Borchert und Beckmann
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Borchert und Beckmann
Examensarbete Kandidatuppsats Borchert und Beckmann Biographische Berührungspunkte Wolfgang Borcherts in seinem Drama Draußen vor der Tür Examensarbete nr: Författare: Maria Leire Heim Handledare: Anneli Fjordevik Examinator: Maren Eckart Ämne/huvudområde: Tyska Poäng:15 Betygsdatum: Högskolan Dalarna 791 88 Falun Sweden Tel 023-77 80 00 Inhalt 1 2 Einleitung ....................................................................................................................2 1.1 Hintergrund .........................................................................................................2 1.2 Wolfgang Borchert ..............................................................................................2 1.3 Draußen vor der Tür ............................................................................................4 1.4 Trümmerliteratur ................................................................................................5 1.5 Ziel, Methode und Abgrenzungen .......................................................................5 1.6 Forschungsstand .................................................................................................6 Untersuchung ..............................................................................................................7 2.1 Borchert und sein Leben .....................................................................................7 2.1.1 Die Eltern .....................................................................................................7 2.1.2 Jugend .........................................................................................................9 2.1.3 Borchert als Schauspieler ..........................................................................10 2.1.4 Wehrdienst ................................................................................................11 2.1.5 Die Ostfront in Russland ............................................................................11 2.1.6 Der gezeichnete Soldat ..............................................................................13 2.1.7 Hamburg ....................................................................................................14 2.1.8 Nachkriegszeit ...........................................................................................15 2.2 Draußen vor der Tür ..........................................................................................15 2.2.1 Übergreifende Berührungspunkte im Drama ............................................16 2.2.2 Vorspiel .....................................................................................................19 2.2.3 Der Traum .................................................................................................21 2.2.4 1. Szene .....................................................................................................22 2.2.5 2. Szene .....................................................................................................23 2.2.6 3. Szene .....................................................................................................25 2.2.7 4. Szene .....................................................................................................26 2.2.8 5. Szene .....................................................................................................27 3 Diskussion .................................................................................................................28 4 Literaturverzeichnis ...................................................................................................31 4.1 Primärliteratur...................................................................................................31 4.2 Sekundärliteratur ..............................................................................................31 1 1.1 Einleitung Hintergrund Wolfgang Borchert wurde 1921 in Hamburg geboren. Der erste Weltkrieg war zu Ende, aber dessen Auswirkungen waren noch überall spürbar. Es wuchs auf in einer Zeit zwischen den Kriegen, die von Inflation, Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Aufrüstung und somit von Einschränkungen und Entbehrungen geprägt war. Als der Zweite Weltkrieg anfing, war Wolfgang Borchert 18 Jahre alt und zwei Jahre später wurde er an der Ostfront eingesetzt. Von Juni 1941 bis April 1945 war er Soldat1. In seinem Drama Draußen vor der Tür, das Borchert einige Monate vor seinem Tod im Jahre 1947 schrieb, geht es um einen Soldaten, Beckmann, der nach 3 Jahren Gefangenschaft in Sibirien in seine zertrümmerte Heimat zurückkehrt. Das Drama zählt zur Trümmerliteratur und wird als ein Protestschrei gegen den Krieg gesehen.2 1.2 Wolfgang Borchert Borcherts Vater, Fritz Borchert, war Volkschullehrer und seine Mutter, Hertha Borchert, eine plattdeutsche Heimatschriftstellerin. Die Familie galt als kulturell aufgeschlossen und sie war zum damaligen Regime kritisch eingestellt.3 Theater und Literatur spielte eine große Rolle und seine Eltern hielten sich, so weit möglich war, vom Politischen fern.4 Borchert wurde konfirmiert, trat aber später aus der Kirche aus. Er schrieb schon in jungen Jahren Gedichte nach Vorbildern wie Rainer Maria Rilke und Friedrich Hölderlin. Sein erstes Drama, eine Tragödie in 5 Aufzügen, schrieb er mit 17 Jahren. Er nannte es Yorick der Narr! und es ist eine Variation von Shakespeares Hamlet. Mit 18 schrieb er die Komödie Käse und das Theaterstück Granvella. Der schwarze Cardinal. Er wusste aber schon jetzt, dass er Schauspieler werden möchte und nahm neben einer Buchhändlerlehre Schauspielunterricht.5 1 Vgl. Borchert, Wolfgang. (1996): Allein mit meinem Schatten und dem Mond, S. 19. Vgl. www.rohwolt.de 3 Vgl. Burgess, G. (2007): Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück, S. 15ff. 4 Vgl. ebd. 2007, S. 29ff. 5 Vgl. ebd. 2007, S. 33ff. 2 2 Er besaß schon von jung auf einen Drang zu Mitteilung und Selbstdarstellung. Er meinte: „Noch ist es nicht meine Aufgabe, der Menschheit etwas zu sagen – nein, erstmal dichte ich mir mein eigenes, inneres Kämpfen und Erleben – ich muss es gleichsam loswerden!“6 Bei der täglichen Arbeit in der Buchhandlung hatte Borchert Zugang zu einer großen Auswahl von Literatur. Auch zu der verbotenen expressionistischen Literatur. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnete er sich selber als Expressionist und verstand darunter: „Den Mut und Willen zum Chaos zu haben!“.7 1941 machte er sein Schauspielerexamen und wurde als Schauspieler an der Landesbühne Ost-Hannover engagiert. Die begonnene Schauspielkarriere wurde aber durch den Kriegsdienst unterbrochen. Zwischen 1941 und 1945 war er Soldat und wurde drei Male an die Front beordert, zweimal an die Ostfront nach Russland und einmal an die Westfront. Er erkrankte im Krieg an Diphtherie und Gelbsucht und zog sich im russischen Wald Erfrierungen und eine Schussverletzung zu.8 Wegen der Schussverletzung, Heimtücke, d.h. Angriffe auf Staat und Partei, und Zersetzung der Wehrkraft aufgrund einer Parodie an Goebbels wurde Borchert mehrere Male verhaftet, inhaftiert und zu Freiheitsstrafen bzw. Frontbewährung verurteilt.9 In der Nachkriegszeit litt er an den Fußverletzungen und, aufgrund seiner Leberschädigung, an Gelbsucht. Borchert versuchte dennoch erneut als Schauspieler bei der Theater- und Kabarettszene Hamburgs zu arbeiten. Ab Oktober 1945 machten ihn Fieberanfälle aber immer öfter bettlägerig und er musste schließlich ins Krankenhaus, von wo er als unheilbar entlassen wurde. Von jetzt an war er bettlägerig und pflegebedürftig. Während dieser Zeit schrieb er Kurzgeschichten und das Drama Draußen vor der Tür. 1947 fuhr er zu einer Kuraufenthalt in die Schweiz. Auf der Reise verschlechterte sich aber sein Gesundheitszustand und er starb in Basel im November 1947. Am nächsten Tag 6 Borchert 1996., S. 43. Ebd. 1996, S. 42. 8 Burgess 2007, S. 77ff. 9 Vgl. Burgess 2007, S. 97ff. 7 3 fand die Uraufführung von seinem Drama Draußen vor der Tür in den Hamburger Kammerspielen statt.10 1.3 Draußen vor der Tür Draußen vor der Tür ist ein expressionistisches Stationendrama in 5 Szenen und mit einer Vorbemerkung und einer zweifachen Einleitung. Es wurde als ein „Zeitund Gegenwartsstück“11 bezeichnet, weil es von den Einordungsschwierigkeiten eines Heimkehrers aus dem Zweiten Weltkrieg handelt. Der Untertitel lautet: Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Borchert hat diesen Untertitel gewählt, weil ihm bewusst war, dass „das Stück sich dem kollektiven Wunsch nach Verdrängung entgegenstellte.“12 Der Ort des Dramas ist Hamburg, Stadtteil Blankenese, am Ufer der Elbe und es spielt an einem einzigen Abend. Das Drama handelt von dem Soldaten Beckmann, der nach 3-jähriger Gefangenschaft in Russland wieder nach Deutschland kommt. Ein Versuch von Beckmann, durch das Springen in die Elbe sich das Leben zu nehmen, scheitert und seine innere Stimme, der „Andere“, der Jasager, sein Alter Ego versucht, immer wieder, bis zum Ende des Dramas, Beckmann von seinen Selbstmordgedanken wegzubringen. Der „Andere“ fordert Beckmann auf, weiterzuleben und verschiedene Orte aufzusuchen. Dabei begegnet er einem Mädchen, dem Einbeinigen, einem Oberst, einem Direktor eines Kabaretts und Frau Kramer. Überall aber stößt Beckmann auf Ablehnung und Unverständnis und in einem Traum in der letzten Szene resümiert er, dass alle, denen er begegnet ist, ihm die Tür zugeschlagen haben. Er möchte jetzt die Antwort auf die Frage ob er nicht doch ein Recht auf Selbstmord hat, aber der „Andere“ antwortet nicht. Er ist nicht mehr da. Beckmann ist nun allein gelassen mit seinen „Erinnerungen und schweren Träumen, mit seinen Qualen und der ganzen Hoffnungslosigkeit“.13 10 Vgl. Burgess 2007, S. 151ff. Rühmkorf (1961) : Wolfgang Borchert. Auflage 2007, S. 146. 12 Borchert 1996, S. 15. 13 Poppe (2003): Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür, S. 30. 11 4 1.4 Trümmerliteratur Nachkriegsliteratur, oder Kahlschlags- bzw. Trümmerliteratur wurde zwischen 1945 und 1950 geschrieben. Es war die junge Schriftstellergeneration in der Westzone, die von ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, dem Krieg, dem Leben in Trümmern schrieb.14 Die Themen dieser Literatur sind demnach Krieg, Tod, Untergang, Gefangenschaft, Trümmer, Heimkehr und Überlebungskampf. Die Texte haben ein persönliches Aussehen und wurden aus der Sicht der kleinen Leute geschrieben. Für die damaligen Leser hatten sie einen hohen Wiedererkennungswert, weil sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzten. Unter Kahlschlag wurde oft auch die Reinigung der deutschen Sprache von den nationalsozialistischen Ideologien verstanden und das Wort Trümmer stand für zerstörte Ideale und Utopien.15 In dieser Zeit, nach dem Krieg, spielten Theater und Kurzgeschichten eine große Rolle und die Texte sind durch Knappheit in der Form gekennzeichnet.16 Gründe dafür waren der vorherrschende Papiermangel und das Vorbild in den amerikanischen Short Stories. Borcherts Drama Draußen vor der Tür ist das wichtigste Beispiel für die Trümmerliteratur17 und eins der wenigen Dramen, das in der Nachkriegszeit großes Publikum fand.18 Borchert selber meinte demütig: „Daß eine Reihe von Bühnen mein Stück auffuhrt, ist reine Verlegenheit – was sollen sie sonst tun? […] Denn mein Stück ist nur ein Plakat, morgen sieht es keiner mehr an.“.19 1.5 Ziel, Methode und Abgrenzungen Mit Wolfgang Borcherts Lebensgeschichte und dem Inhalt seines Lebens als Hintergrund entsteht die Frage, welche biographischen Berührungspunkte sich in Borcherts Drama Draußen vor der Tür finden lassen? Welche persönlichen Erlebnisse, Erfahrungen, Eigenschaften und Werte werden in seinem Drama widergespiegelt oder zum Ausdruck gebracht? 14 Vgl. Schuelerlexikon. Vgl. Literaturwelt. 16 Vgl. Schuelerlexikon. 17 Vgl. Packalén, Sture. (2002): Literatur und Leben, S. 195. 18 Vgl. Literaturwelt. 19 Borchert 1996, S. 234. 15 5 Das Ziel der Analyse ist also Inhalte in seinem Drama zu finden, die gegebenenfalls auf Lebenserfahrungen und Lebenseinstellungen von Borchert beruhen. Um die o.g. Fragen beantworten zu können habe ich neben der Primärliteratur Biographien über Borchert benutzt, um über sein Leben möglichst viel zu erfahren. Ich bin vorzüglich positivistisch vorgegangen und der Autor und sein Leben stehen im Mittelpunkt der Analyse. Beim Einlesen in die Primärliteratur habe ich mich fortlaufend gefragt, welche persönliche Lebenserfahrung ihm zum entsprechenden Inhalt bewogen hat. Ich habe die Thematik von zwei Seiten analysiert. Einmal ausgehend von Borcherts Leben und einmal ausgehend von seinem Drama, also vom Werk Draußen vor der Tür und von den einzelnen Szenen. Ich habe mich auf Borchert selber und auf Daten aus seinem Leben konzentriert und habe deswegen mich bemüht möglichst mit Daten aus erster Quelle zu arbeiten, d.h. mit Briefen und Dokumenten von Borchert selber geschrieben. Ich werde in dieser Arbeit jedoch keine psychoanalytische Analyse machen, obwohl ich bei der Analyse vom Werk ausgehend mich etwas mehr mit Wolfgangs Wesen beschäftigt habe. Ich bin auch nicht auf gesellschaftliche Faktoren näher eingegangen. Ich schreibe durchgängig Russland statt der Sowjetunion oder die UdSSR, die vom 1922 bis 1991 bestand, aus dem Grund, dass Borchert selbst immer Russland schrieb. 1.6 Forschungsstand Es gibt einige Bücher und viele Artikel über Wolfgang Borchert und sein Leben und Werk. Unter anderem die Biographien, womit ich gearbeitet habe, d.h. Wolfgang Borchert, Ich glaube an mein Glück von Gordon Burgess, Wolfgang Borchert von Peter Rühmkorf und Wolfgang Borchert, Die wichtigste Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur von Claus B. Schröder. Ich habe auch mit dem Buch Allein mit meinem Schatten und dem Mond, wo einige seiner Briefe und Dokumente gesammelt sind, gearbeitet. 6 Auf der Internetseite von der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft e.V. ist Literatur über Borchert von 1989 bis 2011 gelistet und diese Liste beinhaltet ca. 220 Publikationen, sowohl Artikel als auch Bücher. Ich habe keine Forschung, die meine Fragestellung genau berührt, und ich habe nur eine Publikation, die meine Thematik tangiert, gefunden. Diese Publikation ist eine Magisterarbeit mit dem Titel Die Aufarbeitung des Kriegserlebnisses in Werk Wolfgang Borcherts von Jan-Geert Wolff. Da es in dieser Publikation gewisse Überschneidungen mit meiner Fragestellung gibt, habe ich sie auch als Sekundärliteratur benutzt. 2 Untersuchung 2.1 2.1.1 Borchert und sein Leben Die Eltern Wolfgang Borchert hatte ein sehr enges Verhältnis zu seinen Eltern und oft wurde das Elternhaus in Zeiten von Armut und Krankheit sein einziger Zufluchtsort. Zu seinem Vater hatte Borchert ein unklares Verhältnis, er wurde aber sein engster Vertrauter in seiner produktiven Zeit vor seinem Tod20. Sein Vater war, seit dem Ersten Weltkrieg, ein kränkelnder und anfälliger Mensch. Er litt an einem überempfindlichen Magen, an einem schwachen Herzen und an einer Schilddrüsenstörung, teilweise so schlimm, dass er seinen Beruf nicht nachgehen konnte und das Studium in Geschichte und Philosophie aufgeben musste.21 Auch hatte er schlechte Augen und wurde deswegen als dienstuntauglich eingestuft und erstmals aus dem Militär entlassen (auch wenn er später im ersten Weltkrieg trotz angeschlagener Gesundheit als Sanitäter Dienst leisten muss).22 Auch der Vater von Beckmann wird als ein kränkelnder Mensch dargestellt. Borchert schreibt: „Nur dass mein Vater den Husten hatte. Aber den hatte er immer.“23 Im Drama ist es aber Beckmann selber derjenige der schlecht sieht. Als das Mädchen ihm in der 2. Szene die Brille abnimmt sagt Beckmann: „Ohne Brille 20 Vgl. Poppe 2003, S. 26. Vgl. Rühmkorf, P. (1961), S. 9, Burgess 2007, S. 21, vgl. Schröder, Claus B. (1985): Wolfgang Borchert. Die wichtigste Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur, S. 38. 22 Vgl. Burgess 2007, S. 18, vgl. Schröder 1985, S. 37. 23 Borchert 1956., S. 36. 21 7 bin ich rettungslos verloren“ und an einer anderen Stelle: „Jetzt sehe ich alles nur noch ganz verschwommen.“24 Zu seiner strengen Mutter hatte Borchert eine noch stärkere Bindung als zu seinem Vater. In Borcherts Texten wird das Wort Mutter oft benutzt als Ausdruck für eine mütterliche Sehnsucht, bedingt durch sein ambivalentes Verhältnis zu seiner Mutter.25 Da seine Mutter labil und sensibel war, suchte Borchert oft woanders nach einer Mutter und nach Halt und Bindung.26 In einem Brief an seine Mutter anlässlich seines eigenen Geburtstags steht es: „Ich komme kein Jahr und keinen Herzschlag ohne Mutter aus – ich nicht, Du nicht, keiner. Und selbst in den Zeiten, wo 2000 Kilometer zwischen uns lagen, fühlte ich den Riß der Nabelschnur.“27 Borchert wurde auch von seiner Mutter eine Zeitlang zuhause Tag und Nacht gepflegt und sie war zugleich Hausfrau und Krankenschwester bis zu dem Ausmaß, dass sie zusammengeklappte.28 In Draußen vor der Tür steht auch die Mutter Beckmanns mehr im Zentrum als der Vater. Der Protagonist Beckmann sehnt sich nach seinem Elternhaus und sagt: „Mein Gott! Nach Hause! Ja, ich will nach Hause. Ich will zu meiner Mutter! Ich will endlich zu meiner Mutter!!! Zu meiner –„29 Beckmann findet aber seine Eltern tot, sie haben sich das Leben genommen. Im Drama übernehmen deswegen auch andere Figuren die Rolle der Eltern. Die Elbe übernimmt die Rolle der Mutter und nennt Beckmann „mein Junge“, „mein Sohn“ und „kleiner Menschensohn“.30 Auch das Mädchen in der ersten Szene darf für eine kurze Zeit diese Rolle übernehmen. Der Gott im Vorspiel übernimmt die Vaterrolle und ruft immer wieder; „Kinder“ oder „meine Kinder“.31 24 Borchert 1956, S. 16. Vgl. Schröder 1985, S. 45ff. 26 Vgl. ebd. 1985, S 146f. 27 Borchert 1996, S. 176. 28 Vgl. ebd., S. 196, 213. 29 Borchert 1956, S. 34. 30 Ebd., S. 11, 12. 31 Borchert 1956., S. 10. 25 8 Wie schon erwähnt war die Familie Borchert nicht politisch engagiert, aber aufgrund seines Berufes als Lehrer musste Borcherts Vater Parteimitglied werden. Das wurde von Borchert in Frage gestellt. „In heftigen Diskussionen verlangte Wolfgang von seinem Vater, offen gegen das Regime zu protestieren.“, so Burgess.32 Obwohl Borchert kein politisch denkender Mensch war, verließ er die Hitlerjugend nach kurzer Zeit.33 Laut Schröder hasst Borchert die Nazis, „er nennt sie >Schweine<“34 Der Vater Beckmanns war Nationalsozialist, was die Frau Krämer in der 5. Szene zu verstehen lässt als sie über den Vater von Beckmann erzählt wie er sich im Dritten Reich „verausgabt“ hat und wie er sich „selbst endgültig entnazifiziert“ hat.35 2.1.2 Jugend Wolfgangs Mutter war zur Zeit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bereits eine etablierte plattdeutsche Schriftstellerin. Ihre Geschichten wurden in Monatsheften und Zeitungen gedruckt und sie wurde eingeladen, um ihre Geschichten vorzulesen, auch im Radio. 1934 wurde sie aber von einem Nachbar und Konkurrenten, der auch plattdeutsche Texte schrieb, denunziert mit dem Vorwurf, sie sei eine Staatsfeindin. Der Denunziant hieß Kramer.36 Borchert verwendet den Namen Kramer in seinem Drama für die Familie, die das Haus von Beckmanns Eltern übernommen hatte nach deren Tod. Burgess schreibt dazu: „Den Namen Kramer verewigte Wolfgang Borchert in der Figur von Frau Kramer, ‚die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar‘, in Draußen vor der Tür.“37 Borchert soll kurz vor dem Anfangen mit der Arbeit gesagt haben, dass nun mit Kramer abgerechnet wird.38 32 Burgess 2007, S. 40. Vgl. Schröder 1985, S. 60, 145. 34 Ebd. 1985, S. 128. 35 Borchert 1956, S. 37. 36 Vgl. Burgess, G. (2007): Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. S. 28ff. 37 Burgess 2007, S. 39. 38 Vgl. Burgess 2007, S. 200. 33 9 Borcherts Onkel, der Bruder seiner Mutter, hatte im ersten Weltkrieg ein Bein verloren und trug deswegen eine Prothese.39 Im Drama macht Beckmann seine Kriegsverletzung am Knie Schwierigkeiten und er sagt zum Mädchen als er am Ufer der Elbe liegt: „[…] Mir haben sie die Kniescheibe gestohlen. In Rußland. Und nun muß ich mit einem steifen Bein durch das Leben hinken.”40 Aber auch der Mann des Mädchens in der 2. Szene kommt als Einbeiniger wieder zurück. Im Augenblick bevor der Einbeinige durch Tür kommt sagt Beckmann; „[…]Er kommt immer näher, der Riese, mit einem Bein und zwei Krücken.“ 41 2.1.3 Borchert als Schauspieler Im Januar 1941 bestand Borchert sein Abschlussexamen der Schauspielausbildung und kurz darauf bekam er eine Anstellung an der Landesbühne Ost-Hannover. Die reisende Theatergesellschaft zog durch die Provinz und spielte Abend für Abend in verschiedenen Orten Volkstheater. Borchert bekam Nebenrollen oder spielte als Ersatz für einberufene oder gefallene Schauspieler.42 In den Medien war die Kritik nachsichtig und er wurde als sympathisch elegante Erscheinung, die mit angenehmer Zurückhaltung spielt, beschrieben.43 Sein eigenes Urteil war negativer und er hielt sich für unfähig. In einem Brief an eine Freundin schrieb Borchert: „Allen Menschen sagen immer von mir, ich wäre kalt, hart und ohne Gefühl! Wüstenhagen meinte sogar, als ich den Romeo sprach, das wäre wohl eher ein Mephisto.“44 Und in einem Brief an den Freund und Kollegen Werner Lüning schreibt Borchert: […] mußte ich mir auf den ersten Proben sagen lassen, ich hätte lieber Schlosser werden sollen und spielte statt meiner Klassiker: den Lehrer in >Krach um Jolanthe<. Furchtbarer Krach nicht nur um Jolanthe, sondern auch um meine Unfähigkeit. Selbstmordgedanken auf der Generalprobe. 39 Vgl. Burgess 2007, S. 130. Borchert 1956, S. 15. 41 Ebd., S. 18. 42 Vgl. Burgess 2007, S. 86f. 43 Vgl. Rühmkorf 1961, S. 48. 44 Borchert 1996, S. 35, Karl Wüstenhagen war Intendant des Deutschen Schauspielhauses Hamburg 1932-1945. 40 10 Premiere: Lacher über Lacher und tragischerweise immer da, wo ich ganz ernst war und wo mir jeglicher Sinn für Komik abhanden gekommen war. 45 Im Drama trifft Beckmann in der 4. Szene den Direktor des Kabaretts. Nachdem Beckmann vorgesungen hat, fällt das Urteil des Direktors über die Aufführung eher negativ aus. Der Direktor sagt u.a.: „Ja, aber Kunst muß reifen. Ihr Vortrag ist noch ohne Eleganz und Erfahrung. Das ist alles zu grau, zu nackt. Sie machen mir ja das Publikum böse.“46 2.1.4 Wehrdienst Anfang Juni 1941 fing Borchert in der Kaserne Weimar-Lützendorf seine Grundausbildung zu Funker an, die 3 Monate andauerte. Er war zutiefst unglücklich über den Verlust seiner Freiheit. Er war schon von klein an ein Außenseiter und konnte sich nur schwer in Gruppen und Gemeinschaften einordnen.47 Seine Maxime lautete: „unbedingte Freiheit“.48 In einem Brief an dem Redakteur Hugo Sieker heißt es: „es fällt mir jeden Morgen von neuem schwer, mich mit der Beraubung meiner über alles geliebten Freiheit abzufinden. Ich wehre mich auch dagegen, mich daran zu gewöhnen – mein Innenleben würde dann ganz zerreißen.-„49 Im Drama ist Beckmann auch ein Außenseiter, der sich, nach den Jahren im Krieg und in der Gefangenschaft, nicht mehr in das Nachkriegsleben einordnen kann. 2.1.5 Die Ostfront in Russland Nach der abgeschlossenen Grundausbildung wurde Borchert in einer Ersatzbataillon an die Ostfront abkommandiert. Die Truppe erreichte Ende des Jahres Witebsk wo er an der Front im russischen Wald in der Gegend von Smolensk als Funker in Stoßeinsätzen oder Alleingängen kämpfte. Den Soldaten 45 Borchert 2007, S. 173. Borchert 1956, S.33. 47 Burgess 2007, S. 97. 48 Rühmkorf 1961, S. 27f. 49 Borchert 1996, S. 187. 46 11 fehlte oft an beinah allem, sie hatten wenig zum Essen und hatten bei minus 40 Grad nur die Sommeruniforme zum Tragen.50 Bei einem Alleingang erlitt Borchert in einem Nahkampf mit einem russischen Soldaten eine so schwere Verletzung an seiner linken Hand, dass sein Mittelfinger amputiert werden musste. Aufgrund von der Verletzung, Erfrierungen und Gelbsucht lag er zuerst im Feldlazarett Smolensk und dann im Hauptlazarett in Schwabach, wo auch Diphterie diagnostiziert wurde. Wegen des Verdachtes auf Selbstverstümmelung wurde er verhaftet und in das Militärgefängnis Nürnberg-Bärenschanzstraße überführt. Nach zwei Gerichtsprozessen, der zweite wegen Verstoß gegen das Heimtückegesetz, und Rückkehr an die Ostfront ist er wieder im Lazarett wegen erfrorenen Füßen, Gelbsucht und Verdacht auf Fleckenfieber. Die erfrorenen Füße hat er sich bei einem zehntägigen Waldkampf zugezogen, die rund um die Uhr stattgefunden hatte. Wieder in Briefen beschrieb er wie furchtbar die Zeit als Melder in den Wäldern bei Toropez und im Seuchenlazarett war und er betonte wie grauenhaft, furchtbar und bedrückend alles war. 51 In einem unveröffentlichten Brief an seine Mentorin Aline Bußmann steht: ‘Doch muß ich sagen, war ich fast gefeit für die grauenhaften Tage vor Weihnachten bei Toropez, wo wir innerhalb von 4 Tagen 5 Kompanienchefs verloren haben und uns oft genug nachts gefragt haben – siehst Du die Sonne morgen noch aufgehen? Fast gefeit – aber die helle Angst hat mich doch oft gepackt, wenn die erdbraunen Gestalten plötzlich mitten unter uns waren – denn war immer nur auf meine arme harmlose Leuchtpistole angewiesen – also praktisch ganz wehrlos. […]‘. 52 Im Drama beschreibt Beckmann auch dem Oberst und seiner Familie aus seinen Albträumen wie grauenhaft der Krieg war; 53„ […] Blut. Blut. Dann stehen sie auf 50 Vgl. Burgess 2007, S. 106f. Vgl. Borchert 1996, S. 98, 144, 159. 52 Burgess 2007, S. 123. WB wurde wg. der Vorbestrafung keine Waffe erlaubt. 53 Vgl. Burgess 2007, S. 111f. 51 12 aus den Massengräbern mit verrotteten Verbänden und blutigen Uniformen. […] Aus der Steppe stehen sie auf, einäugig, zahnlos, einarmig, beinlos, mitzerfetzten Gedärmen, ohne Schädeldecken, ohne Hände, durchlöchert, stinkend, blind. […]“.54 Weiter erzählt Beckmann: […]Den 14. Februar? Bei Gorodok. Es waren 42 Grad Kälte. […] Sie erkunden den Wald östlich Gorodok und machen nach Möglichkeit ein paar Gefangene, klar? […] Dann haben wir die ganze Nacht erkundet, und dann wurde geschossen, und als wir wieder in der Stellung waren, da fehlten elf Mann. […]55 Knappe 150 km von Toropez entfernt liegt ein Ort mit dem Namen Gorodok im Verwaltungsbezirk Oblast Twer in Zentralrussland. Die Orte Smolensk, Toropez und Gorodok liegen alle in Zentralrussland innerhalb von 250 km Luftweg. Witebsk liegt zwischen Gorodok und Smolensk, nur ca. 40 km von Gorodok entfernt. In seinem Drama in der ersten Szene werden im Dialog zwischen Beckmann und dem Anderen die beiden Orte Smolensk und Gorodok gennant. „Der aus dem Schneesturm bei Smolensk. Und der aus dem Bunker bei Gorodok“56 2.1.6 Der gezeichnete Soldat Borchert war durch seine Krankheiten und die Erlebnisse an der Front sehr gezeichnet. Sein Gesicht war durch die Leberkrankheit gelb gefärbt, ein Finger fehlte und seine Haare waren kurz geschnitten. Das Letztere wurde von ihm selber als ”Einheitsfrisur”57 beschrieben.58 So wird auch der Beckmann in seinem Drama beschrieben, als eine Person die seltsam oder sogar grotesk aussieht. Der Beerdigungsunternehmer sieht den Beckmann als einer mit einem alten Soldatenmantel und kurzgeschnittenen Haaren, kurz wie eine Bürste. Seine Gasmaskenbrille erweckt immer wieder 54 Borchert 1956, S. 24. Ebd., S. 25. 56 Borchert 1956, S. 13. 57 Vgl. Borchert 1996, S. 172. 58 Vgl. Burgess 2007, S. 166. 55 13 Verwunderung und Verachtung. Das Mädchen lacht ihn aus, die Frau vom Oberst wird voller Grauen wenn sie seine Brille sieht und der Direktor des Kabaretts spricht von einem grotesken ”Brillengestell”.59 Und genau wie Borcherts seinen Finger, hat Beckmann eine kaputte Kniescheibe, als „Andenken“ aus dem Krieg mitgebracht.60 2.1.7 Hamburg Im Sommer 1943 wurde Hamburg gut eine Woche lang von den Alliierten bombardiert. Als Borchert im August im Urlaub nach Hause kommt, liegt Hamburg in Trümmern. Borchert war entgeistert. In seiner Jugend hielt er nicht viel von Hamburg. Aber er war mit der Zeit, besonders nach den Kriegserfahrungen und der Zeit im Berliner Gefängnis Moabit, ein passionierter Hamburger geworden und schrieb Loblieder und Gedichte über seine Heimatstadt.61 Als Heimkehrer liebte er Hamburg, die Alster, die Straßen und ihre Mädchen.62 Borchert war besonders von der Elbe ergriffen.63 Er dachte während seiner Soldatenzeit daran, sich Tarpe Beek oder Kai Wasser zu nennen64. Der Grund dafür ist in einem Brief von Borchert zu finden: […] ich bin an der Tarpenbeck geboren, die Tarpenbeck tropft in die Alster, diese Plätschert in die Elbe – die Elbe schweigt ins Watt, und das Watt rauscht ins Meer! Ach, und der Regen, der Nebel, die Wolke und die Träne – das Blut + der Saft der Blume + Bäume: heißt das nicht alles Wasser? Und der Vorname Kai ist der Steg, der in das Wasser hinausragt + an dem die Gedanken Anker werfen und von dem sie ausfahren wie die Schiffe: Kai Wasser. 65 Für sein Drama hat Borchert die Elbe mit Umgebung in Hamburg als Ort des Geschehens ausgewählt. Dass das Drama in Hamburg spielt erkennt man dadurch, dass der Hamburger Stadtteil Blankenese in der 1. Szene genannt wird. Laut 59 Borchert 1956, S. 9f. Vgl. Schröder 1985, S. 180, vgl. Borchert 1956, S. 8. 61 Vgl. Borchert 1996, S. 101, 136, 250, 252 und Burgess 2007, S. 129ff, 156. 62 Vgl. Poppe 2003, S. 22. 63 Vgl. Burgess 2007, S. 195. 64 Vgl. Rühmkopf 1961, S. 76, Burgess 2007, S. 156. 65 Borchert 1996, S. 136, WB wurde in der Tarpenbekstraße 82 geboren. 60 14 Schröder ist es kein Zufall das die Elbe im Drama eine zentrale Rolle spielt, sondern es ist auf Borcherts persönliche Situation nach dem Krieg zurückzuführen. Er war selten Fähig sich aus seinem Zimmer zu bewegen und wenn waren die Eindrücke umso stärker und Anlässe um Texte darüber zu schreiben.66 2.1.8 Nachkriegszeit Trotz seiner schlechten Gesundheit versucht Borchert einen Neuanfang als Schauspieler und Schriftsteller und den Neuanfang als Maler. Er lernte in dieser Zeit viele neue Menschen kennen, u.a. den Bildhauer Curt Beckmann, der im Sommer 1945 oft zu Besuch bei Borcherts war. Den Namen Beckmann verwendete Borchert später in seinem Drama für seine Hauptfigur. 67 Borchert gründete zusammen mit einigen Schauspielern und Schauspielerinnen auch ein neues Theater, Die Komödie. Er meinte aber, dass nicht unbedingt Komödien gespielt werden müssen aber dass die Menschen im Leben genug Probleme haben und nicht weiter belastet werden sollen.68 Borcherts Worte in einem Brief an seinen Anwalt Dr. Carl Hager sind wie folgt: „Es brauchen nicht unbedingt Komödien zu sein, aber der Fehler unserer Spielpläne heute ist, daß sie den belasteten Menschen noch belastende Probleme aufgeben wollen.“69 Im Drama lässt er auch den Direktor die Meinung vertreten; „ […] Aber die Leute wollen doch schließlich Kunst genießen, sich erheben, erbauen und keine naßkalten Gespenster sehen. Nein, so können wir Sie nicht loslassen. Etwas genialer, überlegener, heiterer müssen wir den Leuten schon kommen. Positiv! […]“70 2.2 Draußen vor der Tür Hier wird das gesamte Werk bzw. der Inhalt der jeweiligen Szene auf ihre tiefere und teilweise übergreifende Bedeutung analysiert. 66 Vgl. Schröder 1985, S. 309. Vgl. Burgess 2007, S.167. 68 Vgl. ebd., S. 169. 69 Borchert 1996, S. 164. 70 Borchert 1956, S. 30. 67 15 Borchert war durch die Kriegsjahre an der Front, in Krankenhäusern und im Gefängnis seelisch zutiefst verwundet und er verteidigte die Grundeinstellung; nie wieder Krieg.71 Der letzte Text, den er im Sterbebett schrieb war Dann gibt es nur eins!, der eine Aufforderung ist, Krieg ein klares Nein zu geben.72 Auch das Drama Draußen vor der Tür kann als ein Protest gegen den Krieg gesehen werden. 2.2.1 Übergreifende Berührungspunkte im Drama Ein Thema, das immer wieder im Drama aufgegriffen wird, ist das Frieren und Hungern. Borchert selber erlebte sowohl das Hungern als auch das Frieren. Während des Krieges zog er sich Erfrierungen zu, aufgrund der Temperaturen in Russland im Winter 41/42, die zwischen 30 und 50 Grad unter null lagen. Burgess beschreibt die Situation in Russland zu der Zeit wie folgt: Anders die deutschen Truppen, denen es an Winteruniformen, Pelzmützen, weißen Tarnzeug und Schneestiefeln fehlte. Die zeitweise in Witebsk stationierten Funker trugen noch die Sommeruniform, in der sie im September von Weimar abgefahren sind.“ Auch zum Essen gab es wenig, „Ihnen fehlte beinahe alles, was sie brauchten, nicht einmal Kartoffel gab es, […]. 73 Aber auch in den Nachkriegsjahren, als es einen Mangel an Brennstoff gab und Borcherts Gesundheit sehr angeschlagen war, litt er sehr unter der Kälte. Besonders der Winter 46/47 war für den Kranken schwierig zu bewältigen. Dies war auch ein Grund für den Versuch in den Süden, in die Schweiz, eine Zeitlang zu gehen. Es gab auch einen Mangel an Essen, sowohl während des Krieges, als auch nach dem Krieg. Borcherts Leberkrankheit wurde von den Ärzten teilweise auf die mangelnde Ernährung zurückgeführt. 71 Vgl. Poppe 2003, S. 4. Vgl. Borchert 1956, S. 110. 73 Burgess 2007, S. 109f. 72 16 Im Drama zählt Beckmann wiederholt verschiedene Autoren, Philosophen, Komponisten und Dichter auf. Genau wie Borchert in seinen Briefen referiert Beckmann zu Größen wie Schiller, Heinrich Heine, Mozart, Goethe oder Wagner.74 Sein ganzes Leben las Borchert sehr gern und viel und er las immer 10 Bücher nebeneinander.75 Er schrieb auch gerne und war ein leidenschaftlicher Briefschreiber. Borchert nannte oder machte Andeutungen auf Künstler und Autoren die er für genial hielt.76 Der liebste Gegenstand seiner Briefe war sein eigener Künstlertraum.77 In Zeiten ohne Zugang zu Literatur, wie in Haft oder zeitweise im Krankenhaus war Borchert immer todunglücklich. Vor dem Krieg verehrte er Dichter wie Rilke und Hölderlin. Er hasste aber Goethe und bezeichnete ihn als Spießer und empfand Werthers Leiden unerträglich. Dagegen gehörte Hemingway zu seinen Lieblingsautoren.78 Auch zu Musik hatte er ein besonderes Verhältnis. Er hörte gerne Musik, aber klassische Musik, wie etwa Bach, Händel und Mozart vertrug er nur zeitweise. Er fühlte sich oft „merkwürdig berührt“ von Musik und er meinte: „Es überläuft mich immer eiskalt, wenn ich manchmal aus irgendeinem Radio leicht + verrückte Musik höre – […]“79 Auch im Drama spielt Musik eine besondere Rolle. Zum Beispiel als Beckamann dem Oberst und seiner Familie vom Traum erzählt: BECKMANN: Ja, und nun geht es erst los. Nun fängt der Traum erst an. Also der General steht vor dem Risenxylophon aus Menschenknochen und trommelt mit seinen Prothesen einen Marsch. Preußens Gloria oder den Badenweiler. Aber meistens spielt er den Einzug der Gladiatoren und die Alten Kameraden […]80 Wie der Titel des Dramas, Draußen vor der Tür, besagt, geht es im Drama auch um den Einzelgänger, Außenseiter und um Einsamkeit. Borchert litt oft unter 74 Vgl. Borchert 1956, S. 29f, Burgess 2007, S. 48. Vgl. Borchert 1996, S. 45. 76 Vgl. ebd., S. 58. 77 Vgl. Rühmkorf 1961 S. 32. 78 Vgl. Burgess 2007, S. 185. 79 Borchert 1996, S. 147. 80 Borchert 1956, S. 24. 75 17 „unfreiwilliger Einsamkeit und Abstinenz“ 81, unter anderem als er 100 Tage in einer Einzelzelle saß und Anklagevertreter auf Tod durch Erschießung beantragt hatte.82 Die Angst, Einsamkeit und Verlassenheit der Gefängniszeit verarbeitet Borchert besonders deutlich in seinem kurzen Prosastück Hundeblume.83 Auch oft in den Jahren im Krankenbett wo er keinen Besuch empfangen durfte oder vermochte, litt er unter Einsamkeit. Beckmann wird im Drama von seinen Mitmenschen vor die Tür gesetzt und fühlt sich verraten. Er fühlt sich „liegengeblieben“84 und von allen, die er begegnet ist, vor die Tür gesetzt. In der letzten Szene, nach dem Beckmann aus dem letzten Traum erwacht ist, wiederholt er den Satz: „Eine Tür schlägt zu, und er steht draußen.“85 Beckmann wird vom Direktor als ein „sensibler Knabe“86 beschrieben und der Oberst fragt ob er nicht „ein bißchen weich“ sei.87 Auch Borchert war ein sensibler Mensch, der sich außerdem oft als Einzelgänger dargestellt hat. Er beschreibt sich selber als „[…] eine Schnecke, die ihre empfindlichen Teile unter einer harten Schale verbirgt.“ 88 Borchert war gefühlsmäßig labil, was er von der Mutter geerbt hatte, und schwankte zwischen Hochverstimmung und Depression. 89Auch seine Mutter erkannte in Borchert eine sensible Person und bezeichnete ihn als „einen empfindsamen Menschen“90 Der Seelenzustand Borcherts wird im Beckmann in verschiedener Weise wiedergespiegelt. Rühmkorf nennt vier Beispiele und vergleicht dabei Textausschnitte aus den Briefen mit Textausschnitten im Drama. Zuerst nennt er die Parallele des ruhelosen Heimkehrers in Borchert und Beckmann, zum anderen 81 Borchert 1996., S. 152. Vgl. Burgess 2007, S. 117. 83 Burgess 2007, S. 180. 84 Borchert 1956, S. 54. 85 Ebd., S. 53. 86 Ebd., S. 48. 87 Ebd., S. 22. 88 Borchert 1996, S. 95. 89 Vgl. Rühmkorf 1961, S. 18. 90 Borchert 1996, S. 108. 82 18 die Befürchtung verrückt zu werden, zum dritten dass beide sich als Fallenden empfinden und zum vierten, dass sie beide nach einer Antwort suchen. So Borchert in einem Brief: „‘Nun ist wieder Abend – Nacht kommt – und ohne Antwort!‘“91 Beckmann ist der fragende Held, dem keine Antwort gegeben wird. Er ist das Kind, das in den Tod Zuflucht sucht, so wie auch Borchert, der nie richtig erwachsen wurde und sein ganzes Leben von den Eltern abhängig war. Borchert schrieb gerne von den schwachen und unvollkommenen der Gesellschaft. Beckmann, mit der Gasmaskenbrille, der Einheitsfrisur und steifem Bein, ist ein Typenbeispiel dieser Gattung.92 Aber Borchert selber gehörte auch zu den schwachen, gezeichnet vom Krieg und seiner Krankheit. Schon früh bereitete ihm seine Krankheit Schmerzen und in Briefen erwähnte er Rücken, Lunge und Herz, als Organe die ihm Schmerzen bereitete. Auch war er ab 1945 zu schwach um zu gehen. In der letzten Szene im Drama liegt Beckmann auf der Straße und will nicht mehr aufstehen. Er meint: „Die Lunge macht nicht mehr mit, das Herz macht nicht mehr mit und die Beine nicht.“93 Beckmann ist ein junger Mann, 25 Jahre alt. Borchert war, als er Anfang 1947 das Drama schrieb, auch 25 Jahre alt. Im Mai desselben Jahres ist er 26 Jahre alt geworden. 2.2.2 Vorspiel Borchert wurde zur „aufgeklärten Glaubenslosigkeit“ 94 erzogen und setzte sich schon vor dem Krieg sich mit der Existenz eines Gottes auseinander. Er wurde getauft aber trat vor dem Ausbruch des Krieges aus der Kirche aus. Auch durch die Qualen des Krieges stellte er immer wieder die Existenz Gottes und seine vermeintliche Macht in Frage.95 Er greift diese Thematik schon früh in Briefen auf, z.B. fragte er 1940 in einem Brief seinen Kollegen im Buchhandel, Werner 91 Rühmkorf 1961, S. 46. Vgl. ebd., S. 26. 93 Borchert 1956, S. 41. 94 Rühmkopf 1961, S. 14. 95 Vgl. Burgess 2007, S.62, 105. 92 19 Lüning, ob er an Gott glaube.96 Später, nach den Kriegserfahrungen schrieb er im Herbst 1944 in einem Brief an den Lyriker Carl Albert Lange: „Es will doch oft scheinen, als stünden wir abseits und beziehungslos da mit unserer Not, weil es keinen Gott gibt als die Natur – und die ist erbarmungslos.“97 Und in einem Brief an den Hamburger Oberbaurat Max Grantz in Februar 1947, als Antwort auf die Reaktion des Oberbaurates auf das Hörspiel Draußen vor der Tür, schrieb Borchert den philosophischen Text: Als Kind wächst man mit einer Gottes-Vorstellung auf, die in ihm eine persönliche Macht sieht, die uns in unserer Not beisteht und das Böse nicht zuläßt. Das Kind kann das göttliche Gesetz in sich selbst noch nicht begreifen, es sieht in Gott immer etwas, das außer ihm ist. Weder die Schule och die Kirche oder das Elternhaus klären das Kind auf, daß diese Gottesvorstellung falsch ist und so muß der junge Mensch mit zunehmender Reife eines Tages die Erfahrung machen, daß es diesen Gott nicht gibt, daß es keine Macht gibt, die uns beisteht, die sich herbeiflehen läßt und das Böse verhindert. 98 Ein anderes Beispiel findet man in Borcherts Requiem für einen Freund: Wo ist Gott – schreien die Granaten! Wo ist Gott – schweigen die Sterne! Wo ist Gott – beten wir! Gott ist das Leben und Gott ist der Tod – sagtest du immer. Bist du nun bei Gott? 99 In dieser ersten Einleitung des Dramas, das Vorspiel, stehen Gott und Tod einander gegenüber. Gott beschwert sich darüber, dass keiner mehr an ihn glaubt und darüber dass er die Situation nicht ändern kann. Der Tod/Beerdigungsunternehmer fragt den Gott warum er weint. Dieser antwortet darauf: „Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und 96 Vgl. Borchert 1996, S. 54. Borchert 1996, S. 145. 98 Ebd., S. 194f. 99 Ebd., S. 261. 97 20 ich, ich kann es nicht ändern.“100 Weiter sagt Gott: „Sehr finster. Ich bin der Gott, an der keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster“. 101 Beckmann selbst sagt in der letzten Szene zu Gott, als er meint, er sei der liebe Gott: BECKMANN: Seltsam, ja, das müssen ganz seltsame Menschen sein, die dich so nennen. Das sind wohl die Zufriedenen, die Satten, die Glücklichen, und die, die Angst vor dir haben. Die im Sonnenschen gehen, verliebt oder satt oder zufrieden – oder die es nachts mit der Angst kriegen: Lieber Gott! Lieber Gott! Aber ich sage nicht Lieber Gott, du, ich kenne keinen, der ein lieber Gott ist, du!102 2.2.3 Der Traum In dieser Szene spricht Beckmann mit der Elbe darüber, dass er nicht mehr leben will. Die Elbe will sein junges Leben aber nicht, sonder fordert ihn dazu auf, erst einmal zu leben. Sie sagt: „Dein kleine Handvoll Leben ist mir verdammt zu wenig. Behalt sie. Ich will sie nicht, du gerade eben Angefangener. Halt den Mund, mein kleiner Menschensohn! Ich will dir was sagen, ganz leise, ins Ohr, du, komm her: ich scheiß auf deinen Selbstmord!“ 103 Nach dem Einspringen wird Beckmann auf das Ufer geworfen. Die Elbe meint: „Er will es nochmal versuchen, hat er mir eben versprochen. Aber sachte, er sagt er hat ein schlimmes Bein, […]“.104 Borchert spürte im Gefängnis und in der Krankheitszeit oft die Bedrohung des frühen Todes. Zwei Male wurde Tod durch Erschießung gegen ihn beantragt und in schwierigen Stunden der Krankheitszeit kamen ihm zurecht Zweifel eines Durchkommens auf. In einem Brief an seine Eltern im Herbst 1944 meinte Borchert: „Na, und allzu alt werde ich bei meiner Gesundheit kaum werden, das fühle ich.“105 Burgess schreibt dazu: 100 Borchert 1956, S. 10. Ebd., S. 10. 102 Ebd., S. 41f. 103 Ebd., S. 12. 104 Ebd., S. 12. 105 Borchert 1996, S. 137. 101 21 Nach den Quälereien und der Ungerechtigkeit, unter denen er während der Grundausbildung sichtlich litt, kämpfte er in der Weite des bitterkalten russischen Winters 1941/42 ohne Aussicht auf eine Erlösung aus seiner Misere. Im August hatte er noch in der Weimarer Kaserne an Aline Bußman geschrieben, er sei ‚oft soweit‘, dass er ‚das Leben wegwerfen möchte – […]‘[…] 2.2.4 106 1. Szene Nun taucht der „Andere“ als Beckmanns innere Stimme oder Alter Ego im Geschehen auf. Er will Beckmann ins Leben zurückhelfen.107 Beckmann ist der Fragende und Suchende und der „Andere“ wird zum Antwortenden. Beckmann schwankt zwischen lebenwollen und sterbenwollen. Der Andere kommentiert am Schluss der Szene Beckmanns Schwanken zwischen Sterben und Leben: DER ANDERE: […] Erst lassen sie sich ins Wasser fallen und sind ganz wild auf das Sterben versessen. Aber dann kommt zufällig so ein anderer Zweibeiner im Dunkeln vorbei, so einer mit Rock, mit einem Busen und langen Locken. Und 108 dann ist das Leben plötzlich wieder ganz herrlich und süß. […] Borchert war vom Wesen her gespalten und das war ihm sehr wohl bewusst. Er war einerseits der Komiker und Optimist und andererseits der Schriftsteller und unzufriedene Einzelgänger mit den finsteren Geschichten. Seine Laune schwankte zudem oft zwischen Heiterkeit und Depression. Er meinte aber auch, dass er die Widerstände brauche, er brauche das Unglück um Glück empfinden zu können, und dass er aus schlechten Zeiten Kraft nehme. Dieser Dualismus ist in seinen Werken durch Gegensätze, Umpolung von Werten und Stimmungen und so oft die Spannung zwischen Lust und Unlust zu erkennen.109 An dieser Stelle kann auch das Wort Fisch kommentiert werden. Das Mädchen findet ihn liegen halb im Sand am Ufer der Elbe und halb im Wasser (Dualismus) und sagt zu ihm; „Sie halber Fisch. Sie stummer nasser Fisch, Sie!“ 110 Borchert 106 Burgess 2007, S. 113. Vgl. Poppe 2003, S. 28. 108 Borchert 1956, S. 15. 109 Vgl. Rühmkorf 1961, S. 124f. 110 Borchert 1956, S. 15. 107 22 schrieb in einem Brief: „Das Leben ist doppelseitig wie ein Fisch: Manchmal blinkert die Unterseite ganz silbrig.“111 2.2.5 2. Szene In dieser Szene nimmt das Mädchen Beckmann mit zu ihr. Es entwickelt sich so eine Art anfänglicher Liebesbeziehung. Jedoch kommt der Mann des Mädchens unerwartet nach Hause. Er ist verwundet und hat ein Bein im Krieg verloren. Beckmann hat Angst vor dem „Einbeinigen“ und flieht aus dem Zimmer des Mädchen. Er will wieder nicht Beckmann sein und sehnt sich wider nach der Elbe.112 Für das Mädchen hatte Borchert eine kurzlebige Leidenschaft, die Schauspielerin Margerete Militzer, zum Vorbild. Er lernte sie im September 1939, als sie beim Altonaer Deutschen Volkstheater arbeitete, kennen. Sie sprach 1947 bei der ersten Hörspielsendung das Mädchen im Drama und die Reaktion Borcherts auf ihre Rolle: „[…] er hätte immer ihre Stimme im Ohr gehabt, als er das Mädchen schrieb.“113 Als Trost und Ablenkung hat Borchert sich während der Soldatenzeit oft in Krankenschwestern verliebt. Er schreibt an die Eltern: „[…] könnt ihr Euch das vorstellen, ohne Waffe in den Wäldern und zwischen den Russen herumzulaufen. Was war es für ein Geschenk plötzlich von einem deutschen Mädchen umsorgt zu wissen.“114 Und in einem Brief an Hugo Sieker: Furchtbar waren die Tage bei Toropez, wo ich als Melder nachts durch die grauenhaften Wälder laufen mußte, furchtbar waren die Tage im Seuchenlazarett, wo jede Nacht die Toten rausgetragen wurden – aber dann war da auch so viel Schönes: - ein wundervoller Artzt, ein kleiner Flirt mit dem Schwester – und dann ein paar unwirkliche, märchenhafte Tage mit einem zarten russischen Mädchen – […]115 111 Borchert 1996, S. 174. Vgl. Borchert 1956, S. 19. 113 Burgess 2007, S. 79. 114 Borchert 1996, S. 95. 115 Borchert 1996, S. 99. 112 23 Borchert fühlte sich an seiner Mutter stark gebunden, auch als junger Erwachsener. Diese Fixierung an das Mutterbild führte ihn zu Liebschaften mit älteren Frauen und er verehrte Frauen immer wieder in einem romantisch-stürmischen Rausch. In den jungen Jahren aber war er wenig erfolgreich bei den Frauen und es blieb oft bei einer einseitigen Liebe.116 In seiner Dichtung ist durchwegs zu erkennen: „Die Klage über die Unfähigkeit zur Bindung. Die Abschiedstrauer, der Trennungsschmerz und jener abrupte Entschluß zum Aufbruch, der den sich ankündigen Enttäuschungen zuvorkommen möchte.“117Auch der „erotische Landstreichertum“118 während der kurzen Theaterzeit mit dem Wandertheater kann als Folge der starken Mutterbindung gesehen werden. Die Bindung zu seiner Mutter machte es ihm außerdem schwierig überhaupt längere Verhältnisse einzugehen und andere Männer auszukonkurrieren. Borchert blieb sein Leben lang gefühlsmäßig ein Kind und konnte sich nie wirklich von seiner Mutter loslösen.119 Borchert sagt zum Abenteuer Leben in dem schon erwähnten Brief an seine Mutter anlässlich seines 25. Geburtstags: „Um das Abenteuer dennoch durchzuhalten, suchte ich mir eine Mutter, 17jährige manchmal, die eine Zeitlang tapfer neben mir aushielten. Aber immer nur: eine Zeitlang.“120 Laut Rühmkorf hat Borchert im Drama seine Frauenprobleme als junger Mann auch in diesem Drama reproduziert. Beckmann geht ins Wasser, weil seine Frau einen anderen hat und die Beziehung zum Mädchen scheitert wegen eines anderen Mannes.121 Beckmann ist auch dem Einbeinigen gegenüber der Schwächere. Er fühlt sich in der Kleidung der Einbeinigen nicht wohl und „ersauft“122 fast in der Jacke des Riesen, weil er dem nicht gewachsen fühlt. Am Ende der Szene flieht er aus dem Zimmer des Mädchens. 116 Vgl. Rühmkorf 1961 S. 42. Ebd., S. 43. 118 Ebd., S. 17. 119 Vgl. Ebd., S. 17f. 120 Borchert 1996, S. 176. 121 Vgl. Rühmkorf 1961, S. 45. 122 Borchert 1956, S. 17. 117 24 2.2.6 3. Szene In der dritten Szene trifft Beckmann den Oberst und seine Familie. Beckmann will die Verantwortung zurückgeben. Die Verantwortung für zwanzig Mann bei Godorok, die er aber nicht alle heil wieder zurückbringen konnte. 123 Beckmann leider darunter, dass er versagt hat. Schröder bezieht dies auf Borcherts Erfahrung als Eingesperrter im Moabiter Gefängnis und er deutet folgende Zeilen von Borchert als ein Scheitern: „Angesicht dieser ungeheuren Ereignissen schäme ich mich tatsächlich wegen meiner Dummheiten hier untätig festzusitzen und eine Menge Leute meinetwegen in Arbeit zu halten.“124 Der Oberst steht für die opportunistisch-materialistische Bürgerlichkeit, in der sich Beckmann überhaupt nicht zurechtfinden kann. Er findet den Weg zurück in die bürgerliche Geborgenheit nicht, weil er sein Unglück und Unfähigkeit sich zu binden und sesshaft werden nicht mit den Attributen dieser Welt verbinden kann. Rühmkorf schreibt über Beckmann: “Praktisch liegt nämlich jetzt bereits fest, was einmal dem Heimkehrer Beckmann den Einstieg in die bürgerliche Geborgenheit verwehrt: die vollkommene Unfähigkeit, Glück und Bindung, inneren Frieden und Seßhaftigkeit miteinander ins Einvernehmen zu bringen.“ 125 Borchert selber wollte das bürgerliche Leben seiner Eltern nicht und sehnte sich immer nach Freiheit und einem künstlerischen Leben. Das Lachen des Obersten könnte eine tiefere Bedeutung haben. Borchert war ein versteckter Komödiant und Narr. Während seiner Krankheit blieb er ein Optimist und war immer bemüht eine fröhliche und lustige Fassade aufrechtzuhalten. Burgess meint: „Was Borchert nie verloren hatte, war sein Sinn für Humor und die Fähigkeit, andere auch unter den ungünstigsten Verhältnissen an der Front zum Lachen zum bringen […].“ 126 Sein Lachen war aber zweideutig und es war ein dunkles Lachen, „ein Lachen aus dem Erschrecken“.127 Borchert selber dazu: „Ich versuche immer, alles durch Lachen zu besiegen, wenn ich auch oft viel lieber 123 Vgl. Borchert 1956, S. 25. Schröder 1985, S. 237. 125 Vgl. ebd., S. 44. 126 Burgess 2007, S. 134. 127 Ebd., S. 61. 124 25 weinen möchte.“128 Bernhard Meyer-Marwitz, Kulturredakteur, Verleger und vertrauter Freund, beschreibt Borchert wie folgt: ‚Ein Jahr besuchte ich ihn fast Tag um Tag. Ich wusste, dass sein Körper oft wie unter einer Folter krümmte, dass sein Rücken kaum den Druck einer stützenden Hand ertrug, dass seine geschwollene Leber ihm den Atem abschnürte und das Herz im Angstkrampf zusammenpresste. (…) Trotzdem sprühte er oft von Heiterkeit und Witz‘129 Der Oberst fasst Beckmanns Ernst für eine „närrisches Spiel“130 auf und meint: „[…] mein Lieber! Ich glaube beinahe, Sie sind ein Schelm, was? (Er lacht) Köstlich, Mann, ganz köstlich! Sie haben wirklich den Bogen raus! Nein, dieser abgründige Humor! […]“131 2.2.7 4. Szene In dieser Szene wird die Thematik der Wahrheit in der Dichtung aufgegriffen. Der Direktor meint: „Junge Menschen brauchen wir, eine Generation, die die Welt sieht und liebt, wie sie ist. Die die Wahrheit hochhält […].“132 Nach dem Beckmann aber sein Lied vorgetragen hat ändert der Direktor seine Meinung und meint: „Wo kämen wir hin, wenn alle Leute plötzlich die Wahrheit sagen wollten!“.133 Der Direktor hat die Wahrheit betrogen. Borchert war schon früh davon überzeugt, dass die Wahrheit gezeigt werden muss und dass der Schriftsteller sich einfach und entschieden ausdrücken soll, um seinen momentanen Gedanken auch beim Leser zu wecken.134 Der Inhalt von Borcherts Wahrheitsbegriff ist laut Rühmkorf als „die persönliche Enttäuschung“, „die 128 Schröder 1985, S. 114. Poppe 2003, S. 39, vgl. Burgess 2007, S. 29. 130 Schröder 1985., S. 75. 131 Borchert 1956, S. 26. 132 Ebd., S. 29. 133 Borchert 1956., S. 33. 134 Vgl. Rühmkorf 1961, S. 40. 129 26 eigene Zwiespältigkeit“ und „den unüberbrückbaren Gegensatz von Ich und Welt, Subjekt und Wirklichkeit“ zu verstehen.135 Laut Wolff ist in dieser Szene auch Selbstkritik zu erkennen. Er schreibt in seiner Magisterarbeit: „Borchert spielte nach seiner Rückkehr in Hamburg selber Kabarett einfachster Art. Auch er bediente den Massengeschmack, war (noch) nicht bereit, sich mit der bitteren Wahrheit einzulassen, auch er wollte lieber mit heiterem Spiel verdrängen.“136 2.2.8 5. Szene Auf der Suche nach seinem zu Hause, trifft Beckmann in der letzten Szene auf Frau Kramer. Sie nennt im Gespräch die Stadtteile Ohlsdorf, Fuhlsbüttel und Alsterdorf, die im Nordosten von Hamburg liegen.137 Borchert war, nach der Geschichte mit dem Denunzianten Kramer und einem Zwischenauftenthalt in Stadtteil Winterhude, mit seinen Eltern nach Alsterdorf gezogen, in die Carl-Cohn-Straße 80.138 Ohlsdorf war bekannt für die Massengräber nach der Zerstörung von Hamburg in Juli 1943.139 Die Wohung der Eltern war unbeschadet den Bomben entgangen. 140 Genauso das Haus der Eltern von Beckmann: „[…] Der Krieg ist an dieser Tür vorbeigegangen. Er hat sie nicht eingeschlagen und nicht aus den Angeln gerissen. Unsere Tür hat er stehen lassen, zufällig, aus Versehen. […]“141 In dieser letzten Szene begegnet schließlich Beckmann in einem Traum, diejenigen, die ihm immer wieder Richtung Elbe getrieben hatten. Er sucht immer noch Antworten aber der „Andere“ als Jasager und „mutspendende Stimme“142 ist verschwunden und Beckmann bekommt keine Antworten mehr. Borchert hat 135 Rühmkorf 1961, S. 46. Wolff, Jan-Geert (1999). Die Aufarbeitung der Kriegserlebnisses im Werk Wolfgang Borcherts, S. 48. 137 Vgl. Borchert 1956, S. 36. 138 Vgl. Schröder 1985, S. 93. 139 Vgl. ebd., S. 218f. 140 Vgl. Schröder 1985., S. 219. 141 Borchert 1956, S. 35. 142 König 2007, S. 30. 136 27 selber nach Antwort gesucht. Antwort nach dem Sinn des Lebens und der Welt, Antwort auf die Frage wo Gott und die Liebe ist.143 Borchert hat immer wieder nach dem Absoluten, der Verantwortung, den Schuldigen, nach dem Menschen gesucht.144 Er schreibt an den Hamburger Oberbaurat: Beckmann geht am Ende nicht in die Elbe. Er schreit nach Antwort. Er fragt nach Gott! Er fragt nach der Liebe! Er fragt nach dem Nebenmann! Er fragt nach dem Sinn des Lebens nach dieser Welt! Und er bekommt keine Antwort. Es gibt keine. Das Leben selber ist die Antwort. Oder wissen sie eine? 3 145 Diskussion Beckmann ist nicht Borchert, auch wenn man eine Selbstbiographie oder zumindest eine Verarbeitung der Kriegserlebnisse in seinem Werk Draußen vor der Tür vermuten möchte, allein wegen der Tatsache, dass Wolfgang Borchert selber Soldat in Russland war und dass sein Werk ein Drama über einen Kriegsheimkehrer ist. Zwar sind beide Soldaten im zweiten Weltkrieg gewesen aber Beckmann war in Gefangenschaft geraten, der Borchert erfolgreich entflohen war. Beckmann, der nicht lachen kann aber für ein Narr gehalten wird, ist unfähig sich in die bürgerliche Nachkriegszeit einzuordnen, er fühlt sich fremd und findet keinen Halt. Borchert dagegen, sehr wohl zum Lachen fähig, hatte sich nach dem Krieg sehr gut wieder in die Gesellschaft einordnen können. Außerdem hatte Borchert ein Zuhause, zu dem er zurückkehren konnte, was dem Beckmann versagt wird. Der Optimist Borchert, der, im Gegensatz zu Beckmann, Schwierigkeiten im Leben mit einem Lachen abtat, hat doch einige Wesenszüge mit Beckmann gemeinsam. Sie sind im gleichen Alter und beide sind in gewisser Hinsicht Außenseiter. Das Kind in Borchert kann man auch bei Beckmann sehen. Borchert 143 Vgl. Rühmkorf 1961, S. 67. Vgl. ebd., S. 142. 145 Borchert 1996, S. 195. 144 28 fühlt sich sein ganzes Leben an seiner Mutter gebunden und das Kind Beckmann sucht Zuflucht in der Elbe, im Tod. Beide sind außerdem Personen, die deren Existenz und einen vermeintlichen Gott in Frage stellen. Ein Wesenszug bei Beckmann ist besonders deutlich als Borcherts zu erkennen. Das ist die Zwiespältigkeit, dass im Drama durch den Anderen zu erkennen ist. Borchert zeigte, auch in Zeiten von Gefangenschaft und Krankheit, nach außen den Optimistischen und Lachenden, obwohl ihm oft ganz anders zumute war. Beckmann zeigt sich umgekehrt, nach außen todessüchtig aber im inneren lebensbejahend. Das Ende wiederspiegelt doch die optimistische Haltung Borcherts: Beckmann entscheidet sich für das Leben. Auch deutlich zu erkennen, sind die persönliche Erfahrungen Borcherts, die im Drama eingearbeitet sind. Nicht nur Erfahrungen aus dem Krieg, sondern, und im größeren Ausmaß, Erfahrungen aus seiner Jugend. Als Beispiele kann hier ganz Konkret die Namensvorlagen des Protagonisten Beckmann und der Frau Kramer. Weniger Konkret, aber doch vorhanden, seine Erfahrungen als junger Mann im Verhältnis zu Frauen. Borchert sehnte sich sein ganzes Leben nach Bindung um gleichzeitig davor zu flüchten und Beckmann flüchtet bei geringstem Wiederstand von der Wohnung des Mädchens. Hier sind sowohl bei Borchert als auch bei Beckmann Bindungssucht und Bindungsfeindlichkeit vorhanden. Auch die gewählten Kulissen, wie etwa das Kabarett, die Elbe, das Haus der Eltern, und gewählte Ortsnamen, wie Ohlsdorf, Alsterdorf und Smolensk sind direkt aus Borcherts Leben entnommen. Der Ort Smolensk lässt sich auf seiner eigenen Stationierung dort zurückführen. Der Name Gorodok taucht in den Biographien über Borchert nicht auf, aber es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass Borchert von dem Ort hörte oder dass er sogar dort gewesen war in der Zeit an der Ostfront. In der Anlage ist zu erkennen wie die Orte Witebsk, wo Borchert stationiert war, und Gorodok nur in etwa 40 km Entfernung von einander liegen. 29 Während des Krieges, aber auch in der Nachkriegszeit, hat Borchert die Erfahrung des Hungerns und des Frierens gemacht. Genau diese Wörter, Frieren und Hungern hat Borchert wiederholt im Drama benutzt, was darauf deutet, dass diese Erfahrungen so tiefe Spuren hinterlassen hatte, dass er sie im Drama deutlich ausgesprechen wollte. Man kann auch seine persönliche Haltung zum Krieg ablesen indem das Drama als ein Protest gegen Krieg aufzufassen ist. Borchert hat die Elbe und Blankenese bei Hamburg als Ort für das Drama gewählt. Hamburg, die Stadt in der Borchert aufgewachsen war, lag ihm nach dem Krieg sehr am Herzen und er schreib schon vor dem Entstehen des Dramas mehrere Gedichte über seine Heimatstadt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Borchert aus persönlichen Gründen Hamburg als Ort für das Drama, und so auch als Heimat für Beckmann, wählte. Es ist auch wahrscheinlich, dass Borchert Beckmanns Besuch beim Direktor des Kabaretts deswegen stattfinden lässt, weil er selber ein begeisterter Schauspieler war, wenn auch kein hervorragender, was auch wiederum bei Beckmann der Fall ist. Auch war es Borchert nach dem Krieg sehr bewusst, dass heitere Literatur nachgefragt war, was er im Drama, zwar nicht Beckmann, aber den Direktor betonen ließ. Die Beschreibung der Eltern von Beckmann läßt sich wahrscheinlich auch auf Borcherts Eltern überführen, muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass er sich bewußt seine Eltern als Vorlage bedient hatte. Genauso verhält es sich mit seinem einbeinigen Onkel. Auch wenn Borchert gibt seine Erfahrungen vom Krieg nicht eins zu eins wiedert, er schrieb überhaupt sehr sparsam über seine Kriegserfahrungen, auch in seinen Briefen, kann man doch erkennen, dass er seine Kriegserfahrungen zum Teil als Vorlage genommen hatte und dass es selbstbiographische Bestandteile gibt mit eindeutiger Bezug in einigen Fällen und naheliegender Bezug in anderen. 30 4 Literaturverzeichnis 4.1 Primärliteratur Borchert, Wolfgang. (1956): Draußen vor der Tür. Auflage 2008, Rohwolt Verlags GmbH, Reinbeck. 4.2 Sekundärliteratur Borchert, Wolfgang (1996): Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg. Burgess, Gordon (2007): Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin. Packalén, Sture (2002): Literatur und Leben. Liber AB, Stockholm Poppe, Reiner (2003): Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür. Königs Erläuterungen und Materialien. Bange Verlag, Hollfeld. Rühmkorf, Peter (1961): Wolfgang Borchert. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg. Schröder, Claus B. (1985): Wolfgang Borchert. Die wichtigste Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur. Ernst Kabel Verlag GmbH, Hamburg Wolff, Jan-Geert (1999): Die Aufarbeitung des Kriegserlebnisses im Werk Wolfgang Borcherts. Magisterarbeit. Johannes Gutenberg-Universität, Mainz www.schuelerlexikon.de (12.04.2013), Suchwort: Trümmerliteratur www.literaturwelt.com (12.04.2013), Suchwort: Trümmerliteratur http://www.rowohlt.de/buch/Wolfgang_Borchert_Draussen_vor_der_Tuer.2381.ht ml (24.06.2013) 31