Hessisches Ministerium der Justiz
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Hessisches Ministerium der Justiz
Hessisches Ministerium der Justiz, für Integration und Europa Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt UAG Kooperationsmodelle zwischen Frauenberatungsstellen und Täter-/Männerberatungsstellen bei Häuslicher Gewalt Standards für Kooperationsmodelle zwischen Frauenberatungsstellen und Täter/ Männerberatungsstellen (verabschiedet von der AG II Häusliche Gewalt des Landespräventionsrates Hessen am 23. September 2013) 1. Anliegen und Ziele 1.1 Adressatinnen und Adressaten der Kooperationsarbeit: Paare mit Gewaltproblemen, die - zusammenleben, - sich in Trennung befinden, - nach der Trennung, wenn es noch gemeinsam zu bearbeitende Themen gibt. 1.2 Ziel: Gewaltfreie Partnerschaft für Frauen und Männer, das schließt ein: - Gewaltfreiheit in der Paarbeziehung und/oder während und nach der Trennung - Opferschutz für erwachsene Partner und Kinder. Zur Erreichung dieser beiden Ziele stellt die Kooperation zwischen Frauen- und Männerberatungsstellen einen wichtigen Baustein dar. Eine Kooperation ermöglicht die Entwicklung spezifisch aufeinander abgestimmter Hilfe- und Unterstützungsangebote. Das Wohl evtl. vorhandener Kinder ist immer im Auge zu behalten. 2. Häusliche Gewalt - Eine Begriffsklärung Häusliche Gewalt meint Gewalt zwischen erwachsenen Partnern in Beziehungszusammenhängen und wird überwiegend von Männern ausgeübt. Dabei muss nicht zwingend von einer häuslichen Gemeinschaft ausgegangen werden. Viele Gewalthandlungen finden beispielsweise während oder nach einer Trennung statt. Häusliche Gewalt kann physisch, psychisch, sexuell und durch Ausnutzung ökonomischer Druckmittel ausgeübt werden. Opfer von Häuslicher Gewalt sind auch die in der Beziehung lebenden Kinder, selbst wenn sich die Gewalt nicht direkt gegen sie richtet. D-65185 Wiesbaden Luisenstraße 13 Telefon (0611) 32-0 Telefax (0611) 32 26 19 E-Mail: [email protected] www.lks.hessen.de 3. Kooperationsebenen und Kooperationseinrichtungen 3.1 Runde Tische In allen Runden Tischen gegen Häusliche Gewalt sollen lokale Frauen- und Männerberatungsstellen mitwirken. 3.2 Austausch zwischen Frauen- und Männerberatungsstellen Beide Institutionen sollen sich über die jeweiligen Angebote und Arbeitsweisen sowie über aktuelle Themen regelmäßig austauschen. 3.3 Fallbezogene Kooperation (Ausführung siehe 4.) 3.4 Aufgaben Männerberatung Ziel: Beendigung von Gewalt durch: Konfrontation mit der Tat und den Tatfolgen Verantwortungsübernahme für eigene Gewalthandlungen Notfallplanung Entwicklung von Opferempathie Bearbeitung der Selbstwertproblematik, Entwicklung von Ich-Stärke Erkennen von Konfliktmechanismen, die zu Gewalthandlungen führen Erarbeitung von alternativen Handlungsstrategien Kontaktaufnahme zur betroffenen Frau mit Informationen über spezifische Beratungsangebote Ggf. Kontaktaufnahme zur Frauenunterstützungseinrichtung im Sinne des Opferschutzes. 3.5 Aufgaben Frauenberatung Ziel: Beendigung von Gewalt, Lösungswege aus Gewaltbeziehung erarbeiten durch: - Pro-aktive Beratung - Krisenintervention - Abklärung der Gefährdungssituation, Sicherheitsplan - Information über rechtliche Möglichkeiten (Gewaltschutzgesetz, Familienrecht) - Trennungsberatung - Empowerment, Stärkung und Erweiterung des Selbstbewusstseins - Aufklärung über Beratungsangebote für Männer - Kindeswohl: Schutzmöglichkeiten für die Kinder, Bedürfnisse der Kinder erkennen und besprechen, Stärkung der Erziehungskompetenz. 2 4. Konkrete Formen fallbezogener Kooperation von Frauen- und Männerberatungseinrichtungen 4.1 Soziale Einzelfallhilfe - Gegenseitige Information der Klientin/des Klienten über die Angebote der Frauenrespektive der Männerberatung, - Männerberatung: Ggf. Kontaktaufnahme mit der (Ex-)Partnerin zur Information über die Täterarbeit und die Möglichkeit der Frauenberatung, - Frauenberatung: Information der Frauen über das Angebot der Männerberatung. 4.2 Paarberatung 4.2.1 Grundhaltung der BeraterInnen - Eindeutige Positionierung gegen Gewalt - Neutralität gegenüber der Gestaltung der Paarbeziehung und deren Entwicklung - Ergebnisoffene Haltung der Berater/innen. 4.2.2 Voraussetzungen für eine Paarberatung - Der Mann hat die Verantwortung für seine Gewalttaten übernommen - Die Frau und der Mann sollten vor und während der Paarberatung getrennt durch Frauen- bzw. Männerberatungsstelle beraten werden, diese Beratung kann einzeln oder in einer Gruppe stattfinden. 4.2.3 Setting - Die Beratung erfolgt durch eine Frauenberaterin und einen Männerberater - Zeit, Ort und Frequenz der Beratung richtet sich nach dem jeweiligen Fall und wird in Absprache mit dem Paar durch die BeraterInnen festgelegt. 4.2.4 Inhalte - Auftragsklärung Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle Reflexion der Paardynamik, damit Eskalationskreise unterbrochen werden können Erarbeitung von gewaltfreien Konfliktlösungsmöglichkeiten Elternverantwortung sofern Kinder vorhanden sind. 4.2.5 Professionalität der BeraterInnen - Ausbildung in Beratung oder Therapie Erfahrung in der Frauen- und Männerberatung bei Häuslicher Gewalt Interkulturelle Kompetenz Bereitschaft zu gemeinsamer Supervision. 3 4.3 Fachaustausch - Vor- und Nachbereitung der Paarberatung - Über Fälle in der sozialen Einzelfallhilfe. 5. Überprüfung der Standards Diese Standards werden regelmäßig überprüft (spätestens alle zwei Jahre) und von der AG II Häusliche Gewalt entsprechend aktualisiert. Anhang Drei Praxisbeispiele beteiligter Kooperationsmodelle (August 2013) 1. Kooperation Frauen- und Männerberatung in Groß-Gerau In Groß-Gerau existiert seit 1984 das Frauenhaus und seit 1987 die Frauenberatungsstelle unter der Trägerschaft des Vereins Frauen helfen Frauen e.V. Groß-Gerau. Im Jahr 1991 gründete sich der Runde Tisch mit dem Ziel das Thema häusliche Gewalt in den Fokus zu setzen und zwischen den beteiligten Institutionen Kooperationsformen zu entwickeln. Mit Unterstützung des Runden Tisches wurde 1995 die Männerberatung unter dem Dach des Diakonischen Werkes etabliert. Die Kooperation zwischen Frauen- und Männerberatung bestand zunächst im Austausch am Runden Tisch und gegenseitigen Empfehlungen für Opfer und Täter. Die konkrete Kooperation begann 2008 mit der Ausstellung „Rosenstraße“. Im gleichen Jahr besuchte die Frauenberaterin und der Männerberater gemeinsam alle Polizeistationen im Kreis Groß-Gerau um über den pro-aktiven Ansatz für Opfer und Täter zu sprechen. Im darauf folgenden Jahr begann die gemeinsame Fallarbeit in Form von Vermittlung von Frauen der Täter an die Frauenberatung In geeigneten Fällen gemeinsame Erstgespräche der Frauen von Tätern in der Frauenberatungsstelle Vermittlung von Männern der Frauen, die die Frauenberatung/Frauenhaus aufsuchen an die Täterberatung Paarberatung. 4 Es bedarf eines genauen Blickes auf den Einzelfall, ob und wie die Kooperationen gestaltet werden. Wenn sie zustande kommen, sind sie in jedem Falle wertvoll für die Arbeit gegen häusliche Gewalt. Gisela Steinhauser & Volker Feix 2. Kooperation Frauen- und Männerberatung im Main-Taunus-Kreis Im Main-Taunus-Kreis gibt es seit 1985 den Verein „Frauen helfen Frauen MTK e.V.“ mit einer Beratungsstelle (seit 1986) und einem Frauenhaus (seit 1987). Um die Hilfsangebote für Betroffene bei häuslicher Gewalt weiter auszubauen und zu vernetzen wurde 1998 der AK „Gewalt in der Familie im MTK“ gegründet. Auf dessen Initiative entstand 2007 die Männerberatungsstelle des Diakonischen Werks Main-Taunus. Seit 2009 sind “Frauen helfen Frauen MTK e.V.“ und die Männerberatungsstelle Interventionsstellen und kooperieren eng miteinander. Ein Ergebnis ist u.a. die im Jahr 2011 erarbeitete Kooperationsvereinbarung zur gemeinsamen Durchführung von Paargesprächen in von Gewalt geprägten Beziehungen: Präambel: Jeder Mensch hat das Recht auf ein gewaltfreies Leben. Die Leistungen der Frauenberatungsstelle und der Männerberatungsstelle orientieren sich an Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes, wonach „die Würde des Menschen unantastbar“ ist und „jede/r das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ hat. Häusliche Gewalt verletzt immer die Würde und das Selbstbestimmungsrecht der Opfer und kann schwere und anhaltende Folgen haben. Sie findet im geschützten Rahmen von Partnerschaft und Familie statt und umfasst psychische, physische, sexuelle und ökonomische Handlungen. Macht und Kontrolle stehen dabei im Mittelpunkt der Gewalt. Neben den direkt Geschädigten sind auch die in einer Familie lebenden Kinder immer von Gewalt mit betroffen, selbst wenn sich diese nicht direkt gegen sie richtet. Zielgruppe: Die Gespräche richten sich an Paare, die an einer gewaltfreien Partnerschaft arbeiten und ihre Beziehung und/oder Familie erhalten wollen. Sie richten sich auch an Paare, die eine anstehende Trennung gewaltfrei regeln wollen sowie an Eltern, die im Rahmen einer Trennung Konflikte rund um die Kinder gewaltfrei lösen wollen, um so ihrer Elternverantwortung gerecht zu werden. Ziele: Beendigung von Gewalt Erlernen gewaltfreier Konfliktlösungen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle innerhalb der Paardynamik Voraussetzungen: Es müssen Schweigepflichtsentbindungen von allen Beteiligten vorliegen. Vorab müssen Einzelgespräche mit dem Mann in der Männerberatungsstelle und mit der Frau in der Frauenberatungsstelle stattgefunden haben. Die Paargespräche werden von den KollegIn5 nen der Männer- und Frauenberatungsstelle gemeinsam vor- und nachbereitet und durchgeführt. Beratungsort: Die Gespräche finden an einem neutralen Ort, z.B. im Sozialbüro Main-Taunus statt. Termine werden gemeinsam vereinbart. Fazit: Das Kooperationsmodell ist fallabhängig eine sinnvolle Ergänzung zu den jeweiligen Einzelberatungen und wird von den KlientInnen gut angenommen. Aufgrund der engen Personaldecke können wir es zurzeit nur in Einzelfällen durchführen. Mit mehr Personalressourcen könnten wir den Bedarf der KlientInnen besser decken, indem wir das Angebot erweitern könnten. Petra Gokkenbach & Michael Calmano 3. Kooperation Frauen- und Männerberatung im Werra-Meißner-Kreis: Modellprojekt „Intervenierende Paarberatung bei häuslicher Gewalt“ Die Träger des Angebotes sind die AWO-Männerberatung und die Frauenberatungsstelle des Vereins Frauen für Frauen - Frauen für Kinder im Werra-Meißner-Kreis, finanziert wird die Arbeit über kommunalisierte Landesmittel des Werra-Meißner-Kreises. Das Konzept der Paarberatung bei häuslicher Gewalt ist aus der Arbeit des hiesigen Runden Tisches gegen häusliche Gewalt hervorgegangen, der 1999 gegründet wurde und von der Gleichstellungsbeauftragten des Kreises koordiniert und geleitet wird. Die intensive Zusammenarbeit im Rahmen der Interventionsgruppe des Runden Tisches – dazu gehören Gleichstellungsbüro, Frauenberatungsstelle, Frauenhaus, AWO – Männerberatung, Polizei, Jugendamt, Gesundheitsamt und ein Psychotherapeut – ermöglichte die Entwicklung des Kooperationsmodells zur Paarberatung im Rahmen von häuslicher Gewalt im Jahr 2007 und den Beginn der Beratungstätigkeit 2008. Unser Angebot richtet sich an Paare, die innerhalb der Interventionsarbeit des Runden Tisches gegen häusliche Gewalt z.B. im Anschluss an einen polizeilichen Einsatz auf Angebote der Frauenberatung und der Männerberatung aufmerksam gemacht werden, diese auch Beide nutzen und innerhalb der Einzelgespräche auf beiden Seiten ihr Interesse an Paargesprächen äußern. Paarberatung kommt auch über andere Wege zustande. Voraussetzung ist immer, dass beide diese Gespräche wollen und dass im Vorfeld Einzelgespräche stattgefunden haben, die die Gewaltthematik bearbeiten. 1. Die Methoden und Ziele der Beratung beinhalten: - Wertschätzung der beteiligten Personen - Beendigung des Gewaltverhaltens (physisch/psychisch) zunächst mit Trainingsanteilen (erfolgt besonders in der Einzelberatung) - Methoden, die die kommunikative Kompetenz und Konfliktlösefähigkeit erweitern. Erkennen von typischen Interaktions- und Konfliktmustern, Erarbeiten und Ausprobieren neuer Lösungsstrategien, die die alten Muster zunehmend ersetzen sollen 6 2. Voraussetzung für die Paarberatung: - Wunsch nach Beendigung der Gewalt in der Beziehung - Verantwortungsübernahme für die Gewalt und die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen (Beratung, Training) - Bereitschaft sich mit der eigenen Rolle innerhalb der Paardynamik auseinanderzusetzen - Freiwilligkeit 3. Zugangswege: - Zugang über Interventionsmodell - Einverständniserklärung - Staatsanwaltschaft - Gericht Auflage für den Mann - aus bereits laufenden Beratungssitzungen heraus - andere Beratungsstellen oder Anlaufstellen im psycho-sozialen Bereich - Eigeninitiative 4. Struktur: - Vorbereitende und begleitende Einzelgespräche in der Frauen- und Männerberatungsstelle - Gespräche im Vierersetting Resümee Durchschnittlich haben wir mit 10 – 12 Paaren pro Jahr mit unterschiedlichen Verläufen gearbeitet. Viele Paarbeziehungen werden trotz bestehender und oft eskalierender Gewaltproblematik weitergeführt. Die Chance, dass diese Gewaltproblematik im Rahmen „privater“ Versuche gelöst werden können, halten wir für sehr gering. Von daher sehen wir einen hohen Bedarf an Unterstützung von außen, wenn ein oder mehrere Beteiligte Veränderungsbedarf anmelden. Diese Unterstützung sollte immer lösungsorientiert auf Veränderung und Erhöhung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Beteiligten zielen. Beratende Unterstützung erfolgt traditionell in Einzelgesprächen. Sind die entsprechenden Voraussetzungen gegeben, um Paarberatung anzubieten, eröffnen sich damit ganz neue, vielfältige Möglichkeiten systemisch zu arbeiten, die Paardynamik zu betrachten und zu bearbeiten und hier mehr Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit aufzubauen. Das spezielle Setting der wechselnden Vierer- und Zweierkonstellation stellt enorme Ansprüche an die Interventions-, Differenzierung- und Distanzfähigkeit der beteiligten BeraterIn. Dazu gehört auch die hohe Verantwortung aufgrund der bestehenden Gewaltproblematik Wir betrachten dies als positive Herausforderung. Die Paarberatung unterstützt und ermöglicht positive Veränderungen. In der noch nicht veröffentlichen Studie der Universität Kassel zu unserem Modell, haben die befragten Paare dies bestätigt. 7 Anfragen führen nicht selbstverständlich zu einer Paarberatung im konzeptionellen Sinne. Viele Faktoren müssen berücksichtigt und wichtige Vorarbeit geleistet werden. Deshalb gibt es wesentlich mehr Vorgespräche und Vorinformationen zur Paarberatung als dann durchgeführte Beratungsreihen. Von den Paaren, die zur Beratung kamen, waren einige zusätzlich zur Gewaltproblematik in hoch belasteten Situationen. Bei vielen waren akute Krisen vorhanden, oft war die Beratungssitzung eine der wenigen Möglichkeiten, ohne Streit und/oder Eskalation bis hin zur Androhung oder Ausübung von Gewalt miteinander zu sprechen. Birgit Schünemann-Homburg & Christoph Lyding 8