Borchert und Beckmann

Transcription

Borchert und Beckmann
Examensarbete
Kandidatuppsats
Borchert und Beckmann
Biographische Berührungspunkte Wolfgang Borcherts in
seinem Drama Draußen vor der Tür
Examensarbete nr:
Författare: Maria Leire Heim
Handledare: Anneli Fjordevik
Examinator: Maren Eckart
Ämne/huvudområde: Tyska
Poäng:15
Betygsdatum:
Högskolan Dalarna
791 88 Falun
Sweden
Tel 023-77 80 00
Inhalt
1
2
Einleitung ....................................................................................................................2
1.1
Hintergrund .........................................................................................................2
1.2
Wolfgang Borchert ..............................................................................................2
1.3
Draußen vor der Tür ............................................................................................4
1.4
Trümmerliteratur ................................................................................................5
1.5
Ziel, Methode und Abgrenzungen .......................................................................5
1.6
Forschungsstand .................................................................................................6
Untersuchung ..............................................................................................................7
2.1
Borchert und sein Leben .....................................................................................7
2.1.1
Die Eltern .....................................................................................................7
2.1.2
Jugend .........................................................................................................9
2.1.3
Borchert als Schauspieler ..........................................................................10
2.1.4
Wehrdienst ................................................................................................11
2.1.5
Die Ostfront in Russland ............................................................................11
2.1.6
Der gezeichnete Soldat ..............................................................................13
2.1.7
Hamburg ....................................................................................................14
2.1.8
Nachkriegszeit ...........................................................................................15
2.2
Draußen vor der Tür ..........................................................................................15
2.2.1
Übergreifende Berührungspunkte im Drama ............................................16
2.2.2
Vorspiel .....................................................................................................19
2.2.3
Der Traum .................................................................................................21
2.2.4
1. Szene .....................................................................................................22
2.2.5
2. Szene .....................................................................................................23
2.2.6
3. Szene .....................................................................................................25
2.2.7
4. Szene .....................................................................................................26
2.2.8
5. Szene .....................................................................................................27
3
Diskussion .................................................................................................................28
4
Literaturverzeichnis ...................................................................................................31
4.1
Primärliteratur...................................................................................................31
4.2
Sekundärliteratur ..............................................................................................31
1
1.1
Einleitung
Hintergrund
Wolfgang Borchert wurde 1921 in Hamburg geboren. Der erste Weltkrieg war zu
Ende, aber dessen Auswirkungen waren noch überall spürbar. Es wuchs auf in
einer Zeit zwischen den Kriegen, die von Inflation, Arbeitslosigkeit,
Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Aufrüstung und somit von
Einschränkungen und Entbehrungen geprägt war. Als der Zweite Weltkrieg anfing,
war Wolfgang Borchert 18 Jahre alt und zwei Jahre später wurde er an der
Ostfront eingesetzt. Von Juni 1941 bis April 1945 war er Soldat1.
In seinem Drama Draußen vor der Tür, das Borchert einige Monate vor seinem
Tod im Jahre 1947 schrieb, geht es um einen Soldaten, Beckmann, der nach 3
Jahren Gefangenschaft in Sibirien in seine zertrümmerte Heimat zurückkehrt. Das
Drama zählt zur Trümmerliteratur und wird als ein Protestschrei gegen den Krieg
gesehen.2
1.2
Wolfgang Borchert
Borcherts Vater, Fritz Borchert, war Volkschullehrer und seine Mutter, Hertha
Borchert, eine plattdeutsche Heimatschriftstellerin. Die Familie galt als kulturell
aufgeschlossen und sie war zum damaligen Regime kritisch eingestellt.3 Theater
und Literatur spielte eine große Rolle und seine Eltern hielten sich, so weit
möglich war, vom Politischen fern.4 Borchert wurde konfirmiert, trat aber später
aus der Kirche aus. Er schrieb schon in jungen Jahren Gedichte nach Vorbildern
wie Rainer Maria Rilke und Friedrich Hölderlin. Sein erstes Drama, eine Tragödie
in 5 Aufzügen, schrieb er mit 17 Jahren. Er nannte es Yorick der Narr! und es ist
eine Variation von Shakespeares Hamlet. Mit 18 schrieb er die Komödie Käse und
das Theaterstück Granvella. Der schwarze Cardinal. Er wusste aber schon jetzt,
dass er Schauspieler werden möchte und nahm neben einer Buchhändlerlehre
Schauspielunterricht.5
1
Vgl. Borchert, Wolfgang. (1996): Allein mit meinem Schatten und dem Mond, S. 19.
Vgl. www.rohwolt.de
3
Vgl. Burgess, G. (2007): Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück, S. 15ff.
4
Vgl. ebd. 2007, S. 29ff.
5
Vgl. ebd. 2007, S. 33ff.
2
2
Er besaß schon von jung auf einen Drang zu Mitteilung und Selbstdarstellung. Er
meinte: „Noch ist es nicht meine Aufgabe, der Menschheit etwas zu sagen – nein,
erstmal dichte ich mir mein eigenes, inneres Kämpfen und Erleben – ich muss es
gleichsam loswerden!“6 Bei der täglichen Arbeit in der Buchhandlung hatte
Borchert Zugang zu einer großen Auswahl von Literatur. Auch zu der verbotenen
expressionistischen Literatur. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnete er sich selber als
Expressionist und verstand darunter: „Den Mut und Willen zum Chaos zu
haben!“.7
1941 machte er sein Schauspielerexamen und wurde als Schauspieler an der
Landesbühne Ost-Hannover engagiert. Die begonnene Schauspielkarriere wurde
aber durch den Kriegsdienst unterbrochen. Zwischen 1941 und 1945 war er Soldat
und wurde drei Male an die Front beordert, zweimal an die Ostfront nach Russland
und einmal an die Westfront. Er erkrankte im Krieg an Diphtherie und Gelbsucht
und zog sich im russischen Wald Erfrierungen und eine Schussverletzung zu.8
Wegen der Schussverletzung, Heimtücke, d.h. Angriffe auf Staat und Partei, und
Zersetzung der Wehrkraft aufgrund einer Parodie an Goebbels wurde Borchert
mehrere Male verhaftet, inhaftiert und zu Freiheitsstrafen bzw. Frontbewährung
verurteilt.9
In der Nachkriegszeit litt er an den Fußverletzungen und, aufgrund seiner
Leberschädigung, an Gelbsucht. Borchert versuchte dennoch erneut als
Schauspieler bei der Theater- und Kabarettszene Hamburgs zu arbeiten. Ab
Oktober 1945 machten ihn Fieberanfälle aber immer öfter bettlägerig und er
musste schließlich ins Krankenhaus, von wo er als unheilbar entlassen wurde. Von
jetzt an war er bettlägerig und pflegebedürftig. Während dieser Zeit schrieb er
Kurzgeschichten und das Drama Draußen vor der Tür. 1947 fuhr er zu einer
Kuraufenthalt in die Schweiz. Auf der Reise verschlechterte sich aber sein
Gesundheitszustand und er starb in Basel im November 1947. Am nächsten Tag
6
Borchert 1996., S. 43.
Ebd. 1996, S. 42.
8
Burgess 2007, S. 77ff.
9
Vgl. Burgess 2007, S. 97ff.
7
3
fand die Uraufführung von seinem Drama Draußen vor der Tür in den Hamburger
Kammerspielen statt.10
1.3
Draußen vor der Tür
Draußen vor der Tür ist ein expressionistisches Stationendrama in 5 Szenen und
mit einer Vorbemerkung und einer zweifachen Einleitung. Es wurde als ein „Zeitund Gegenwartsstück“11 bezeichnet, weil es von den Einordungsschwierigkeiten
eines Heimkehrers aus dem Zweiten Weltkrieg handelt. Der Untertitel lautet: Ein
Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Borchert hat diesen
Untertitel gewählt, weil ihm bewusst war, dass „das Stück sich dem kollektiven
Wunsch nach Verdrängung entgegenstellte.“12
Der Ort des Dramas ist Hamburg, Stadtteil Blankenese, am Ufer der Elbe und es
spielt an einem einzigen Abend. Das Drama handelt von dem Soldaten Beckmann,
der nach 3-jähriger Gefangenschaft in Russland wieder nach Deutschland kommt.
Ein Versuch von Beckmann, durch das Springen in die Elbe sich das Leben zu
nehmen, scheitert und seine innere Stimme, der „Andere“, der Jasager, sein Alter
Ego versucht, immer wieder, bis zum Ende des Dramas, Beckmann von seinen
Selbstmordgedanken wegzubringen. Der „Andere“ fordert Beckmann auf,
weiterzuleben und verschiedene Orte aufzusuchen. Dabei begegnet er einem
Mädchen, dem Einbeinigen, einem Oberst, einem Direktor eines Kabaretts und
Frau Kramer.
Überall aber stößt Beckmann auf Ablehnung und Unverständnis und in einem
Traum in der letzten Szene resümiert er, dass alle, denen er begegnet ist, ihm die
Tür zugeschlagen haben. Er möchte jetzt die Antwort auf die Frage ob er nicht
doch ein Recht auf Selbstmord hat, aber der „Andere“ antwortet nicht. Er ist nicht
mehr da. Beckmann ist nun allein gelassen mit seinen „Erinnerungen und
schweren Träumen, mit seinen Qualen und der ganzen Hoffnungslosigkeit“.13
10
Vgl. Burgess 2007, S. 151ff.
Rühmkorf (1961) : Wolfgang Borchert. Auflage 2007, S. 146.
12
Borchert 1996, S. 15.
13
Poppe (2003): Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür, S. 30.
11
4
1.4
Trümmerliteratur
Nachkriegsliteratur, oder Kahlschlags- bzw. Trümmerliteratur wurde zwischen
1945 und 1950 geschrieben. Es war die junge Schriftstellergeneration in der
Westzone, die von ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, dem Krieg,
dem Leben in Trümmern schrieb.14 Die Themen dieser Literatur sind demnach
Krieg, Tod, Untergang, Gefangenschaft, Trümmer, Heimkehr und
Überlebungskampf. Die Texte haben ein persönliches Aussehen und wurden aus
der Sicht der kleinen Leute geschrieben. Für die damaligen Leser hatten sie einen
hohen Wiedererkennungswert, weil sie sich mit der Vergangenheit
auseinandersetzten. Unter Kahlschlag wurde oft auch die Reinigung der deutschen
Sprache von den nationalsozialistischen Ideologien verstanden und das Wort
Trümmer stand für zerstörte Ideale und Utopien.15 In dieser Zeit, nach dem Krieg,
spielten Theater und Kurzgeschichten eine große Rolle und die Texte sind durch
Knappheit in der Form gekennzeichnet.16 Gründe dafür waren der vorherrschende
Papiermangel und das Vorbild in den amerikanischen Short Stories.
Borcherts Drama Draußen vor der Tür ist das wichtigste Beispiel für die
Trümmerliteratur17 und eins der wenigen Dramen, das in der Nachkriegszeit
großes Publikum fand.18 Borchert selber meinte demütig: „Daß eine Reihe von
Bühnen mein Stück auffuhrt, ist reine Verlegenheit – was sollen sie sonst tun? […]
Denn mein Stück ist nur ein Plakat, morgen sieht es keiner mehr an.“.19
1.5
Ziel, Methode und Abgrenzungen
Mit Wolfgang Borcherts Lebensgeschichte und dem Inhalt seines Lebens als
Hintergrund entsteht die Frage, welche biographischen Berührungspunkte sich in
Borcherts Drama Draußen vor der Tür finden lassen? Welche persönlichen
Erlebnisse, Erfahrungen, Eigenschaften und Werte werden in seinem Drama
widergespiegelt oder zum Ausdruck gebracht?
14
Vgl. Schuelerlexikon.
Vgl. Literaturwelt.
16
Vgl. Schuelerlexikon.
17
Vgl. Packalén, Sture. (2002): Literatur und Leben, S. 195.
18
Vgl. Literaturwelt.
19
Borchert 1996, S. 234.
15
5
Das Ziel der Analyse ist also Inhalte in seinem Drama zu finden, die
gegebenenfalls auf Lebenserfahrungen und Lebenseinstellungen von Borchert
beruhen.
Um die o.g. Fragen beantworten zu können habe ich neben der Primärliteratur
Biographien über Borchert benutzt, um über sein Leben möglichst viel zu erfahren.
Ich bin vorzüglich positivistisch vorgegangen und der Autor und sein Leben stehen
im Mittelpunkt der Analyse. Beim Einlesen in die Primärliteratur habe ich mich
fortlaufend gefragt, welche persönliche Lebenserfahrung ihm zum entsprechenden
Inhalt bewogen hat. Ich habe die Thematik von zwei Seiten analysiert. Einmal
ausgehend von Borcherts Leben und einmal ausgehend von seinem Drama, also
vom Werk Draußen vor der Tür und von den einzelnen Szenen. Ich habe mich auf
Borchert selber und auf Daten aus seinem Leben konzentriert und habe deswegen
mich bemüht möglichst mit Daten aus erster Quelle zu arbeiten, d.h. mit Briefen
und Dokumenten von Borchert selber geschrieben.
Ich werde in dieser Arbeit jedoch keine psychoanalytische Analyse machen,
obwohl ich bei der Analyse vom Werk ausgehend mich etwas mehr mit Wolfgangs
Wesen beschäftigt habe. Ich bin auch nicht auf gesellschaftliche Faktoren näher
eingegangen.
Ich schreibe durchgängig Russland statt der Sowjetunion oder die UdSSR, die vom
1922 bis 1991 bestand, aus dem Grund, dass Borchert selbst immer Russland
schrieb.
1.6
Forschungsstand
Es gibt einige Bücher und viele Artikel über Wolfgang Borchert und sein Leben
und Werk. Unter anderem die Biographien, womit ich gearbeitet habe, d.h.
Wolfgang Borchert, Ich glaube an mein Glück von Gordon Burgess, Wolfgang
Borchert von Peter Rühmkorf und Wolfgang Borchert, Die wichtigste Stimme der
deutschen Nachkriegsliteratur von Claus B. Schröder. Ich habe auch mit dem
Buch Allein mit meinem Schatten und dem Mond, wo einige seiner Briefe und
Dokumente gesammelt sind, gearbeitet.
6
Auf der Internetseite von der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft e.V.
ist Literatur über Borchert von 1989 bis 2011 gelistet und diese Liste beinhaltet ca.
220 Publikationen, sowohl Artikel als auch Bücher. Ich habe keine Forschung, die
meine Fragestellung genau berührt, und ich habe nur eine Publikation, die meine
Thematik tangiert, gefunden. Diese Publikation ist eine Magisterarbeit mit dem
Titel Die Aufarbeitung des Kriegserlebnisses in Werk Wolfgang Borcherts von
Jan-Geert Wolff. Da es in dieser Publikation gewisse Überschneidungen mit
meiner Fragestellung gibt, habe ich sie auch als Sekundärliteratur benutzt.
2
Untersuchung
2.1
2.1.1
Borchert und sein Leben
Die Eltern
Wolfgang Borchert hatte ein sehr enges Verhältnis zu seinen Eltern und oft wurde
das Elternhaus in Zeiten von Armut und Krankheit sein einziger Zufluchtsort.
Zu seinem Vater hatte Borchert ein unklares Verhältnis, er wurde aber sein engster
Vertrauter in seiner produktiven Zeit vor seinem Tod20. Sein Vater war, seit dem
Ersten Weltkrieg, ein kränkelnder und anfälliger Mensch. Er litt an einem
überempfindlichen Magen, an einem schwachen Herzen und an einer
Schilddrüsenstörung, teilweise so schlimm, dass er seinen Beruf nicht nachgehen
konnte und das Studium in Geschichte und Philosophie aufgeben musste.21 Auch
hatte er schlechte Augen und wurde deswegen als dienstuntauglich eingestuft und
erstmals aus dem Militär entlassen (auch wenn er später im ersten Weltkrieg trotz
angeschlagener Gesundheit als Sanitäter Dienst leisten muss).22
Auch der Vater von Beckmann wird als ein kränkelnder Mensch dargestellt.
Borchert schreibt: „Nur dass mein Vater den Husten hatte. Aber den hatte er
immer.“23 Im Drama ist es aber Beckmann selber derjenige der schlecht sieht. Als
das Mädchen ihm in der 2. Szene die Brille abnimmt sagt Beckmann: „Ohne Brille
20
Vgl. Poppe 2003, S. 26.
Vgl. Rühmkorf, P. (1961), S. 9, Burgess 2007, S. 21, vgl. Schröder, Claus B. (1985): Wolfgang
Borchert. Die wichtigste Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur, S. 38.
22
Vgl. Burgess 2007, S. 18, vgl. Schröder 1985, S. 37.
23 Borchert 1956., S. 36.
21
7
bin ich rettungslos verloren“ und an einer anderen Stelle: „Jetzt sehe ich alles nur
noch ganz verschwommen.“24
Zu seiner strengen Mutter hatte Borchert eine noch stärkere Bindung als zu seinem
Vater. In Borcherts Texten wird das Wort Mutter oft benutzt als Ausdruck für eine
mütterliche Sehnsucht, bedingt durch sein ambivalentes Verhältnis zu seiner
Mutter.25 Da seine Mutter labil und sensibel war, suchte Borchert oft woanders
nach einer Mutter und nach Halt und Bindung.26
In einem Brief an seine Mutter anlässlich seines eigenen Geburtstags steht es: „Ich
komme kein Jahr und keinen Herzschlag ohne Mutter aus – ich nicht, Du nicht,
keiner. Und selbst in den Zeiten, wo 2000 Kilometer zwischen uns lagen, fühlte
ich den Riß der Nabelschnur.“27 Borchert wurde auch von seiner Mutter eine
Zeitlang zuhause Tag und Nacht gepflegt und sie war zugleich Hausfrau und
Krankenschwester bis zu dem Ausmaß, dass sie zusammengeklappte.28
In Draußen vor der Tür steht auch die Mutter Beckmanns mehr im Zentrum als
der Vater. Der Protagonist Beckmann sehnt sich nach seinem Elternhaus und sagt:
„Mein Gott! Nach Hause! Ja, ich will nach Hause. Ich will zu meiner Mutter! Ich
will endlich zu meiner Mutter!!! Zu meiner –„29
Beckmann findet aber seine Eltern tot, sie haben sich das Leben genommen. Im
Drama übernehmen deswegen auch andere Figuren die Rolle der Eltern. Die Elbe
übernimmt die Rolle der Mutter und nennt Beckmann „mein Junge“, „mein Sohn“
und „kleiner Menschensohn“.30 Auch das Mädchen in der ersten Szene darf für
eine kurze Zeit diese Rolle übernehmen. Der Gott im Vorspiel übernimmt die
Vaterrolle und ruft immer wieder; „Kinder“ oder „meine Kinder“.31
24
Borchert 1956, S. 16.
Vgl. Schröder 1985, S. 45ff.
26
Vgl. ebd. 1985, S 146f.
27
Borchert 1996, S. 176.
28
Vgl. ebd., S. 196, 213.
29
Borchert 1956, S. 34.
30
Ebd., S. 11, 12.
31
Borchert 1956., S. 10.
25
8
Wie schon erwähnt war die Familie Borchert nicht politisch engagiert, aber
aufgrund seines Berufes als Lehrer musste Borcherts Vater Parteimitglied werden.
Das wurde von Borchert in Frage gestellt. „In heftigen Diskussionen verlangte
Wolfgang von seinem Vater, offen gegen das Regime zu protestieren.“, so
Burgess.32 Obwohl Borchert kein politisch denkender Mensch war, verließ er die
Hitlerjugend nach kurzer Zeit.33 Laut Schröder hasst Borchert die Nazis, „er nennt
sie >Schweine<“34
Der Vater Beckmanns war Nationalsozialist, was die Frau Krämer in der 5. Szene
zu verstehen lässt als sie über den Vater von Beckmann erzählt wie er sich im
Dritten Reich „verausgabt“ hat und wie er sich „selbst endgültig entnazifiziert“
hat.35
2.1.2
Jugend
Wolfgangs Mutter war zur Zeit der Machtübernahme der Nationalsozialisten
bereits eine etablierte plattdeutsche Schriftstellerin. Ihre Geschichten wurden in
Monatsheften und Zeitungen gedruckt und sie wurde eingeladen, um ihre
Geschichten vorzulesen, auch im Radio. 1934 wurde sie aber von einem Nachbar
und Konkurrenten, der auch plattdeutsche Texte schrieb, denunziert mit dem
Vorwurf, sie sei eine Staatsfeindin. Der Denunziant hieß Kramer.36 Borchert
verwendet den Namen Kramer in seinem Drama für die Familie, die das Haus von
Beckmanns Eltern übernommen hatte nach deren Tod. Burgess schreibt dazu:
„Den Namen Kramer verewigte Wolfgang Borchert in der Figur von Frau Kramer,
‚die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar‘, in Draußen
vor der Tür.“37 Borchert soll kurz vor dem Anfangen mit der Arbeit gesagt haben,
dass nun mit Kramer abgerechnet wird.38
32
Burgess 2007, S. 40.
Vgl. Schröder 1985, S. 60, 145.
34
Ebd. 1985, S. 128.
35
Borchert 1956, S. 37.
36 Vgl. Burgess, G. (2007): Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. S. 28ff.
37
Burgess 2007, S. 39.
38
Vgl. Burgess 2007, S. 200.
33
9
Borcherts Onkel, der Bruder seiner Mutter, hatte im ersten Weltkrieg ein Bein
verloren und trug deswegen eine Prothese.39 Im Drama macht Beckmann seine
Kriegsverletzung am Knie Schwierigkeiten und er sagt zum Mädchen als er am
Ufer der Elbe liegt: „[…] Mir haben sie die Kniescheibe gestohlen. In Rußland.
Und nun muß ich mit einem steifen Bein durch das Leben hinken.”40
Aber auch der Mann des Mädchens in der 2. Szene kommt als Einbeiniger wieder
zurück. Im Augenblick bevor der Einbeinige durch Tür kommt sagt Beckmann;
„[…]Er kommt immer näher, der Riese, mit einem Bein und zwei Krücken.“ 41
2.1.3
Borchert als Schauspieler
Im Januar 1941 bestand Borchert sein Abschlussexamen der Schauspielausbildung
und kurz darauf bekam er eine Anstellung an der Landesbühne Ost-Hannover. Die
reisende Theatergesellschaft zog durch die Provinz und spielte Abend für Abend in
verschiedenen Orten Volkstheater. Borchert bekam Nebenrollen oder spielte als
Ersatz für einberufene oder gefallene Schauspieler.42 In den Medien war die Kritik
nachsichtig und er wurde als sympathisch elegante Erscheinung, die mit
angenehmer Zurückhaltung spielt, beschrieben.43 Sein eigenes Urteil war negativer
und er hielt sich für unfähig. In einem Brief an eine Freundin schrieb Borchert:
„Allen Menschen sagen immer von mir, ich wäre kalt, hart und ohne Gefühl!
Wüstenhagen meinte sogar, als ich den Romeo sprach, das wäre wohl eher ein
Mephisto.“44 Und in einem Brief an den Freund und Kollegen Werner Lüning
schreibt Borchert:
[…] mußte ich mir auf den ersten Proben sagen lassen, ich hätte lieber
Schlosser werden sollen und spielte statt meiner Klassiker: den Lehrer in
>Krach um Jolanthe<. Furchtbarer Krach nicht nur um Jolanthe, sondern
auch um meine Unfähigkeit. Selbstmordgedanken auf der Generalprobe.
39
Vgl. Burgess 2007, S. 130.
Borchert 1956, S. 15.
41
Ebd., S. 18.
42
Vgl. Burgess 2007, S. 86f.
43
Vgl. Rühmkorf 1961, S. 48.
44
Borchert 1996, S. 35, Karl Wüstenhagen war Intendant des Deutschen Schauspielhauses
Hamburg 1932-1945.
40
10
Premiere: Lacher über Lacher und tragischerweise immer da, wo ich ganz
ernst war und wo mir jeglicher Sinn für Komik abhanden gekommen war. 45
Im Drama trifft Beckmann in der 4. Szene den Direktor des Kabaretts. Nachdem
Beckmann vorgesungen hat, fällt das Urteil des Direktors über die Aufführung
eher negativ aus. Der Direktor sagt u.a.: „Ja, aber Kunst muß reifen. Ihr Vortrag ist
noch ohne Eleganz und Erfahrung. Das ist alles zu grau, zu nackt. Sie machen mir
ja das Publikum böse.“46
2.1.4
Wehrdienst
Anfang Juni 1941 fing Borchert in der Kaserne Weimar-Lützendorf seine
Grundausbildung zu Funker an, die 3 Monate andauerte. Er war zutiefst
unglücklich über den Verlust seiner Freiheit. Er war schon von klein an ein
Außenseiter und konnte sich nur schwer in Gruppen und Gemeinschaften
einordnen.47 Seine Maxime lautete: „unbedingte Freiheit“.48 In einem Brief an dem
Redakteur Hugo Sieker heißt es: „es fällt mir jeden Morgen von neuem schwer,
mich mit der Beraubung meiner über alles geliebten Freiheit abzufinden. Ich
wehre mich auch dagegen, mich daran zu gewöhnen – mein Innenleben würde
dann ganz zerreißen.-„49
Im Drama ist Beckmann auch ein Außenseiter, der sich, nach den Jahren im Krieg
und in der Gefangenschaft, nicht mehr in das Nachkriegsleben einordnen kann.
2.1.5
Die Ostfront in Russland
Nach der abgeschlossenen Grundausbildung wurde Borchert in einer
Ersatzbataillon an die Ostfront abkommandiert. Die Truppe erreichte Ende des
Jahres Witebsk wo er an der Front im russischen Wald in der Gegend von
Smolensk als Funker in Stoßeinsätzen oder Alleingängen kämpfte. Den Soldaten
45
Borchert 2007, S. 173.
Borchert 1956, S.33.
47
Burgess 2007, S. 97.
48
Rühmkorf 1961, S. 27f.
49
Borchert 1996, S. 187.
46
11
fehlte oft an beinah allem, sie hatten wenig zum Essen und hatten bei minus 40
Grad nur die Sommeruniforme zum Tragen.50
Bei einem Alleingang erlitt Borchert in einem Nahkampf mit einem russischen
Soldaten eine so schwere Verletzung an seiner linken Hand, dass sein Mittelfinger
amputiert werden musste.
Aufgrund von der Verletzung, Erfrierungen und Gelbsucht lag er zuerst im
Feldlazarett Smolensk und dann im Hauptlazarett in Schwabach, wo auch
Diphterie diagnostiziert wurde. Wegen des Verdachtes auf Selbstverstümmelung
wurde er verhaftet und in das Militärgefängnis Nürnberg-Bärenschanzstraße
überführt. Nach zwei Gerichtsprozessen, der zweite wegen Verstoß gegen das
Heimtückegesetz, und Rückkehr an die Ostfront ist er wieder im Lazarett wegen
erfrorenen Füßen, Gelbsucht und Verdacht auf Fleckenfieber.
Die erfrorenen Füße hat er sich bei einem zehntägigen Waldkampf zugezogen, die
rund um die Uhr stattgefunden hatte. Wieder in Briefen beschrieb er wie furchtbar
die Zeit als Melder in den Wäldern bei Toropez und im Seuchenlazarett war und er
betonte wie grauenhaft, furchtbar und bedrückend alles war. 51 In einem
unveröffentlichten Brief an seine Mentorin Aline Bußmann steht:
‘Doch muß ich sagen, war ich fast gefeit für die grauenhaften Tage vor
Weihnachten bei Toropez, wo wir innerhalb von 4 Tagen 5
Kompanienchefs verloren haben und uns oft genug nachts gefragt haben –
siehst Du die Sonne morgen noch aufgehen? Fast gefeit – aber die helle
Angst hat mich doch oft gepackt, wenn die erdbraunen Gestalten plötzlich
mitten unter uns waren – denn war immer nur auf meine arme harmlose
Leuchtpistole angewiesen – also praktisch ganz wehrlos. […]‘.
52
Im Drama beschreibt Beckmann auch dem Oberst und seiner Familie aus seinen
Albträumen wie grauenhaft der Krieg war; 53„ […] Blut. Blut. Dann stehen sie auf
50
Vgl. Burgess 2007, S. 106f.
Vgl. Borchert 1996, S. 98, 144, 159.
52
Burgess 2007, S. 123. WB wurde wg. der Vorbestrafung keine Waffe erlaubt.
53
Vgl. Burgess 2007, S. 111f.
51
12
aus den Massengräbern mit verrotteten Verbänden und blutigen Uniformen. […]
Aus der Steppe stehen sie auf, einäugig, zahnlos, einarmig, beinlos, mitzerfetzten
Gedärmen, ohne Schädeldecken, ohne Hände, durchlöchert, stinkend, blind.
[…]“.54 Weiter erzählt Beckmann:
[…]Den 14. Februar? Bei Gorodok. Es waren 42 Grad Kälte. […] Sie
erkunden den Wald östlich Gorodok und machen nach Möglichkeit ein paar
Gefangene, klar? […] Dann haben wir die ganze Nacht erkundet, und dann
wurde geschossen, und als wir wieder in der Stellung waren, da fehlten elf
Mann. […]55
Knappe 150 km von Toropez entfernt liegt ein Ort mit dem Namen Gorodok im
Verwaltungsbezirk Oblast Twer in Zentralrussland. Die Orte Smolensk, Toropez
und Gorodok liegen alle in Zentralrussland innerhalb von 250 km Luftweg.
Witebsk liegt zwischen Gorodok und Smolensk, nur ca. 40 km von Gorodok
entfernt. In seinem Drama in der ersten Szene werden im Dialog zwischen
Beckmann und dem Anderen die beiden Orte Smolensk und Gorodok gennant.
„Der aus dem Schneesturm bei Smolensk. Und der aus dem Bunker bei
Gorodok“56
2.1.6
Der gezeichnete Soldat
Borchert war durch seine Krankheiten und die Erlebnisse an der Front sehr
gezeichnet. Sein Gesicht war durch die Leberkrankheit gelb gefärbt, ein Finger
fehlte und seine Haare waren kurz geschnitten. Das Letztere wurde von ihm selber
als ”Einheitsfrisur”57 beschrieben.58
So wird auch der Beckmann in seinem Drama beschrieben, als eine Person die
seltsam oder sogar grotesk aussieht. Der Beerdigungsunternehmer sieht den
Beckmann als einer mit einem alten Soldatenmantel und kurzgeschnittenen
Haaren, kurz wie eine Bürste. Seine Gasmaskenbrille erweckt immer wieder
54
Borchert 1956, S. 24.
Ebd., S. 25.
56
Borchert 1956, S. 13.
57
Vgl. Borchert 1996, S. 172.
58
Vgl. Burgess 2007, S. 166.
55
13
Verwunderung und Verachtung. Das Mädchen lacht ihn aus, die Frau vom Oberst
wird voller Grauen wenn sie seine Brille sieht und der Direktor des Kabaretts
spricht von einem grotesken ”Brillengestell”.59
Und genau wie Borcherts seinen Finger, hat Beckmann eine kaputte Kniescheibe,
als „Andenken“ aus dem Krieg mitgebracht.60
2.1.7
Hamburg
Im Sommer 1943 wurde Hamburg gut eine Woche lang von den Alliierten
bombardiert. Als Borchert im August im Urlaub nach Hause kommt, liegt
Hamburg in Trümmern. Borchert war entgeistert. In seiner Jugend hielt er nicht
viel von Hamburg. Aber er war mit der Zeit, besonders nach den
Kriegserfahrungen und der Zeit im Berliner Gefängnis Moabit, ein passionierter
Hamburger geworden und schrieb Loblieder und Gedichte über seine
Heimatstadt.61 Als Heimkehrer liebte er Hamburg, die Alster, die Straßen und ihre
Mädchen.62 Borchert war besonders von der Elbe ergriffen.63 Er dachte während
seiner Soldatenzeit daran, sich Tarpe Beek oder Kai Wasser zu nennen64. Der
Grund dafür ist in einem Brief von Borchert zu finden:
[…] ich bin an der Tarpenbeck geboren, die Tarpenbeck tropft in die Alster, diese
Plätschert in die Elbe – die Elbe schweigt ins Watt, und das Watt rauscht ins
Meer! Ach, und der Regen, der Nebel, die Wolke und die Träne – das Blut + der
Saft der Blume + Bäume: heißt das nicht alles Wasser? Und der Vorname Kai ist
der Steg, der in das Wasser hinausragt + an dem die Gedanken Anker werfen und
von dem sie ausfahren wie die Schiffe: Kai Wasser.
65
Für sein Drama hat Borchert die Elbe mit Umgebung in Hamburg als Ort des
Geschehens ausgewählt. Dass das Drama in Hamburg spielt erkennt man dadurch,
dass der Hamburger Stadtteil Blankenese in der 1. Szene genannt wird. Laut
59
Borchert 1956, S. 9f.
Vgl. Schröder 1985, S. 180, vgl. Borchert 1956, S. 8.
61
Vgl. Borchert 1996, S. 101, 136, 250, 252 und Burgess 2007, S. 129ff, 156.
62
Vgl. Poppe 2003, S. 22.
63
Vgl. Burgess 2007, S. 195.
64
Vgl. Rühmkopf 1961, S. 76, Burgess 2007, S. 156.
65
Borchert 1996, S. 136, WB wurde in der Tarpenbekstraße 82 geboren.
60
14
Schröder ist es kein Zufall das die Elbe im Drama eine zentrale Rolle spielt,
sondern es ist auf Borcherts persönliche Situation nach dem Krieg zurückzuführen.
Er war selten Fähig sich aus seinem Zimmer zu bewegen und wenn waren die
Eindrücke umso stärker und Anlässe um Texte darüber zu schreiben.66
2.1.8
Nachkriegszeit
Trotz seiner schlechten Gesundheit versucht Borchert einen Neuanfang als
Schauspieler und Schriftsteller und den Neuanfang als Maler.
Er lernte in dieser Zeit viele neue Menschen kennen, u.a. den Bildhauer Curt
Beckmann, der im Sommer 1945 oft zu Besuch bei Borcherts war. Den Namen
Beckmann verwendete Borchert später in seinem Drama für seine Hauptfigur. 67
Borchert gründete zusammen mit einigen Schauspielern und Schauspielerinnen
auch ein neues Theater, Die Komödie. Er meinte aber, dass nicht unbedingt
Komödien gespielt werden müssen aber dass die Menschen im Leben genug
Probleme haben und nicht weiter belastet werden sollen.68 Borcherts Worte in
einem Brief an seinen Anwalt Dr. Carl Hager sind wie folgt: „Es brauchen nicht
unbedingt Komödien zu sein, aber der Fehler unserer Spielpläne heute ist, daß sie
den belasteten Menschen noch belastende Probleme aufgeben wollen.“69
Im Drama lässt er auch den Direktor die Meinung vertreten; „ […] Aber die Leute
wollen doch schließlich Kunst genießen, sich erheben, erbauen und keine
naßkalten Gespenster sehen. Nein, so können wir Sie nicht loslassen. Etwas
genialer, überlegener, heiterer müssen wir den Leuten schon kommen. Positiv!
[…]“70
2.2
Draußen vor der Tür
Hier wird das gesamte Werk bzw. der Inhalt der jeweiligen Szene auf ihre tiefere
und teilweise übergreifende Bedeutung analysiert.
66
Vgl. Schröder 1985, S. 309.
Vgl. Burgess 2007, S.167.
68
Vgl. ebd., S. 169.
69
Borchert 1996, S. 164.
70
Borchert 1956, S. 30.
67
15
Borchert war durch die Kriegsjahre an der Front, in Krankenhäusern und im
Gefängnis seelisch zutiefst verwundet und er verteidigte die Grundeinstellung; nie
wieder Krieg.71 Der letzte Text, den er im Sterbebett schrieb war Dann gibt es nur
eins!, der eine Aufforderung ist, Krieg ein klares Nein zu geben.72 Auch das Drama
Draußen vor der Tür kann als ein Protest gegen den Krieg gesehen werden.
2.2.1
Übergreifende Berührungspunkte im Drama
Ein Thema, das immer wieder im Drama aufgegriffen wird, ist das Frieren und
Hungern. Borchert selber erlebte sowohl das Hungern als auch das Frieren.
Während des Krieges zog er sich Erfrierungen zu, aufgrund der Temperaturen in
Russland im Winter 41/42, die zwischen 30 und 50 Grad unter null lagen. Burgess
beschreibt die Situation in Russland zu der Zeit wie folgt:
Anders die deutschen Truppen, denen es an Winteruniformen, Pelzmützen,
weißen Tarnzeug und Schneestiefeln fehlte. Die zeitweise in Witebsk
stationierten Funker trugen noch die Sommeruniform, in der sie im
September von Weimar abgefahren sind.“ Auch zum Essen gab es wenig,
„Ihnen fehlte beinahe alles, was sie brauchten, nicht einmal Kartoffel gab
es, […].
73
Aber auch in den Nachkriegsjahren, als es einen Mangel an Brennstoff gab und
Borcherts Gesundheit sehr angeschlagen war, litt er sehr unter der Kälte.
Besonders der Winter 46/47 war für den Kranken schwierig zu bewältigen. Dies
war auch ein Grund für den Versuch in den Süden, in die Schweiz, eine Zeitlang
zu gehen.
Es gab auch einen Mangel an Essen, sowohl während des Krieges, als auch nach
dem Krieg. Borcherts Leberkrankheit wurde von den Ärzten teilweise auf die
mangelnde Ernährung zurückgeführt.
71
Vgl. Poppe 2003, S. 4.
Vgl. Borchert 1956, S. 110.
73
Burgess 2007, S. 109f.
72
16
Im Drama zählt Beckmann wiederholt verschiedene Autoren, Philosophen,
Komponisten und Dichter auf. Genau wie Borchert in seinen Briefen referiert
Beckmann zu Größen wie Schiller, Heinrich Heine, Mozart, Goethe oder
Wagner.74 Sein ganzes Leben las Borchert sehr gern und viel und er las immer 10
Bücher nebeneinander.75 Er schrieb auch gerne und war ein leidenschaftlicher
Briefschreiber. Borchert nannte oder machte Andeutungen auf Künstler und
Autoren die er für genial hielt.76 Der liebste Gegenstand seiner Briefe war sein
eigener Künstlertraum.77 In Zeiten ohne Zugang zu Literatur, wie in Haft oder
zeitweise im Krankenhaus war Borchert immer todunglücklich. Vor dem Krieg
verehrte er Dichter wie Rilke und Hölderlin. Er hasste aber Goethe und
bezeichnete ihn als Spießer und empfand Werthers Leiden unerträglich. Dagegen
gehörte Hemingway zu seinen Lieblingsautoren.78
Auch zu Musik hatte er ein besonderes Verhältnis. Er hörte gerne Musik, aber
klassische Musik, wie etwa Bach, Händel und Mozart vertrug er nur zeitweise. Er
fühlte sich oft „merkwürdig berührt“ von Musik und er meinte: „Es überläuft mich
immer eiskalt, wenn ich manchmal aus irgendeinem Radio leicht + verrückte
Musik höre – […]“79 Auch im Drama spielt Musik eine besondere Rolle. Zum
Beispiel als Beckamann dem Oberst und seiner Familie vom Traum erzählt:
BECKMANN: Ja, und nun geht es erst los. Nun fängt der Traum erst an.
Also der General steht vor dem Risenxylophon aus Menschenknochen und
trommelt mit seinen Prothesen einen Marsch. Preußens Gloria oder den
Badenweiler. Aber meistens spielt er den Einzug der Gladiatoren und die
Alten Kameraden […]80
Wie der Titel des Dramas, Draußen vor der Tür, besagt, geht es im Drama auch
um den Einzelgänger, Außenseiter und um Einsamkeit. Borchert litt oft unter
74
Vgl. Borchert 1956, S. 29f, Burgess 2007, S. 48.
Vgl. Borchert 1996, S. 45.
76
Vgl. ebd., S. 58.
77
Vgl. Rühmkorf 1961 S. 32.
78
Vgl. Burgess 2007, S. 185.
79
Borchert 1996, S. 147.
80
Borchert 1956, S. 24.
75
17
„unfreiwilliger Einsamkeit und Abstinenz“ 81, unter anderem als er 100 Tage in
einer Einzelzelle saß und Anklagevertreter auf Tod durch Erschießung beantragt
hatte.82 Die Angst, Einsamkeit und Verlassenheit der Gefängniszeit verarbeitet
Borchert besonders deutlich in seinem kurzen Prosastück Hundeblume.83 Auch oft
in den Jahren im Krankenbett wo er keinen Besuch empfangen durfte oder
vermochte, litt er unter Einsamkeit.
Beckmann wird im Drama von seinen Mitmenschen vor die Tür gesetzt und fühlt
sich verraten. Er fühlt sich „liegengeblieben“84 und von allen, die er begegnet ist,
vor die Tür gesetzt. In der letzten Szene, nach dem Beckmann aus dem letzten
Traum erwacht ist, wiederholt er den Satz: „Eine Tür schlägt zu, und er steht
draußen.“85
Beckmann wird vom Direktor als ein „sensibler Knabe“86 beschrieben und der
Oberst fragt ob er nicht „ein bißchen weich“ sei.87
Auch Borchert war ein sensibler Mensch, der sich außerdem oft als Einzelgänger
dargestellt hat. Er beschreibt sich selber als „[…] eine Schnecke, die ihre
empfindlichen Teile unter einer harten Schale verbirgt.“ 88 Borchert war
gefühlsmäßig labil, was er von der Mutter geerbt hatte, und schwankte zwischen
Hochverstimmung und Depression. 89Auch seine Mutter erkannte in Borchert eine
sensible Person und bezeichnete ihn als „einen empfindsamen Menschen“90
Der Seelenzustand Borcherts wird im Beckmann in verschiedener Weise
wiedergespiegelt. Rühmkorf nennt vier Beispiele und vergleicht dabei
Textausschnitte aus den Briefen mit Textausschnitten im Drama. Zuerst nennt er
die Parallele des ruhelosen Heimkehrers in Borchert und Beckmann, zum anderen
81
Borchert 1996., S. 152.
Vgl. Burgess 2007, S. 117.
83
Burgess 2007, S. 180.
84
Borchert 1956, S. 54.
85
Ebd., S. 53.
86
Ebd., S. 48.
87
Ebd., S. 22.
88
Borchert 1996, S. 95.
89
Vgl. Rühmkorf 1961, S. 18.
90
Borchert 1996, S. 108.
82
18
die Befürchtung verrückt zu werden, zum dritten dass beide sich als Fallenden
empfinden und zum vierten, dass sie beide nach einer Antwort suchen. So
Borchert in einem Brief: „‘Nun ist wieder Abend – Nacht kommt – und ohne
Antwort!‘“91
Beckmann ist der fragende Held, dem keine Antwort gegeben wird. Er ist das
Kind, das in den Tod Zuflucht sucht, so wie auch Borchert, der nie richtig
erwachsen wurde und sein ganzes Leben von den Eltern abhängig war.
Borchert schrieb gerne von den schwachen und unvollkommenen der Gesellschaft.
Beckmann, mit der Gasmaskenbrille, der Einheitsfrisur und steifem Bein, ist ein
Typenbeispiel dieser Gattung.92 Aber Borchert selber gehörte auch zu den
schwachen, gezeichnet vom Krieg und seiner Krankheit. Schon früh bereitete ihm
seine Krankheit Schmerzen und in Briefen erwähnte er Rücken, Lunge und Herz,
als Organe die ihm Schmerzen bereitete. Auch war er ab 1945 zu schwach um zu
gehen. In der letzten Szene im Drama liegt Beckmann auf der Straße und will nicht
mehr aufstehen. Er meint: „Die Lunge macht nicht mehr mit, das Herz macht nicht
mehr mit und die Beine nicht.“93
Beckmann ist ein junger Mann, 25 Jahre alt. Borchert war, als er Anfang 1947 das
Drama schrieb, auch 25 Jahre alt. Im Mai desselben Jahres ist er 26 Jahre alt
geworden.
2.2.2
Vorspiel
Borchert wurde zur „aufgeklärten Glaubenslosigkeit“ 94 erzogen und setzte sich
schon vor dem Krieg sich mit der Existenz eines Gottes auseinander. Er wurde
getauft aber trat vor dem Ausbruch des Krieges aus der Kirche aus. Auch durch die
Qualen des Krieges stellte er immer wieder die Existenz Gottes und seine
vermeintliche Macht in Frage.95 Er greift diese Thematik schon früh in Briefen
auf, z.B. fragte er 1940 in einem Brief seinen Kollegen im Buchhandel, Werner
91
Rühmkorf 1961, S. 46.
Vgl. ebd., S. 26.
93
Borchert 1956, S. 41.
94
Rühmkopf 1961, S. 14.
95
Vgl. Burgess 2007, S.62, 105.
92
19
Lüning, ob er an Gott glaube.96 Später, nach den Kriegserfahrungen schrieb er im
Herbst 1944 in einem Brief an den Lyriker Carl Albert Lange: „Es will doch oft
scheinen, als stünden wir abseits und beziehungslos da mit unserer Not, weil es
keinen Gott gibt als die Natur – und die ist erbarmungslos.“97 Und in einem Brief
an den Hamburger Oberbaurat Max Grantz in Februar 1947, als Antwort auf die
Reaktion des Oberbaurates auf das Hörspiel Draußen vor der Tür, schrieb
Borchert den philosophischen Text:
Als Kind wächst man mit einer Gottes-Vorstellung auf, die in ihm eine
persönliche Macht sieht, die uns in unserer Not beisteht und das Böse nicht
zuläßt. Das Kind kann das göttliche Gesetz in sich selbst noch nicht
begreifen, es sieht in Gott immer etwas, das außer ihm ist. Weder die
Schule och die Kirche oder das Elternhaus klären das Kind auf, daß diese
Gottesvorstellung falsch ist und so muß der junge Mensch mit
zunehmender Reife eines Tages die Erfahrung machen, daß es diesen Gott
nicht gibt, daß es keine Macht gibt, die uns beisteht, die sich herbeiflehen
läßt und das Böse verhindert.
98
Ein anderes Beispiel findet man in Borcherts Requiem für einen Freund:
Wo ist Gott – schreien die Granaten!
Wo ist Gott – schweigen die Sterne! Wo ist Gott – beten wir!
Gott ist das Leben und Gott ist der Tod – sagtest du immer.
Bist du nun bei Gott?
99
In dieser ersten Einleitung des Dramas, das Vorspiel, stehen Gott und Tod
einander gegenüber. Gott beschwert sich darüber, dass keiner mehr an ihn glaubt
und darüber dass er die Situation nicht ändern kann. Der
Tod/Beerdigungsunternehmer fragt den Gott warum er weint. Dieser antwortet
darauf: „Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf.
Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und
96
Vgl. Borchert 1996, S. 54.
Borchert 1996, S. 145.
98
Ebd., S. 194f.
99
Ebd., S. 261.
97
20
ich, ich kann es nicht ändern.“100 Weiter sagt Gott: „Sehr finster. Ich bin der Gott,
an der keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine
Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster“. 101 Beckmann selbst sagt in der
letzten Szene zu Gott, als er meint, er sei der liebe Gott:
BECKMANN: Seltsam, ja, das müssen ganz seltsame Menschen sein, die dich so
nennen. Das sind wohl die Zufriedenen, die Satten, die Glücklichen, und die, die
Angst vor dir haben. Die im Sonnenschen gehen, verliebt oder satt oder zufrieden
– oder die es nachts mit der Angst kriegen: Lieber Gott! Lieber Gott! Aber ich
sage nicht Lieber Gott, du, ich kenne keinen, der ein lieber Gott ist, du!102
2.2.3
Der Traum
In dieser Szene spricht Beckmann mit der Elbe darüber, dass er nicht mehr leben
will. Die Elbe will sein junges Leben aber nicht, sonder fordert ihn dazu auf, erst
einmal zu leben. Sie sagt: „Dein kleine Handvoll Leben ist mir verdammt zu
wenig. Behalt sie. Ich will sie nicht, du gerade eben Angefangener. Halt den
Mund, mein kleiner Menschensohn! Ich will dir was sagen, ganz leise, ins Ohr, du,
komm her: ich scheiß auf deinen Selbstmord!“ 103 Nach dem Einspringen wird
Beckmann auf das Ufer geworfen. Die Elbe meint: „Er will es nochmal versuchen,
hat er mir eben versprochen. Aber sachte, er sagt er hat ein schlimmes Bein,
[…]“.104
Borchert spürte im Gefängnis und in der Krankheitszeit oft die Bedrohung des
frühen Todes. Zwei Male wurde Tod durch Erschießung gegen ihn beantragt und
in schwierigen Stunden der Krankheitszeit kamen ihm zurecht Zweifel eines
Durchkommens auf. In einem Brief an seine Eltern im Herbst 1944 meinte
Borchert: „Na, und allzu alt werde ich bei meiner Gesundheit kaum werden, das
fühle ich.“105 Burgess schreibt dazu:
100
Borchert 1956, S. 10.
Ebd., S. 10.
102
Ebd., S. 41f.
103
Ebd., S. 12.
104
Ebd., S. 12.
105
Borchert 1996, S. 137.
101
21
Nach den Quälereien und der Ungerechtigkeit, unter denen er während der
Grundausbildung sichtlich litt, kämpfte er in der Weite des bitterkalten russischen
Winters 1941/42 ohne Aussicht auf eine Erlösung aus seiner Misere. Im August
hatte er noch in der Weimarer Kaserne an Aline Bußman geschrieben, er sei ‚oft
soweit‘, dass er ‚das Leben wegwerfen möchte – […]‘[…]
2.2.4
106
1. Szene
Nun taucht der „Andere“ als Beckmanns innere Stimme oder Alter Ego im
Geschehen auf. Er will Beckmann ins Leben zurückhelfen.107 Beckmann ist der
Fragende und Suchende und der „Andere“ wird zum Antwortenden. Beckmann
schwankt zwischen lebenwollen und sterbenwollen. Der Andere kommentiert am
Schluss der Szene Beckmanns Schwanken zwischen Sterben und Leben:
DER ANDERE: […] Erst lassen sie sich ins Wasser fallen und sind ganz wild auf
das Sterben versessen. Aber dann kommt zufällig so ein anderer Zweibeiner im
Dunkeln vorbei, so einer mit Rock, mit einem Busen und langen Locken. Und
108
dann ist das Leben plötzlich wieder ganz herrlich und süß. […]
Borchert war vom Wesen her gespalten und das war ihm sehr wohl bewusst. Er
war einerseits der Komiker und Optimist und andererseits der Schriftsteller und
unzufriedene Einzelgänger mit den finsteren Geschichten. Seine Laune schwankte
zudem oft zwischen Heiterkeit und Depression. Er meinte aber auch, dass er die
Widerstände brauche, er brauche das Unglück um Glück empfinden zu können,
und dass er aus schlechten Zeiten Kraft nehme. Dieser Dualismus ist in seinen
Werken durch Gegensätze, Umpolung von Werten und Stimmungen und so oft die
Spannung zwischen Lust und Unlust zu erkennen.109
An dieser Stelle kann auch das Wort Fisch kommentiert werden. Das Mädchen
findet ihn liegen halb im Sand am Ufer der Elbe und halb im Wasser (Dualismus)
und sagt zu ihm; „Sie halber Fisch. Sie stummer nasser Fisch, Sie!“ 110 Borchert
106
Burgess 2007, S. 113.
Vgl. Poppe 2003, S. 28.
108
Borchert 1956, S. 15.
109
Vgl. Rühmkorf 1961, S. 124f.
110
Borchert 1956, S. 15.
107
22
schrieb in einem Brief: „Das Leben ist doppelseitig wie ein Fisch: Manchmal
blinkert die Unterseite ganz silbrig.“111
2.2.5
2. Szene
In dieser Szene nimmt das Mädchen Beckmann mit zu ihr. Es entwickelt sich so
eine Art anfänglicher Liebesbeziehung. Jedoch kommt der Mann des Mädchens
unerwartet nach Hause. Er ist verwundet und hat ein Bein im Krieg verloren.
Beckmann hat Angst vor dem „Einbeinigen“ und flieht aus dem Zimmer des
Mädchen. Er will wieder nicht Beckmann sein und sehnt sich wider nach der
Elbe.112
Für das Mädchen hatte Borchert eine kurzlebige Leidenschaft, die Schauspielerin
Margerete Militzer, zum Vorbild. Er lernte sie im September 1939, als sie beim
Altonaer Deutschen Volkstheater arbeitete, kennen. Sie sprach 1947 bei der ersten
Hörspielsendung das Mädchen im Drama und die Reaktion Borcherts auf ihre
Rolle: „[…] er hätte immer ihre Stimme im Ohr gehabt, als er das Mädchen
schrieb.“113
Als Trost und Ablenkung hat Borchert sich während der Soldatenzeit oft in
Krankenschwestern verliebt. Er schreibt an die Eltern: „[…] könnt ihr Euch das
vorstellen, ohne Waffe in den Wäldern und zwischen den Russen herumzulaufen.
Was war es für ein Geschenk plötzlich von einem deutschen Mädchen umsorgt zu
wissen.“114 Und in einem Brief an Hugo Sieker:
Furchtbar waren die Tage bei Toropez, wo ich als Melder nachts durch die
grauenhaften Wälder laufen mußte, furchtbar waren die Tage im
Seuchenlazarett, wo jede Nacht die Toten rausgetragen wurden – aber dann
war da auch so viel Schönes: - ein wundervoller Artzt, ein kleiner Flirt mit
dem Schwester – und dann ein paar unwirkliche, märchenhafte Tage mit
einem zarten russischen Mädchen – […]115
111
Borchert 1996, S. 174.
Vgl. Borchert 1956, S. 19.
113
Burgess 2007, S. 79.
114
Borchert 1996, S. 95.
115
Borchert 1996, S. 99.
112
23
Borchert fühlte sich an seiner Mutter stark gebunden, auch als junger Erwachsener.
Diese Fixierung an das Mutterbild führte ihn zu Liebschaften mit älteren Frauen
und er verehrte Frauen immer wieder in einem romantisch-stürmischen Rausch. In
den jungen Jahren aber war er wenig erfolgreich bei den Frauen und es blieb oft
bei einer einseitigen Liebe.116 In seiner Dichtung ist durchwegs zu erkennen: „Die
Klage über die Unfähigkeit zur Bindung. Die Abschiedstrauer, der
Trennungsschmerz und jener abrupte Entschluß zum Aufbruch, der den sich
ankündigen Enttäuschungen zuvorkommen möchte.“117Auch der „erotische
Landstreichertum“118 während der kurzen Theaterzeit mit dem Wandertheater
kann als Folge der starken Mutterbindung gesehen werden. Die Bindung zu seiner
Mutter machte es ihm außerdem schwierig überhaupt längere Verhältnisse
einzugehen und andere Männer auszukonkurrieren.
Borchert blieb sein Leben lang gefühlsmäßig ein Kind und konnte sich nie
wirklich von seiner Mutter loslösen.119 Borchert sagt zum Abenteuer Leben in dem
schon erwähnten Brief an seine Mutter anlässlich seines 25. Geburtstags: „Um das
Abenteuer dennoch durchzuhalten, suchte ich mir eine Mutter, 17jährige
manchmal, die eine Zeitlang tapfer neben mir aushielten. Aber immer nur: eine
Zeitlang.“120
Laut Rühmkorf hat Borchert im Drama seine Frauenprobleme als junger Mann
auch in diesem Drama reproduziert. Beckmann geht ins Wasser, weil seine Frau
einen anderen hat und die Beziehung zum Mädchen scheitert wegen eines anderen
Mannes.121
Beckmann ist auch dem Einbeinigen gegenüber der Schwächere. Er fühlt sich in
der Kleidung der Einbeinigen nicht wohl und „ersauft“122 fast in der Jacke des
Riesen, weil er dem nicht gewachsen fühlt. Am Ende der Szene flieht er aus dem
Zimmer des Mädchens.
116
Vgl. Rühmkorf 1961 S. 42.
Ebd., S. 43.
118
Ebd., S. 17.
119
Vgl. Ebd., S. 17f.
120
Borchert 1996, S. 176.
121
Vgl. Rühmkorf 1961, S. 45.
122
Borchert 1956, S. 17.
117
24
2.2.6
3. Szene
In der dritten Szene trifft Beckmann den Oberst und seine Familie. Beckmann will
die Verantwortung zurückgeben. Die Verantwortung für zwanzig Mann bei
Godorok, die er aber nicht alle heil wieder zurückbringen konnte. 123 Beckmann
leider darunter, dass er versagt hat. Schröder bezieht dies auf Borcherts Erfahrung
als Eingesperrter im Moabiter Gefängnis und er deutet folgende Zeilen von
Borchert als ein Scheitern: „Angesicht dieser ungeheuren Ereignissen schäme ich
mich tatsächlich wegen meiner Dummheiten hier untätig festzusitzen und eine
Menge Leute meinetwegen in Arbeit zu halten.“124
Der Oberst steht für die opportunistisch-materialistische Bürgerlichkeit, in der sich
Beckmann überhaupt nicht zurechtfinden kann. Er findet den Weg zurück in die
bürgerliche Geborgenheit nicht, weil er sein Unglück und Unfähigkeit sich zu
binden und sesshaft werden nicht mit den Attributen dieser Welt verbinden kann.
Rühmkorf schreibt über Beckmann: “Praktisch liegt nämlich jetzt bereits fest, was
einmal dem Heimkehrer Beckmann den Einstieg in die bürgerliche Geborgenheit
verwehrt: die vollkommene Unfähigkeit, Glück und Bindung, inneren Frieden und
Seßhaftigkeit miteinander ins Einvernehmen zu bringen.“ 125 Borchert selber wollte
das bürgerliche Leben seiner Eltern nicht und sehnte sich immer nach Freiheit und
einem künstlerischen Leben.
Das Lachen des Obersten könnte eine tiefere Bedeutung haben. Borchert war ein
versteckter Komödiant und Narr. Während seiner Krankheit blieb er ein Optimist
und war immer bemüht eine fröhliche und lustige Fassade aufrechtzuhalten.
Burgess meint: „Was Borchert nie verloren hatte, war sein Sinn für Humor und die
Fähigkeit, andere auch unter den ungünstigsten Verhältnissen an der Front zum
Lachen zum bringen […].“ 126 Sein Lachen war aber zweideutig und es war ein
dunkles Lachen, „ein Lachen aus dem Erschrecken“.127 Borchert selber dazu: „Ich
versuche immer, alles durch Lachen zu besiegen, wenn ich auch oft viel lieber
123
Vgl. Borchert 1956, S. 25.
Schröder 1985, S. 237.
125
Vgl. ebd., S. 44.
126
Burgess 2007, S. 134.
127
Ebd., S. 61.
124
25
weinen möchte.“128 Bernhard Meyer-Marwitz, Kulturredakteur, Verleger und
vertrauter Freund, beschreibt Borchert wie folgt:
‚Ein Jahr besuchte ich ihn fast Tag um Tag. Ich wusste, dass sein
Körper oft wie unter einer Folter krümmte, dass sein Rücken kaum
den Druck einer stützenden Hand ertrug, dass seine geschwollene
Leber ihm den Atem abschnürte und das Herz im Angstkrampf
zusammenpresste. (…) Trotzdem sprühte er oft von Heiterkeit und
Witz‘129
Der Oberst fasst Beckmanns Ernst für eine „närrisches Spiel“130 auf und meint:
„[…] mein Lieber! Ich glaube beinahe, Sie sind ein Schelm, was? (Er lacht)
Köstlich, Mann, ganz köstlich! Sie haben wirklich den Bogen raus! Nein, dieser
abgründige Humor! […]“131
2.2.7
4. Szene
In dieser Szene wird die Thematik der Wahrheit in der Dichtung aufgegriffen. Der
Direktor meint: „Junge Menschen brauchen wir, eine Generation, die die Welt
sieht und liebt, wie sie ist. Die die Wahrheit hochhält […].“132 Nach dem
Beckmann aber sein Lied vorgetragen hat ändert der Direktor seine Meinung und
meint: „Wo kämen wir hin, wenn alle Leute plötzlich die Wahrheit sagen
wollten!“.133 Der Direktor hat die Wahrheit betrogen.
Borchert war schon früh davon überzeugt, dass die Wahrheit gezeigt werden muss
und dass der Schriftsteller sich einfach und entschieden ausdrücken soll, um seinen
momentanen Gedanken auch beim Leser zu wecken.134 Der Inhalt von Borcherts
Wahrheitsbegriff ist laut Rühmkorf als „die persönliche Enttäuschung“, „die
128
Schröder 1985, S. 114.
Poppe 2003, S. 39, vgl. Burgess 2007, S. 29.
130
Schröder 1985., S. 75.
131
Borchert 1956, S. 26.
132
Ebd., S. 29.
133
Borchert 1956., S. 33.
134
Vgl. Rühmkorf 1961, S. 40.
129
26
eigene Zwiespältigkeit“ und „den unüberbrückbaren Gegensatz von Ich und Welt,
Subjekt und Wirklichkeit“ zu verstehen.135
Laut Wolff ist in dieser Szene auch Selbstkritik zu erkennen. Er schreibt in seiner
Magisterarbeit: „Borchert spielte nach seiner Rückkehr in Hamburg selber
Kabarett einfachster Art. Auch er bediente den Massengeschmack, war (noch)
nicht bereit, sich mit der bitteren Wahrheit einzulassen, auch er wollte lieber mit
heiterem Spiel verdrängen.“136
2.2.8
5. Szene
Auf der Suche nach seinem zu Hause, trifft Beckmann in der letzten Szene auf
Frau Kramer. Sie nennt im Gespräch die Stadtteile Ohlsdorf, Fuhlsbüttel und
Alsterdorf, die im Nordosten von Hamburg liegen.137
Borchert war, nach der Geschichte mit dem Denunzianten Kramer und einem
Zwischenauftenthalt in Stadtteil Winterhude, mit seinen Eltern nach Alsterdorf
gezogen, in die Carl-Cohn-Straße 80.138 Ohlsdorf war bekannt für die
Massengräber nach der Zerstörung von Hamburg in Juli 1943.139
Die Wohung der Eltern war unbeschadet den Bomben entgangen. 140 Genauso das
Haus der Eltern von Beckmann: „[…] Der Krieg ist an dieser Tür vorbeigegangen.
Er hat sie nicht eingeschlagen und nicht aus den Angeln gerissen. Unsere Tür hat
er stehen lassen, zufällig, aus Versehen. […]“141
In dieser letzten Szene begegnet schließlich Beckmann in einem Traum,
diejenigen, die ihm immer wieder Richtung Elbe getrieben hatten. Er sucht immer
noch Antworten aber der „Andere“ als Jasager und „mutspendende Stimme“142 ist
verschwunden und Beckmann bekommt keine Antworten mehr. Borchert hat
135
Rühmkorf 1961, S. 46.
Wolff, Jan-Geert (1999). Die Aufarbeitung der Kriegserlebnisses im Werk Wolfgang Borcherts,
S. 48.
137
Vgl. Borchert 1956, S. 36.
138
Vgl. Schröder 1985, S. 93.
139
Vgl. ebd., S. 218f.
140
Vgl. Schröder 1985., S. 219.
141
Borchert 1956, S. 35.
142
König 2007, S. 30.
136
27
selber nach Antwort gesucht. Antwort nach dem Sinn des Lebens und der Welt,
Antwort auf die Frage wo Gott und die Liebe ist.143 Borchert hat immer wieder
nach dem Absoluten, der Verantwortung, den Schuldigen, nach dem Menschen
gesucht.144 Er schreibt an den Hamburger Oberbaurat:
Beckmann geht am Ende nicht in die Elbe. Er schreit nach Antwort. Er
fragt nach Gott! Er fragt nach der Liebe! Er fragt nach dem Nebenmann! Er
fragt nach dem Sinn des Lebens nach dieser Welt! Und er bekommt keine
Antwort. Es gibt keine. Das Leben selber ist die Antwort. Oder wissen sie
eine?
3
145
Diskussion
Beckmann ist nicht Borchert, auch wenn man eine Selbstbiographie oder
zumindest eine Verarbeitung der Kriegserlebnisse in seinem Werk Draußen vor
der Tür vermuten möchte, allein wegen der Tatsache, dass Wolfgang Borchert
selber Soldat in Russland war und dass sein Werk ein Drama über einen
Kriegsheimkehrer ist.
Zwar sind beide Soldaten im zweiten Weltkrieg gewesen aber Beckmann war in
Gefangenschaft geraten, der Borchert erfolgreich entflohen war. Beckmann, der
nicht lachen kann aber für ein Narr gehalten wird, ist unfähig sich in die
bürgerliche Nachkriegszeit einzuordnen, er fühlt sich fremd und findet keinen
Halt. Borchert dagegen, sehr wohl zum Lachen fähig, hatte sich nach dem Krieg
sehr gut wieder in die Gesellschaft einordnen können. Außerdem hatte Borchert
ein Zuhause, zu dem er zurückkehren konnte, was dem Beckmann versagt wird.
Der Optimist Borchert, der, im Gegensatz zu Beckmann, Schwierigkeiten im
Leben mit einem Lachen abtat, hat doch einige Wesenszüge mit Beckmann
gemeinsam. Sie sind im gleichen Alter und beide sind in gewisser Hinsicht
Außenseiter. Das Kind in Borchert kann man auch bei Beckmann sehen. Borchert
143
Vgl. Rühmkorf 1961, S. 67.
Vgl. ebd., S. 142.
145
Borchert 1996, S. 195.
144
28
fühlt sich sein ganzes Leben an seiner Mutter gebunden und das Kind Beckmann
sucht Zuflucht in der Elbe, im Tod. Beide sind außerdem Personen, die deren
Existenz und einen vermeintlichen Gott in Frage stellen.
Ein Wesenszug bei Beckmann ist besonders deutlich als Borcherts zu erkennen.
Das ist die Zwiespältigkeit, dass im Drama durch den Anderen zu erkennen ist.
Borchert zeigte, auch in Zeiten von Gefangenschaft und Krankheit, nach außen
den Optimistischen und Lachenden, obwohl ihm oft ganz anders zumute war.
Beckmann zeigt sich umgekehrt, nach außen todessüchtig aber im inneren
lebensbejahend. Das Ende wiederspiegelt doch die optimistische Haltung
Borcherts: Beckmann entscheidet sich für das Leben.
Auch deutlich zu erkennen, sind die persönliche Erfahrungen Borcherts, die im
Drama eingearbeitet sind. Nicht nur Erfahrungen aus dem Krieg, sondern, und im
größeren Ausmaß, Erfahrungen aus seiner Jugend. Als Beispiele kann hier ganz
Konkret die Namensvorlagen des Protagonisten Beckmann und der Frau Kramer.
Weniger Konkret, aber doch vorhanden, seine Erfahrungen als junger Mann im
Verhältnis zu Frauen. Borchert sehnte sich sein ganzes Leben nach Bindung um
gleichzeitig davor zu flüchten und Beckmann flüchtet bei geringstem Wiederstand
von der Wohnung des Mädchens. Hier sind sowohl bei Borchert als auch bei
Beckmann Bindungssucht und Bindungsfeindlichkeit vorhanden.
Auch die gewählten Kulissen, wie etwa das Kabarett, die Elbe, das Haus der
Eltern, und gewählte Ortsnamen, wie Ohlsdorf, Alsterdorf und Smolensk sind
direkt aus Borcherts Leben entnommen.
Der Ort Smolensk lässt sich auf seiner eigenen Stationierung dort zurückführen.
Der Name Gorodok taucht in den Biographien über Borchert nicht auf, aber es ist
nicht ganz unwahrscheinlich, dass Borchert von dem Ort hörte oder dass er sogar
dort gewesen war in der Zeit an der Ostfront. In der Anlage ist zu erkennen wie die
Orte Witebsk, wo Borchert stationiert war, und Gorodok nur in etwa 40 km
Entfernung von einander liegen.
29
Während des Krieges, aber auch in der Nachkriegszeit, hat Borchert die Erfahrung
des Hungerns und des Frierens gemacht. Genau diese Wörter, Frieren und
Hungern hat Borchert wiederholt im Drama benutzt, was darauf deutet, dass diese
Erfahrungen so tiefe Spuren hinterlassen hatte, dass er sie im Drama deutlich
ausgesprechen wollte. Man kann auch seine persönliche Haltung zum Krieg
ablesen indem das Drama als ein Protest gegen Krieg aufzufassen ist.
Borchert hat die Elbe und Blankenese bei Hamburg als Ort für das Drama gewählt.
Hamburg, die Stadt in der Borchert aufgewachsen war, lag ihm nach dem Krieg
sehr am Herzen und er schreib schon vor dem Entstehen des Dramas mehrere
Gedichte über seine Heimatstadt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Borchert aus
persönlichen Gründen Hamburg als Ort für das Drama, und so auch als Heimat für
Beckmann, wählte.
Es ist auch wahrscheinlich, dass Borchert Beckmanns Besuch beim Direktor des
Kabaretts deswegen stattfinden lässt, weil er selber ein begeisterter Schauspieler
war, wenn auch kein hervorragender, was auch wiederum bei Beckmann der Fall
ist. Auch war es Borchert nach dem Krieg sehr bewusst, dass heitere Literatur
nachgefragt war, was er im Drama, zwar nicht Beckmann, aber den Direktor
betonen ließ.
Die Beschreibung der Eltern von Beckmann läßt sich wahrscheinlich auch auf
Borcherts Eltern überführen, muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass er sich
bewußt seine Eltern als Vorlage bedient hatte. Genauso verhält es sich mit seinem
einbeinigen Onkel.
Auch wenn Borchert gibt seine Erfahrungen vom Krieg nicht eins zu eins wiedert,
er schrieb überhaupt sehr sparsam über seine Kriegserfahrungen, auch in seinen
Briefen, kann man doch erkennen, dass er seine Kriegserfahrungen zum Teil als
Vorlage genommen hatte und dass es selbstbiographische Bestandteile gibt mit
eindeutiger Bezug in einigen Fällen und naheliegender Bezug in anderen.
30
4 Literaturverzeichnis
4.1
Primärliteratur
Borchert, Wolfgang. (1956): Draußen vor der Tür. Auflage 2008, Rohwolt
Verlags GmbH, Reinbeck.
4.2
Sekundärliteratur
Borchert, Wolfgang (1996): Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Rowohlt
Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg.
Burgess, Gordon (2007): Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. Aufbau
Verlagsgruppe GmbH, Berlin.
Packalén, Sture (2002): Literatur und Leben. Liber AB, Stockholm
Poppe, Reiner (2003): Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür. Königs
Erläuterungen und Materialien. Bange Verlag, Hollfeld.
Rühmkorf, Peter (1961): Wolfgang Borchert. Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Hamburg.
Schröder, Claus B. (1985): Wolfgang Borchert. Die wichtigste Stimme der
deutschen Nachkriegsliteratur. Ernst Kabel Verlag GmbH, Hamburg
Wolff, Jan-Geert (1999): Die Aufarbeitung des Kriegserlebnisses im Werk
Wolfgang Borcherts. Magisterarbeit. Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
www.schuelerlexikon.de (12.04.2013), Suchwort: Trümmerliteratur
www.literaturwelt.com (12.04.2013), Suchwort: Trümmerliteratur
http://www.rowohlt.de/buch/Wolfgang_Borchert_Draussen_vor_der_Tuer.2381.ht
ml (24.06.2013)
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