"Innovationen zwischen Hexentanzplatz und Roßtrappe", aus

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"Innovationen zwischen Hexentanzplatz und Roßtrappe", aus
Thale
Schwerpunkt
Innovationen
zwischen Hexentanzplatz
und Roßtrappe
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Schwerpunkt
Thale
Bleibender Eindruck:
die Roßtrappe im Harz
Thale ist das Tor zum Bodetal, dem wildesten und romantischsten Canyon im ganzen Harz. Zur Walpurgisnacht strömen
Tausende hinauf zum Hexentanzplatz. Die wenigsten von
ihnen ahnen beim Blick hinunter nach Thale, dass diese kleine
Stadt in Sachsen-Anhalt seit mehr als 300 Jahren Indus­trie­
geschichte schreibt. Durch die einst reichhaltigen Vor­kommen
an metalli­schen Er­­zen im Harz wurde Thale zum Mekka für
Glücks­rit­ter, Stahl­­ba­­rone und Forscher­ge­nies. An diese inspirierende Tradition knüpft der Wachs­­­­­tumskern „THALE PM“ an, der
die uralte Pulver­metal­­lurgie zur Zukunfts­stra­tegie erkoren hat.
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Thale
Schwerpunkt
Der Blick fällt hinab in die Tiefe zur schäumenden Bode. Diese
dramatische Schlucht überwand sie dereinst zu Pferde, die eben­
so schöne wie verzweifelte Königstochter Brunhilde (siehe Kas­
ten S. 40). Sie verlor ihre Krone, doch behielt das Leben. Konzen­
triert man sich ganz fest, so meint man ein zart königlich schim­
merndes Gold im Wasser des Saale-Seitenarms zu erkennen. Auf
dem Hexentanzplatz hoch über dem sachsen-anhaltischen
Thale muss man schließlich aber doch zugeben, dass wahr­
scheinlich die Faszination des Ortes der eigenen Phantasie deut­
lich zu große Flügel verliehen hat. So reißt man sich also los von
diesem fast magnetischen Blickpunkt, schüttelt Hirn und Seele
einmal kräftig durch und lässt entspannt den Blick über die
Landschaft von Thale schweifen, die einem Gemälde von
William Turner entsprungen scheint ...
Doch stopp! Etwas hat sich offensichtlich in das Bild geschli­
chen, das nicht in diese Harzidylle passt. Das in den bezaubernd
schönen Prospekten der Tourismuswirtschaft, die gutes Geld in
Thale verdient, nicht auftaucht: Industrie. Blau und grau, aber
doch unübersehbar, markieren die Hallen und Gebäude ein
Revier, von dem die meisten Thale-Touristen kaum etwas mitbe­
kommen.
Thomas Köck führt die Geschäfte des PulverMetallurgischen
Kompetenz-Centrum in Thale.
Zehn Tonnen pro Quadratzentimeter
Mythos? Flusswasser? Königstöchter? Das alles interessiert
Thomas Köck erst in zweiter Linie. Hightech, Spritzguss und Kun­
den – das sind die Themen, die den Mitinitiator des Innovativen
Regionalen Wachstumskerns „THALE PM“ faszinieren: „Durch
die erfolgreichen Werkstoffentwicklungen für den pulverme­
tallurgischen Spritzguss konnten wir komplett neue Bauteile für
Flugzeugtriebwerke und Turbolader herstellen“, sagt Köck, der
als Geschäftsführer des PulverMetallurgischen KompetenzCentrums Thale (PMC) zugleich die inoffizielle WachstumskernZentrale leitet. „Damit können wir mit THALE PM mittelfristig
neue Märkte erschließen.“
Das „PM“ im Bündnisnamen steht für „Pulvermetallurgie“, eine
uralte Technik aus dem 12. Jahrhundert vor Christus, als bereits
aus Schwammeisen Pulver gemahlen wurde. Das Prinzip ist bis
heute in seinen Grundzügen erhalten geblieben: Aus Metallen,
wie z. B. Aluminium, Eisen, Blei, Zink, Nickel oder Mangan, wer­
den feine Pulver hergestellt, um dann mit gewaltigem Druck in
eine gewünschte Form gepresst und bis unterhalb des Schmelz­
punkts erhitzt zu werden. Bei diesem Pressvorgang wirkt auf
einen Quadratzentimeter Fläche ein Druck von bis zu 100 Kilo­
newton, was einer Masse von bis zu zehn Tonnen entspricht.
Doch warum nicht einfach Gießen oder Schmieden?
Als große Vorteile der Pulvermetallurgie gelten die nur in gerin­
gem Umfang nötige Nachbearbeitung der Teile, die Vermeidung
von Abfall und ihre geringeren Kosten. Vor allem zur Herstellung
kleiner und leichterer Formen eignet sich das Verfahren – und
für hohe Stückzahlen. Durch die hohe und gleichbleibende
Präzision ist die Pulver­metallurgie auch bei großen Fertigungs­
volumina von mehr als 100.000 Einheiten ein sehr wirtschaft­
liches Verfahren. Und die möglichen Anwendungen sind vielfäl­
tig: Lager und Lager­schalen für die Autoindustrie, Motor- und
Getriebeteile oder auch Siebe und Filter. Gerade in der moder­
nen Mobili­täts­industrie sind heute technologische Lösungen
gefragt, die Autos und Flugzeuge leichter und sicherer machen,
die den Energie­verbrauch und die Emissionen senken. „Damit
wird die Pulver­metallurgie zu einer neuen Qualitätsmarke“,
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gibt sich Thomas Köck siegesgewiss. Die Betonung liegt auf
„neu“, denn Qualität hat eine lange Tradition in Thale, der Stadt
mit der geradezu magnetischen Wirkung auf die Metallindustrie.
Wie Brunhilde vor dem Abgrund
Schon im hohen Mittelalter wurde der Reichtum des Harzes mit
seinen umfangreichen Vorkommen an metallischen Erzen ent­
deckt. Der Abbau von Eisen, Silber oder Kupfer wurde Schritt für
Schritt so perfektioniert, bis der sich entwickelnde Manufaktur­
betrieb über Tage sicher mit den Rohstoffen versorgt werden
konnte. Für das Jahr 1686 belegen Aufzeichnungen die Eröffnung
einer Blechhütte in Thale. Sie war der Grundstein für den
Metallurgiestandort im Bodetal, der sich in den folgenden
Jahrhunderten zu einem Cluster entwickeln sollte, in dem von
Stahl bis zu Teilen aus Metallpulver so ziemlich alles produziert
wurde, was das Eisen hergibt. 1831 entstand hier etwa die erste
schmiedeeiserne Wagenachse Deutschlands. 1835 geht in Thale
Europas erstes Emaillierwerk für Geschirr in Betrieb. Zu Spitzen­
zeiten kommen zehn Prozent der weltweiten Emailleproduktion
aus Thale – und machen die Kleinstadt im Harz international
bekannt.
Der „Vater der Pulvermetallurgie“, Dr. Friedrich Eisenkolb,
begann 1935 im Eisenhüttenwerk Thale mit der industriellen
Einführung dieser effizienten Technologie. Von dort aus trat sie
ihren Siegeszug fast um die ganze Welt an. Die an permanenter
Rohstoff- und Energieknappheit leidende „größte DDR der
Welt“ konzentrierte Mitte der 1980er-Jahre ihr pulvermetallur­
gisches Wissen in Thale. Mit diesem Know-how entwickelte sich
das Eisenhüttenwerk zum wichtigen Devisenbeschaffer für OstBerlin und lieferte „geräuschlos“ Millionen von Sinterteilen für
die bundesdeutsche Autoindustrie. Diese Connection konnte
den tausendfachen Abbau von Arbeitsplätzen durch die
Schließung von Stahl- und Walzwerk und die tausendfache
Abwanderung von Kompetenz aus Thale und Sachsen-Anhalt
zwar bremsen, aber nicht stoppen. Der Metallurgie in Thale
erging es wie Brunhilde – sie stand vor dem Abgrund. Doch
Geschichte wiederholt sich nicht. Wirklich nicht?
Flucht nach vorn
Vielleicht war tatsächlich etwas Todesmut im Spiel, als die
Macher in Thales Politik, Verwaltung und Wirtschaft Mitte der
Nullerjahre eine gemeinsame Strategie austüftelten: die Flucht
nach vorn! Wobei sich diese Flucht alsbald zu einer immer mehr
geordneten Expedition zu neuen Ufern entwickelte, die 2006 im
neuen PulverMetallurgischen Kompetenz-Centrum (PMC) mün­
dete. Das ingenieurtechnische Zentrum bietet drei Werkhallen,
eine umfangreiche Medienausstattung, Büroflächen, Labore und
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Neue Fülldrähte zum Auftragsschweißen bzw. zum Thermischen Spritzen wurden
beim Wachstumskern THALE PM entwickelt.
hochmoderne Konferenzräume. Acht Firmen mit insgesamt
über 100 Mit­arbeitern und ganz unterschiedlichen Kompetenzen
haben sich mittlerweile dort niedergelassen. Ein Zufall? PMCGeschäfts­führer Thomas Köck klärt auf: „Wir haben aktiv Firmen
angewor­ben, die uns noch gefehlt haben.“ Das Fernziel, das der
Volks- und Betriebswirt Köck bereits im Auge hatte, als er im Jahr
2003 mit der Entwicklung des Projekts PMC begann, ist mittler­
weile erreicht: Thale bildet heute alle wichtigen Stationen der
pulvermetallurgischen Wertschöpfungskette ab; von der Her­
stellung innovativer Metallpulver bis zur Entwicklung von Prüf­
verfahren für neue Bauteile.
Partner für Ofenanlagen
Einer der Mieter im PMC ist die Corodur Verschleiß-Schutz GmbH
mit ihrem Geschäftsführer Frank Napalowski. Der Diplom­
ingenieur weiß um die Stärke des Standorts und des Innovativen
regionalen Wachstumskerns THALE PM, den das BMBF von 2008
bis 2011 förderte: „Ohne das Bündnis hätten wir die neuen Füllund Sinterdrähte für das anspruchsvolle Auftragsschweißen
nicht entwickeln können. Nur mit den Partnern konnten wir die
Durchmesserschallgrenze der Fülldrähte von 1,2 Millimetern
überwinden.“ Mit „Partnern“ meint Napalowski in diesem Fall
das Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte
Material­forschung IFAM in Dresden und das Institut für
Metallurgie an der Technischen Universität Clausthal. Aber
Thale
In guten Händen – vom Pulver bis zum fertigen Pro­
dukt reicht die Wertschöpfung in Thale. (links)
Metallpulver wird aufgeschweißt und gibt so dem
Bauteil gezielt neue oder verbesserte Eigenschaften.
(rechts)
Schwerpunkt
auch die Technische Universität Dresden und die Otto-vonGuericke-Universität in Magdeburg zählen zu den Forschungs­
partnern des Wachstums­kerns in der „Wiege der Pulver­
metallurgie“. Dazu kommen insgesamt zehn Unternehmen in
der Region, die zusammen rund 700 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter beschäftigen. Gemeinsam arbeiten sie an acht inno­
vativen Verbundprojekten, etwa auch zum Thema Ofen­techno­
logien. „Um den Anforderungen hoch beanspruchter Teile in
Antrieb und Getriebe, wie beispielsweise Zahnräder oder Ver­
steller in den Nockenwellen, gerecht zu werden, konnten neue
Hochtemperatur-Sinterofenanlagen erfolgreich entwickelt
wer­­den“, beschreibt PMC-Chef Köck ei­nen weiteren wichtigen
Erfolg des Wachstumskerns. „So kann unser Ofenbau-Partner
sit sintertechnik GmbH heute leistungsfähigere Ofenanlagen
für hohe Temperaturbereiche über 1.310 Grad Celsius bauen
und vermarkten."
Männer und Frauen begeistern
So wichtig der technologische Fortschritt für neue Anwendungen
und Produkte der Pulvermetallurgie auch ist – ohne exzellent
ausgebildete Fachfrauen und -männer geht gar nichts. Für
Ingolf Langer von der Schunk Sintermetalltechnik Thale GmbH
ist die Aus- und Weiterbildung ein Thema von existenzieller
Bedeutung: „Um unsere Unternehmen wettbewerbsfähig zu
halten, pflegen wir einerseits einen intensiven Austausch mit
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Thale
Die Zahnriemenräder werden unter hohem Druck aus Metallpulver geformt. Beim Sintern erhitzt man sie
anschließend auf Temperaturen unterhalb des Schmelzpunktes, um sie vollständig auszuhärten.
„Dann wird die romantische
Stadt am Harz nicht nur eine
Industriegeschichte, sondern
eine industrielle Zukunft
haben.“
1686 eröffnete die erste Blechhütte in Thale. (oben)
1985 konzentrierte die DDR ihr PulvermetallurgieKnow-how im Eisenhüttenwerk Thale. (unten)
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Welches Pulver ist das Richtige? Schweißproben für die Forschung.
Zur Pulverherstellung wird zunächst das Metall geschmolzen. Mit einem Hochdruck­
wasserstrahl direkt auf die Schmelze erreicht man dann die Pulverisierung.
renommierten Wissenschaftlern in Sachsen-Anhalt und über
die Landesgrenze hinaus“, erklärt Langer. „Andererseits werden
wir den Standort nur dann halten können, wenn wir kontinuier­
lich Männer und Frauen für diese Technologie und ihre Produkte
begeistern.“ Folgerichtig kooperiert man regelmäßig mit den
Schulen in der Region, um so früh wie möglich das Interesse der
Jungen und Mädchen auf die Geheimnisse, Möglichkeiten und
das Besondere der Pulvermetallurgie zu lenken. Konkret arbei­
tet man z. B. mit dem Gymnasium in Thale zusammen, an dem
Abiturienten die Chance haben, im Rahmen eines Praktikums
ihre Belegarbeit – einen Bestandteil der Abitur­prüfung – über
Fachthemen der Pulvermetallurgie zu schreiben.
THALE PM. „Wir haben durch unsere verstärkten Auftritte und
Aktivitäten an den Hochschulen viel mehr Anfragen nach
Praktikumsplätzen, Abschlussarbeiten im Betrieb und Studien­
arbeiten. Deshalb werden wir weiter auf Bildungsmessen gehen
und den Standort Thale vorstellen.“
Besonders die Kooperationen mit dem VHS-Bildungswerk und
der Agentur für Arbeit im Bereich Personalgewinnung seien für
den Standort Thale erfolgreich gewesen, betont Udo Bardel­
meier: „Wir haben eine deutliche höhere Resonanz bei der
Suche nach geeigneten Auszubildenden“, freut sich der Geschäfts­
­führer der HEAT Thale GmbH und Sprecher des Wachstumskerns
Der Mythos lebt
Im Unterschied zum Tourismus kann man vom Mythos Thale in
der modernen Pulvermetallurgie nicht leben. Rosstrappe und
Hexentanzplatz allein locken noch nicht die stark gefragten
Facharbeiter und Ingenieure ins Bodetal. Doch der Mythos Thale
lebt. Und wenn hier weiter anspruchsvolle Arbeitsplätze entste­
hen, dann werden kreative, kompetente Frauen und Männer
nach Thale kommen. Dann wird die romantische Stadt am Harz
nicht nur eine Industriegeschichte, sondern eine industrielle
Zukunft haben. Und in dieser Zukunft wird man vom Hexen­
tanzplatz aus tief unten noch immer das golden schimmernde
Bodewasser erkennen können. n
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