Einzigartiges System zur Bearbeitung grösster Teile

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Einzigartiges System zur Bearbeitung grösster Teile
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Produktions- und Fertigungstechnik | Grossteilebearbeitung
Technische Rundschau 7/2014
Einzigartiges System zur
Bearbeitung grösster Teile
Die Schweizer Fertigungsindustrie ist bekannt für hohe Präzision, vor allem bei kleinen
Teilen. Was wenige wissen: In Altdorf steht bei der Berghoff Mechanical Engineering AG ein
einzigartiges automatisiertes Fertigungszentrum zur Bearbeitung grosser bis sehr grosser
Werkstücke in hoher Genauigkeit. Auf 87 m Länge sind sechs Gross-BAZ und eine Messmaschine miteinander verkettet, um Teile bis zu 25 t Gewicht rund um die Uhr zu bearbeiten.
Die «Technische Rundschau» hat sich vor Ort umgesehen und war mehr als angetan.
Am Anfang steht eine Naturkatas­
trophe. Es geschah in der dritten
Augustwoche 2005. Bereits vorher
hatte es in der Zentralschweiz hef­
tig geregnet. Dann setzte Genua­
Tief «Norbert» zum verheerenden
Starkregenangriff an. Sonst harm­
lose Flüsschen wie der Schächen­
bach in Altdorf konnten die Was­
sermengen nicht mehr aufnehmen
und traten über die Ufer. Auch die
Gebäude der Ruag und damit der
Grossteilefertigung standen kom­
plett unter Wasser.
Für die damalige Ruag Mecha­
nical Engineering war die Überflu­
tung der Fertigungseinrichtungen
der Startschuss zu einem wegwei­
senden Projekt und gleichzeitig
grossen Schritt nach vorne. Seit
vorigem Jahr ist die ehemalige
Grossteilefertigung der Ruag Teil
der Berghoff­Gruppe. Das im
deutschen Drolshagen domizi­
lierte Unternehmen zählt zu den
Weltmarktführern für industrielles
Outsourcing im Bereich der me­
chanischen Fertigung. Die Über­
nahme rundet das Angebotsport­
folio der Gruppe nach oben ab.
Bereits vor dem Hochwasser
standen in den Ruag­Hallen fünf
Grossbearbeitungszentren
der
«Multitec»­Baureihe von Waldrich
Coburg. Die Grossteilefertigung
übernahm schon damals Fremd­
aufträge von externen Kunden
mit Genauigkeitsanforderungen
im Hundertstel­mm­Bereich. Auf
dieser Expertise im High­End­Ma­
chining grosser Werkstücke beruht
die Zusammenarbeit mit bedeuten­
den Unternehmen. Unter anderem
zählen ASML, Weltmarktführer
bei Lithografiesystemen für die
Halbleiterindustrie, und die Kraft­
werkssparte von Siemens zu den
langjährigen Kunden.
Auch von diesen Partnern kam
nach dem Hochwasser der Anstoss,
ein einmaliges Fertigungskonzept
zu konzipieren und zu realisieren.
Ein Manko der früheren Bearbei­
tung war nämlich, dass die Gross­
BAZ nur über Kran beladbar waren,
mit deutlich negativen Auswirkun­
gen auf die Nebenzeiten. So konnte
ein Werkstückwechsel schon mal
eine Stunde in Anspruch nehmen.
«Wir sprechen hier immerhin von
Teilen mit bis zu vier Meter Durch­
messer und 25 Tonnen Gewicht»,
erklärt Rolf Achermann, Leiter
Grossteilefertigung bei Berghoff
Mechanical Engineering, die Her­
ausforderungen seiner Abteilung.
Im Mai 2006 erhielt der deut­
sche Werkzeugmaschinenhersteller
Waldrich Coburg dann als Gene­
Technische Rundschau 7/2014
ralübernehmer den Auftrag, das
wegweisende Projekt umzusetzen.
Herausgekommen ist eine fast
Fussballfeld­grosse Anlage, die
auf 87 Meter Länge über Schienen
sechs Gross­BAZ und eine Mess­
maschine verkettet, 22 Paletten­
plätze bereithält, über vier separate
Rüstplätze und einen Waschplatz
verfügt und vollautomatisch rund
um die Uhr arbeiten kann. (Siehe
Kasten «Auf einen Blick».)
Eine Hauptschwierigkeit bei
der Umsetzung war, die einzelnen
Bestandsmaschinen auf die neue
Lösung mit den Transferschienen
auszurichten. Stefan Engel war da­
mals für Waldrich Coburg in Alt­
Grossteilebearbeitung | Produktions- und Fertigungstechnik
dorf vor Ort und arbeitet heute bei
Berghoff Mechanical Engineering:
«Für das reibungslose Funktio­
nieren des Transfersystems ist es
wichtig, dass sich Schienen, Rüst­
plätze, Palettenspeicher, Messma­
schine und Bearbeitungszentren
auf einem einheitlichen Niveau
befinden. Ausserdem mussten die
vorhandenen Rechtwinkligkeits­
abweichungen der einzelnen Ma­
schinen zu den Transfermaschinen
kompensiert werden.» Keine noch
so kleine Stufe durfte den Trans­
port der Werkstücke behindern.
Und es gelang. Die Höhendiffe­
renz der gesamten Anlage liegt im
Zehntel­mm­Bereich.
Mit 87 m Länge hat die Transferanlage nahezu die
Abmessungen eines Fussballfeldes. (Bilder: TR)
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Produktions- und Fertigungstechnik | Grossteilebearbeitung
Eine weitere Herausforde­
rung lag darin, die im Rahmen
des Projekts neu beschafften zwei
«DMC 340 FD» von DMG (De­
ckelMahoGildemeister) mit den
vorhandenen vier Maschinen von
Waldrich Coburg in bearbeitungs­
technischen Einklang zu bringen.
Auch hier, so erinnert sich Stefan
Engel, betrat man Neuland, da bis
anhin beide Hersteller noch nie
zusammen an so einem Projekt ge­
arbeitet hatten: «Zwar verfügt jede
Maschine über eine Siemenssteue­
rung 840 D, aber die Signale müs­
sen von jeder Maschine identisch
verarbeitet werden. Zudem muss
die Indexierung der Paletten auf
jeder Maschine gleich sein, da wir
sonst die Wiederholgenauigkeit der
Bearbeitung beim Weitertakten der
Werkstücke vergessen können.»
Erst wenn man weiss, dass die
Werkstücke teilweise bis zu 7­ oder
8­mal umgeschlagen werden und
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Palettenwechsel: Schienensystem und BAZ sind niveaugleich und genau
rechtwinklig zueinander ausgelegt.
die Positioniergenauigkeit der
Gross­BAZ im Bereich von weni­
gen µm liegt, kann man die Aussage
von Stefan Engel richtig einordnen.
Um die Genauigkeitsanforderun­
gen beim Palettenwechsel einhal­
ten zu können, musste Waldrich
Coburg die Zuführung zum Palet­
tenwechsler der eigenen Maschinen
teilweise sogar neu kon­
struieren.
Wie genau damals
Transferanlage für Grossteilebearbeitung
gearbeitet wurde, zeigt
die Tatsache, dass we­
Transfersystem
Eigenschaften
der die im Boden einge­
Bearbeitungszentren
• 1/Mastertec 4000 AR
• Verfahrweg: 5,5 x 5,5 x 3,5 m
gossenen dreispurigen
(Waldrich Coburg)
(X, Y, Z)
Transferschienen mit
• 1/Multitec 2500 AR
• Verfahrweg: 4 x 3,5 x 2,25 m
einer Spurweite von ins­
(Waldrich Coburg)
(X, Y, Z)
• 2/Multitec 2500 AP
gesamt 2,5 Meter noch
• Verfahrweg: 5 x 3,5 x 2,25 m
(Waldrich Coburg)
(X, Y, Z)
die Zuführungen zu den
• 2/DMC 340 FD
• Verfahrweg: 2,8 x 3,4 x 1,6 m
Maschinen bisher nach­
(DMG Mori Seiki)
(X, Y, Z)
justiert werden mussten.
Messmaschine
• Verfahrweg: 3 x 6 x 2 m (X, Y, Z)
• Länge: 87 m
• 3-spurig mit Spurweite je 1,25 m
Paletten
• Werkstückgewicht: maximal 25 t
• Palettengewicht: maximal 15,5 t
• Palettengrösse:
• 3/2 x 3 m
• 9/2,25 x 4 m
• 10/Durchmesser 2,5 m
• 4/Durchmesser 3 m
Palettenwagen
• Ausführung als Doppelwagen
• Palettenverschiebung durch Schnecke
• Balluff-Lese- und -Schreibeinheit
• Verfahrgeschwindigkeit Q3-Achse: 45 m/min
• Verfahrgeschwindigkeit Q4-Achse: 30 m/min
• Verfahrgeschwindigkeit Q5-Achse: 20 m/min
Hauptrüstplätze
• 1/Standard für Rundpaletten
• 1/Präzision für Rundpaletten
• 1/Standard für Rechteckpaletten
• 1/Präzision für Rechteckpaletten
jeweils 1/Wasch-, Übergabe-, Messrüstplatz
Das Einrichten und Aufspannen
der Werkstücke erfolgt an einem
separaten Rüstplatz mit vier Auf­
spannplätzen ausserhalb der Zer­
spanungszone. Dazu stehen rund
um die Uhr vier Rüstprofis bereit.
Nicht umsonst. Denn aufgrund der
Grösse und teilweise Fragilität der
Werkstücke fordert das Aufspannen
viel Geschick und Erfahrung.
Vor allem Frames aus Alumi­
nium werden in nicht wenigen
Fällen aus dem vollen Material ge­
arbeitet. «Von 4 Tonnen Ausgangs­
material bleiben dann vielleicht
noch 1,5 Tonnen stehen», verdeut­
licht Teamleiter Adrian Arnold die
Zerspanungsquote. Stegbreiten von
wenigen Millimetern sind daher
keine Seltenheit.
Die hohe Zerspanungsrate
schlägt sich auch bei den Maschi­
• MMZ G (Zeiss)
Schienensystem
Hier fliegen noch Späne: Die Zerspanungsquote liegt teilweise
über 50 Prozent; die Wechselköpfe der Waldrich-Coburg-Maschinen erlauben eine sehr flexible Bearbeitung.
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Hansjörg Murer, Adrian Arnold, Rolf Achermann und Stefan Engel (von links
nach rechts), Berghoff Mechanical Engineering: «Der Invest hat sich gelohnt.
Die Auslastung der Maschinen konnte deutlich verbessert werden.»
nenzeiten nieder. Es gibt Werkstü­
cke, so Fertigungsleiter Achermann,
die laufen bis zu 100 Stunden und
mehr am Stück in einer Aufspan­
nung: «Wir haben Teile, die kom­
men auf über 300 Stunden reine
Zerspanungszeit.»
18 der insgesamt rund 100 Mitar­
beiter arbeiten an den 6 verketteten
Gross­BAZ; je nach Auslastung im
2,5­ bis 3­Schicht­Betrieb. Bis auf ei­
nen speziellen Dauerauftrag laufen
alle Teile über das Transfersystem.
Schon diese Zahlen machen deut­
lich, wie sich der 4,5­Mio.­Invest für
die damalige Ruag Mechanical En­
gineering gerechnet hat: Die Spin­
dellaufzeiten gingen deutlich nach
oben, Nebenzeiten und Personal­
quote nach unten.
Wobei für Geschäftsführer Hans­
jörg Murer die Besonderheit des
Systems im Zusammenspiel vieler
Elemente liegt: «Die gesamte Anla­
ge und das Umfeld sind einzigartig.
Wir rüsten die Paletten hauptzeit­
parallel und bringen sie genau nach
Fertigungszeiten getaktet auf die
Maschinen. Zudem arbeiten wir in
einer klimatisierten Umgebung und
realisieren daher hohe Genauig­
keitsanforderungen. Und, die Qua­
litätssicherung läuft ebenfalls voll­
automatisch ab, da wir wie bei einer
In­Process­Messung die Werkstücke
auf der Palette in die Messmaschine
verfahren können.»
Um den Messvorgang gegen äus­
sere Einflüsse zu schützen, ist die
Gantry­Koordinatenmessmaschine
«MMZ G» von Zeiss in der Maschi­
nenhalle in einem separaten Raum
untergebracht. Sie lagert auf einem
entkoppelten Fundament; Erschüt­
terungen durch die Zerspanungs­
maschinen sind ausgeschlossen.
Im Gegensatz zur Maschinen­
halle, die sich auf ± 1,5 °C tempe­
raturstabil halten lässt, kann der
Messraum im Toleranzbereich von
± 0,5 °C temperiert werden. Wobei
der Begriff «Messraum» die Grös­
se nur ansatzweise wiedergibt: In
der rund 8 Meter hohen und 9 Me­
ter breiten Halle bleiben neben der
Messmaschine eine gefühlte Hand­
breit Luft zu den Seitenwänden und
zur Decke.
Überhaupt überwältigt den Be­
trachter die Dimension der Anlage.
Vor allem, wenn das Rolltor aufgeht,
das den klimatisierten Arbeitsraum
von den Rüstplätzen trennt und den
Blick auf die 87 Meter Schienenweg
mit Maschinen und Palettenplät­
zen freigibt. Und alles nur deshalb,
weil der ansonsten kleine, friedliche
Schächenbach 2005 seine Hochwas­
sermuskeln spielen liess.
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Nicht alles
wissen,
aber wissen
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Berghoff Mechanical Enginnering AG
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