ermordeten sowie ihre traumatisierten Kinder, Auftreten als Zeugen in »Euthanasie«-Prozessen, Gründung des Bundes der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. 1987; Engagement der Angehörige, Recherchen in- und außerhalb der eigenen Familien, Stolpersteinverlegungen 12) Verweis auf Gedenkstätten an historischen Orten und deren Entstehung bzw. Hinweis auf das Fehlen eines angemessenen Gedenkens (zum Beispiel: Computerterminals) 23 Dimensionen des Verbrechens: Biographien von Opfern und Tätern Vorbemerkung »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst!«, schrieb der französische Philosoph Jean Baudrillard, denn es gehörte zum Kalkül der Täter, auch die Erinnerung an die Ermordeten auszulöschen. Wesentliches Element der Erinnerungskultur sind daher die Bemühungen, den Opfern des Nationalsozialismus wieder »ein Gesicht« zu geben. Seit gut einem Jahrzehnt hat sich in der Gedenkstättenarbeit darüber hinaus der Ansatz der »Personalisierung« etabliert: Unstrittig ist mittlerweile, dass es darum gehen muss, Verfolgte und Ermordete als Menschen zu schildern, deren Existenz sich eben nicht ausschließlich auf das Opfersein beschränkte, als Menschen also, die vor der nationalsozialistischen Zeit ein wie auch immer geartetes gesellschaftliches Leben führten. Dies gilt auch für (geistig) behinderte oder erkrankte Menschen, auch wenn diese schon vor 1933 oft in prekären Verhältnissen leben mussten. Umgekehrt geht es darum, in anderer Form auch die Täter in ihren biographischen Zusammenhängen und insbesondere in ihren Handlungsspielräumen zu zeigen. Die folgenden vier Biographien von Opfern der Verfolgung und von zwei Tätern stellen nur eine weitere Einführung in das Thema dar. Ihre Auswahl, die Art der Erzählung und auch der Umfang der Texte dienen allein der Veranschaulichung und sind nicht als konkrete Vorschläge für die Umsetzung zu verstehen. 24 Biographien von Opfern Maria W. (1899 – 1941) und Hermine W. (1900 – 1941) Das Leben und Sterben dieser beiden aus dem bayerischen Allgäu stammenden Schwestern ist aus zwei im Berliner Bundesarchiv erhaltenen Krankenakten zumindest bruchstückhaft ablesbar. Über die Kindheit von Maria und Hermine ist wenig bekannt; beide besuchen die Schule, wobei die jüngere Hermine in allen Fächern unterrichtet wurde, Maria sich jedoch nur am Lese- und Schönschreibeunterricht, am mündlichen Rechnen und an der Heimatkunde teilnahm. Mit 12 bzw. 13 Jahren brachten sie die Eltern in das »Schutzengelheim Deybach«, das unter der Leitung von Franziskanerinnen stand. Knapp vier Jahre blieben die Mädchen dort, bis sie, nach dem Tod der Eltern, zu einer Tante kamen. 1921 nahm sie die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren auf. Nach Ansicht der dortigen Gutachter litt Hermine W. an »angeborenem Schwachsinn höheren Grades«, ihre Schwester Maria stehe »auf noch wesentlich niedrigerem geistigen Niveau, nämlich dem der Idiotie«. Schutz, Pflege, Führung und Aufsicht könnten nur in einer geschlossenen Anstalt gewährleistet werden. Diese Aussage hatte besondere Bedeutung, da der Landarmenverband Schwaben zunächst die Anstaltsbedürftigkeit der beiden bestritten hatte, um als zuständiger Kostenträger nicht belastet zu werden. Die Kostenfrage war vermutlich der Grund, warum die mittlerweile volljährigen Frauen im folgenden Jahr von Kaufbeuren-Irsee wieder nach Deybach gegeben wurden – die Pflegesätze in nichtstaatlichen Einrichtungen waren geringer. 18 Jahre verbrachten sie dort. 1940 erreichten die Mordplanungen der Berliner »T 4«-Zentrale auch Deybach. Anders als in anderen Teilen des Deutschen Reichs wurden Bewohner der konfessionellen Heime in Bayern zunächst in staatliche Anstalten gebracht; dort erfolgte der Selektionsprozess. Maria und Hermine trafen im November 1940 also wieder in KaufbeurenIrsee ein. Ein Arzt mit dem Kürzel W. hielt im Februar 1941 fest, Hermine habe etwas Scheues und Furchtsames an sich. Auch Maria sei »immer furchtsam und verzweifelt«, sie zeige sich wie ihre Schwester sehr ängstlich gegenüber der medizinischen Untersuchung, dabei zittere sie »am ganzen Leib wie Espenlaub«. Für den 8. August 1941 findet sich in beiden Akten der letzte, gleichlautende Eintrag für die Schwestern »wird heute verlegt«. Dieser Tag ist als ihr Todestag anzusehen. In einem Transport mit 131 weiteren Patientinnen wurden Maria und Hermine nach Hartheim verschleppt und dort noch am gleichen Tag in der Gaskammer ermordet. Sie waren 41 und 42 Jahre alt. 25 Ernst Lossa Lossa (1929 – 1944) Ernst Lossas Familie gehörte zur Gruppe der Jenischen. Sein Vater war als Hausierer tätig. In den Wintermonaten lebt die Familie in Augsburg, im Sommer reisten sie als fahrende Händler über Land. Mit der Machterlangung der Nationalsozialisten änderte sich ihre Situation: Landfahrer wurden stärker als bisher durch die Polizei überwacht und verfolgt. Die Geschäfte gingen immer schlechter. Im September 1933 starb die Mutter an den Folgen einer Erkrankung. Schon zuvor, im Juli des gleichen Jahres, wies die zuständige Augsburger Fürsorgebehörde die Kinder in Heime ein. Als »Zigeuner« abgestempelt, wuchs Ernst in einer rauhen Hackordnung zu einem Jungen heran, der stahl und log und immer wieder mit der erzwungenen Ordnung in Konflikt geriet. 1936 wurde Ernsts Vater Christian Lossa in das Konzentrationslager Dachau eingewiesen, als Haftart findet sich der Begriff »Arbeitszwang« in den Akten. Zwar erfolgte zu Weihnachten 1938 seine Entlassung, 1941 verhafteten die Nationalsozialisten Christian Lossa ein zweites Mal und internierten ihn als »BV«-Häftling im Konzentrationslager Flossenbürg. Dort kam er im Mai 1942 zu Tode. Ernst, seinen ältesten Sohn, verlegten die Behörden in ein Jugenderziehungsheim. In einem dort erstellten Gutachten hieß es, es handele sich bei dem Jungen »zweifellos um einen an sich gutmütigen, aber völlig willenlosen, haltlosen, fast durchschnittlich begabten, triebhaften Psychopathen«. Dieses Gutachten war der Grund für Ernsts Überstellung nach Kaufbeuren. Er verhielt sich weiterhin auffällig und unangepasst, wurde aber nach späteren Aussagen von Mitarbeitern der Heil- und Pflegeanstalt aufgrund seiner Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft auch geschätzt. Mehrfach versuchte er, hungernden Kranken Nahrungsmittel zu geben, die er zuvor gestohlen hatte. Von Kaufbeuren kam Ernst im Mai 1943 in die Nebenanstalt Irsee. Anders als zur Zeit des Aufenthaltes der beiden Schwestern Hermine und Maria W. gingen nun von hier keine Todestransporte nach Hartheim mehr ab. Vielmehr wurden die Patienten mit der von Valentin Faltlhauser entwickelten Hungerkost oder mit Medikamenten ermordet. Mitarbeiter äußerten später, Ernst Lossa habe das Tötungssystem durchschaut. Sie vermuteten, dass dies den Verwaltungsleiter Josef Frick und wohl auch Valentin Faltlhauser zusätzlich zur Tötung von Lossa motiviert habe. In Ernst Lossas »Entlassungsunterlagen« ist der Zeile mit »Entlassen am« der »9.8.44« eingetragen, der nächste Begriff »nach« ist durchgestrichen und statt eines neuen Ortes ist dort »Euthanasiert!« eingetragen. Nachdem er sich geweigert hatte, Tabletten einzunehmen, verabreichte man ihm am Abend des 8. August zwei Spritzen mit MorphiumScopolamin (Luminal), an deren Folgen er am Folgetag starb. Im Leichenschauschein ist als 26 »Grundleiden« »Asocialer Psychopath« eingetragen. Ein Pfleger berichtete nach dem Krieg bei seiner Vernehmung: »Am 8. August 1944 schenkte er [Ernst Lossa] mir im Garten der Anstalt ein Bild von sich mit der Aufschrift ›zum Andenken‹. Ich frage ihn, warum er mir das Bild schenkt, er meinte ich lebe doch nicht mehr lange und erklärte mir, er möchte lieber doch sterben, solange ich noch da wäre weil Lossa dann wüsste, dass er schön eingesargt werde.« Fritz Niemand (*1915) Fritz Niemands Leidenszeit in der Psychiatrie begann 1935, nachdem er während seiner militärischen Ausbildung bei der Marine an Depressionen erkrankte. Ein Neurologe verordnete die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Schleswig; dort wurde Niemand Zeuge der brutalen Behandlungsmethoden mit Elektro-, Kardiazol- und Insulinschocks und er verfolgte die Qualen der betroffenen Patienten. Zweimal versuchte er, zu fliehen und wurde deshalb in eine geschlossene Abteilung eingewiesen. Ein »Erbgesundheitsgericht« stufte ihn als schizophren ein. Nach dem seit 1933 geltenden »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurde er im Juni 1936 zwangssterilisiert. Fritz Niemands Mutter gelang es, ihren Sohn im Februar 1940 aus der Anstalt nach Hause zu holen, nachdem sie gerüchteweise vom angelaufenen Patientenmord erfahren hatte. Fritz fand eine Anstellung als Arbeiter und machte den Führerschein. Die strapaziösen Anstaltsaufenthalte waren nicht ohne Folgen geblieben; während eines Montageaufenthaltes in Norwegen durchlebte er immer wieder kollapsartige Schwächezustände. Es folgten ein weiterer Klinikaufenthalt, die Entlassung und erneute Berufstätigkeit. Nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg entwickelte er schwere Angstzustände. Das Universitätsklinikum Eppendorf überstellte ihn nach Langenhorn, der Sammelanstalt für die Hamburger Deportationen in die Sterbeanstalt Meseritz-Obrawalde in der brandenburgischen Neumark. Fritz Niemand überlebte dort als einer der wenigen seines Transportes den Medikamentenmord. Vor dem Einrücken der Roten Armee entkam er aus der Klinik und schloss sich einem Flüchtlingstreck an. Seine Versuche, nach dem Krieg eine Entschädigung zu erhalten, scheiterten. Das Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein erteilte ihm einen negativen Bescheid. Als Begründung gaben die Beamten an, seine Verfolgung sei nicht politisch begründet gewesen. Beim Amtsgericht Kiel suchte Niemand 1957 um Aufhebung jener richterlichen Entscheidung nach, die seine Sterilisation ermöglicht hatte. Auch dort lehnte man seinen Antrag ab; die Erklärung der Richter zeigt die Kontinuität des Denkens. Man sei »allein schon aufgrund des persönlichen Eindrucks ebenso wie 27 seinerzeit das Erbgesundheitsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Antragsteller eine Krankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 vorliege.« Fritz Niemand, zutiefst verletzt, unternahm zunächst nichts, ging später jedoch an die Öffentlichkeit und berichtete ausführlich über sein Schicksal. 1986 hob das Amtsgericht die Entscheidung aus den 1930er Jahren schließlich auf. 28 Exemplarische Täterbiographien Horst Schumann Schumann (1906 – 1983) Horst Schumann, Jahrgang 1906, stammte aus Halle an der Saale, sein Vater war praktischer Arzt. Horst Schumann trat bereits 1930, ein Jahr vor seiner eigenen Approbation als Arzt, in die NSDAP ein, zwei Jahre später in die SA. Kurz vor Beginn des Zeiten Weltkriegs erhielt er seine Einberufung als Unterarzt bei der Luftwaffe. Viktor Brack, stellvertretender Leiter der »Kanzlei des Führers« forderte ihn im Oktober 1939 in Berlin zur Mitarbeit an der »Euthanasie«-Aktion auf; Schumann willigte ein. Er wurde zunächst der erste ärztliche Direktor der neu geschaffenen »Landespfleganstalt« Grafeneck in Württemberg. Dort befand sich ein bis dahin als Behindertenheim genutztes Schloss, das für »Zwecke des Reichs« beschlagnahmt worden war. Unter Schumanns Leitung entstand in Grafeneck die erste Mordanstalt der »Euthanasie«Aktion im Deutschen Reich, der erste Ort systematischen Tötens überhaupt im Einflussbereich der Nationalsozialisten. 1940 wechselte Schumann in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, im Herbst 1942 nach Auschwitz. An der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau nahm er Selektionen unter ankommenden Deportierten vor und führte an Häftlingen grausame Röntgensterilisationsversuche durch. In der Nachkriegszeit konnte er zunächst weiter als städtischer Arzt in Gladbeck, dann in eigener Praxis arbeiten. Um seiner Verhaftung zu entgehen, floh er 1951 aus Deutschland. 1966 wurde er von Ghana an die Bundesrepublik ausgeliefert. Erst 1970 begann in Frankfurt ein Verfahren gegen ihn, das im darauffolgenden Jahr eingestellt wurde. Schumann starb 1983. Carl Schneider (1891 – 1946) Carl Schneider wurde 1891 geboren; er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, nachdem sein Vater die Familie verlassen und als Wandermusiker nach Amerika gegangen war. Aufgrund seiner Schulleistungen nahm ihn ein sächsisches Eliteinternat auf. Nach dem Ersten Weltkrieg beendete er sein Medizinstudium, wurde Assistenzarzt an der Universitätsklinik in Leipzig, dann in der Anstalt Arnsdorf, 1930 Chefarzt in Bethel. Bereits seit 1932 gehörte er der NSDAP an; im darauffolgenden Jahr übernahm er den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Heidelberg, nachdem sein Vorgänger nach Machtübernahme der NSDAP aus dem Amt gejagt worden war. In Heidelberg initiierte Schneider bahnbrechende Reformen; er führte die Arbeitstherapie ein und sprach sich für psychiatrische Abteilungen an 29 Allgemeinkrankenhäusern aus; doch das Plädoyer für ein geduldiges Eingehen auf den Patienten war gekoppelt an den Gedanken der Aussonderung. Heilen und Vernichten waren für Carl Schneider ganz eng miteinander verknüpft. Nach den Worten der Historikerin Christine Teller sah sich Carl Schneider ganz im Sinne der Nationalsozialisten nicht mehr »nur als Arzt einzelner Patienten, sondern als Arzt der ›Volksgemeinschaft‹«. Nach dem Beginn des Massenmordes im Rahmen der »Aktion T 4« war es Schneider, der das Verbrechen wissenschaftlich begleiten sollte. Er war auch als »T 4«-Gutachter tätig. Vernichten war in seinen Augen »wie das Heilen auf Ordnung angewiesen« (Christine Teller). Eine Basis der Untersuchungen bildeten histologische und pathologisch-anatomische Untersuchungen. Der Mord, meist an behinderten Kindern, diente nur als »notwendiger« Zwischenschritt bei einer wissenschaftlichen Studie. Schneider und seine Kollegen fühlten sich unter großem Zeitdruck. Sie rechneten damit, dass selbst dann, wenn die Nationalsozialisten den Krieg gewinnen sollten, weitere mit Patientenmorden verbundene Forschungen nicht mehr zugelassen würden. Nach dem Krieg wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Carl Schneider aufgenommen; zudem sollte er gegen einen Kollegen aussagen. Im Dezember 1946 erhängte er sich im Untersuchungsgefängnis Frankfurt. Seine Assistenten konnten unbehelligt in der Bundesrepublik, und in einem Fall in der DDR, Karriere machen. 30 Photographische Überlieferung Die in den vergangenen Jahrzehnten betriebene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Patientenmorde führte dazu, dass Teile der Öffentlichkeit heute auch historische Bilder mit dem Verbrechen in Zusammenhang bringen. Ähnlich wie für den Holocaust, wo das Motiv der Deportation (beispielsweise Bahngleise, auch die Gleise im Vernichtungslager Auschwitz) eine wichtige Rolle spielt, steht beim Patientenmord der Transport im Mittelpunkt, sinnbildlich über die »Grauen Busse« der Tarnfirma »Gemeinnützigen Krankentransport GmbH«. Nahaufnahmen des Mordes selbst wurden nicht gemacht oder sind zumindest nicht erhalten. Es existieren allerdings einzelne Aufnahmen von Patienten unmittelbar vor ihrer Ermordung. Inwieweit diese an dem zu gestaltenden Erinnerungsort Tiergartenstraße 4 dargestellt werden können und sollen, wird noch einer öffentlichen Aussprache bedürfen. Im Folgenden seien einzelne Bilder zur Anschauung vorgestellt. 31 Bruckberg (Mittelfranken), Frühjahr 1941: Deportation von Patienten aus der Anstalt, Quelle: Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau. 32 Liebenau (Württemberg), gerahmtes Farbdiapositiv, ca. 1940: Deportation von Patienten. Aus Notizen von Hermann Link (†), aktualisiert von Susanne Droste-Gräff: »Der auf dem Dia abgebildete Vorgang entspricht der Schilderung, wie sie Auguste Blank später zu Protokoll gegeben hat. Links prüfen der Arzt der Anstalt und seine Sekretärin (die Ordensschwester) anhand einer Liste die Identität der beiden vor ihnen stehenden Männer. Rechts bringt ein Angehöriger des Transportpersonals einen Stempelabdruck auf den Unterarm eines vor ihm stehenden Mannes. Zwischen den beiden Gruppen ein Hocker mit weißem Waschbecken. Rechts neben dem Stempelnden ein Assistent mit Liste und am rechten Bildrand ein robuster Transportbegleiter.« (»Die Stiftung Liebenau unter Direktor Josef Wilhelm 1910–1953«, S. 47) Quelle: Stiftung Liebenau. 33 Hadamar (Hessen), 1941: rauchender Schornstein der Tötungsanstalt, Quelle: Landeswohlfahrtsverband Hessen. 34 Aktenblatt mit Photographie von Elsa W. unmittelbar vor ihrer Ermordung in PirnaSonnenstein, angefertigt zu Dokumentationszwecken der Täter. Erkennbar sind zwei Stempelaufdrucke auf der Brust von Elsa W.; auf dem rechten Bild hält eine Hand ihren Kopf. Das Photo befand sich in ihrer Krankengeschichte und wurde veröffentlicht in dem von dem von Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter und Christoph Mundt und Wolfgang U. Eckart herausgegebenen Band: »Die nationalsozialistische ›Euthanasie‹-Aktion T 4 und ihre Opfer: Historische Bedingungen und ethische Konsequenzen für die Gegenwart.« Die Gruppe der Herausgeber hatte zuvor lange und kontrovers diskutiert, ob sie diese von Tätern angefertigten Aufnahmen veröffentlichen soll. Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 179/12572. 35 Gesellige Zusammenkunft von Mitarbeitern der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz, Quelle: Dokumentationsstelle Linz (Original: NARA II, RG 549, Records of HQ USAEUR, War Crimes Branch, War Crimes Case Files (»Cases Not Tried«) BOX 490 CASE 000-12-463 Hartheim). 36 Verhungerte Patienten im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, 1945, Aufnahme der Amerikanischen Besatzungstruppen, Quelle: Dokumentationsstelle Hartheim (Original: Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren). 37 Geschichte des Hauses Tiergartenstraße 4 und seiner städtischen Umgebung 1. Ort der Täter Die Tiergartenstraße 4 ist der Ort, an dem Parteifunktionäre, Ärzte und Ministerialbeamte den Massenmord an Patienten und behinderten Menschen erdachten und verwalteten, an dem dieses Verbrechen jedoch nicht unmittelbar ausgeführt wurde. Als Sitz der Tarnorganisation der Täter verweist er sinnbildlich auf jene Stätten, an denen Patienten und behinderte Menschen starben: auf die sechs Gas-Tötungsanstalten, auf Heime, Krankenhäuser sowie Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich sowie auf Erschießungs- und andere Todesorte im besetzen Ausland. Einmalig für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ist, dass die Täter im Fall der »Euthanasie«-Aktion ihre Mordpolitik mit dem Kürzel einer Verwaltungsanschrift (T 4 = Tiergartenstraße 4) tarnten. Die heutige Gedenkkultur verwendet die Bezeichnung über die historische Adresse hinaus als ein Synonym für die europaweite Dimension der Patientenmorde und damit schlagwortartig für eines der größten systematischen Verbrechen der Nationalsozialisten. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Geschichte das Gebäude der Dienstvilla und das sogenannte Berliner Tiergartenviertel, in dem sie stand, hatte. 2. Stadtpalais im Villenviertel Auf der Internetseite http://gedenkort-t4.eu/vergangenheit/die-villa befindet sich ein 3 DModell des Hauses Tiergartenstraße 4, das auf historischen Photographien und drei Bänden der Bauakten des Hauses (Landesarchiv Berlin) beruht. Den zugrundeliegenden Recherchen zufolge ließ es der Bankier, Mäzen und Sozialreformer Valentin Weisbach, der Schwiegervater des Berliner Stadtbaurates Ludwig Hoffmann, errichten. Die Entwürfe stammten von Christian Heidecke, einem renommierten Villenarchitekten des Großbürgertums, die Innengestaltung von dessen berühmten Kollegen Alfred Messel. 38 Das Gebäude Tiergartenstraße 4, Quelle: Landesarchiv Berlin. Valentin Weisbach ließ sich in einem der elegantesten Berliner Stadtquartiere nieder, unweit des Potsdamer Platzes und zentral gelegen, zugleich in der Nähe des Tiergartens. Ursprünglich Ansiedlungsort französischer Glaubensflüchtlinge (Refugiés), die hier auch ihre Nutzgärten hatten, »Friedrichsvorstadt« war das Gelände zu Bauland 1828 erklärt durch worden. den 1839 preußischen entstand König die als heutige Stauffenbergstraße, 1845/46 wurde die Matthäikirche errichtet. Der Süden des Viertels konnte bebaut werden, nachdem der sogenannte Schafgraben nach Plänen von Peter Joseph Lenné kanalisiert und die Uferstraßen des so entstandenen Landwehrkanals trassiert worden waren. Das Viertel nahe des großen städtischen Parks wurde für einige Jahrzehnte zur Heimat des Berliner Großbürgertums, so der Familien Wertheim, Tietz, Rathenau, Mosse, Ullstein, Goldschmidt-Rothschild oder Simon.1 1 http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/staedtebau-projekte/kulturforum/de/geschichte/bewohner/index.shtml 39 Tiergartenviertel, Margarethenstraße / Ecke Viktoriastraße, um 1900. Rechts der Bebauungsblock, an dessen nördlichem Ende die Villa Tiergartenstraße 4 stand (nicht auf dem Photo), Quelle: Landesarchiv Berlin. Der Architekturhistoriker Wolfgang Schäche hat vor allem zwei Typen von Häusern im Tiergartenviertel ausgemacht, die freistehende zweigeschossige Villa und den Typus der »städtischen Villa« mit zwei bis vier Geschossen, zu denen auch die Tiergartenstraße 4 zu rechnen ist. Im Jahr 1910 kaufte der damals 66-jährige Fabrikbesitzer Georg Liebermann, Bruder des Malers Max Liebermann, das Haus und stattete es mit modernem Komfort aus. Kommerzienrat Georg Liebermann starb 1926 und wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee begraben. Seine Kinder, Hans-Heinrich Liebermann, außerordentlicher Professor für Chemie, und dessen Schwester Eva Köbner geb. Liebermann hatten kein Interesse, einzuziehen. Schon zu Lebzeiten ihres Vaters waren Räumlichkeiten in der Tiergartenstraße 4 vermietet; das Berliner Adressbuch für 1926 nennt einen Gärtner (möglicherweise im Dienst der Eigentümer), eine Aktiengesellschaft, eine Vermögensverwaltung und die Filiale von »H. Ball, Antiquitäten«. Das Haus war damals eine prominente Adresse für den Berliner Kunsthandel. Hier befand sich die Berliner Niederlassung der Dresdner Firma Hermann Ball, mit der der angesehene Auktionator Paul Graupe 1927 dann 40 sein Geschäft zusammenschloss.2 Der »Starauktionator« Graupe wurde jüngst in der Ausstellung »Gute Geschäfte. Kunsthandel in Berlin 1933 – 1945« des »Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin e.V.« gewürdigt. Er mietete zwei Obergeschosse der Villa an. Die Weltwirtschaftskrise und die finanziellen Sorgen von Sammlern ließen die Geschäfte gedeihen. Unter dem Namen »Ball & Graupe« wurden von der Tiergartenstraße 4 einem internationalen Publikum wertvolle Sammlungen zur Versteigerung angeboten. Graupe zog später in die benachbarte Bellevuestraße 3 um. Nach 1933 wandten sich viele Verfolgte an Graupe, der seinerseits den Nationalsozialisten als »Volljude« galt. Aufgrund seines internationalen Renommees hatte Graupe den Ruf als erste Adresse für Notverkäufe. Graupe emigrierte nach Paris und lebte später einige Jahre in New York. Die prominenten Mieter Ball und Graupe in der Tiergartenstraße 4 repräsentierten eine neue Kategorie von Zuzügen und Mietern im Tiergartenviertel: In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg veränderte das Stadtquartier langsam seinen Charakter. Durch die Wirtschaftskrise war es manchen Bewohnern nicht mehr möglich, ihre großen Häuser zu halten. Neben dem Dienstleistungsgewerbe, zu dem der erwähnte Kunsthandel gehörte, wurde das Viertel zunehmend zum Sitz von Verwaltungen bzw. von Botschaften ausländischer Staaten. Waren hier zur Kaiserzeit nur die Vertretungen Spaniens, Italiens, Schwedens und Japans zu finden gewesen, so ließen sich nun Afghanistan, Ägypten, Chile, Griechenland, der Iran, Kuba, Lettland, Mexiko, die Niederlande, Portugal, Rumänien, die Türkei, die Tschechoslowakei und der Vatikan nieder. 3. Die Villa als Verbrechenszentrale Einige Jahre nach ihrer Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten, umfangreiche Umbaupläne für Berlin zu entwickeln. Die am 30. Januar 1937 geschaffene Dienststelle des »Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt Berlin« (G. B. I., Leitung: Albert Speer) wurde Motor und Planungsinstanz. Eines der Hauptmerkmale des Vorhabens war eine neue NordSüdachse; für sie sah der G.B.I. die Niederlegung ganzer Stadtquartiere vor. Das östliche Tiergartenviertel vom Potsdamer Platz bis kurz vor den »Bendlerblock« sollte einem gigantischen Neubau für das Oberkommando des Heeres und einem »Runden Platz« weichen, 2 Aus den Geschäftsräumen der Firma Hermann Ball sind Innenaufnahmen der Photographin Martha Huth überliefert (http://vm.gedenkort-t4.eu/vergangenheit/die-villa). 41 folglich war auch für das Grundstück Tiergartenstraße 4 Abriss und Neugestaltung vorgesehen. Bekanntermaßen konnte Speer seine Pläne jedoch nur im Ansatz verwirklichen. Eine detaillierte Geschichte der Stadtvilla zwischen der Machtübernahme und dem Beginn der Nutzung durch die »Zentraldienststelle T 4« liegt noch nicht vor. Die Berliner Adressbücher werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben, wichtige Hinweise finden sich jedoch in den Bauakten der ehemaligen Bezirksverwaltung Tiergarten und in der Restitutionsakte zum Grundstück (beide im Landesarchiv Berlin). Nach Angaben eines Familienmitglieds der Liebermanns (1950/1951) zog bereits 1933 oder 1934 die NSDAP bzw. die SA in das Gebäude, die Partei oder ihre Gliederung legte selbstherrlich eine Miete von 650 Reichsmark fest. Im Rahmen dieser Nutzung befand sich hier auch die Auslandsorganisation der Nationalsozialisten (NSDAP/AO). Sie verwaltete von der Villa aus, in die sie bis März 1935 einzuziehen beabsichtigte, die Mitgliedschaften von Nationalsozialisten im Ausland; die Organisation besaß innerhalb der Partei den Status des 43. Gaus unter Führung eines eigenen Gauleiters. Unterdessen änderten sich Besitzverhältnisse. Hans-Heinrich Liebermann übertrug im Juni 1936 seinen Anteil am Gebäude seiner Ehefrau Clara, die den Nationalsozialisten nicht als Jüdin galt. Zwei Jahre später, im September 1938, nahm sich Hans-Heinrich, längst aus der Universität entlassen, das Leben. Seine kinderlos gebliebene Schwester Eva Köbner folgte ihm 1939 in den Freitod. Zuvor hatte sie bestimmt, dass ihr Anteil am Grundstück als Erbe an die Jüdische Gemeinde zu Berlin fallen sollte. Hans-Heinrichs Witwe Clara Liebermann musste das Haus oder ihren Anteil daran 1940 im Rahmen der Speer´ schen Grundstückerwerbungen im Tiergartenviertel verkaufen. Sie wurde genötigt, über einen Notar ein Haus in der Steglitzer Schlossstraße zu erwerben, das seinerseits einem Eigentümer gehört hatte, der den Nationalsozialisten als »Volljude« galt. Nach Kriegsende fiel dieses Grundstück unter die Rückerstattungsvorschriften, so dass es den Liebermanns nicht mehr zur Verfügung stand. Die Familie kämpfte nun um die Rückgabe der Tiergartenstraße 4. Die Auseinandersetzungen sollten sich bis über die Mitte der 1950er Jahre hinziehen. Der Kernpunkt der Streitigkeiten ging um die Frage, ob Clara Liebermann im damaligen Jargon als »rassisch« Verfolgte anzusehen war, und um den Kaufpreis für das Anwesen. Die Familie konnte sich im Wesentlichen durchsetzen. Nach Ansicht des Berliner Landgerichtes (1954) sei der Wille zur Veräußerung der Tiergartenstraße 4 wegen der Drohung mit der bevorstehenden Enteignung »unfrei« und der Verkaufspreis wegen der »rassischen« Verfolgung unangemessen niedrig 42 gewesen. Obschon »Arierin« habe Clara Liebermann das wirtschaftliche und kulturelle Schicksal ihres Ehepartners geteilt und wie eine Jüdin existiert. 4. Vom Tiergartenviertel zum Kulturforum Das Tiergartenviertel war bei Kriegsende im Mai 1945 zu großen Teilen zerstört; darunter auch die die Villa in der Tiergartenstraße 4, wo die Gebäudeschäden wohl in den letzten Kriegstagen eingetreten waren. Im Mai 1949 wird das Haus als Vollruine bezeichnet. Sie wurden offenbar im Frühjahr 1950 gesprengt, die endgültige Abräumung auf dem Grundstück sollte aber noch zehn Jahre auf sich warten lassen. Die Enttrümmerung der Tiergartenstraße 4 war kein Einzelfall. In großen Teilen des östlichen Tiergartenviertels wurden die Ruinen beseitigt. Mit Ausnahme der Matthäikirche, die von 1956 bis 1960 wieder erstand, und wenigen anderen Gebäuden, war das alte Stadtquartier untergegangen. Unterdessen fand im Westteil der Stadt der städtebauliche Wettbewerb »Hauptstadt Berlin« statt. Der Architekt Hans Scharoun gewann mit seiner Idee, ein »geistiges Band der Kultur« zwischen Ost- und Westberlin entstehen zu lassen, einen zweiten Preis. Das Band sollte das östliche Tiergartenviertel mit der Museumsinsel in Berlin-Mitte verbinden. 1959 erhielt Scharoun den Auftrag, den ersten Neubau im ehemaligen Tiergartenviertel zu errichten: die Philharmonie. Die gedachte Verbindung mit den Ost-Berliner Kulturstätten ließ sich dann jedoch nicht umsetzen. Im August 1961 vereitelte der Bau der Berliner Mauer diesen Plan. Die Philharmonie wurde im Oktober 1963 eingeweiht; sie befindet sich zum Teil auf dem Grundstück der Tiergartenstraße 4. 43 Fünf Jahre später konnte die nach den Plänen Mies van der Rohes errichtete »Galerie für das 20. Jahrhundert« dem Publikum übergeben werden, die ihren Platz neben der Matthäikirche fand; schon 1964 hatte ein Realisierungswettbewerb für eine Neue Staatsbibliothek stattgefunden, den Hans Scharoun für sich entschied. Scharoun war es auch, der mit dem Landschaftsarchitekten Hermann Mattern die Gesamtplanung für das Kulturforum vornahm; sie wurde jedoch nur teilweise umgesetzt. 5. Das Kulturforum heute Der Fall der Mauer und die Wiederbebauung des Potsdamer Platzes in verdichteter Form änderte die städtebauliche Situation am Kulturforum. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beschreibt die Situation wie folgt: »Die hoch verdichtete Bebauung des Potsdamer/Leipziger Platzes, die Neuorientierung im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs (…) und der Straßenplanung im Bereich der Innenstadt sowie die neue Einbindung des Kulturforums in eine Raumabfolge zwischen der gründerzeitlichen City West und der baulichen Struktur der historischen Mitte änderten das Bezugssystem für das Kulturforum entscheidend. (…) 1996 nahm die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Arbeit am Planwerk Innenstadt auf, welches auch den Bereich des Kulturforums einschließt. In der ›Planungswerkstatt Kulturforum‹ wurden Vorschläge für die zukünftige Entwicklung des wieder in das Stadtzentrum gerückten Ortes entwickelt. (…) Das Freihalten der Mitte und eine behutsame Nachverdichtung an den Rändern, das Herausnehmen von überflüssigen Straßen und Parkplätzen und die Beibehaltung der Sichtbeziehungen zwischen den architektonischen Solitären wurden als städtebauliche Grundsätze erarbeitet. Alle Parkplätze sollten unterirdisch bereitgestellt werden, insbesondere in den in der Nachbarschaft entstehenden Tiefgaragen. Die Innenfläche des Kulturforums war als ein ›grüner Teppich‹ geplant, dessen räumliche Struktur – zusätzlich zu den gartenarchitektonischen Maßnahmen – durch kleinere Follies oder Skulpturen als Kunstgarten ergänzt werden sollte. Entsprechend den veränderten Besucherströmen sollte die Philharmonie zusätzlich einen östlichen Eingang erhalten. (…) Das Planwerk war zu diesem Zeitpunkt keine verbindliche Vorgabe. Doch gab es dem 1997 von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ausgelobten landschaftsplanerischen Ideen- und Realisierungswettbewerb Kulturforum maßgebliche Orientierung. Die Eröffnung der Gemäldegalerie im Jahr 1998 und die Fertigstellung des neuen Stadtviertels am Potsdamer 44 Platz verlangte von der Stadt Berlin schnelles Handeln und vom Siegerentwurf kurzfristig realisierbare Teilergebnisse ebenso wie langfristige Perspektiven für das Gebiet. Das Wettbewerbsergebnis berücksichtigt die neue Situation des Kulturforums, indem ein eigenständiger städtischer Platz inmitten der umgebenden Architektursolitäre nun zum Aufenthalt einlädt. Der Blick auf die großartigen Bauten wird nicht verstellt, sondern vom Platz aus durch die hochkronige Bepflanzung konzentriert. Entstanden ist ein neuer Zusammenhalt des Berliner Kulturforums in Anknüpfung an die gestalterischen Prinzipien in der Tradition Hans Scharouns und Hermann Matterns und in bewusster Unterscheidung zum benachbarten, hochurbanen Potsdamer Platz-Quartier.« 45 Schwarzpläne der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Als Schwarzpläne werden Kartierungen bezeichnet, die ausschließlich die bebaute Fläche abbilden und auf die Ausweisung von Straßen verzichten, im Fall des Tiergartenviertels bzw. Kulturforums verdeutlichen sie die Veränderungen der städtischen Topographie. Städtebauliche Situation 1933, rot: Areal des heutigen Kulturforums. Städtebauliche Situation 1953 nach Kriegszerstörungen und Abrissen. 46 Städtische Planung bis 2010, rot: Kulturforum, nördlicher Rand: Philharmonie. Quelle: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/staedtebau-projekte/kulturforum/de/geschichte/schwarzplaene/index.shtml 47