Zurück zu den 10 Geboten? Gesetzesflut und Strafrecht
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Zurück zu den 10 Geboten? Gesetzesflut und Strafrecht
Zurück zu den 10 Geboten? Gesetzesflut und Strafrecht M. A. Niggli Ausgangslage* Unser Zeitalter ist von einer geradezu explosionsartigen Zunahme des Rechtes, einer wahren Gesetzesflut, gekennzeichnet. Nimmt man alleine die bereinigte bzw. amtliche Sammlung schweizerischer Gesetze (in der sämtliche Erlasse des Landes veröffentlicht werden müssen) als Basis, so zeigt bereits ein sehr grober Massstab wie die Seitenzahl (unter Vernachlässigung des Seitenspiegels, der Formatierung etc.), dass sich die Gesetzesmasse seit dem 2. Weltkrieg um mehr als das Doppelte stetig gesteigert hat (vgl. Schaubild 1; die grau gestrichelte Linie zeigt den Trend an). Diese Entwicklungen ist allerdings keine schweizerische Eigenheit, sondern Merkmal aller modernen bzw. postmodernen Gesellschaften. Schaubild 1 – Entwicklung der Seitenzahl der Bereinigten Sammlung / Amtlichen Sammlung Schweizerischer Gesetze (BS/AS) – 1939 bis 1999 4'000 3'500 3'000 Seiten 2'500 2'000 1'500 1'000 500 0 1939 * 1944 1949 1954 1959 1964 1969 Jahr 1974 1979 1984 1989 1994 1999 Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 17. Mai 2000 an der Universität Freiburg gehalten wurde. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. Die Seitenzahlen entsprechen der publizierten Fassung. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 137 Insbesondere einer konservativ-liberalen Position gilt die Zunahme des Rechtsstoffes als verdächtig, wenn nicht als verwerflich, weil dadurch – so die Vermutung – die Dominanz des Staates gegenüber der Entscheidungskompetenz des Einzelnen zunehmend in den Vordergrund rücke. Das Argument setzt dabei (meist unausgesprochen) rechtliche (d.h. staatliche) Regelung in Kontrast zur Freiheit des Einzelnen und betrachtet den Zusammenhang |Freiheit-Recht| als Nullsummenspiel, d.h. mehr vom einen bedeutet automatisch weniger vom anderen. Im wesentlichen läuft dies auf die bekannte Formel "Mehr Freiheit, weniger Staat" (oder in der simplizistischen Form: "Freie Fahrt für freie Bürger") hinaus. 1. Die Gefahren einer Zunahme des Rechtsstoffes Zugegeben sei vorweg, dass die Zunahme des Rechtsstoffes tatsächlich Schwierigkeiten mit sich bringt, allerdings ganz andere als diejenigen, die ein einfaches Weltbild vermuten würde. 1.1 Das Recht und die Vernunft Die quantitative Zunahme des Rechts erscheint vorweg problematisch nicht deshalb, weil dadurch andere Kategorien (wie etwa Freiheit) zurückgedrängt würden, sondern vielmehr weil wesentlichste Grundannahmen des Rechtes selbst in Frage gestellt werden. Prinzipiell nämlich fusst das heute gültige Recht in seiner wesentlichen Essenz immer noch auf Vorstellungen, die bereits aus der Aufklärung stammen. Nach aufgeklärter Vorstellung wird das Recht nicht nur von einem aufgeklärten Aktor (dem vernünftigen Herrscher) erlassen, sondern richtet sich insbesondere auch an den aufgeklärten Rechtsadressaten (den vernünftigen Menschen). Entsprechend dieser überkommenen Auffassung, die grösste Teile unserer Rechtsordnung weithin dominiert, ist primäre Voraussetzung der Gültigkeit einer Norm, dass der Normadressat sie überhaupt bewusst zur Kenntnis nehmen kann. Aus dieser Vorstellung fliesst ein ganzer Rattenschwanz von grundsätzlichsten Prinzipien des Rechtes überhaupt. Genannt seien nur einige wenige: M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 138 • die Grundregel, dass ein Erlass keine Gültigkeit erlangen könne, bevor er nicht publiziert, d.h. allgemein bekannt (bzw. einsehbar) gemacht worden ist; • das sogenannte Rückwirkungsverbot, d.h. der Grundsatz, dass eine Rechtsregel nur auf Sachverhalte Anwendung finden kann, die sich nach dem Inkrafttreten der Regel ereignet haben; • der Grundsatz, dass Rechtsregeln schriftlich fixiert sein sollen (auf dass man sie nachlesen könne); der Grundsatz, dass Rechtsregeln klar und verständlich sein müssen (weil sie ja ansonsten nicht korrekt wahrgenommen und verstanden werden können). Der aufgeklärten Vorstellung folgend machen all diese Prinzipien Sinn, denn von keinem Rechtsadressaten kann erwartet werden, dass er sich bewusst an Regeln halte, die er nicht kennt oder die er nicht korrekt verstehen konnte. Gleichzeitig wird indes auch offensichtlich, warum die Zunahme des Rechtsstoffes für diese Prinzipien problematisch sein muss: Wenn die Quantität des gesetzten Rechtes ein bestimmtes Niveau überschreitet, wird der fiktive Charakter der vorstehenden Annahmen überdeutlich. Zwar kann nach wie vor behauptet werden, die gesetzlichen Regelungen seien publiziert und damit dem Einzelnen zugänglich, so dass dieser sich jederzeit darüber informieren könne, was genau er zu tun und was er zu lassen habe. Doch wird alleine durch die schiere Masse des täglich neu geschaffenen Rechtes die beschriebene Annahme immer unrealistischer. Verschärft wird dieses Problem durch zwei korrespondierende Phänomene. Zum einen nimmt die Dynamik des Rechts zu, d.h. die zunehmende Geschwindigkeit, mit welcher bestehendes Recht wieder abgeändert wird. Zum andern stattet der Gesetzgeber neue Erlasse zunehmend mit eigenen Strafnormen aus, so dass selbst ein Blick in eine absolut aktuelle Fassung des Strafgesetzbuches nicht mehr viel hilft. Im gegenwärtigen Zeitpunkt z.B. sind über zweihundert Erlasse mit eigenen Normen strafbewehrt und alleine schon den Überblick darüber zu gewinnen ist ausserordentlich schwierig. Als Konsequenz aus all ergibt sich: Ist der Rechtsadressat rein faktisch nicht mehr in der Lage, sich umfassend und verlässlich über die geltenden Regelungen zu informieren, so kann ihm auch nicht wirklich ein Vorwurf gemacht werden, wenn er sich nicht daran hält. Die quantitative Zunahme des Rechts bringt in letzter Konsequenz also die Grundannahmen des Rechts selbst zu Fall. • M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 139 1.2 Der offene Charakter der Regel Problematisch an der Zunahme der Rechtsmasse erscheint darüber hinaus auch die Tatsache, dass nicht nur das Recht allgemein, sondern insbesondere auch die Zahl der Strafnormen massiv zunimmt. Problematisch ist dies deshalb, weil eine Regel nur dann überhaupt als Regel existiert, wenn sie auch angewandt wird. D.h. eine Regel, die nicht angewandt wird, ist nicht etwa wirkungslos oder ineffizient, sondern gar keine Regel. Der Charakter der Regel qua Regel ergibt sich erst aus der Entscheidung, die scheinbar vorbestehende "Regel" tatsächlich auch anzuwenden. Mit anderen Worten: Aus der Tatsache, dass bisher auf bestimmte Sachverhalte bestimmte Regeln angewandt wurden, lässt sich nicht ableiten, dass dies hier und jetzt ebenfalls so sein solle. Insofern erscheint das Bestehen einer "Regel" immer nur als blosses Angebot einer Regelung, das in jedem einzelnen Fall angenommen oder abgelehnt werden kann bzw. muss. Entsprechend ergibt sich die Antwort auf die Frage, ob eine "Regel" angewandt werden soll, d.h. überhaupt noch Regel sein soll, jedesmal erneut erst aus der Entscheidung, die fragliche Regel auch auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden. Werden scheinbar bestehende "Regeln" nicht konsequent angewandt und durchgesetzt, wird mithin das Regelungsangebot nicht angenommen, kann eine scheinbar bestehende Norm gar nicht Norm sein und erscheint als blosse Fiktion bzw. als Wunschdenken bzw. reine Symbolik. Basierend auf diesem Angebotscharakter der Regel selbst ergibt sich also insbesondere im Bereich der strafrechtlichen Regelung – wiederum aus der blossen quantitativen Zunahme strafrechtlicher Bestimmungen – ein Gültigkeitsproblem. Wenn strafrechtliche Regelungen proliferieren, erscheint es angesichts der tatsächlichen Situation der Strafverfolgungsinstitutionen gar nicht möglich, alle diese Regelungsangebote (die vorbestehenden Regeln) auch konsequent anzuwenden. Das aber ist gleichbedeutend mit einem Zustand, in welchem der Regelcharakter eines beträchtlichen Teiles der scheinbar bestehenden "Regelungen" nicht aufrecht erhalten werden kann. Diese Diskrepanz von gesetzten (geschriebenen und damit scheinbar gültigen) Regelungen einerseits und der tatsächlich bestehenden Anzahl angewandter und damit wirklich bestehender Regeln andererseits mindert den Gültigkeitsanspruch des Rechtssystems als Ganzes. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 140 1.3 Recht als symbolische Ordnung Die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der scheinbar bestehenden Regeln nicht umgesetzt bzw. angewandt werden kann (dass mithin nur ein beschränkter Teil der Regelungsangebote angenommen werden kann), könnte zwar als blosses "Vollzugsdefizit" aufgefasst werden, das dem Gültigkeitsanspruch des Rechtssystems keinen Abbruch tun könne. Doch dürfte dies ein fundamentales Fehlverständnis sein. Die Diskrepanz von Regelungsanspruch (Regelungsangebot) und tatsächlich bestehender Regelung lässt nämlich die Qualität des Rechts als symbolische Grösse offenbar werden und zieht damit dessen Gültigkeitsanspruch insgesamt in Zweifel. Zwar könnte dem wiederum entgegengehalten werden, dem Recht komme ohnehin primär symbolische Bedeutung zu (wovon auch der Autor ausgeht), weshalb durch die fragliche Diskrepanz die Gültigkeit des Rechts nicht massgeblich beeinträchtigt werde. Doch geht auch dieses Argument ins Leere. Denn selbst unter der Voraussetzung, dass dem Recht primär symbolische Bedeutung zukomme, besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen der symbolischen Bedeutung einerseits und dem Wissen um diese symbolische Bedeutung. Ein Symbol als solches nämlich kann überhaupt nur Wirkung entfalten, wenn es unbemerkt für das Symbolisierte steht, d.h. wenn es nicht als Eigenständiges, nicht als Symbol erkannt bzw. wahrgenommen und empfunden wird, sondern im Wesentlichen als identisch mit dem Symbolisierten. Verliert das Symbol in den Augen des Betrachters den Identitätsanspruch mit dem Symbolisierten (wird es mit anderen Worten vom Betrachter als Symbol wahrgenommen und empfunden), dann wird aus dem Symbol ein blosser Wegweiser. Einen Wegweiser nehmen wir als Hinweis wahr, mithin als etwas, das auf etwas anderes verweist. Niemals aber setzen wir ihn mit demjenigen, worauf er hinweist, gleich. Vielmehr sind wir uns jederzeit bewusst, dass er ein blosses Zeichen, einen Hinweis darstellt, den uns ein anderer geben will. Diesen Hinweis können wir annehmen oder ablehnen (wir können ihm Glauben schenken oder nicht), denn der Wegweiser kann zutreffen oder eben nicht. Dasjenige, worauf der Wegweiser hinweist, verändert seinen Charakter nicht dadurch, dass wir einem Wegweiser keinen Glauben schenken und ihn nicht befolgen. Am Beispiel: Paris verschwindet nicht und es verändert auch seine geographische Lage nicht, wenn wir einem entsprechenden Strassenschild nicht Folge leisten. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 141 Ganz anders das Symbol: Es erscheint im Kern identisch mit dem Symbolisierten. Symbol und Symbolisiertes können wir zwar auch akzeptieren oder ablehnen, doch ist hier die Annahme oder Ablehnung des Symbols identisch mit der Annahme oder Ablehnung des Symbolisierten. Wenn etwa zwei Menschen sich die Hand geben, dann setzen und empfinden sie diese Geste nicht als Symbol, das Anstand und Höflichkeit vermitteln solle, sondern die Geste ist mit Anstand und Höflichkeit identisch. Man kann zwar unanständig und unhöflich sein und das Händeschütteln ablehnen, doch dürfte es kaum gelingen, Anstand und Höflichkeit für sich zu reklamieren, wenn gleichzeitig deren Symbolisierung abgelehnt wird. Wenn nun also Recht als Ordnung, die symbolisiert, was gilt und was nicht (dasjenige, was rechtens ist), nicht mehr symbolisch wahrgenommen wird, sondern die Symbolik als solche erkannt und auch als solche empfunden und wahrgenommen wird, dann wird aus dem Recht ein blosser Wegweiser. Aus dem Recht wird mithin eine Institution, die angibt, was gelten sollte, die gleichzeitig aber auch feststellt, dass dieses Sollen nicht real ist. Das Regelungsangebot kann vom Rechtsadressaten entsprechend angenommen oder abgelehnt werden. Denn dasjenige, was gilt oder eben nicht gilt (dasjenige, was rechtens ist; das Sollen), entpuppt sich auf diese Weise als etwas, das hinter dem Recht steht und im Wesentlichen davon unabhängig ist. Recht verliert auf diese Weise direkt wahrnehmbar seine Identität mit dem Richtigen (das Sollen) und das Richtige (dasjenige, was rechtens ist) wird erkennbar als etwas, das unabhängig vom Recht besteht; entsprechend kann es auch unabhängig davon gefunden werden. Überdeutlich wird damit die Relativierung, die mit der Wahrnehmung des Rechtes als blosses Symbol (mit der Wahrnehmung des Rechts als blossen Wegweiser) notwendig einhergeht. Jeder Rechtsadressat nämlich kann sich derweise frei entscheiden, ob er das Regelungsangebot des Rechts annehmen möchte oder nicht (d.h. er kann frei entscheiden, ob er dem Wegweiser Glauben schenkt und ihm folgt oder eben nicht). Damit aber ist der Gültigkeitsanspruch des Rechts (als dasjenige, was das Richtige und Gültige symbolisiert) grundsätzlich aufgelöst. Das eben Ausgeführte wird im wesentlichen bestätigt durch Erkenntnisse der Kriminologie. Massgeblich für die Einhaltung einer Regel ist danach in erster Linie die Akzeptanz der Regel, mithin die Überzeugung, dass die Regel richtig sei (also kein blosser Wegweiser). Vergleicht man formelle und informelle Kontrolle, also Reaktionen des sozialen Umfeldes wie Familie, Schule, Beruf etc. (informelle Kontrolle) M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 142 mit Reaktion der darauf spezialisierten Institutionen wie Strafverfolgung und Strafjustiz (formelle Kontrolle), erscheint die formelle Kontrolle deutlich weniger wirksam als die informelle Kontrolle. Schliesslich ist hinsichtlich der staatlichen Reaktion auf den Regelbruch massgeblich vor allem, dass reagiert wird und weniger wie dies geschieht, denn strafrechtliche Sanktionen sind von ihrer Wirkung her weitgehend austauschbar. 1.4 Zwischenbilanz Mithin ergibt sich damit vorläufig, dass die Gesetzesflut tatsächlich einerseits das bestehende Recht in Konsistenzschwierigkeiten bringt und andererseits den Gültigkeitsanspruch des Rechts in Zweifel zu ziehen vermag. Entsprechend kann eine beträchtliche Zunahme der Rechtsmasse tatsächlich als dysfunktional erscheinen, d.h. als Fehlentwicklung, die es zu bekämpfen gilt. Diese Konsequenz allerdings ergibt sich – wie gleich zu zeigen sein wird – nicht zwingend. 2 Die zugrundeliegenden Annahmen Die vorstehenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf die angesprochene konservativ-liberale Gegenüberstellung von Recht und Freiheit und die korrespondierenden Annahme des Rechts als Institut der Vernunft. Beiden Positionen allerdings kann Massgebliches entgegengehalten werden. Erweisen sich diese Grundannahmen als unzutreffend, so kann entsprechend auch nicht von der Zunahme der Rechtsmasse auf eine abnehmende Wirksamkeit des Rechts geschlossen werden. 2.1 Recht und Freiheit Problematisch erscheint vorweg, dass mit der Konstruktion von |Recht und Freiheit| als Dichotomie bereits verkannt wird, dass Recht und Freiheit keine Gegensätze sind, sondern sich Freiheit überhaupt erst aus dem Recht ergibt. Dies wird leicht offensichtlich, wenn man sich einen vorrechtlichen (also völlig rechtlosen) Zustand vor Augen führt. Ein solcher Zustand nämlich ist – entgegen der Vermutung – nicht ein Zustand völliger Freiheit, sondern ein (vom Recht aus betrachtet) chaotischer Zustand. Genau betrachtet ist natürlich auch ein chaotischer M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 143 (rechtsfreier) Zustand einer, der Regeln untersteht, nur sind diese Regeln eben keine Rechtsregeln. Übersetzt in die vorerwähnte Dichotomie |Freiheit-Recht| bedeutet dies, dass der Zustand der vermeintlichen "Freiheit" (des rechtsfreien Raumes) keinen freiheitlichen Raum meint, sondern eben bloss einen Handlungsraum, in welchem nicht rechtliche Regeln dominieren, sondern Regeln anderer Art (insbesondere die Regeln von physischer oder wirtschaftlicher Macht). 2.2 Recht und Vernunft 1 – Rechtsetzung Problematisch erscheint sodann die aufgeklärte Annahme "vernünftig gesetzten Rechts für vernünftige Rechtsadressaten". Und dies zum einen bereits des vernünftigen Rechtsetzenden wegen, hat doch das 19. Jahrhundert eine weitgehende Demokratisierung gebracht, so dass heutzutage Recht typischerweise nicht von einem einzelnen aufgeklärten Herrscher gesetzt wird, sondern von Parlamenten, also von einer Personenmehrzahl. Die Parlamentsmitglieder ihrerseits werden dem demokratischen Grundgedanken folgend gerade nicht nach dem Mass ihrer Vernunft bestimmt, sondern qua Vertretung der Rechtsadressaten selbst. Massgeblich erscheint nicht primär die Vernunft eines Parlamentariers (Volksvertreters), sondern die Frage nach dessen Repräsentativität bezogen auf die wählende Bevölkerung (die Rechtsadressaten). Wobei auch hier wiederum gleich eine Einschränkung anzubringen ist: Massgeblich ist im Grunde auch nicht die Repräsentativität eines Volksvertreters, sondern die Frage danach, wie sehr eine solche Repräsentativität überzeugend glaubhaft gemacht werden kann. Übersetzt in die Kategorie der Vernunft bedeutet dies: Ein mehrheitlich unvernünftiges Volk hat – demokratischer Perspektive zufolge – einen Anspruch auf mehrheitlich unvernünftige Volksvertreter (oder zumindest Anspruch auf Volksvertreter, die sich überzeugend unvernünftig geben). Unabhängig von der Frage, wie vernünftig Rechtsregeln sein können, die von einem mehrheitlich unvernünftigen Parlament gesetzt werden, besteht demokratischen Prinzipien folgend die Vermutung, dass Recht, das von einem Rechtsetzenden erlassen wird, welcher der Mehrheit der Rechtsadressaten entspricht (der mithin bezogen auf ihre wesentlichen Charakterzügen repräsentativ ist), gutes d.h. richtiges Recht ist. Überdeutlich wird dies in direkten Demokratien wie z.B. der Schweiz, wo parlamentarische Erlasse prinzipiell von den Rechtsadressaten selbst (mittels Abstimmung) überprüft bzw. beschlossen werden. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 144 Natürlich könnte man das angesprochene Problem dadurch lösen (was natürlich auch geschieht), dass einfach die Definition der Vernunft entsprechend angepasst und axiomatisch gesetzt wird, dass eine von der Mehrheit der Adressaten gebilligte Regelung per se eine vernünftige sein muss. In jüngster Ausformung findet sich diese Behauptung auch wieder in der HABERMASschen Konstruktion der "idealen Sprechsituation", wonach ein Beschluss dann gerecht sei, wenn alle davon Betroffenen gleichberechtigt mitreden und mitentschliessen dürfen. Offen bleibt in dieser Konstruktion natürlich, inwiefern erstens eine ideale Sprechsituation überhaupt logisch möglich sei, und zweitens ob eine Entscheidung tatsächlich je vernünftig sein kann, wenn die Mehrheit der Entscheidenden im Wesentlichen über völlig ungenügende Information verfügt, um Pro und Contra überhaupt angemessen abwägen zu können, wenn sich mithin die Entscheidung der Mehrheit im Kern nicht auf angemessene Information stützt, sondern darauf, was Personen, Parteien, Medien oder andere Institutionen als richtig oder vernünftig bezeichnen (erinnert sei etwa an die schweizerischen Abstimmungen zur Frage der Kernenergie oder derjenigen des EU-Beitrittes). Die Frage danach, ob das Recht eines modernen Staates ein vernünftiges sei, lässt sich mithin nicht nur nicht beantworten, sie ist vielmehr im Kern – demokratischen Prinzipien folgend – gar nicht zulässig, weil sie die Entscheidung über zu setzende Regelungen auf eine Kategorie hin orientiert, die prinzipiell demokratisch nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Oder einfacher: Ein "dummes" Volk hat Anspruch auf ein "dummes" Recht. 2.3 Recht und Vernunft 2 – Die Rechtsadressaten Problematisch an der aufgeklärten Annahme "vernünftig gesetzten Rechts für vernünftige Rechtsadressaten" erscheint aber nicht nur die Vernunft der Rechtsetzung, sondern insbesondere auch diejenige der Rechtsadressaten. Prinzipiell nämlich ergibt sich für das Recht aus der quantitativen Zunahme der Rechtsmasse nur dann ein Konsistenzproblem, wenn die – vom Recht getroffene – Annahme des vernünftigen Rechtsadressaten auch zutrifft. Tatsache allerdings ist, dass diese Annahme weitgehend eben eine blosse Annahme ist, und nichts weiter. So zeigt etwa die Forschung zur Abschreckungswirkung (sog. negative Generalprävention) von Strafen (quasi der Kernbereich des vernünftigen Rechtsadressaten) seit Jahrzehnten überall dasselbe, nämlich dass eine abschreckende Wirkung weitestgehend inexistent ist. Weder M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 145 die Strafart noch das Strafmass scheinen irgendeinen massgeblichen Einfluss auf das kriminelle Verhalten der Rechtsadressaten auszuüben, und zwar ganz unabhängig vom Delikt. Diese Tatsache kann allerdings nur den überraschen, dem die eigenen Annahmen wichtiger sind denn die (komplexe) Wirklichkeit. Selbst ein kurzer und oberflächlicher Blick auf diese Wirklichkeit nämlich belehrt einen darüber, dass die typisch menschliche Entscheidungssituation in erster Linie durch unvollständige Informationen geprägt ist. D.h. leben bedeutet immer, Entscheidung treffen zu müssen, die man an sich gar nicht treffen kann, weil man nicht wirklich weiss, wie die Konsequenzen der Entscheidung aussehen werden. Entsprechend kann auch nicht überraschen, was die rechtssoziologische Forschung zur Frage der Rechtskenntnis der Bevölkerung immer wieder erbracht hat und erbringt (sog. KOL-Forschung, d.h. Forschung zum Thema Knowledge and Opinion about Law), dass nämlich die Rechtsadressaten das Recht weitgehend nicht kennen. Bereits an der Kenntnis der Rechtsadressaten scheitert mithin das vernunftorientierte Menschenbild. Darüber hinaus allerdings gibt es weitere schwerwiegende Einwände gegen ein solches Menschenbild, namentlich: • dass die Frage nach rechtlicher Reaktion nur dann überhaupt Sinn macht, wenn das in Frage stehende Verhalten überhaupt entdeckt wird; • dass indes die Entdeckungswahrscheinlichkeit eine weitgehend unkalkulierbare Grösse darstellt, die weit stärker von charakterlicher Disposition und sozialer Einschätzung beeinflusst ist, als von objektiver Information; • dass unterschiedliche Güter weitgehend inkompatibel bzw. inkommensurabel zueinander sind (wieviel Strafe ist eine gestohlene Armbanduhr wert); dass mithin ein einheitlicher Massstab zur Bewertung von Gütern nicht existiert; dass die Folgenabschätzung abhängig ist vom Zeithorizont des Handelnden (je kürzer der Zeithorizont, desto lohnender erscheinen gegenwärtige Vorteile im Vergleich zu langfristigen Nachteilen); dass aber dieser Zeithorizont divergiert nach Alter und anderen sozialen bzw. demographischen Charakteristika. Aus dem Vorstehenden ergibt sich indes kein gesellschaftliches Problem. Denn trotz all der erwähnten Beschränkungen des "vernünftigen Handelns" hält sich die überwiegende Mehrheit der Rechtsadressaten • M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 146 die meiste Zeit an die meisten rechtlichen Regelungen. Problematisch erscheint mithin weniger die mangelnde Vernunft der Rechtsadressaten (denn diesen gelingt es offenbar auf gänzlich unvernünftige Art und Weise Konformität zu produzieren), problematisch erscheint vielmehr das Welt- und Menschenbild, das eine einzige Form des Handelns als vernünftig unterstellt, namentlich ein Menschenbild, das davon ausgeht, dass der Einzelne bewusst Informationen sammelt, sie strukturiert und ordnet, um dann in aller Ruhe (am besten in einem Lehnstuhl mit einem Glas Wein) die möglichen positiven oder negativen Konsequenzen abzuwägen und erst nach dieser Abwägung zu handeln. Einem solchen Weltbild muss die Zunahme der Rechtsmasse (die zunehmende Unübersichtlichkeit des Rechts) tatsächlich als pathologische Entwicklung und essentielle Gefahr erscheinen. Nur –: Mit Fug und Recht darf wohl bezweifelt werden, dass diese Vorstellung nur schon im 18. oder 19. Jahrhundert zutreffen konnte. Zumindest die Vermutung dürfte bestehen, dass dieses Menschenbild bereits damals nur eine Objektivierung und Verallgemeinerung derjenigen war, die es erfunden haben, nämlich des gebildeten, zivilisierten (prinzipiell männlichen) Bürgertums, mithin eines ausserordentlich kleinen Prozentsatzes der Gesamtbevölkerung, während all die Kutscher, Dienstmädchen und Bauern wohl kaum über die entsprechende (unterstellte) Rechtskenntnis verfügten, geschweige denn über die Musse, sich ihr Handeln in Ruhe zu überlegen. Nur wenn mithin am vernünftigen Menschen des 18. bzw. dem aufgeklärten Bürger des 19. Jahrhunderts festgehalten wird, erscheint die Zunahme der Rechtsmasse problematisch. Tut man dies nicht und gibt zu, dass auch die Orientierung am sozialen Umfeld, das Abstellen auf Emotionen oder sogar blosse Gewohnheit "vernünftig" sein kann, und verzichtet man insbesondere auf die Vorstellung, derzufolge primär das Recht die Gesellschaft steuert und nicht umgekehrt, dann kann auch die massivste Gesetzesflut letztlich der Konformität und Rechtstreue der Rechtsadressaten nicht in Gefahr bringen. In letzter Konsequenz ergibt sich damit aus der Gesetzesflut keine Frage nach der möglichen Rechtstreue der Rechtsadressaten und damit auch keine soziales Problem, sondern vielmehr eine (dringliche) Frage nach der Adäquanz des Menschenbildes, welches in unseren Rechtsordnungen seinen Ausdruck findet, ebenso wie eine (vielleicht noch drängendere) Frage nach der Angemessenheit der Konzeption des Rechts als Steuerungsinstrument unserer Gesellschaften. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 147 Um sich rechtstreu zu verhalten, reicht es nämlich meist aus, dass man in etwa um den Dekalog weiss oder zumindest jemanden kennt, der darum weiss. In allen übrigen Bereichen hilft im allgemeinen ein gewisses Quantum an Anstand oder Ethik (oder ein Bezugsfeld, welches dieses Quantum Anstand und Ethik aufweist) und in den restlichen Bereichen ist ohnehin kein Blumentopf zu gewinnen, ohne dass man einen (wenn es geht sogar spezialisierten) Juristen um Rat fragt. Akzeptiert man diese Informationsstruktur, dann kann es gar keine Rolle spielen, dass die Rechtsadressaten vom Recht qua Recht keine Ahnung haben. Denn dort, wo sich dieses Recht (wie anzustreben) in Übereinstimmung mit der allgemein gültigen Einschätzung einer Situation befindet, lohnt es sich nicht, darauf zu rekurrieren. Dort aber, wo das Recht sich in Diskrepanz zum allgemeinen Usus befindet, hilft auch der Rekurs auf das Recht nicht viel, weil ohnehin ein Fachmann zugezogen werden muss. Entsprechend erscheint die weitgehende Ignoranz des Rechtes durch die Rechtsadressaten nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch vernünftig. Damit allerdings ist für die vorne angesprochenen Konsistenzprobleme des Rechtes (mangelnde Realisierbarkeit der bestehenden Annahme eines vernünftigen Menschen, der sich über die gültigen Regelungen informiert und sich entsprechend daran hält) infolge der Zunahmen der Rechtmasse natürlich nichts gewonnen. Diese Inkonsistenz bleibt bestehen, solange das Recht ein Menschenbild entwirft, das nicht den Realitäten entspricht. 3. Die Chancen einer Zunahme des Rechtsstoffes Nichts zwingt einen allerdings bei der Defizitanalyse der vorstehend beschriebenen Annahmen eines aufgeklärten, vernunftorientierten Welt- und Menschenbildes stehen zu bleiben. Gerade die Tatsache, dass mehr oder minder jede moderne bzw. postmoderne Gesellschaft die Tendenz zu einer massiven Zunahme der Rechtsmasse zeigt, könnte ja durchaus als Indiz dafür gewertet werden, dass eine solche Zunahme nicht pathologisch, sondern vielmehr funktional, d.h. eigentlich produktiv und nützlich sei. Möglicherweise sind mithin nicht die besagten Entwicklungen inadäquat und verfehlt, sondern unsere Vorstellung von der Bedeutung und Funktion des Rechts. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 148 3.1 Die Vorteile des Nichtwissens Insbesondere LUHMANN hat dies mit seiner Rechtssoziologie und den Ausführungen in "Legitimation durch Verfahren" betont. LUHMANN geht davon aus, dass es gerade die Form des modernen Rechts sei (schriftliche Fixierung bei gleichzeitiger jederzeitiger Abänderbarkeit), die es den Rechtsadressaten erlaubt, Stabilität zu produzieren und in diese Stabilität auch zu vertrauen, ohne dass deshalb das Rechtssystem inhaltlich fixiert und entsprechend unfähig wäre, auf neuere Entwicklungen zu reagieren. Weil die Rechtsadressaten das Recht nicht wirklich kennen (und auch nicht bemerken, wie sehr es sich über die Zeit verändert), können sie darauf vertrauen, als sei es immer dasselbe. Der Unkenntnis der Rechtsadressaten über die genaue Ausgestaltung des Rechts als solches kommt in einem solchen Modell also zentrale (und positive) Bedeutung zu. Ähnliches war etwa von POPITZ hinsichtlich der Bedeutung des Nichtwissens (der Rechtsunkenntnis) für die Präventivwirkung des Rechts bereits Ende der 60er Jahre festgestellt worden. Auf diesem Hintergrund erscheint entsprechend die Zunahme der Rechtsmasse nicht nur nicht als problematisch, sondern durchaus positiv besetzt. Je umfassender die rechtliche Regelung desto unmöglicher ist es selbst für Spezialisten, einen Überblick zu behalten und dergestalt dem Recht seine Dynamik zu nehmen, weil es auf bestimmte vorbestehende Regelungen fixiert wird. Die Zunahme der Rechtsmasse löst damit das Recht letztlich sogar aus der Umklammerung der Spezialisten, so dass die Möglichkeit seiner Autopoiese verbessert wird. Die Flexibilität des Rechtes nimmt auf diese Weise zu, ohne dass gleichzeitig das Vertrauen darauf geschmälert würde. 3.2 Recht als Regelungsangebot Nicht vergessen gehen darf, dass das Recht prinzipiell immer nur Regelungsvorschläge offeriert. Dem Rekurs auf das Recht geht praktisch immer den Bankrott anderer (typischerweise wesentlich effizienterer) Regelungsmechanismen voraus. Sind aber andere Regelungsmechanismen falliert, so kann es sich eine Gesellschaft letztlich gar nicht erlauben, für diesen Fall keine letzte Instanz bzw. Institution anzubieten, worauf rekurriert werden könnte. Denn sämtliche Regelungsmechanismus, sämtliche sozialen oder nicht sozialen Strukturen des Lebens überhaupt tragen die Möglichkeit ihres Scheiterns in sich. Das gründet bereits darin, dass Leben keinen Gegensatz zum Tod darstellt (JONAS), sondern die M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 149 Möglichkeit des Todes das Leben überhaupt erst definiert (als dasjenige, was sterben kann). Die Möglichkeit des Scheiterns ist mithin im Leben selbst essentiell verankert (ja definiert es sogar) und ebenso in all seinen Teilaspekten. Entsprechend ist in allen sozialen Strukturen und Regelungsmechanismen (selbst in den Intimsten und Privatesten) immer auch das Recht als potentielle Rekursinstanz bereits mitenthalten. Für die Vielfalt der Lebenssachverhalte lässt sich indes nur dann jederzeit ein Regelungsvorschlag offerieren, wenn auch das Recht entsprechend vielfältig und ausdifferenziert ausgestaltet ist. Sind Wirtschaft und Gesellschaft nicht homogen und zentralistisch orientiert sondern komplex, so kann auch ein adäquates Rechtssystem nicht einfach, zentralistisch und homogen sein, sondern muss entsprechende Komplexität entwickeln können. 3.3 Recht und Komplexität Es könnte nun behauptet werden, die Möglichkeit des Rechts für die verschiedensten Lebensbereiche jeweils ein valides Regelungsangebot zu machen, sei nicht abhängig vom Grad seiner Komplexität, d.h. es könnte vermutet werden, dass auch ein einfach strukturiertes Recht letztlich die Vielfalt der Lebensbereiche erfassen könnte. Das trifft denn auch zu, nur – : Damit wird der eigentliche Prozess der notwendig zunehmenden Komplexität des Rechtes nur auf eine andere Ebene (insbesondere diejenige der Rechtsanwendung bzw. der Justiz) verlagert. Völlig unberührt von der Anzahl, Detailliebe oder dem Umfange rechtlicher Regelungen nämlich bleibt – wie eben erwähnt – , dass jede soziale Struktur (jedes soziale Problem) prinzipiell das Recht als potentielle Rekursinstanz mitenthält. Trifft dies aber zu, so kann durch eine Reduktion der Rechtsmasse die Komplexität des Rechtes bzw. dessen zunehmender Gültigkeitsanspruch auch nicht gemindert werden, da ja die zugrunde liegenden Sachverhalte ihrerseits an Quantität und Komplexität zunehmen. Am Beispiel: Art. 19 Ziff. 1 BetmG (Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe vom 3. Oktober 1951; SR 812.121) etwa versucht die verschiedensten Formen des Betäubungsmittelverkehrs praktisch umfassend zu regeln bzw. unter Strafe zu stellen. Die Aufzählung der verschiedenen Handlungen, durch die illegal mit Betäubungsmitteln Kontakt entsteht, ist derart umfassend, dass tatsächlich kaum ein Sachverhalt denkbar ist, bei welcher nur eine Tatvariante erfüllt wird. Entsprechend sind die verschiedenen Tatvarianten nach ein- M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 150 helliger Lehre und Rechtsprechung bei einheitlicher Tathandlung nur als ein Delikt zu verfolgen, ohne dass Realkonkurrenz anzunehmen wäre. Selbstverständlich wäre es ohne weiteres möglich, statt der unendlich langen Aufzählung von Tathandlungen in Art. 19 Ziff. 1 BetmG einfach zu setzen: "wer unerlaubt mit Betäubungsmitteln in Kontakt kommt". Nur –: Deutlich wird hier, dass die Kurzform der rechtlichen Regelung die Frage nach dem, was tatsächlich erfasst sei, nicht etwa aufhebt, sondern nur in den Bereich der juristischen Auslegung bzw. die Anwendungspraxis der Gerichte verschiebt. Bedeutsam erscheint dabei, dass die (Fehl-)vorstellung aufgegeben wird, eine einfache und konzise Regelung sei unschärfer und damit in irgendeiner Art und Weise grosszügiger als eine umfangreiche, detaillierte. Diese Fehlvorstellung geht wohl im Kern wiederum auf die bereits angesprochene Konzeption von Freiheit und Recht als Gegensätzen in einem Nullsummenspiel zurück, d.h. auf eine Vorstellung, gemäss welcher eine Zunahme des Rechtes notwendig eine Abnahme der Freiheit bedeute. Das allerdings erscheint völlig verfehlt. Eine Verkürzung des Textes (bzw. eine Reduktion der Anzahl der Erlasse) mindert weder die Komplexität dieser Regelungen, noch schmälert sie den Geltungsbereich des Rechtes. Weniger und einfachere gesetzliche Regelungen produzieren mithin eine nur scheinbare Einfachheit, eine vorgebliche Einfachheit nämlich, die weder die tatsächliche Komplexität der Lebenssachverhalte spiegelt, noch die tatsächliche Komplexität juristischen, insbesondere richterlichen Denkens und Entscheidens. 3.4 Schwierigkeiten mit der Auslegung Unbestritten sei, dass quantitativ umfangreichere Regelungen zwingend zu einer grösseren Wahrscheinlichkeit von (innerrechtlichen) Widersprüchen führen (sei es innerhalb eines Erlasses, sei es in Bezug auf das Verhältnis verschiedener Erlasse zueinander). Eine grosse Anzahl Kategorien führt notwendig auch zu einer grösseren Wahrscheinlichkeit von Überschneidungen und Widersprüchen. In letzter Konsequenz bedeutet natürlich auch die Wahrscheinlichkeit von Überschneidungen und Widersprüchen eine Zunahme der Flexibilität des Rechtes, weil sich damit schlüssig relativ beliebige Resultate begründen lassen. Schliesslich kommt einer ausführlicheren Regelung (einer grösseren Anzahl an Erlassen) der Vorteil zu, dass die richterliche Entscheidung scheinbar nachvollziehbar wird. Nur (aber immerhin) scheinbar nachvollziehbar ist die richterliche Entscheidung, weil natürlich diese Ent- M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 151 scheidung immer (weitestgehend) unabhängig ist vom Text, auf den sie sich stützt, d.h. weil die Bedeutung eines Textes eben vom Gericht fixiert wird, wobei das Gericht bei der Begründung seines Verständnisses typischerweise juristische Kategorien wie die Methodenlehre vorbringen wird, die eigentlich ausschlaggebenden Kategorien wie das subjektive Verständnis, Gerechtigkeitsgefühl, Folgenorientierung, Weltbild etc. aber nicht ansprechen wird. Wer dies bestreitet, dem sei (anstelle vieler) nur ein Beispiel entgegengehalten: Das schweizerische Bundesgericht hat – zu einer Zeit, als der Tatbestand der Unterschlagung (Art. 141 aStGB) noch deutlich und ausschliesslich von Sachen sprach – Forderungen und Sachen gleichgesetzt und als Unterschlagung auch die unrechtmässige Verwendung von Forderungen subsumiert (BGE 87 IV 115, bestätigt in BGE 116 IV 134). Das Analogieverbot in Art. 1 StGB hinderte das höchste schweizerische Gericht an dieser (für Juristen wohl schockierenden) Gleichsetzung ebensowenig wie die praktisch einhellige Kritik der Lehre. Inzwischen ist diese Bundesgerichtspraxis denn auch Gesetz geworden (vgl. Art. 138 Ziff. 1 Abs. 2 StGB sowie Art. 141 StGB). Wie das Beispiel zeigt, kann es ein Schaden nicht sein, dass bei entsprechender Vielfalt der Regelungen nicht ohne weiteres von vorneherein klar ist, was gilt, denn eine entsprechende Klarheit bzw. Sicherheit besteht auch nicht bei quantitativ wenigen Regelungen. bis 3.5 Gesetzesflut und Symbolik Damit aber wären wir beinahe am Ende angelangt. Zu klären wäre einzig noch die Frage, ob tatsächlich die symbolische Wirkung des Rechtes durch die Zunahme der Rechtsmasse Schaden leide. Wie ausgeführt kann dies tatsächlich geschehen, sofern dass das Recht in seiner Symbolik demaskiert (als Symbol erkannt) wird und zu einem Wegweiser verkommt. Dies allerdings dürfte primär im Bereich zwingender Regelungen, insbesondere im Bereich des Strafrechtes zutreffen, dieweil für alle anderen Bereiche diese Gefahr wohl als wesentlich geringer einzuschätzen wäre. Zugegeben sei, dass die Zunahme der Gesetzesmasse gerade im Bereich des Strafrechtes zu einer wachsenden Diskrepanz von gesetzten (geschriebenen und damit scheinbar gültigen) Regelungen einerseits und der tatsächlich bestehenden Anzahl angewandter und damit wirklich bestehender Regeln andererseits führen kann. Andererseits ist anzumerken, dass diese Diskrepanz nur dann den Gültigkeitsanspruch (bzw. die Symbol- M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 152 wirkung) des Rechtes zu mindern vermag, wenn sie überhaupt wahrgenommen wird. D.h. Voraussetzung einer solchen Schmälerung des Gültigkeitsanspruches des Rechts ist, dass die Rechtsadressaten die Diskrepanz von Anspruch und tatsächlicher Umsetzung erkennen. Nachdem indes – wie ausgeführt – die Rechtsadressaten typischerweise über keine ausgedehnte Rechtskenntnis verfügen, dürfte eine entsprechende Wahrnehmung in den seltensten Fällen überhaupt bestehen. Problematisch wird besagte Diskrepanz erst dann, wenn auf die Gültigkeit entsprechender Regelungen deutlich und publikumswirksam behauptet wird (typischerweise im politischen oder sozialen System), ohne dass eine entsprechende Umsetzung im Rechtssystem erfolgt (bzw. erfolgen kann). Schulbeispiel dürfte hier das Betäubungsmittelstrafrecht bilden, weil in diesem Bereich sehr intensive gesellschaftliche Diskussionen und Auseinandersetzungen stattgefunden haben, die den Gültigkeitsanspruch des Strafrechtes allgemein deutlich werden liessen, dieweil zumindest im Bereich des Konsums (aber indirekt natürlich auch des Handels) klare Vollzugsdefizite deutlich wurden. Ein weiteres Beispiel dürfte das Strassenverkehrsrecht darstellen (inklusive dem Ordnungsbussenrecht). Der Mehrheit der Bevölkerung ist der staatliche Regelungsanspruch durchaus bewusst, gleichzeitig weiss diese Mehrheit allerdings auch um die ausserordentlich begrenzte Umsetzung dieses Anspruches, so dass dort, wo keine ethischen Bedenken greifen (insbesondere im Bagatellbereich, aber auch bei mässigen Geschwindigkeitsüberschreitungen) dieser Regelungsanspruch als rein symbolisch erkannt wird. Entsprechend wird die Tatsache, dass ein Rechtsadressat bei einem Regelbruch entdeckt wird, typischerweise unter der Kategorie "Pech, Missgeschick" (also im wesentlichen als aleatorisch) abgebucht werden. Der Gültigkeitsanspruch des Rechts wird in solchen Fällen üblicherweise nicht anerkannt, sondern die Rechtsfolge als Resultat ungleicher Kräfteverhältnisse (also letztlich Macht) angenommen. Wird dagegen der Gültigkeitsanspruch des Rechts nicht allgemein bemerkbar vertreten und ist er damit den Rechtsadressaten auch nicht geläufig, so entsteht – bei aller Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit – keine Minderung der Symbolwirkung des Rechts. Typisch dürfte hier etwa die Tatsache sein, dass nur gerade etwa 5% der Autodiebstähle aufgeklärt werden, was die Rechtsadressaten in ihrem Vertrauen in das Recht bzw. in ihrer Wahrnehmung der Symbolik der Rechtsordnung nicht betrifft. M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153. M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend 153 Entsprechend kann der symbolischen Wirksamkeit des Rechtes aus der Zunahme der Rechtsmasse nur dann Gefahr erwachsen, wenn die daraus zwingend resultierende Diskrepanz von Gültigkeitsanspruch und realer Umsetzung den Rechtsadressaten bewusst wird. Die dürfte v.a. im Bereich der Massenkriminalität (insbesondere im Bereich der Bagatelldelikte) zutreffen. Entsprechend täte eine auf Gültigkeit hin orientierte Rechtsordnung gut daran, diesen Bereich zu entkriminalisieren, also zu legalisieren bzw. zumindest herunterzustufen (z.B. als Übertretung auszugestalten), so ihr denn an ihrem Gültigkeitsanspruch etwas liegt. Resultat Als Resultat ergibt sich damit, dass die quantitative Zunahme des Rechts zwar gewisse Risiken in sich birgt, dass das Gros dieser Risiken allerdings weitgehend imaginär ist und sich primär aus den zugrundeliegenden Annahmen eines aufgeklärten Welt- und Menschenbildes ergeben. Demgegenüber erweist sich die Zunahme der Rechtsmasse als deutliche Chance, wenn auch zugegeben sei, dass diese Chancen nur dann angenommen werden können, wenn man bereit ist, die überkommene Vorstellung des Rechtes als gesellschaftliches Steuerungsinstrument aufzugeben oder doch wenigstens deutlich anders zu konzipieren als bisher. M. A. Niggli August 2000 M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153.