"Innovationen zwischen Hexentanzplatz und Roßtrappe", aus
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"Innovationen zwischen Hexentanzplatz und Roßtrappe", aus
Thale Schwerpunkt Innovationen zwischen Hexentanzplatz und Roßtrappe 41 Schwerpunkt Thale Bleibender Eindruck: die Roßtrappe im Harz Thale ist das Tor zum Bodetal, dem wildesten und romantischsten Canyon im ganzen Harz. Zur Walpurgisnacht strömen Tausende hinauf zum Hexentanzplatz. Die wenigsten von ihnen ahnen beim Blick hinunter nach Thale, dass diese kleine Stadt in Sachsen-Anhalt seit mehr als 300 Jahren Industrie geschichte schreibt. Durch die einst reichhaltigen Vorkommen an metallischen Erzen im Harz wurde Thale zum Mekka für Glücksritter, Stahlbarone und Forschergenies. An diese inspirierende Tradition knüpft der Wachstumskern „THALE PM“ an, der die uralte Pulvermetallurgie zur Zukunftsstrategie erkoren hat. 42 Thale Schwerpunkt Der Blick fällt hinab in die Tiefe zur schäumenden Bode. Diese dramatische Schlucht überwand sie dereinst zu Pferde, die eben so schöne wie verzweifelte Königstochter Brunhilde (siehe Kas ten S. 40). Sie verlor ihre Krone, doch behielt das Leben. Konzen triert man sich ganz fest, so meint man ein zart königlich schim merndes Gold im Wasser des Saale-Seitenarms zu erkennen. Auf dem Hexentanzplatz hoch über dem sachsen-anhaltischen Thale muss man schließlich aber doch zugeben, dass wahr scheinlich die Faszination des Ortes der eigenen Phantasie deut lich zu große Flügel verliehen hat. So reißt man sich also los von diesem fast magnetischen Blickpunkt, schüttelt Hirn und Seele einmal kräftig durch und lässt entspannt den Blick über die Landschaft von Thale schweifen, die einem Gemälde von William Turner entsprungen scheint ... Doch stopp! Etwas hat sich offensichtlich in das Bild geschli chen, das nicht in diese Harzidylle passt. Das in den bezaubernd schönen Prospekten der Tourismuswirtschaft, die gutes Geld in Thale verdient, nicht auftaucht: Industrie. Blau und grau, aber doch unübersehbar, markieren die Hallen und Gebäude ein Revier, von dem die meisten Thale-Touristen kaum etwas mitbe kommen. Thomas Köck führt die Geschäfte des PulverMetallurgischen Kompetenz-Centrum in Thale. Zehn Tonnen pro Quadratzentimeter Mythos? Flusswasser? Königstöchter? Das alles interessiert Thomas Köck erst in zweiter Linie. Hightech, Spritzguss und Kun den – das sind die Themen, die den Mitinitiator des Innovativen Regionalen Wachstumskerns „THALE PM“ faszinieren: „Durch die erfolgreichen Werkstoffentwicklungen für den pulverme tallurgischen Spritzguss konnten wir komplett neue Bauteile für Flugzeugtriebwerke und Turbolader herstellen“, sagt Köck, der als Geschäftsführer des PulverMetallurgischen KompetenzCentrums Thale (PMC) zugleich die inoffizielle WachstumskernZentrale leitet. „Damit können wir mit THALE PM mittelfristig neue Märkte erschließen.“ Das „PM“ im Bündnisnamen steht für „Pulvermetallurgie“, eine uralte Technik aus dem 12. Jahrhundert vor Christus, als bereits aus Schwammeisen Pulver gemahlen wurde. Das Prinzip ist bis heute in seinen Grundzügen erhalten geblieben: Aus Metallen, wie z. B. Aluminium, Eisen, Blei, Zink, Nickel oder Mangan, wer den feine Pulver hergestellt, um dann mit gewaltigem Druck in eine gewünschte Form gepresst und bis unterhalb des Schmelz punkts erhitzt zu werden. Bei diesem Pressvorgang wirkt auf einen Quadratzentimeter Fläche ein Druck von bis zu 100 Kilo newton, was einer Masse von bis zu zehn Tonnen entspricht. Doch warum nicht einfach Gießen oder Schmieden? Als große Vorteile der Pulvermetallurgie gelten die nur in gerin gem Umfang nötige Nachbearbeitung der Teile, die Vermeidung von Abfall und ihre geringeren Kosten. Vor allem zur Herstellung kleiner und leichterer Formen eignet sich das Verfahren – und für hohe Stückzahlen. Durch die hohe und gleichbleibende Präzision ist die Pulvermetallurgie auch bei großen Fertigungs volumina von mehr als 100.000 Einheiten ein sehr wirtschaft liches Verfahren. Und die möglichen Anwendungen sind vielfäl tig: Lager und Lagerschalen für die Autoindustrie, Motor- und Getriebeteile oder auch Siebe und Filter. Gerade in der moder nen Mobilitätsindustrie sind heute technologische Lösungen gefragt, die Autos und Flugzeuge leichter und sicherer machen, die den Energieverbrauch und die Emissionen senken. „Damit wird die Pulvermetallurgie zu einer neuen Qualitätsmarke“, 43 Schwerpunkt Thale gibt sich Thomas Köck siegesgewiss. Die Betonung liegt auf „neu“, denn Qualität hat eine lange Tradition in Thale, der Stadt mit der geradezu magnetischen Wirkung auf die Metallindustrie. Wie Brunhilde vor dem Abgrund Schon im hohen Mittelalter wurde der Reichtum des Harzes mit seinen umfangreichen Vorkommen an metallischen Erzen ent deckt. Der Abbau von Eisen, Silber oder Kupfer wurde Schritt für Schritt so perfektioniert, bis der sich entwickelnde Manufaktur betrieb über Tage sicher mit den Rohstoffen versorgt werden konnte. Für das Jahr 1686 belegen Aufzeichnungen die Eröffnung einer Blechhütte in Thale. Sie war der Grundstein für den Metallurgiestandort im Bodetal, der sich in den folgenden Jahrhunderten zu einem Cluster entwickeln sollte, in dem von Stahl bis zu Teilen aus Metallpulver so ziemlich alles produziert wurde, was das Eisen hergibt. 1831 entstand hier etwa die erste schmiedeeiserne Wagenachse Deutschlands. 1835 geht in Thale Europas erstes Emaillierwerk für Geschirr in Betrieb. Zu Spitzen zeiten kommen zehn Prozent der weltweiten Emailleproduktion aus Thale – und machen die Kleinstadt im Harz international bekannt. Der „Vater der Pulvermetallurgie“, Dr. Friedrich Eisenkolb, begann 1935 im Eisenhüttenwerk Thale mit der industriellen Einführung dieser effizienten Technologie. Von dort aus trat sie ihren Siegeszug fast um die ganze Welt an. Die an permanenter Rohstoff- und Energieknappheit leidende „größte DDR der Welt“ konzentrierte Mitte der 1980er-Jahre ihr pulvermetallur gisches Wissen in Thale. Mit diesem Know-how entwickelte sich das Eisenhüttenwerk zum wichtigen Devisenbeschaffer für OstBerlin und lieferte „geräuschlos“ Millionen von Sinterteilen für die bundesdeutsche Autoindustrie. Diese Connection konnte den tausendfachen Abbau von Arbeitsplätzen durch die Schließung von Stahl- und Walzwerk und die tausendfache Abwanderung von Kompetenz aus Thale und Sachsen-Anhalt zwar bremsen, aber nicht stoppen. Der Metallurgie in Thale erging es wie Brunhilde – sie stand vor dem Abgrund. Doch Geschichte wiederholt sich nicht. Wirklich nicht? Flucht nach vorn Vielleicht war tatsächlich etwas Todesmut im Spiel, als die Macher in Thales Politik, Verwaltung und Wirtschaft Mitte der Nullerjahre eine gemeinsame Strategie austüftelten: die Flucht nach vorn! Wobei sich diese Flucht alsbald zu einer immer mehr geordneten Expedition zu neuen Ufern entwickelte, die 2006 im neuen PulverMetallurgischen Kompetenz-Centrum (PMC) mün dete. Das ingenieurtechnische Zentrum bietet drei Werkhallen, eine umfangreiche Medienausstattung, Büroflächen, Labore und 44 Neue Fülldrähte zum Auftragsschweißen bzw. zum Thermischen Spritzen wurden beim Wachstumskern THALE PM entwickelt. hochmoderne Konferenzräume. Acht Firmen mit insgesamt über 100 Mitarbeitern und ganz unterschiedlichen Kompetenzen haben sich mittlerweile dort niedergelassen. Ein Zufall? PMCGeschäftsführer Thomas Köck klärt auf: „Wir haben aktiv Firmen angeworben, die uns noch gefehlt haben.“ Das Fernziel, das der Volks- und Betriebswirt Köck bereits im Auge hatte, als er im Jahr 2003 mit der Entwicklung des Projekts PMC begann, ist mittler weile erreicht: Thale bildet heute alle wichtigen Stationen der pulvermetallurgischen Wertschöpfungskette ab; von der Her stellung innovativer Metallpulver bis zur Entwicklung von Prüf verfahren für neue Bauteile. Partner für Ofenanlagen Einer der Mieter im PMC ist die Corodur Verschleiß-Schutz GmbH mit ihrem Geschäftsführer Frank Napalowski. Der Diplom ingenieur weiß um die Stärke des Standorts und des Innovativen regionalen Wachstumskerns THALE PM, den das BMBF von 2008 bis 2011 förderte: „Ohne das Bündnis hätten wir die neuen Füllund Sinterdrähte für das anspruchsvolle Auftragsschweißen nicht entwickeln können. Nur mit den Partnern konnten wir die Durchmesserschallgrenze der Fülldrähte von 1,2 Millimetern überwinden.“ Mit „Partnern“ meint Napalowski in diesem Fall das Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM in Dresden und das Institut für Metallurgie an der Technischen Universität Clausthal. Aber Thale In guten Händen – vom Pulver bis zum fertigen Pro dukt reicht die Wertschöpfung in Thale. (links) Metallpulver wird aufgeschweißt und gibt so dem Bauteil gezielt neue oder verbesserte Eigenschaften. (rechts) Schwerpunkt auch die Technische Universität Dresden und die Otto-vonGuericke-Universität in Magdeburg zählen zu den Forschungs partnern des Wachstumskerns in der „Wiege der Pulver metallurgie“. Dazu kommen insgesamt zehn Unternehmen in der Region, die zusammen rund 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen. Gemeinsam arbeiten sie an acht inno vativen Verbundprojekten, etwa auch zum Thema Ofentechno logien. „Um den Anforderungen hoch beanspruchter Teile in Antrieb und Getriebe, wie beispielsweise Zahnräder oder Ver steller in den Nockenwellen, gerecht zu werden, konnten neue Hochtemperatur-Sinterofenanlagen erfolgreich entwickelt werden“, beschreibt PMC-Chef Köck einen weiteren wichtigen Erfolg des Wachstumskerns. „So kann unser Ofenbau-Partner sit sintertechnik GmbH heute leistungsfähigere Ofenanlagen für hohe Temperaturbereiche über 1.310 Grad Celsius bauen und vermarkten." Männer und Frauen begeistern So wichtig der technologische Fortschritt für neue Anwendungen und Produkte der Pulvermetallurgie auch ist – ohne exzellent ausgebildete Fachfrauen und -männer geht gar nichts. Für Ingolf Langer von der Schunk Sintermetalltechnik Thale GmbH ist die Aus- und Weiterbildung ein Thema von existenzieller Bedeutung: „Um unsere Unternehmen wettbewerbsfähig zu halten, pflegen wir einerseits einen intensiven Austausch mit 45 Schwerpunkt Thale Die Zahnriemenräder werden unter hohem Druck aus Metallpulver geformt. Beim Sintern erhitzt man sie anschließend auf Temperaturen unterhalb des Schmelzpunktes, um sie vollständig auszuhärten. „Dann wird die romantische Stadt am Harz nicht nur eine Industriegeschichte, sondern eine industrielle Zukunft haben.“ 1686 eröffnete die erste Blechhütte in Thale. (oben) 1985 konzentrierte die DDR ihr PulvermetallurgieKnow-how im Eisenhüttenwerk Thale. (unten) 46 Thale Schwerpunkt Welches Pulver ist das Richtige? Schweißproben für die Forschung. Zur Pulverherstellung wird zunächst das Metall geschmolzen. Mit einem Hochdruck wasserstrahl direkt auf die Schmelze erreicht man dann die Pulverisierung. renommierten Wissenschaftlern in Sachsen-Anhalt und über die Landesgrenze hinaus“, erklärt Langer. „Andererseits werden wir den Standort nur dann halten können, wenn wir kontinuier lich Männer und Frauen für diese Technologie und ihre Produkte begeistern.“ Folgerichtig kooperiert man regelmäßig mit den Schulen in der Region, um so früh wie möglich das Interesse der Jungen und Mädchen auf die Geheimnisse, Möglichkeiten und das Besondere der Pulvermetallurgie zu lenken. Konkret arbei tet man z. B. mit dem Gymnasium in Thale zusammen, an dem Abiturienten die Chance haben, im Rahmen eines Praktikums ihre Belegarbeit – einen Bestandteil der Abiturprüfung – über Fachthemen der Pulvermetallurgie zu schreiben. THALE PM. „Wir haben durch unsere verstärkten Auftritte und Aktivitäten an den Hochschulen viel mehr Anfragen nach Praktikumsplätzen, Abschlussarbeiten im Betrieb und Studien arbeiten. Deshalb werden wir weiter auf Bildungsmessen gehen und den Standort Thale vorstellen.“ Besonders die Kooperationen mit dem VHS-Bildungswerk und der Agentur für Arbeit im Bereich Personalgewinnung seien für den Standort Thale erfolgreich gewesen, betont Udo Bardel meier: „Wir haben eine deutliche höhere Resonanz bei der Suche nach geeigneten Auszubildenden“, freut sich der Geschäfts führer der HEAT Thale GmbH und Sprecher des Wachstumskerns Der Mythos lebt Im Unterschied zum Tourismus kann man vom Mythos Thale in der modernen Pulvermetallurgie nicht leben. Rosstrappe und Hexentanzplatz allein locken noch nicht die stark gefragten Facharbeiter und Ingenieure ins Bodetal. Doch der Mythos Thale lebt. Und wenn hier weiter anspruchsvolle Arbeitsplätze entste hen, dann werden kreative, kompetente Frauen und Männer nach Thale kommen. Dann wird die romantische Stadt am Harz nicht nur eine Industriegeschichte, sondern eine industrielle Zukunft haben. Und in dieser Zukunft wird man vom Hexen tanzplatz aus tief unten noch immer das golden schimmernde Bodewasser erkennen können. n 47