Die Türkei hat gewählt
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Die Türkei hat gewählt
Die Türkei hat gewählt von Andreas Storm Selten wurde das Ergebnis einer Parlamentswahl in der Türkei mit einer solchen Spannung erwartet wie in diesem Jahr: Um das von Staatspräsident Tayyip Erdogan angestrebte Ziel einer umfassenden Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidalsystems erreichen zu können, wäre eine qualifizierte Mehrheit in der Großen Nationalversammlung erforderlich gewesen. Deshalb wollte die regierende GERECHTIGKEITS- UND ENTWICKLUNGSPARTEI (AKP) ihre bisher gehaltene absolute Mandatsmehrheit nicht nur verteidigen, sondern sogar noch deutlich ausbauen. Den beiden stärksten Oppositionsparteien, der sozialdemokratisch orientierten REPUBLIKANISCHEN VOLKSPARTEI (CHP) sowie der rechtsgerichteten PARTEI DER NATIONALISTISCHEN BEWEGUNG (MHP), wurden keine ernsthaften Chancen eingeräumt, die AKP als stärkste politische Kraft abzulösen. Die Wahlbeobachter waren sich vielmehr darüber weitgehend einig, dass der Ausgang der Wahl ganz entscheidend vom Abschneiden der erstmals direkt kandidierenden kurdisch-geprägten DEMOKRATISCHE PARTEI DER VÖLKER (HDP) abhängen würde. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Wahlen, als die HDP bzw. ihre Partnergruppierung PARTEI DES FRIEDENS UND DER DEMOKRATIE (BDP) ihre Bewerber als unabhängige Kandidaten zur Wahl gestellt hatten, wagte die HDP die Entscheidungsschlacht um den direkten Einzug in die Große Nationalversammlung durch den Sprung über die landesweit geltende 10 %-Hürde. 1. Das Wahlergebnis: Ende der absoluten Dominanz der AKP, Einzug der HDP Die türkischen Wählerinnen und Wähler haben den Hoffnungen der regierenden AKP auf den Ausbau ihrer absoluten Mandatsmehrheit in der Großen Nationalversammlung eine klare Absage erteilt. Die Tabelle 1 gibt die wichtigsten Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 wider: Tab. 1: Ergebnis der Parlamentswahlen in der Türkei am 7. Juni 2015 Partei 07.06.20151 12.06.2011 Veränderung % Sitze % Sitze %-Punkte Sitze AKP 40.9 258 49.8 327 -8.9 -69 CHP 25.0 132 26.0 135 -1.0 -3 MHP 16.3 80 13.0 53 +3.3 +27 HDP 13.1 80 . . [+6.5]2 [+45] Unabh. . . 6.6 35 . . Sonstige 4.7 - 4.6 - +0.1 . Wahlbet. 84 % 550 83.2 550 . . Quelle: ANADOLU AGENCY; WIKIPEIDA.ORG: Turkish general election 2015(2011) 1 2 Vorläufiges Wahlergebnis, Stand: 9. Juni 2015; Änderungen in der Sitzverteilung sind noch möglich. Die Kandidaten der HDP-Partnerpartei BDP traten 2011 als unabhängige Kandidaten an. 1 - Die Regierungspartei AKP muss nach einem massiven Stimmenverlust von rund neun Prozentpunkten das Ende ihrer absoluten Mandatsmehrheit im türkischen Parlament hinnehmen. Mit nur noch 258 Abgeordneten verfehlt sie die für eine Alleinregierung erforderliche Anzahl von 276 Sitzen überraschend deutlich. Damit ist die AKP erstmals seit dem Beginn ihrer Regierungszeit im Jahr 2002 künftig auf einen Koalitionspartner angewiesen. - Die sozialdemokratisch-orientierte CHP bleibt mit einem geringfügig reduzierten Stimmenund Mandatsanteil weiterhin mit weitem Abstand auf die führende AKP die zweitstärkste politische Kraft im türkischen Parlament. - Die rechtsnationalistische MHP gehört zu den großen Wahlgewinnern. Mit einem spürbaren Stimmenzuwachs von mehr als drei Prozentpunkten kann sie die Zahl ihrer Parlamentssitze um 27 ausbauen. - Die kurdisch-geprägte HDP hat sich mit einem klaren Sprung über die 10 %-Klausel als größter Wahlgewinner herausgestellt. Damit kann die HDP die Zahl ihre Parlamentsvertreter im Vergleich zur letzten Parlamentswahl, als ihre Kandidaten noch als unabhängige Bewerber angetreten waren, mehr als verdoppeln. Mit 80 Mandaten liegt die Partei im Parlament sogar gleichauf mit der MHP. 2. Vorwahlumfragen und Wahlergebnis: Eine gute Prognosequalität Die im Vorfeld der Parlamentswahlen veröffentlichten Meinungsumfragen weisen im Durchschnitt eine erstaunliche Prognosequalität im Hinblick auf das tatsächliche Wahlergebnis am 7. Juni 2015 auf. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass in den letzten zehn Tagen vor der Wahl in der Türkei ein Veröffentlichungsverbot von Umfrageergebnissen besteht. Die Tabelle 2 vergleicht den Durchschnittswert und die Spannweite der Umfrageresultate, die von den führenden türkischen Meinungsforschungsinstituten im letzten Monat vor der Wahl bis zum Beginn der Sperrfrist ab dem 28. Mai veröffentlicht worden sind, mit dem tatsächlichen Wahlergebnis: Tab. 2: Vorwahlumfragen und Wahlergebnis in der Türkei am 7. Juni 2015 Umfragen (Spannweite) Mai 2015 Ergebnis3 07.06.2015 AKP 42 (39 – 45) 40.9 CHP 27 (25 – 29) 25.0 MHP 16 (14 – 18) 16.3 HDP 10.5 (9 – 12) 13.1 4.5 (3 – 6) 4.7 Partei Sonstige Quelle: WIKIPEDIA.ORG: Opinion Polling for the Turkish general election 2015; eigene Berechnungen 3 Vorläufiges Wahlergebnis, Stand: 9. Juni 2015 2 3. Ausblick: Die Türkei vor einer Rechtskoalition von AKP und MHP? Seit ihrer Gründung und erstmaligen Wahlteilnahme im Jahr 2002 hat die AKP das politische Leben in der Türkei klar dominiert. Mit dem Ende der absoluten Mandatsmehrheit in der Großen Nationalversammlung dürfte nicht nur das zentrale Projekt des Parteigründers, langjährigen Regierungschefs und ersten direkt gewählten Staatspräsidenten Tayyip Erdogan zur Einführung eines Präsidialsystems vorerst gescheitert sein. Schon die Bildung der neuen türkischen Regierung stellt die AKP vor die große Herausforderung, einen Koalitionspartner unter den bisherigen Oppositionsparteien auszuwählen. Ein Regierungswechsel zugunsten einer Drei-Parteien-Koalition der bisherigen Oppositionsfraktionen dürfte hingegen angesichts der ausgeprägten programmatischen Gegensätze zwischen der rechtsnationalistischen MHP auf der einen Seite und der linksorientierten HDP auf der anderen Seite völlig ausgeschlossen sein. Auch eine „Große Koalition“ aus AKP und CHP würde aus machtpolitischen Erwägungen für beide Parteien kaum ernsthaft in Betracht kommen. Eine kleine Koalition der AKP mit der kurdisch-geprägten HDP dürfte nach den massiven Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien in der Schlussphase des Wahlkampfes ebenfalls faktisch ausgeschlossen sein. Damit bliebe wohl als einzige realistische Option für die Regierungsbildung eine Koalition aus AKP und MHP. Sollte es dazu kommen, hätte dies wohl einen massiven Rechtsruck in der türkischen Regierungspolitik zur Folge. Einfach dürften die Koalitionsverhandlungen aber auch bei der letztgenannten Bündnisvariante nicht werden. So verwundert es nicht, wenn einige Kommentatoren am Wahlabend angesichts der vermutlich nur schwer zu überbrückenden Gegensätze zwischen den Parteien bereits über ein mögliches Scheitern von Koalitionsverhandlungen, eine sich daran anschließende Bildung einer kurzlebigen AKPMinderheitsregierung und in der Folge einen weiteren Urnengang noch in diesem Jahr spekulieren. 3