Zurück zu den 10 Geboten? Gesetzesflut und Strafrecht

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Zurück zu den 10 Geboten? Gesetzesflut und Strafrecht
Zurück zu den 10 Geboten?
Gesetzesflut und Strafrecht
M. A. Niggli
Ausgangslage*
Unser Zeitalter ist von einer geradezu explosionsartigen Zunahme des Rechtes,
einer wahren Gesetzesflut, gekennzeichnet. Nimmt man alleine die bereinigte
bzw. amtliche Sammlung schweizerischer Gesetze (in der sämtliche Erlasse des
Landes veröffentlicht werden müssen) als Basis, so zeigt bereits ein sehr grober
Massstab wie die Seitenzahl (unter Vernachlässigung des Seitenspiegels, der
Formatierung etc.), dass sich die Gesetzesmasse seit dem 2. Weltkrieg um mehr
als das Doppelte stetig gesteigert hat (vgl. Schaubild 1; die grau gestrichelte
Linie zeigt den Trend an). Diese Entwicklungen ist allerdings keine
schweizerische Eigenheit, sondern Merkmal aller modernen bzw.
postmodernen Gesellschaften.
Schaubild 1 – Entwicklung der Seitenzahl der Bereinigten Sammlung /
Amtlichen Sammlung Schweizerischer Gesetze (BS/AS) – 1939
bis 1999
4'000
3'500
3'000
Seiten
2'500
2'000
1'500
1'000
500
0
1939
*
1944
1949
1954
1959
1964
1969
Jahr
1974
1979
1984
1989
1994
1999
Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 17. Mai 2000 an der Universität Freiburg
gehalten wurde. Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte
Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg, Universitätsverlag
Freiburg 2000, 136-153. Die Seitenzahlen entsprechen der publizierten Fassung.
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Insbesondere einer konservativ-liberalen Position gilt die Zunahme des
Rechtsstoffes als verdächtig, wenn nicht als verwerflich, weil dadurch – so die
Vermutung
–
die
Dominanz
des
Staates
gegenüber
der
Entscheidungskompetenz des Einzelnen zunehmend in den Vordergrund
rücke. Das Argument setzt dabei (meist unausgesprochen) rechtliche (d.h.
staatliche) Regelung in Kontrast zur Freiheit des Einzelnen und betrachtet den
Zusammenhang |Freiheit-Recht| als Nullsummenspiel, d.h. mehr vom einen
bedeutet automatisch weniger vom anderen. Im wesentlichen läuft dies auf die
bekannte Formel "Mehr Freiheit, weniger Staat" (oder in der simplizistischen
Form: "Freie Fahrt für freie Bürger") hinaus.
1. Die Gefahren einer Zunahme des Rechtsstoffes
Zugegeben sei vorweg, dass die Zunahme des Rechtsstoffes tatsächlich
Schwierigkeiten mit sich bringt, allerdings ganz andere als diejenigen, die ein
einfaches Weltbild vermuten würde.
1.1 Das Recht und die Vernunft
Die quantitative Zunahme des Rechts erscheint vorweg problematisch nicht
deshalb, weil dadurch andere Kategorien (wie etwa Freiheit) zurückgedrängt
würden, sondern vielmehr weil wesentlichste Grundannahmen des Rechtes
selbst in Frage gestellt werden. Prinzipiell nämlich fusst das heute gültige Recht
in seiner wesentlichen Essenz immer noch auf Vorstellungen, die bereits aus
der Aufklärung stammen. Nach aufgeklärter Vorstellung wird das Recht nicht
nur von einem aufgeklärten Aktor (dem vernünftigen Herrscher) erlassen,
sondern richtet sich insbesondere auch an den aufgeklärten Rechtsadressaten
(den vernünftigen Menschen).
Entsprechend dieser überkommenen Auffassung, die grösste Teile unserer
Rechtsordnung weithin dominiert, ist primäre Voraussetzung der Gültigkeit
einer Norm, dass der Normadressat sie überhaupt bewusst zur Kenntnis
nehmen kann. Aus dieser Vorstellung fliesst ein ganzer Rattenschwanz von
grundsätzlichsten Prinzipien des Rechtes überhaupt. Genannt seien nur einige
wenige:
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Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte
Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg,
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•
die Grundregel, dass ein Erlass keine Gültigkeit erlangen könne, bevor er
nicht publiziert, d.h. allgemein bekannt (bzw. einsehbar) gemacht worden
ist;
•
das sogenannte Rückwirkungsverbot, d.h. der Grundsatz, dass eine
Rechtsregel nur auf Sachverhalte Anwendung finden kann, die sich nach
dem Inkrafttreten der Regel ereignet haben;
•
der Grundsatz, dass Rechtsregeln schriftlich fixiert sein sollen (auf dass man
sie nachlesen könne);
der Grundsatz, dass Rechtsregeln klar und verständlich sein müssen (weil
sie ja ansonsten nicht korrekt wahrgenommen und verstanden werden
können).
Der aufgeklärten Vorstellung folgend machen all diese Prinzipien Sinn, denn
von keinem Rechtsadressaten kann erwartet werden, dass er sich bewusst an
Regeln halte, die er nicht kennt oder die er nicht korrekt verstehen konnte.
Gleichzeitig wird indes auch offensichtlich, warum die Zunahme des
Rechtsstoffes für diese Prinzipien problematisch sein muss: Wenn die Quantität
des gesetzten Rechtes ein bestimmtes Niveau überschreitet, wird der fiktive
Charakter der vorstehenden Annahmen überdeutlich. Zwar kann nach wie vor
behauptet werden, die gesetzlichen Regelungen seien publiziert und damit dem
Einzelnen zugänglich, so dass dieser sich jederzeit darüber informieren könne,
was genau er zu tun und was er zu lassen habe. Doch wird alleine durch die
schiere Masse des täglich neu geschaffenen Rechtes die beschriebene Annahme
immer unrealistischer. Verschärft wird dieses Problem durch zwei
korrespondierende Phänomene. Zum einen nimmt die Dynamik des Rechts zu,
d.h. die zunehmende Geschwindigkeit, mit welcher bestehendes Recht wieder
abgeändert wird. Zum andern stattet der Gesetzgeber neue Erlasse zunehmend
mit eigenen Strafnormen aus, so dass selbst ein Blick in eine absolut aktuelle
Fassung des Strafgesetzbuches nicht mehr viel hilft. Im gegenwärtigen
Zeitpunkt z.B. sind über zweihundert Erlasse mit eigenen Normen strafbewehrt
und alleine schon den Überblick darüber zu gewinnen ist ausserordentlich
schwierig.
Als Konsequenz aus all ergibt sich: Ist der Rechtsadressat rein faktisch nicht
mehr in der Lage, sich umfassend und verlässlich über die geltenden
Regelungen zu informieren, so kann ihm auch nicht wirklich ein Vorwurf
gemacht werden, wenn er sich nicht daran hält. Die quantitative Zunahme des
Rechts bringt in letzter Konsequenz also die Grundannahmen des Rechts selbst
zu Fall.
•
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1.2 Der offene Charakter der Regel
Problematisch an der Zunahme der Rechtsmasse erscheint darüber hinaus auch
die Tatsache, dass nicht nur das Recht allgemein, sondern insbesondere auch
die Zahl der Strafnormen massiv zunimmt. Problematisch ist dies deshalb, weil
eine Regel nur dann überhaupt als Regel existiert, wenn sie auch angewandt
wird. D.h. eine Regel, die nicht angewandt wird, ist nicht etwa wirkungslos
oder ineffizient, sondern gar keine Regel. Der Charakter der Regel qua Regel
ergibt sich erst aus der Entscheidung, die scheinbar vorbestehende "Regel"
tatsächlich auch anzuwenden. Mit anderen Worten: Aus der Tatsache, dass
bisher auf bestimmte Sachverhalte bestimmte Regeln angewandt wurden, lässt
sich nicht ableiten, dass dies hier und jetzt ebenfalls so sein solle. Insofern
erscheint das Bestehen einer "Regel" immer nur als blosses Angebot einer
Regelung, das in jedem einzelnen Fall angenommen oder abgelehnt werden
kann bzw. muss. Entsprechend ergibt sich die Antwort auf die Frage, ob eine
"Regel" angewandt werden soll, d.h. überhaupt noch Regel sein soll, jedesmal
erneut erst aus der Entscheidung, die fragliche Regel auch auf den konkreten
Sachverhalt anzuwenden. Werden scheinbar bestehende "Regeln" nicht
konsequent angewandt und durchgesetzt, wird mithin das Regelungsangebot
nicht angenommen, kann eine scheinbar bestehende Norm gar nicht Norm sein
und erscheint als blosse Fiktion bzw. als Wunschdenken bzw. reine Symbolik.
Basierend auf diesem Angebotscharakter der Regel selbst ergibt sich also
insbesondere im Bereich der strafrechtlichen Regelung – wiederum aus der
blossen quantitativen Zunahme strafrechtlicher Bestimmungen – ein
Gültigkeitsproblem. Wenn strafrechtliche Regelungen proliferieren, erscheint es
angesichts der tatsächlichen Situation der Strafverfolgungsinstitutionen gar
nicht möglich, alle diese Regelungsangebote (die vorbestehenden Regeln) auch
konsequent anzuwenden. Das aber ist gleichbedeutend mit einem Zustand, in
welchem der Regelcharakter eines beträchtlichen Teiles der scheinbar
bestehenden "Regelungen" nicht aufrecht erhalten werden kann. Diese
Diskrepanz von gesetzten (geschriebenen und damit scheinbar gültigen)
Regelungen einerseits und der tatsächlich bestehenden Anzahl angewandter
und damit wirklich bestehender Regeln andererseits mindert den
Gültigkeitsanspruch des Rechtssystems als Ganzes.
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1.3 Recht als symbolische Ordnung
Die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der scheinbar bestehenden Regeln
nicht umgesetzt bzw. angewandt werden kann (dass mithin nur ein
beschränkter Teil der Regelungsangebote angenommen werden kann), könnte
zwar als blosses "Vollzugsdefizit" aufgefasst werden, das dem
Gültigkeitsanspruch des Rechtssystems keinen Abbruch tun könne. Doch
dürfte dies ein fundamentales Fehlverständnis sein. Die Diskrepanz von
Regelungsanspruch (Regelungsangebot) und tatsächlich bestehender Regelung
lässt nämlich die Qualität des Rechts als symbolische Grösse offenbar werden
und zieht damit dessen Gültigkeitsanspruch insgesamt in Zweifel. Zwar könnte
dem wiederum entgegengehalten werden, dem Recht komme ohnehin primär
symbolische Bedeutung zu (wovon auch der Autor ausgeht), weshalb durch die
fragliche Diskrepanz die Gültigkeit des Rechts nicht massgeblich beeinträchtigt
werde. Doch geht auch dieses Argument ins Leere. Denn selbst unter der
Voraussetzung, dass dem Recht primär symbolische Bedeutung zukomme,
besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen der symbolischen Bedeutung
einerseits und dem Wissen um diese symbolische Bedeutung. Ein Symbol als
solches nämlich kann überhaupt nur Wirkung entfalten, wenn es unbemerkt für
das Symbolisierte steht, d.h. wenn es nicht als Eigenständiges, nicht als Symbol
erkannt bzw. wahrgenommen und empfunden wird, sondern im Wesentlichen
als identisch mit dem Symbolisierten. Verliert das Symbol in den Augen des
Betrachters den Identitätsanspruch mit dem Symbolisierten (wird es mit
anderen Worten vom Betrachter als Symbol wahrgenommen und empfunden),
dann wird aus dem Symbol ein blosser Wegweiser. Einen Wegweiser nehmen
wir als Hinweis wahr, mithin als etwas, das auf etwas anderes verweist.
Niemals aber setzen wir ihn mit demjenigen, worauf er hinweist, gleich.
Vielmehr sind wir uns jederzeit bewusst, dass er ein blosses Zeichen, einen
Hinweis darstellt, den uns ein anderer geben will. Diesen Hinweis können wir
annehmen oder ablehnen (wir können ihm Glauben schenken oder nicht), denn
der Wegweiser kann zutreffen oder eben nicht. Dasjenige, worauf der
Wegweiser hinweist, verändert seinen Charakter nicht dadurch, dass wir einem
Wegweiser keinen Glauben schenken und ihn nicht befolgen. Am Beispiel:
Paris verschwindet nicht und es verändert auch seine geographische Lage
nicht, wenn wir einem entsprechenden Strassenschild nicht Folge leisten.
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Ganz anders das Symbol: Es erscheint im Kern identisch mit dem
Symbolisierten. Symbol und Symbolisiertes können wir zwar auch akzeptieren
oder ablehnen, doch ist hier die Annahme oder Ablehnung des Symbols
identisch mit der Annahme oder Ablehnung des Symbolisierten. Wenn etwa
zwei Menschen sich die Hand geben, dann setzen und empfinden sie diese
Geste nicht als Symbol, das Anstand und Höflichkeit vermitteln solle, sondern
die Geste ist mit Anstand und Höflichkeit identisch. Man kann zwar
unanständig und unhöflich sein und das Händeschütteln ablehnen, doch dürfte
es kaum gelingen, Anstand und Höflichkeit für sich zu reklamieren, wenn
gleichzeitig deren Symbolisierung abgelehnt wird.
Wenn nun also Recht als Ordnung, die symbolisiert, was gilt und was nicht
(dasjenige, was rechtens ist), nicht mehr symbolisch wahrgenommen wird,
sondern die Symbolik als solche erkannt und auch als solche empfunden und
wahrgenommen wird, dann wird aus dem Recht ein blosser Wegweiser. Aus
dem Recht wird mithin eine Institution, die angibt, was gelten sollte, die
gleichzeitig aber auch feststellt, dass dieses Sollen nicht real ist. Das
Regelungsangebot kann vom Rechtsadressaten entsprechend angenommen
oder abgelehnt werden. Denn dasjenige, was gilt oder eben nicht gilt (dasjenige,
was rechtens ist; das Sollen), entpuppt sich auf diese Weise als etwas, das hinter
dem Recht steht und im Wesentlichen davon unabhängig ist. Recht verliert auf
diese Weise direkt wahrnehmbar seine Identität mit dem Richtigen (das Sollen)
und das Richtige (dasjenige, was rechtens ist) wird erkennbar als etwas, das
unabhängig vom Recht besteht; entsprechend kann es auch unabhängig davon
gefunden werden. Überdeutlich wird damit die Relativierung, die mit der
Wahrnehmung des Rechtes als blosses Symbol (mit der Wahrnehmung des
Rechts als blossen Wegweiser) notwendig einhergeht. Jeder Rechtsadressat
nämlich kann sich derweise frei entscheiden, ob er das Regelungsangebot des
Rechts annehmen möchte oder nicht (d.h. er kann frei entscheiden, ob er dem
Wegweiser Glauben schenkt und ihm folgt oder eben nicht). Damit aber ist der
Gültigkeitsanspruch des Rechts (als dasjenige, was das Richtige und Gültige
symbolisiert) grundsätzlich aufgelöst.
Das eben Ausgeführte wird im wesentlichen bestätigt durch Erkenntnisse der
Kriminologie. Massgeblich für die Einhaltung einer Regel ist danach in erster
Linie die Akzeptanz der Regel, mithin die Überzeugung, dass die Regel richtig
sei (also kein blosser Wegweiser). Vergleicht man formelle und informelle
Kontrolle, also Reaktionen des sozialen Umfeldes wie Familie, Schule, Beruf etc.
(informelle Kontrolle)
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mit Reaktion der darauf spezialisierten Institutionen wie Strafverfolgung und
Strafjustiz (formelle Kontrolle), erscheint die formelle Kontrolle deutlich
weniger wirksam als die informelle Kontrolle. Schliesslich ist hinsichtlich der
staatlichen Reaktion auf den Regelbruch massgeblich vor allem, dass reagiert
wird und weniger wie dies geschieht, denn strafrechtliche Sanktionen sind von
ihrer Wirkung her weitgehend austauschbar.
1.4 Zwischenbilanz
Mithin ergibt sich damit vorläufig, dass die Gesetzesflut tatsächlich einerseits
das bestehende Recht in Konsistenzschwierigkeiten bringt und andererseits den
Gültigkeitsanspruch des Rechts in Zweifel zu ziehen vermag. Entsprechend
kann eine beträchtliche Zunahme der Rechtsmasse tatsächlich als dysfunktional
erscheinen, d.h. als Fehlentwicklung, die es zu bekämpfen gilt. Diese
Konsequenz allerdings ergibt sich – wie gleich zu zeigen sein wird – nicht
zwingend.
2 Die zugrundeliegenden Annahmen
Die vorstehenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf die
angesprochene konservativ-liberale Gegenüberstellung von Recht und Freiheit
und die korrespondierenden Annahme des Rechts als Institut der Vernunft.
Beiden Positionen allerdings kann Massgebliches entgegengehalten werden.
Erweisen sich diese Grundannahmen als unzutreffend, so kann entsprechend
auch nicht von der Zunahme der Rechtsmasse auf eine abnehmende
Wirksamkeit des Rechts geschlossen werden.
2.1 Recht und Freiheit
Problematisch erscheint vorweg, dass mit der Konstruktion von |Recht und
Freiheit| als Dichotomie bereits verkannt wird, dass Recht und Freiheit keine
Gegensätze sind, sondern sich Freiheit überhaupt erst aus dem Recht ergibt.
Dies wird leicht offensichtlich, wenn man sich einen vorrechtlichen (also völlig
rechtlosen) Zustand vor Augen führt. Ein solcher Zustand nämlich ist –
entgegen der Vermutung – nicht ein Zustand völliger Freiheit, sondern ein
(vom Recht aus betrachtet) chaotischer Zustand. Genau betrachtet ist natürlich
auch ein chaotischer
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(rechtsfreier) Zustand einer, der Regeln untersteht, nur sind diese Regeln eben
keine Rechtsregeln. Übersetzt in die vorerwähnte Dichotomie |Freiheit-Recht|
bedeutet dies, dass der Zustand der vermeintlichen "Freiheit" (des rechtsfreien
Raumes) keinen freiheitlichen Raum meint, sondern eben bloss einen
Handlungsraum, in welchem nicht rechtliche Regeln dominieren, sondern
Regeln anderer Art (insbesondere die Regeln von physischer oder
wirtschaftlicher Macht).
2.2 Recht und Vernunft 1 – Rechtsetzung
Problematisch erscheint sodann die aufgeklärte Annahme "vernünftig gesetzten
Rechts für vernünftige Rechtsadressaten". Und dies zum einen bereits des vernünftigen Rechtsetzenden wegen, hat doch das 19. Jahrhundert eine
weitgehende Demokratisierung gebracht, so dass heutzutage Recht
typischerweise nicht von einem einzelnen aufgeklärten Herrscher gesetzt wird,
sondern von Parlamenten, also von einer Personenmehrzahl. Die Parlamentsmitglieder ihrerseits werden dem demokratischen Grundgedanken
folgend gerade nicht nach dem Mass ihrer Vernunft bestimmt, sondern qua
Vertretung der Rechtsadressaten selbst. Massgeblich erscheint nicht primär die
Vernunft eines Parlamentariers (Volksvertreters), sondern die Frage nach
dessen Repräsentativität bezogen auf die wählende Bevölkerung (die Rechtsadressaten). Wobei auch hier wiederum gleich eine Einschränkung
anzubringen ist: Massgeblich ist im Grunde auch nicht die Repräsentativität
eines Volksvertreters, sondern die Frage danach, wie sehr eine solche
Repräsentativität überzeugend glaubhaft gemacht werden kann. Übersetzt in
die Kategorie der Vernunft bedeutet dies: Ein mehrheitlich unvernünftiges Volk
hat – demokratischer Perspektive zufolge – einen Anspruch auf mehrheitlich
unvernünftige Volksvertreter (oder zumindest Anspruch auf Volksvertreter,
die sich überzeugend unvernünftig geben). Unabhängig von der Frage, wie vernünftig Rechtsregeln sein können, die von einem mehrheitlich unvernünftigen
Parlament gesetzt werden, besteht demokratischen Prinzipien folgend die Vermutung, dass Recht, das von einem Rechtsetzenden erlassen wird, welcher der
Mehrheit der Rechtsadressaten entspricht (der mithin bezogen auf ihre
wesentlichen Charakterzügen repräsentativ ist), gutes d.h. richtiges Recht ist.
Überdeutlich wird dies in direkten Demokratien wie z.B. der Schweiz, wo parlamentarische Erlasse prinzipiell von den Rechtsadressaten selbst (mittels
Abstimmung) überprüft bzw. beschlossen werden.
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Natürlich könnte man das angesprochene Problem dadurch lösen (was
natürlich auch geschieht), dass einfach die Definition der Vernunft
entsprechend angepasst und axiomatisch gesetzt wird, dass eine von der
Mehrheit der Adressaten gebilligte Regelung per se eine vernünftige sein muss.
In jüngster Ausformung findet sich diese Behauptung auch wieder in der
HABERMASschen Konstruktion der "idealen Sprechsituation", wonach ein
Beschluss dann gerecht sei, wenn alle davon Betroffenen gleichberechtigt
mitreden und mitentschliessen dürfen. Offen bleibt in dieser Konstruktion
natürlich, inwiefern erstens eine ideale Sprechsituation überhaupt logisch
möglich sei, und zweitens ob eine Entscheidung tatsächlich je vernünftig sein
kann, wenn die Mehrheit der Entscheidenden im Wesentlichen über völlig
ungenügende Information verfügt, um Pro und Contra überhaupt angemessen
abwägen zu können, wenn sich mithin die Entscheidung der Mehrheit im Kern
nicht auf angemessene Information stützt, sondern darauf, was Personen,
Parteien, Medien oder andere Institutionen als richtig oder vernünftig
bezeichnen (erinnert sei etwa an die schweizerischen Abstimmungen zur Frage
der Kernenergie oder derjenigen des EU-Beitrittes).
Die Frage danach, ob das Recht eines modernen Staates ein vernünftiges sei,
lässt sich mithin nicht nur nicht beantworten, sie ist vielmehr im Kern –
demokratischen Prinzipien folgend – gar nicht zulässig, weil sie die
Entscheidung über zu setzende Regelungen auf eine Kategorie hin orientiert,
die prinzipiell demokratisch nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Oder
einfacher: Ein "dummes" Volk hat Anspruch auf ein "dummes" Recht.
2.3 Recht und Vernunft 2 – Die Rechtsadressaten
Problematisch an der aufgeklärten Annahme "vernünftig gesetzten Rechts für
vernünftige Rechtsadressaten" erscheint aber nicht nur die Vernunft der
Rechtsetzung, sondern insbesondere auch diejenige der Rechtsadressaten.
Prinzipiell nämlich ergibt sich für das Recht aus der quantitativen Zunahme der
Rechtsmasse nur dann ein Konsistenzproblem, wenn die – vom Recht
getroffene – Annahme des vernünftigen Rechtsadressaten auch zutrifft.
Tatsache allerdings ist, dass diese Annahme weitgehend eben eine blosse
Annahme ist, und nichts weiter.
So zeigt etwa die Forschung zur Abschreckungswirkung (sog. negative
Generalprävention) von Strafen (quasi der Kernbereich des vernünftigen
Rechtsadressaten) seit Jahrzehnten überall dasselbe, nämlich dass eine
abschreckende Wirkung weitestgehend inexistent ist. Weder
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die Strafart noch das Strafmass scheinen irgendeinen massgeblichen Einfluss
auf das kriminelle Verhalten der Rechtsadressaten auszuüben, und zwar ganz
unabhängig vom Delikt.
Diese Tatsache kann allerdings nur den überraschen, dem die eigenen
Annahmen wichtiger sind denn die (komplexe) Wirklichkeit. Selbst ein kurzer
und oberflächlicher Blick auf diese Wirklichkeit nämlich belehrt einen darüber,
dass die typisch menschliche Entscheidungssituation in erster Linie durch
unvollständige Informationen geprägt ist. D.h. leben bedeutet immer,
Entscheidung treffen zu müssen, die man an sich gar nicht treffen kann, weil
man nicht wirklich weiss, wie die Konsequenzen der Entscheidung aussehen
werden. Entsprechend kann auch nicht überraschen, was die
rechtssoziologische Forschung zur Frage der Rechtskenntnis der Bevölkerung
immer wieder erbracht hat und erbringt (sog. KOL-Forschung, d.h. Forschung
zum Thema Knowledge and Opinion about Law), dass nämlich die
Rechtsadressaten das Recht weitgehend nicht kennen.
Bereits an der Kenntnis der Rechtsadressaten scheitert mithin das
vernunftorientierte Menschenbild. Darüber hinaus allerdings gibt es weitere
schwerwiegende Einwände gegen ein solches Menschenbild, namentlich:
•
dass die Frage nach rechtlicher Reaktion nur dann überhaupt Sinn macht,
wenn das in Frage stehende Verhalten überhaupt entdeckt wird;
•
dass indes die Entdeckungswahrscheinlichkeit eine weitgehend
unkalkulierbare Grösse darstellt, die weit stärker von charakterlicher
Disposition und sozialer Einschätzung beeinflusst ist, als von objektiver
Information;
•
dass
unterschiedliche
Güter
weitgehend
inkompatibel
bzw.
inkommensurabel zueinander sind (wieviel Strafe ist eine gestohlene
Armbanduhr wert); dass mithin ein einheitlicher Massstab zur Bewertung
von Gütern nicht existiert;
dass die Folgenabschätzung abhängig ist vom Zeithorizont des Handelnden
(je kürzer der Zeithorizont, desto lohnender erscheinen gegenwärtige
Vorteile im Vergleich zu langfristigen Nachteilen); dass aber dieser
Zeithorizont divergiert nach Alter und anderen sozialen bzw.
demographischen Charakteristika.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich indes kein gesellschaftliches Problem. Denn
trotz all der erwähnten Beschränkungen des "vernünftigen Handelns" hält sich
die überwiegende Mehrheit der Rechtsadressaten
•
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die meiste Zeit an die meisten rechtlichen Regelungen. Problematisch erscheint
mithin weniger die mangelnde Vernunft der Rechtsadressaten (denn diesen
gelingt es offenbar auf gänzlich unvernünftige Art und Weise Konformität zu
produzieren), problematisch erscheint vielmehr das Welt- und Menschenbild,
das eine einzige Form des Handelns als vernünftig unterstellt, namentlich ein
Menschenbild, das davon ausgeht, dass der Einzelne bewusst Informationen
sammelt, sie strukturiert und ordnet, um dann in aller Ruhe (am besten in
einem Lehnstuhl mit einem Glas Wein) die möglichen positiven oder negativen
Konsequenzen abzuwägen und erst nach dieser Abwägung zu handeln. Einem
solchen Weltbild muss die Zunahme der Rechtsmasse (die zunehmende
Unübersichtlichkeit des Rechts) tatsächlich als pathologische Entwicklung und
essentielle Gefahr erscheinen. Nur –: Mit Fug und Recht darf wohl bezweifelt
werden, dass diese Vorstellung nur schon im 18. oder 19. Jahrhundert zutreffen
konnte. Zumindest die Vermutung dürfte bestehen, dass dieses Menschenbild
bereits damals nur eine Objektivierung und Verallgemeinerung derjenigen war,
die es erfunden haben, nämlich des gebildeten, zivilisierten (prinzipiell
männlichen) Bürgertums, mithin eines ausserordentlich kleinen Prozentsatzes
der Gesamtbevölkerung, während all die Kutscher, Dienstmädchen und Bauern
wohl kaum über die entsprechende (unterstellte) Rechtskenntnis verfügten,
geschweige denn über die Musse, sich ihr Handeln in Ruhe zu überlegen.
Nur wenn mithin am vernünftigen Menschen des 18. bzw. dem aufgeklärten
Bürger des 19. Jahrhunderts festgehalten wird, erscheint die Zunahme der
Rechtsmasse problematisch. Tut man dies nicht und gibt zu, dass auch die
Orientierung am sozialen Umfeld, das Abstellen auf Emotionen oder sogar
blosse Gewohnheit "vernünftig" sein kann, und verzichtet man insbesondere
auf die Vorstellung, derzufolge primär das Recht die Gesellschaft steuert und
nicht umgekehrt, dann kann auch die massivste Gesetzesflut letztlich der
Konformität und Rechtstreue der Rechtsadressaten nicht in Gefahr bringen.
In letzter Konsequenz ergibt sich damit aus der Gesetzesflut keine Frage nach
der möglichen Rechtstreue der Rechtsadressaten und damit auch keine soziales
Problem, sondern vielmehr eine (dringliche) Frage nach der Adäquanz des
Menschenbildes, welches in unseren Rechtsordnungen seinen Ausdruck findet,
ebenso wie eine (vielleicht noch drängendere) Frage nach der Angemessenheit
der Konzeption des Rechts als Steuerungsinstrument unserer Gesellschaften.
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Um sich rechtstreu zu verhalten, reicht es nämlich meist aus, dass man in etwa
um den Dekalog weiss oder zumindest jemanden kennt, der darum weiss. In
allen übrigen Bereichen hilft im allgemeinen ein gewisses Quantum an Anstand
oder Ethik (oder ein Bezugsfeld, welches dieses Quantum Anstand und Ethik
aufweist) und in den restlichen Bereichen ist ohnehin kein Blumentopf zu
gewinnen, ohne dass man einen (wenn es geht sogar spezialisierten) Juristen
um Rat fragt. Akzeptiert man diese Informationsstruktur, dann kann es gar
keine Rolle spielen, dass die Rechtsadressaten vom Recht qua Recht keine
Ahnung haben. Denn dort, wo sich dieses Recht (wie anzustreben) in
Übereinstimmung mit der allgemein gültigen Einschätzung einer Situation
befindet, lohnt es sich nicht, darauf zu rekurrieren. Dort aber, wo das Recht sich
in Diskrepanz zum allgemeinen Usus befindet, hilft auch der Rekurs auf das
Recht nicht viel, weil ohnehin ein Fachmann zugezogen werden muss.
Entsprechend erscheint die weitgehende Ignoranz des Rechtes durch die
Rechtsadressaten nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch vernünftig.
Damit allerdings ist für die vorne angesprochenen Konsistenzprobleme des
Rechtes (mangelnde Realisierbarkeit der bestehenden Annahme eines
vernünftigen Menschen, der sich über die gültigen Regelungen informiert und
sich entsprechend daran hält) infolge der Zunahmen der Rechtmasse natürlich
nichts gewonnen. Diese Inkonsistenz bleibt bestehen, solange das Recht ein
Menschenbild entwirft, das nicht den Realitäten entspricht.
3. Die Chancen einer Zunahme des Rechtsstoffes
Nichts zwingt einen allerdings bei der Defizitanalyse der vorstehend
beschriebenen Annahmen eines aufgeklärten, vernunftorientierten Welt- und
Menschenbildes stehen zu bleiben.
Gerade die Tatsache, dass mehr oder minder jede moderne bzw. postmoderne
Gesellschaft die Tendenz zu einer massiven Zunahme der Rechtsmasse zeigt,
könnte ja durchaus als Indiz dafür gewertet werden, dass eine solche Zunahme
nicht pathologisch, sondern vielmehr funktional, d.h. eigentlich produktiv und
nützlich sei. Möglicherweise sind mithin nicht die besagten Entwicklungen
inadäquat und verfehlt, sondern unsere Vorstellung von der Bedeutung und
Funktion des Rechts.
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3.1 Die Vorteile des Nichtwissens
Insbesondere LUHMANN hat dies mit seiner Rechtssoziologie und den
Ausführungen in "Legitimation durch Verfahren" betont. LUHMANN geht davon
aus, dass es gerade die Form des modernen Rechts sei (schriftliche Fixierung
bei gleichzeitiger jederzeitiger Abänderbarkeit), die es den Rechtsadressaten
erlaubt, Stabilität zu produzieren und in diese Stabilität auch zu vertrauen,
ohne dass deshalb das Rechtssystem inhaltlich fixiert und entsprechend
unfähig wäre, auf neuere Entwicklungen zu reagieren. Weil die
Rechtsadressaten das Recht nicht wirklich kennen (und auch nicht bemerken,
wie sehr es sich über die Zeit verändert), können sie darauf vertrauen, als sei es
immer dasselbe. Der Unkenntnis der Rechtsadressaten über die genaue
Ausgestaltung des Rechts als solches kommt in einem solchen Modell also
zentrale (und positive) Bedeutung zu. Ähnliches war etwa von POPITZ
hinsichtlich der Bedeutung des Nichtwissens (der Rechtsunkenntnis) für die
Präventivwirkung des Rechts bereits Ende der 60er Jahre festgestellt worden.
Auf diesem Hintergrund erscheint entsprechend die Zunahme der Rechtsmasse
nicht nur nicht als problematisch, sondern durchaus positiv besetzt. Je
umfassender die rechtliche Regelung desto unmöglicher ist es selbst für
Spezialisten, einen Überblick zu behalten und dergestalt dem Recht seine
Dynamik zu nehmen, weil es auf bestimmte vorbestehende Regelungen fixiert
wird. Die Zunahme der Rechtsmasse löst damit das Recht letztlich sogar aus
der Umklammerung der Spezialisten, so dass die Möglichkeit seiner
Autopoiese verbessert wird. Die Flexibilität des Rechtes nimmt auf diese Weise
zu, ohne dass gleichzeitig das Vertrauen darauf geschmälert würde.
3.2 Recht als Regelungsangebot
Nicht vergessen gehen darf, dass das Recht prinzipiell immer nur
Regelungsvorschläge offeriert. Dem Rekurs auf das Recht geht praktisch immer
den
Bankrott
anderer
(typischerweise
wesentlich
effizienterer)
Regelungsmechanismen voraus. Sind aber andere Regelungsmechanismen
falliert, so kann es sich eine Gesellschaft letztlich gar nicht erlauben, für diesen
Fall keine letzte Instanz bzw. Institution anzubieten, worauf rekurriert werden
könnte. Denn sämtliche Regelungsmechanismus, sämtliche sozialen oder nicht
sozialen Strukturen des Lebens überhaupt tragen die Möglichkeit ihres
Scheiterns in sich. Das gründet bereits darin, dass Leben keinen Gegensatz zum
Tod darstellt (JONAS), sondern die
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Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte
Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg,
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Möglichkeit des Todes das Leben überhaupt erst definiert (als dasjenige, was
sterben kann). Die Möglichkeit des Scheiterns ist mithin im Leben selbst
essentiell verankert (ja definiert es sogar) und ebenso in all seinen Teilaspekten.
Entsprechend ist in allen sozialen Strukturen und Regelungsmechanismen
(selbst in den Intimsten und Privatesten) immer auch das Recht als potentielle
Rekursinstanz bereits mitenthalten.
Für die Vielfalt der Lebenssachverhalte lässt sich indes nur dann jederzeit ein
Regelungsvorschlag offerieren, wenn auch das Recht entsprechend vielfältig
und ausdifferenziert ausgestaltet ist. Sind Wirtschaft und Gesellschaft nicht
homogen und zentralistisch orientiert sondern komplex, so kann auch ein
adäquates Rechtssystem nicht einfach, zentralistisch und homogen sein,
sondern muss entsprechende Komplexität entwickeln können.
3.3 Recht und Komplexität
Es könnte nun behauptet werden, die Möglichkeit des Rechts für die
verschiedensten Lebensbereiche jeweils ein valides Regelungsangebot zu
machen, sei nicht abhängig vom Grad seiner Komplexität, d.h. es könnte
vermutet werden, dass auch ein einfach strukturiertes Recht letztlich die
Vielfalt der Lebensbereiche erfassen könnte. Das trifft denn auch zu, nur – :
Damit wird der eigentliche Prozess der notwendig zunehmenden Komplexität
des Rechtes nur auf eine andere Ebene (insbesondere diejenige der
Rechtsanwendung bzw. der Justiz) verlagert.
Völlig unberührt von der Anzahl, Detailliebe oder dem Umfange rechtlicher
Regelungen nämlich bleibt – wie eben erwähnt – , dass jede soziale Struktur
(jedes soziale Problem) prinzipiell das Recht als potentielle Rekursinstanz
mitenthält. Trifft dies aber zu, so kann durch eine Reduktion der Rechtsmasse
die Komplexität des Rechtes bzw. dessen zunehmender Gültigkeitsanspruch
auch nicht gemindert werden, da ja die zugrunde liegenden Sachverhalte
ihrerseits an Quantität und Komplexität zunehmen.
Am Beispiel: Art. 19 Ziff. 1 BetmG (Bundesgesetz über die Betäubungsmittel
und die psychotropen Stoffe vom 3. Oktober 1951; SR 812.121) etwa versucht
die verschiedensten Formen des Betäubungsmittelverkehrs praktisch
umfassend zu regeln bzw. unter Strafe zu stellen. Die Aufzählung der
verschiedenen Handlungen, durch die illegal mit Betäubungsmitteln Kontakt
entsteht, ist derart umfassend, dass tatsächlich kaum ein Sachverhalt denkbar
ist, bei welcher nur eine Tatvariante erfüllt wird. Entsprechend sind die
verschiedenen Tatvarianten nach ein-
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helliger Lehre und Rechtsprechung bei einheitlicher Tathandlung nur als ein
Delikt zu verfolgen, ohne dass Realkonkurrenz anzunehmen wäre.
Selbstverständlich wäre es ohne weiteres möglich, statt der unendlich langen
Aufzählung von Tathandlungen in Art. 19 Ziff. 1 BetmG einfach zu setzen: "wer
unerlaubt mit Betäubungsmitteln in Kontakt kommt". Nur –: Deutlich wird
hier, dass die Kurzform der rechtlichen Regelung die Frage nach dem, was
tatsächlich erfasst sei, nicht etwa aufhebt, sondern nur in den Bereich der
juristischen Auslegung bzw. die Anwendungspraxis der Gerichte verschiebt.
Bedeutsam erscheint dabei, dass die (Fehl-)vorstellung aufgegeben wird, eine
einfache und konzise Regelung sei unschärfer und damit in irgendeiner Art
und Weise grosszügiger als eine umfangreiche, detaillierte. Diese
Fehlvorstellung geht wohl im Kern wiederum auf die bereits angesprochene
Konzeption von Freiheit und Recht als Gegensätzen in einem Nullsummenspiel
zurück, d.h. auf eine Vorstellung, gemäss welcher eine Zunahme des Rechtes
notwendig eine Abnahme der Freiheit bedeute. Das allerdings erscheint völlig
verfehlt. Eine Verkürzung des Textes (bzw. eine Reduktion der Anzahl der
Erlasse) mindert weder die Komplexität dieser Regelungen, noch schmälert sie
den Geltungsbereich des Rechtes. Weniger und einfachere gesetzliche
Regelungen produzieren mithin eine nur scheinbare Einfachheit, eine
vorgebliche Einfachheit nämlich, die weder die tatsächliche Komplexität der
Lebenssachverhalte spiegelt, noch die tatsächliche Komplexität juristischen,
insbesondere richterlichen Denkens und Entscheidens.
3.4 Schwierigkeiten mit der Auslegung
Unbestritten sei, dass quantitativ umfangreichere Regelungen zwingend zu
einer grösseren Wahrscheinlichkeit von (innerrechtlichen) Widersprüchen
führen (sei es innerhalb eines Erlasses, sei es in Bezug auf das Verhältnis
verschiedener Erlasse zueinander). Eine grosse Anzahl Kategorien führt
notwendig auch zu einer grösseren Wahrscheinlichkeit von Überschneidungen
und Widersprüchen. In letzter Konsequenz bedeutet natürlich auch die
Wahrscheinlichkeit von Überschneidungen und Widersprüchen eine Zunahme
der Flexibilität des Rechtes, weil sich damit schlüssig relativ beliebige Resultate
begründen lassen.
Schliesslich kommt einer ausführlicheren Regelung (einer grösseren Anzahl an
Erlassen) der Vorteil zu, dass die richterliche Entscheidung scheinbar
nachvollziehbar wird. Nur (aber immerhin) scheinbar nachvollziehbar ist die
richterliche Entscheidung, weil natürlich diese Ent-
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scheidung immer (weitestgehend) unabhängig ist vom Text, auf den sie sich
stützt, d.h. weil die Bedeutung eines Textes eben vom Gericht fixiert wird,
wobei das Gericht bei der Begründung seines Verständnisses typischerweise
juristische Kategorien wie die Methodenlehre vorbringen wird, die eigentlich
ausschlaggebenden
Kategorien
wie
das
subjektive
Verständnis,
Gerechtigkeitsgefühl, Folgenorientierung, Weltbild etc. aber nicht ansprechen
wird.
Wer dies bestreitet, dem sei (anstelle vieler) nur ein Beispiel entgegengehalten:
Das schweizerische Bundesgericht hat – zu einer Zeit, als der Tatbestand der
Unterschlagung (Art. 141 aStGB) noch deutlich und ausschliesslich von Sachen
sprach – Forderungen und Sachen gleichgesetzt und als Unterschlagung auch
die unrechtmässige Verwendung von Forderungen subsumiert (BGE 87 IV 115,
bestätigt in BGE 116 IV 134). Das Analogieverbot in Art. 1 StGB hinderte das
höchste schweizerische Gericht an dieser (für Juristen wohl schockierenden)
Gleichsetzung ebensowenig wie die praktisch einhellige Kritik der Lehre.
Inzwischen ist diese Bundesgerichtspraxis denn auch Gesetz geworden (vgl.
Art. 138 Ziff. 1 Abs. 2 StGB sowie Art. 141 StGB).
Wie das Beispiel zeigt, kann es ein Schaden nicht sein, dass bei entsprechender
Vielfalt der Regelungen nicht ohne weiteres von vorneherein klar ist, was gilt,
denn eine entsprechende Klarheit bzw. Sicherheit besteht auch nicht bei
quantitativ wenigen Regelungen.
bis
3.5 Gesetzesflut und Symbolik
Damit aber wären wir beinahe am Ende angelangt. Zu klären wäre einzig noch
die Frage, ob tatsächlich die symbolische Wirkung des Rechtes durch die
Zunahme der Rechtsmasse Schaden leide. Wie ausgeführt kann dies tatsächlich
geschehen, sofern dass das Recht in seiner Symbolik demaskiert (als Symbol
erkannt) wird und zu einem Wegweiser verkommt. Dies allerdings dürfte
primär im Bereich zwingender Regelungen, insbesondere im Bereich des
Strafrechtes zutreffen, dieweil für alle anderen Bereiche diese Gefahr wohl als
wesentlich geringer einzuschätzen wäre.
Zugegeben sei, dass die Zunahme der Gesetzesmasse gerade im Bereich des
Strafrechtes zu einer wachsenden Diskrepanz von gesetzten (geschriebenen
und damit scheinbar gültigen) Regelungen einerseits und der tatsächlich
bestehenden Anzahl angewandter und damit wirklich bestehender Regeln
andererseits führen kann. Andererseits ist anzumerken, dass diese Diskrepanz
nur dann den Gültigkeitsanspruch (bzw. die Symbol-
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wirkung) des Rechtes zu mindern vermag, wenn sie überhaupt
wahrgenommen wird. D.h. Voraussetzung einer solchen Schmälerung des
Gültigkeitsanspruches des Rechts ist, dass die Rechtsadressaten die Diskrepanz
von Anspruch und tatsächlicher Umsetzung erkennen. Nachdem indes – wie
ausgeführt – die Rechtsadressaten typischerweise über keine ausgedehnte
Rechtskenntnis verfügen, dürfte eine entsprechende Wahrnehmung in den
seltensten Fällen überhaupt bestehen.
Problematisch wird besagte Diskrepanz erst dann, wenn auf die Gültigkeit
entsprechender Regelungen deutlich und publikumswirksam behauptet wird
(typischerweise im politischen oder sozialen System), ohne dass eine
entsprechende Umsetzung im Rechtssystem erfolgt (bzw. erfolgen kann).
Schulbeispiel dürfte hier das Betäubungsmittelstrafrecht bilden, weil in diesem
Bereich
sehr
intensive
gesellschaftliche
Diskussionen
und
Auseinandersetzungen stattgefunden haben, die den Gültigkeitsanspruch des
Strafrechtes allgemein deutlich werden liessen, dieweil zumindest im Bereich
des Konsums (aber indirekt natürlich auch des Handels) klare Vollzugsdefizite
deutlich wurden. Ein weiteres Beispiel dürfte das Strassenverkehrsrecht
darstellen (inklusive dem Ordnungsbussenrecht). Der Mehrheit der
Bevölkerung ist der staatliche Regelungsanspruch durchaus bewusst,
gleichzeitig weiss diese Mehrheit allerdings auch um die ausserordentlich
begrenzte Umsetzung dieses Anspruches, so dass dort, wo keine ethischen
Bedenken greifen (insbesondere im Bagatellbereich, aber auch bei mässigen
Geschwindigkeitsüberschreitungen) dieser Regelungsanspruch als rein
symbolisch erkannt wird. Entsprechend wird die Tatsache, dass ein
Rechtsadressat bei einem Regelbruch entdeckt wird, typischerweise unter der
Kategorie "Pech, Missgeschick" (also im wesentlichen als aleatorisch) abgebucht
werden. Der Gültigkeitsanspruch des Rechts wird in solchen Fällen
üblicherweise nicht anerkannt, sondern die Rechtsfolge als Resultat ungleicher
Kräfteverhältnisse (also letztlich Macht) angenommen.
Wird dagegen der Gültigkeitsanspruch des Rechts nicht allgemein bemerkbar
vertreten und ist er damit den Rechtsadressaten auch nicht geläufig, so entsteht
– bei aller Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit – keine Minderung
der Symbolwirkung des Rechts. Typisch dürfte hier etwa die Tatsache sein,
dass nur gerade etwa 5% der Autodiebstähle aufgeklärt werden, was die
Rechtsadressaten in ihrem Vertrauen in das Recht bzw. in ihrer Wahrnehmung
der Symbolik der Rechtsordnung nicht betrifft.
M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli.
Erschienen in: Adrian Holderegger (Hrsg.): Aufbruch ins dritte
Jahrtausend. Millenniums-Vorträge an der Universität Freiburg,
Universitätsverlag Freiburg 2000, 136-153.
M. A. Niggli – Zurück zu den 10 Geboten, in: Holderegger (Hrsg.), Aufbruch ins dritte Jahrtausend
153
Entsprechend kann der symbolischen Wirksamkeit des Rechtes aus der
Zunahme der Rechtsmasse nur dann Gefahr erwachsen, wenn die daraus
zwingend resultierende Diskrepanz von Gültigkeitsanspruch und realer
Umsetzung den Rechtsadressaten bewusst wird. Die dürfte v.a. im Bereich der
Massenkriminalität (insbesondere im Bereich der Bagatelldelikte) zutreffen.
Entsprechend täte eine auf Gültigkeit hin orientierte Rechtsordnung gut daran,
diesen Bereich zu entkriminalisieren, also zu legalisieren bzw. zumindest
herunterzustufen (z.B. als Übertretung auszugestalten), so ihr denn an ihrem
Gültigkeitsanspruch etwas liegt.
Resultat
Als Resultat ergibt sich damit, dass die quantitative Zunahme des Rechts zwar
gewisse Risiken in sich birgt, dass das Gros dieser Risiken allerdings
weitgehend imaginär ist und sich primär aus den zugrundeliegenden
Annahmen eines aufgeklärten Welt- und Menschenbildes ergeben.
Demgegenüber erweist sich die Zunahme der Rechtsmasse als deutliche
Chance, wenn auch zugegeben sei, dass diese Chancen nur dann angenommen
werden können, wenn man bereit ist, die überkommene Vorstellung des
Rechtes als gesellschaftliches Steuerungsinstrument aufzugeben oder doch
wenigstens deutlich anders zu konzipieren als bisher.
M. A. Niggli
August 2000
M. A. Niggli©2000. http://www.unifr.ch/ius/niggli.
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