Das Beraubungsargument gegen die Tötung von Tieren

Transcription

Das Beraubungsargument gegen die Tötung von Tieren
GASTEDITORIAL
TIERethik
6. Jahrgang 2014/1
Heft 8, S. 7-13
Das Beraubungsargument gegen die Tötung
von Tieren
Jean-Claude Wolf
Aus ethischer Perspektive gibt es mehrere Arten von Gründen, die gegen
das Töten von Tieren sprechen. Indirekte Gründe gegen die Tötung beziehen sich auf moralische Nebenwirkungen – entweder auf das Tier
selber (Leiden) oder auf Dritte, z.B. die Depressionen eines Muttertiers,
dem man die Jungen wegnimmt (und tötet). Oder es sind Rücksichten auf
Interessen und Rechte von Menschen, die durch die Tötung eines Tieres
verletzt werden.
Tiere zum Spaß oder routinemäßig zu töten, kann zu einer Verrohung
der Gefühle führen. Es besteht vielleicht eine brutale und rücksichtslose
Haltung gegenüber dem Leben, eventuell eine barbarische Mentalität,
welche auch die Tötungshemmung gegenüber Menschen herabsetzt.
Auch das Verrohungsargument ist ein indirektes Argument, das die Risiken für den Charakter des Akteurs und seiner Mitmenschen im Blick hat.
Ebenfalls indirekt ist die Begründung: Wenn ich ein empfindungsfähiges Tier töte, vermindere ich die Summe der Lust in der Welt. Indirekt
ist dieses Argument, weil es nicht um das Recht oder den Wert des individuellen Tieres geht, sondern um das Tier als Gefäß von Lust. Wertvoll
oder direkt schutzwürdig ist nicht das Gefäß, sondern die Lust, die es
empfindet. Indirekte Gründe sind oft wichtig und sogar ausschlaggebend.
Gleichwohl sind es nicht Gründe, welche die Tötung als solche, unabhängig von Nebenwirkungen, beurteilen.
Nicht alle Argumente, die sich auf die Folge der Lustverminderung
beziehen, sind jedoch indirekte Argumente. Ich werde ein Argument erörtern, das besagt: Es ist falsch, ein empfindungsfähiges Lebewesen zu
töten, weil man ihm Lebenszeit und Lebensfreude raubt – nicht weil man
die Summe der Lust in der Welt verringert. Es handelt sich um einen
direkten Grund gegen die Tötung.
Tiere töten
TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1) | 7 |
| Jean-Claude Wolf
Direkte Gründe haben etwas mit dem Tier und dessen eigener Lebensdauer zu tun. Ich nehme einem empfindungsfähigen Tier die Gelegenheit
zu künftiger Lust und Lebensfreude, wenn ich es töte. Man kann sich
allerdings fragen, ob es eine moralische Pflicht gibt, die künftige Lust
eines Lebewesens zu erhalten. Man könnte sagen: Was zählt und für ein
Lebewesen wichtig ist, ist vielmehr die gegenwärtige Lust.
Der Versuch, das Tötungsverbot hedonistisch zu begründen, wurde
häufig mit dem Hinweis abgewertet, dass empfindungsfähige Tiere im
Augenblick aufgehen. Sie haben, so wurde behauptet, keine zukunftgerichteten Interessen und insofern auch kein Interesse, künftige Lust zu
erleben oder künftige Schmerzen zu vermeiden. Überdies gibt es keine
Pflicht, Tiere zu züchten und auf die Welt zu stellen, um ihnen mit dem
geschenkten Leben künftige Freuden zu garantieren. Die Annahme einer
Pflicht, die Zahl der Tiere zu vermehren um ihrer künftigen Freuden willen, mag absurd erscheinen. Diese Einwände mögen dazu beitragen, dass
manche Kritiker auf ein einziges Muster der Begründung des Tötungsverbotes fixiert sind, das Bezug nimmt auf die Durchkreuzung
höherstufiger Präferenzen.
Bevor die Begründungen des Tötungsverbotes genauer betrachtet
werden, muss ein haltungsethisches Argument erwähnt werden. Das Töten von Tieren ist nicht nur wegen seiner Folgen (Kollateralleiden wie
Schmerzen, Angst, Panik, Trennungsschmerz angehöriger Tiere) moralisch problematisch, sondern auch als Ausdrucksverhalten. Tötung von
Lebewesen bringt meist eine Missachtung zum Ausdruck; am einfachsten
fällt es uns, ein Insekt zu töten, das wir als ein „inferiores“ Lebewesen
betrachten. Ein Wesen, das ich vernichten darf, scheint keinen Eigenwert
zu haben und keine oder eine nur sehr verminderte moralische Erwägung
zu verdienen. Was ich vernichten darf, darf ich auch verachten, geringschätzen, abwerten, gefangen halten, in mancher Hinsicht einschränken
und nur für kurze Zeit leben lassen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen erlaubter Vernichtung und der Degradierung zur Ware. Tiere werden nicht als Individuen, sondern als Bioware gezüchtet, gemästet und
geschlachtet. Bioware ist ein hybrider Begriff, der beliebige Eingriffe
zulässt, abgesehen von der verbotenen Zufügung unnötiger Leiden. Ich
kann eine Bioware auch genetisch verändern oder züchterisch anpassen
und deformieren.
Wer davon überzeugt ist, dass Tiere nicht bloße Dinge oder Waren
sind, mit denen wir machen können, was wir wollen, wird die Tötung von
Tieren als problematisch betrachten. Es gibt ein gewisses Problembewusstsein, das allerdings meist durch Hinweise auf Notwendigkeiten des
| 8 | TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1)
Tiere töten
Gasteditorial |
Überlebens oder auf andere angeblich gewichtige Gründe überdeckt wird,
die zumindest eine rasche und schmerzlose Tötung von Tieren völlig
anders beurteilen lassen als die Tötung von Menschen. Was als unparteiische Einstellung beginnt, endet als befangenes Nutzungsinteresse.
Der Alltagsverstand sagt: Tiere nur zum Spaß zu töten, ist frivol, sie
zu Nahrungszwecken oder zu anderen Formen der Nutzung zu töten,
dagegen nicht. Kann sich eine kritische moralische Beurteilung auf den
Common Sense allein stützen? Oder ist dieser bereits durch eine inkohärente Mischung von Unparteilichkeit und Parteilichkeit gegenüber Tieren
kontaminiert?
Was die Tötung zu Nahrungszwecken betrifft, so gibt es das humanistische Vorurteil gegen Kannibalismus und die damit verbundene Auffassung, Kannibalismus sei barbarisch. Damit wird nicht nur die Lizenz zum
Mord verurteilt, sondern der Aspekt der „Verunreinigung“ durch den
Genuss von Menschenfleisch. Wer Menschenfleisch genießt, wird zum
Monster. Es gilt nicht nur als falsch, sondern als ekelhaft und pervers,
Menschen zu „fressen“. Menschenfresser sind „primitiv“ oder „krank“
oder „böse“; es handelt sich um Menschenfeinde und Menschenhasser.
Der Versuch, Kannibalismus als Lebensform (nicht als grausige Überlebensnotwendigkeit) zu verteidigen, hat keine Chancen, ernst genommen
zu werden. Eigentlich erscheint es bereits seltsam, Gründe gegen den
Kannibalismus anführen zu müssen. Menschen schlachtet man nicht –
und wer es tut, wird nicht mit Gründen und Argumenten, sondern mit
Sanktionen und dem harten Kern des Strafrechts konfrontiert.
Der gruselige Aspekt des Kannibalismus macht es zu einem fast unverständlichen Unternehmen, die Frage ernsthaft zu diskutieren, warum
man Menschen nicht schlachten darf. Wer solche Fragen diskutiert,
scheint nahezulegen, dass man das Tötungsverbot demnächst lockern und
Lizenzen zum Töten großzügig verteilen möchte. Er (oder sie) scheint die
Freiheit zu philosophieren zu missbrauchen. Solche Bedenken missachten
jedoch den Unterschied zwischen einer Erwägung von Gründen und der
Anstiftung zur Gewalt. Dieser Unterschied kann nur in ganz besonderen
Situationen tatsächlich bedeutungslos werden. Es gibt Zeiten und Orte,
die ein Gespräch über Kannibalismus zur Planung oder zum Versuch
eines Verbrechens machen.
Gefühle und Einstellungen gegenüber der Tötung von Menschen und
Tieren werden kaum bei allen Menschen vollständig konvergieren. Die
Erklärung dafür liegt nicht so sehr darin, dass es an sich moralisch verwerflicher wäre, Menschen statt „nur“ Tiere zu töten (ob das der Fall ist,
soll hier gar nicht entschieden werden), sondern vielmehr darin, dass es
Tiere töten
TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1) | 9 |
| Jean-Claude Wolf
für die Furchtabwehr von menschlichen Gemeinschaften wichtig ist, diesen Unterschied tief zu empfinden. Ein Menschenmörder ist eine ganz
andere Bedrohung als ein Tiermörder. Darum sind Tod und Tötung von
Menschen mit ganz anderen Gefühlen assoziiert: Eine Lockerung der
Lizenz zur Schlachtung von Menschen wird Furcht und Panik verbreiten.
Dies ist bei der Lizenz zur Tötung von Tieren nicht der Fall. Selbst engagierte Tierbefreier, welche jede Form der Tötung von Tieren ablehnen,
werden in einer Gesellschaft von erlaubten Tierschlachtungen besser
schlafen als in einer Gesellschaft, in der sich die Lizenz zur Schlachtung
auf (eigene) Kinder, Nachbarn und Freunde erstreckt. Das bloße Wissen
darum, dass andere gegenüber Tieren moralisch falsch handeln, ist weniger beunruhigend als das Wissen darum, völlig ungeschützt von anderen
Menschen ungerecht und brutal behandelt zu werden.
Gegen die Tötung von Tieren wurden bisher u.a. folgende Argumente in
Erwägung gezogen:
1.
2.
3.
Wenn Lebewesen zukunftbezogene Präferenzen haben, ist ihre
Tötung moralisch falsch. Ich werde dieses Argument, das eine gewisse Plausibilität hat, nicht weiter diskutieren. Es wurde absichtlich hypothetisch formuliert. Es auferlegt die Last des empirischen
Nachweises, welche Lebewesen zukunftbezogene Präferenzen haben und in diesem Sinne „Personen“ sind. Und es sagt nichts zur
Tötung von Wesen, welche keine zukunftbezogenen Präferenzen
haben.
Wenn Lebewesen empfindungsfähig sind, ist es falsch, sie unter
Verursachung von Schmerzen und anderen Leiden wie Panik, Leiden durch Isolation u.a. zu töten. Eine schmerzfreie und rasche Tötung dagegen ist moralisch unproblematisch. Dieses Argument sagt
nichts über mögliche direkte Gründe gegen die Tötung.
Wenn Lebewesen empfindungsfähig sind, ist es falsch, sie ihrer
Lebensdauer und Lebensfreude zu berauben. Wenn man sie tötet,
verringert man wahrscheinlich die Summe ihrer Lebensfreude (außer wenn man sie tötet, um ihnen schwere Schmerzen zu ersparen).
Ich nenne dies das Beraubungsargument. Beraubt wird nicht das
Universum um eine Portion Lust, sondern das individuelle Lebewesen. Jedes empfindungsfähige Lebewesen ist natürlicher Eigentümer einer Lebensprämie. ‚Natürlich‘ ist diese Prämie aus der
Sicht einer wohlwollenden und unparteiischen Sicht der Dinge, die
jedem das Seine lässt und frei ist von einseitigen Nutzungs- und
| 10 | TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1)
Tiere töten
Gasteditorial |
Profitinteressen. (Eine naturrechtliche Deutung dieser Überlegung
ist nicht beabsichtigt.)
Das Beraubungsargument setzt wenig voraus; es setzt z.B. keine höheren
kognitiven Leistungen und damit zusammenhängende höherstufige Präferenzen voraus. Es scheint auch ein Höchstmaß von Unparteilichkeit zu
enthalten; wahrgenommen wird das ganze Ausmaß der Problematik der
Tötung von Tieren erst dann, wenn keine Nutzungs- oder Profitinteressen
dazwischentreten. Ohne solche Interessen verschwindet auch das Interesse daran, die Lebensdauer von Tieren zu verkürzen – es sei denn ein
„selbstloses“ Interesse, ihnen unvermeidbare und unerträgliche Schmerzen zu ersparen.
Das Beraubungsargument hat einen weiteren Vorzug: Es stimmt mit
der Überzeugung überein, dass es auch direkte Argumente gegen die
Tötung von Säuglingen gibt – d.h. Argumente, die sich nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich darauf stützen, dass Säuglinge menschliche
Lebewesen (Spezieszugehörigkeit) oder potentielle Personen (Potentialitätsargument) sind oder bereits zukunftbezogene Interessen haben. Es
geht hier nicht um indirekte Argumente, die besagen, dass man dem
Säugling mit einer unangemessenen Tötungsmethode Schmerzen zufügt,
dass man die Angehörigen betrübt sowie Gefühle und Interessen Dritter
verletzt. Das einfachste direkte Argument besagt, dass man den Säugling
seiner Prämie an Lust und Lebensdauer beraubt, auch wenn er nur drei
oder vier Monate leben würde. Selbst in dieser kurzen Zeit kann er sich
intensiv freuen und freudig entwickeln. (Ausgenommen sind Säuglinge,
die intensive Schmerzen haben, die man in dieser kurzen Zeit nicht angemessen behandeln könnte oder die nur eine geringe Lebenserwartung
von wenigen Tagen haben.)
Wer die „starke Intuition“ akzeptiert, dass es aus dem genannten direkten moralischen Grund falsch ist zu töten, kann nicht verhindern, dass
dieses Argument auf nicht-menschliche empfindungsfähige Lebewesen
angewendet wird, die noch keine höherstufigen Präferenzen haben und
nie solche haben werden. Verhindern könnte man diesen Schritt nur
durch die Aufrichtung einer willkürlichen Speziesbarriere.
Gegen das Beraubungsargument ließe sich einwenden, dass sich die
vermeintlich „starke Intuition“ aus der (anfechtbaren) Intuition speist, es
gebe eine Pflicht, Lust in der Welt zu erhalten oder gar zu vermehren. Es
könnte widersprüchlich erscheinen, die Pflicht zur Bewahrung einer Lebensdauer- und Lustprämie nur auf bereits bestehende Wesen anzuwenden und nicht auf mögliche Wesen, die man zusätzlich zeugen oder züchTiere töten
TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1) | 11 |
| Jean-Claude Wolf
ten könnte. Es wäre gleichbedeutend mit einem Rückfall auf die Annahme einer Pflicht zur Züchtung oder Erzeugung möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen unter sich nicht verschlechternden Lebensbedingungen. Ich glaube jedoch nicht, dass diese Vermischung unvermeidbar ist,
wenn man bedenkt, dass die präskriptive Überzeugung („Nimm existierenden empfindungsfähigen Lebewesen nicht Lebensdauer und Lust
weg!“) nicht nur im Verstand, sondern auch im Mitgefühl verankert ist.
Mitgefühl haben wir vor allem mit existierenden Wesen, die als Individuen identifizierbar sind. Es ist unwahrscheinlich, dass wir Mitgefühl mit
nicht-existierenden Wesen empfinden. Vielleicht können wir ein schwaches Mitleid mit nicht-existierenden Wesen haben, wenn wir uns dazu
entschließen, ihnen Leid zu ersparen, indem wir ihre Geburt unter besonders ungünstigen Umständen (z.B. in bitterer Armut oder in den Wirren
eines Kriegs) verhüten oder verhindern. Das scheint einer der seltenen
Fälle zu sein, in denen ein praktisch relevantes Mitleid mit nicht-existierenden Wesen denkbar ist. (Praktisch irrelevant ist das Mitgefühl mit
fiktiven Wesen, denen wir nicht helfen und die wir nicht retten können.)
Tötung von Tieren wird einigen als moralischer Skandal erscheinen,
weil sie Bestandteil einer skandalösen Ausweitung der Kultur von Gewalt
ist. Wenn es eine Freiheit des Menschen gibt, den Impulsen zur Gewalt
zu widerstehen, dann kann er auch moralisch verantwortlich gemacht
werden für Akte bzw. Systeme der Gewalt. Auch hier ist es denkbar, die
Bildung von Verstand und Herz, Argumentation und Gefühl stärker zu
koordinieren. Es ist nicht nur ein „Bauchgefühl“ oder eine evolutionäre
Tötungshemmung gegenüber der direkten brachialen Tötung von Artgenossen, sondern auch ein Gefühl, „unschuldiges“ Leben, das leben „will“
und aus dem gleichen „Grund“ stammt wie unser eigenes Leben, zu respektieren und dem Wachstum und Gedeihen anderer Lebensformen mit
Ehrfurcht zu begegnen. Das Argument der Beraubung macht den Aspekt
der Enteignung als Form der Gewalt sichtbar. Einem empfindungsfähigen
Wesen seine Prämie von Lebenszeit und Lebensfreude zu verkürzen, ist
Diebstahl und Gewalt.
| 12 | TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1)
Tiere töten
Gasteditorial |
Zur Person
Jean-Claude Wolf wurde 1953 in Davos geboren, studierte in Zürich,
Bern und Heidelberg Philosophie, Germanistik und Literaturkritik. Er
promovierte und habilitierte sich an der Universität Bern. Seit 1993 ist er
Ordinarius für Ethik und politische Philosophie an der Universität Freiburg, Schweiz. Wolf beschäftigt sich mit Themen aus dem Bereich der
Ethik, Rechtsphilosophie, Utilitarismus, Liberalismus, philosophischem
Pragmatismus sowie den Philosophen Spinoza, Kant, Schopenhauer und
Nietzsche. Er zählt zu den renommiertesten Tierethikern im deutschsprachigen Raum. Sein 1992 erschienenes Buch Tierethik. Neue Perspektiven
für Menschen und Tiere, das 2005 in 2. Auflage erschienen ist, gilt als
Standardwerk zur Einführung in die Grundlagen der zentralen philosophischen Argumente in der Tierethik.
Korrespondenzadresse
Prof. Jean-Claude Wolf
Philosophisches Departement
Universität Miséricorde
1700 Fribourg
Schweiz
E-Mail: [email protected]
Tiere töten
TIERethik, 6. Jg. 8(2014/1) | 13 |