Geburtstag und neues Album

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Geburtstag und neues Album
17.04.12, von Michael Pilz, Band-Geburtstag
"Die Ärzte" sind jetzt 30 - und erwachsen?
Alles geht, so lange man sich gut fühlt: Die Ärzte feiern ihren
30. Geburtstag mit einem neuen Album. Morgenpost Online hat
genau hingehört.
© Jörg Steinmetz
Markenkern Punk: Das Ärzte-Trio Rodrigo Gonzalez, Farin Urlaub und Bela B. (v.l.) gibt im Sommer sechs Konzerte in Berlin
Die Ärzte schenken sich zum 30. Bandgeburtstag eine neue Platte: „Auch“ ist ihr zwölftes Album, und
angeblich ist es für längere Zeit auch das letzte. Eine Besprechung in sieben Kategorien:
Verpackung: Seit Eröffnung ihres Alterswerks lassen die Ärzte ihre Alben ansprechend verpacken. Sie
brachten bereits CDs in himmelblauem Plüsch heraus, sie lieferten CDs im Pizzakarton frei Haus. Ihr
12. Album „Auch“ erscheint als Drehscheibe eines Gesellschaftsspiels. Es wendet sich an 6- bis 66jährige. Als Würfelspielfiguren dienen Kronkorken. Zu jedem Lied gibt es ein Ereignisfeld, das dazu
auffordert, jemanden zu beschimpfen oder zu bekochen, Gott zu spielen oder Luftgitarre. Man eignet
sich Fertigkeiten an wie unsinnige Liedtexte zu tanzen oder schwindelfrei den Kopf zu schütteln
(siehe: „Punk“). Im Spiel findet der Mensch zu sich. Neue Platten von den Ärzten sind so
unvermeidlich wie steigende Benzinpreise und Sitzblockaden in Lüchow-Dannenberg. Aber den
Altpunks fällt zu jeder Platte etwas Neues ein. Diesmal laden sie ein zum Mitspielen, zur Partizipation.
Punk: „Ist das noch Punkrock?“ fragt das erste Lied des Albums. Eine Fangfrage, die sich von selbst
erübrigt, weil sie nicht nur von den Ärzten selbst bisher ohne Ergebnis debattiert wurde. Weil es sich
mit dem Punk verhält wie mit der Pornografie: Schwer zu erklären, aber leicht für jeden zu erkennen,
der ihn sieht und hört. Vor 30 Jahren hatten drei geniale Dilettanten ihren ersten Auftritt in einem
besetzten Haus in Kreuzberg. Heute singen sie als virtuose Veteranen (siehe: „Musik“): „Früher warst
du da, wenn eine Wanne brannte. Heute, am 1. Mai, besuchst du deine Tante.“ Es geht um den
Widerspruch zwischen Punk und Ikea-Küche. Für die Ärzte geht es darum, den eigenen Weg mit ihren
Wurzeln zu vereinbaren. Zu jedem neuen Lied haben sie Kurzfilme für Galerien drehen lassen. Man
sieht sie zufrieden mit dem Golfmobil über den Rasen gondeln, dabei fragen sie sich: „Was würde Stiv
Bators sagen?“ Google sagt: Stiv Bators spielte bei den Dead Boys und den Lords Of The New Church,
er starb mit 40. Punk war eine Kulturrevolution: Seither kann jeder werden, was er will, vom
Schnorrer bis zum Business-Punk. Die Ärzte wurden wohlhabende Musiker, die sich heute weder um
ihre inneren Widersprüche scheren müssen noch um das Geschwätz von Gestern. Punk ist der
Markenkern der Ärzte, sie sind Deutschlands Volxband. Wir sind Punk.
Musik: Auf Sylt nahmen die Ärzte 1988 Abschied von sich selbst als Schlagerpunks. 1993 kehrten sie
zurück im eigenmächtigen Auftrag zur musikalischen Grundversorgung. „Jazz ist anders“ hieß ihr
letztes Album 2007, aber Jazz konnten sie auch. Auf „Auch“ zeigen sie nur noch, was sie könnten,
wenn sie wollten. „TCR“, ein Stück, weist sie als „Rockmaschine“ aus. Die Ärzte deuten an, dass ihnen
Country, Ska, Elektro, Reggae und Death Metal leicht fallen, die hohe Kunst aber darin besteht, die
Endorphine durch Gitarre, Bass und Schlagzeug anzuregen, durch Garagenrock. Man hört auf „Auch“
auch Latin-Disco, Soul und Keyboards, NDW und Schlager. Aber das ist dann ein Witz (siehe:
„Humor“) wie Farin Urlaubs Selbstbezichtigung zu „DiskoMetalAvantgardePrimitivPunkPopElekroBeat“
in allen Interviews. Die Ärzte kennen ihre Klientel, sie glauben noch zu wissen, dass der Rock da
aufhört, wo der Pop beginnt. Gegen Rihanna und Black Eyed Peas spielen sie sich als „Cpt. Metal“ auf,
als Superhelden.
Humor: „Lachen ist die Vorstufe des Denkens“, schrieb Walter Benjamin. „Vergnügtsein heißt
Einverstandensein“, belehrte Theodor W. Adorno. Beide hatten recht. „Du bist nichts wert, du riechst
nach Pferd“, lautet ein Ärzte-Knittelreim, bei dem es schwer fällt, ernst zu bleiben. Allerdings verkauft
die Troika Bela-Farin-Rod nicht mehr für jeden Kalauer die eigene Comicsammlung. Es gibt müde
Comedy wie „Bettmagnet“ über das Fernsehen und Faulsein. Es gibt Späße über alte Männer, die wie
junge Männer musizieren – aber das ist kein Humor, sondern kokett. Es gibt lustige Beobachtungen
wie die Ähnlichkeit der Haarschnitte bei Hipstern aus Berlin und Kim Jong-il, dem toten Führer
Nordkoreas. Aber keine Zeile ist so komisch wie die Ärzte selbst als Band. „Hast du nichts Besseres zu
tun als die Die Ärzte zu hören?“, fragen sie. Mit ihrem albernen Namen und dem gestotterten Artikel
davor, als ewige Parodie ihrer selbst.
Skandal: „Fick dich und deine Schwestern!“ Damit fängt das Album an. Vor 25 Jahren wurde das
Album „Die Ärzte“ wegen eines Songs verboten, der „Geschwisterliebe“ hieß, von der Bundesprüfstelle
für jugendgefährdende Schriften. Inzest ist noch immer nicht erlaubt. Aber die Ärzte haben soviel für
die Kunstfreiheit und die Kultur getan (siehe: „Botschaft“), dass sie heute nichts mehr tun können als
festzustellen: „Sieh ein, dass der Kult um uns schon lang nicht mehr schockt.“
Botschaft: Zwischen allen Zoten gönnen sich die Ärzte immer auch Gesinnungs- und
Gewissensfragen. Diesmal treten sie die offenen Türen zwischen den Geschlechtern ein. Den
Heterosexuellen nehmen sie das Selbstverständnis: „Männer und Frauen sind das nackte Grauen.“ Für
die Homosexuellen werben sie: „Manche Männer lieben Männer, manche Frauen eben Frauen. Da
gibts nix zu bedauern und nix zu staunen.“ „Tamagotchi“ handelt von Verantwortung.
„Waldspaziergang mit Folgen“ beschwört den Glauben als private Angelegenheit. „Du darfst das“ heißt
ein Lied: „Komm setz dich zur Wehr, stell dich einmal quer.“ Hier duzt der väterliche Freund, der alles
schon erlebt hat (siehe: „Punk“), der weiß, dass Ironie (siehe: „Humor“) im Hörer mehr bewirkt als
feierlicher Ernst. Der Albumtitel „Auch“ ist auch die Antwort auf alle Gewissensfragen (siehe:
„Nutzwert“). Alles geht, solange man sich gut fühlt.
Nutzwert: „Auch“ enthält 16 Stücke in 52,5 Minuten, 16 sorgfältige Songs von etwa drei Minuten
Länge. Fünf stammen von Bela, fünf von Rod und sechs von Farin. Es bleibt wenig einzuwenden
gegen Band und Album. In der deutschen Punk-Dreifaltigkeit ragen die Ärzte zunehmend heraus
zwischen den Toten Hosen und den Goldenen Zitronen. Sie sind volkstümlich aber nie schlicht; sie
wirken nicht gelehrt, sondern gescheit. In einem Lied kommt das Wort Aphasie vor, weil der Reim
danach verlangt. Noch weiß man nicht, auf welchen Kehrreim „Auch“ später zusammenschnurren
wird. Im Mai beginnt in Zwickau die Konzertreise. Allein die Heimatbühne Berlin ist sechs Mal
ausverkauft, sechs Abende für 100.000 Gäste. Alle werden „Männer sind Schweine!“ singen. „Hast du
nichts besseres zu tun als Die Ärzte zu hören?“ fragt der Kehrreim im Lied „ZeiDverschwÄndung“.
Darauf läuft es wohl hinaus beim Chorgesang, bei den Familienfeiern auf den Festwiesen, bei Punk
und Becherpfand.
Das Album: Die Ärzte: Auch (Hot Action)
Die Konzerte: 1, 2. und 3. Juni 2012, Wuhlheide, 17., 18. und 19. August 2012, Waldbühne.
Quelle: http://www.morgenpost.de/kultur/article106189537/Die-Aerzte-sind-jetzt-30-underwachsen.html