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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie herausgegeben von WILHELM BINDER, NORMA DESEKE, BIRGIT PESTAL, URSULA PROBST INHALT Salon…...................................Seite 3 - 18 Ulf Hannerz im Gespräch - Norma Deseke & Birgit Pestal Wiener Lebensstile und Globalisierung - H. Mühlwisch Islam und Cola - Bernhard Fuchs Religion imZeitalter der Globalisierung-M.Six-Hohenbalken Biografien unter globalisierten Verhältnissen - Gerhard Jost Kolumne…...........................Seite 22 - 24 Wir und die Anderen - Niko Reinberg Fachgebiete……..................Seite 25 - 39 Anthropologie der Medien - Philipp Budka Mythen und Medien - Elke Mader Online-Journalismus/Filmkonsum - B. Fuchs & B. Pestal World of Warcraft - Birgit Pestal Ivo Strecker im Gespräch - Ixy Noever & Julia Pontiller Regionalgebiete…...............Seite 41 - 74 Fremde Länder, Fremde Sitten - G. Fartacek & M. K. Lang Der Mazdakismus im Iran - Thomas Schmidinger Die alltägliche Gewalt - Ines Garnitschnig CASOP II - Gudrun Kroner Menschen im Gaza - Gudrun Kroner Nach dem Khalifat - Saya Ahmad Frauenpartizipation in der Türkei - Soma Ahmad LEEZA- Österreich - Mary Kreutzer Der Helfer braucht das Opfer - Monika Maria Kalscisc Hindunationalismus im Cyberspace - Christian Mazal Seriously Shah Rukh - Mehru Jaffer Die Politisierung der Tanzkultur - Erika Neuber Indische devadasis einst und jetzt - Eveline Rocha Torrez Reisen als Kind - Katherina Hammerle Wiener Institut…................Seite 75 - 87 Nyahbinghi - Werner Zips Interview Bambi Schieffelin - St. Seitelberger & S. Hofmair Museum für Völkerkunde neu - Christian Feest Studentisches Engagement - IG und Stv Ein Poträt - Renate Fiala - Eveline Rocha Torrez Von der Schublade ins Internet - Thomas Müller Vernetzung….......................Seite 88 - 92 Das Studium der Volkskunde - Malte Borsdorf Profile dreier KSA Zeitschriften - München „Ethnologik“; Halle „Cargo“; Zürich CLTR Das Projekt „Die Maske“ - Die Redaktion Bücher&Filme...Seite 19/19/20/20/21/40 Normieren, standardisieren, vereinheitlichen - Malte Borsdorf Grundkonzepte der KSAin der Globalisierungsdebatte-F. Kreff Einsame Weltmacht - Markus Chvojka Hinterm Zaun und davor - Malte Borsdorf The Cooperation - Lydia Garnitschnig Faszination Bollywood - Lisa Ringhofer Anthropology goes public! Die zweite Ausgabe der MASKE – Zeitschrift für Kultur und Sozialanthropologie behandelt im Salon Aspekte der Globalisierung, das Fachgebiet Medienanthropologie und in der Rubrik Region widmen wir uns dem Nahen Osten und Indien. Die Anthropologie befindet sich im Wandel, sie ist das Fach der Globalisierung schlechthin. Die Verbindungen zwischen dem lokalen Lebensraum und den globalen Wirkungszusammenhängen und die hier entstehenden Kreuzungspunkte fordern die spezifischen Zugänge, die das Fach bereitstellt. Es liefert Perspektiven und Möglichkeiten, sich mit den kulturellen Dimensionen aller Lebensbereiche zu beschäftigen. Globalisierung ist streng genommen nichts Neues, dennoch erleben wir sie mit einer beispiellosen Beschleunigung und Intensität, die die Kultur- und Sozialanthropologie vor neue Herausforderungen stellt. Globalisierung bedeutet eine neue Zugänglichkeit zur kulturellen Vielfalt. Neue Medien wie das Internet ermöglichen eine Form der Vernetzung und Interaktion zwischen Menschen und über Grenzen hinweg, wie es bisher nicht möglich war. Gerade hier kommt auch den Massenmedien ihre zentrale Vermittlerposition zwischen Bevölkerung und Politik zu. Medien konstruieren Realitäten und klammern andere aus, sie selektieren Informationen und schaffen Deutungshoheiten über Konzepte. In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutend, Wissen über Wertekonstruktionen und über die Vielfalt der menschlichen Organisationsformen zu vermitteln, um Konflikte zu vermeiden, Verständnis zu erzeugen oder Kritik anbringen zu können. Die Anthropologie liefert dieses Wissen, die Zeit der lediglich fachinternen Diskussionen ist vorbei – Anthropology goes public. Dieser Trend ist z.B. durch die neuen studentischen Zeitschriften in München, Halle, Zürich und Wien bemerkbar: Die Ethnologik in München nahm ihre Redaktionsarbeit wieder auf, die Maske in Wien wurde gegründet, StudentInnen in Halle reanimierten die Cargo und jetzt passiert auch etwas in Zürich, die Projektgruppe AG Medien arbeitet an der ersten Ausgabe der CLTR. Außerhalb des studentischen Rahmens zeigen sich ähnliche Tendenzen: So wird Arjun Appadurais The Fear of Small Numbers auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erscheinen, ebenso erscheint im Herbst 2008 das Handbuch für Globalisierung - anthropologische und sozialwissenschaftliche Kenntnisse für die Praxis (Suhrkamp) in einer hohen Auflage. Zweifellos ist es eine spannende Zeit für lebendige, interdisziplinäre anthropologische Forschung. Eine neue Generation von AnthropologInnen arbeitet. Wir freuen uns, dabei zu sein! Viel Spaß beim Schmökern! Norma Deseke Editorial 1 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie hellwach – bei Gewalt gegen Frauen Das Projekt hellwach greift das Thema „Gewalt an Frauen“ auf und trägt es mit Hilfe der kunstpolitischen Interventionen in den öffentlichen und privaten Raum. Die Mittel, die wie verwenden sind: großflächige Botschaften und die Zusammenarbeit mit Gewaltschutz-, Integrationsund politischen Eintichtungen, der Wirtschaft und Kunstprojekten. Ziel ist es, das Thema mit künstlerischen Mitteln breit in den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen und damit wichtige Präventions- und Aufklärungsarbeit zu leisten. Die Texte sind zweisprachig: in deutsch/türkisch und deutsch/serbokroatisch. Nehmen Sie die Kekse „mit Inhalt“ und verteilen Sie sie weiter. Ganz im Sinne des chinesischen Widerstander, als im 13./14. Jahrhundert die Chinesen mit Hilfe von Botschaften in Glückskeksen von den möglichen Besatzern befreien konnten. Carla Knapp & Angela Zwettler [email protected] Spendenkonto: Verein hellwach PSK 00 510-021-088, BLZ 60000 Von den einzigartigen Naturschönheiten in COSTA RICA über das Land der Revolutionen NIKARAGUA bis zur Welt der Mayas in GUATEMALA spannt sich der Bogen dieser Reise. Heidi & Pascal Violo erleben gemeinsam mit ihrer 2-jährigen Tochter Amelie-Fè eine Welt der kulturellen Vielfalt, die von den Begenungen mit den Menschen geprägt wird. Sie lernen das Volk der GUARI GUARI auf einer Insel in PANAMA kennen, treffen nach tagelangen Einbaumfahrten durch den Dschungel die MISKITO Indianer in HONDURAS und feiern ausgelassene Feste mit den GARIFUNAS an der Karibikküste. So ist die junge Familie immer „unterwegs um zu erleben, dass jede Schöpfung eine Kunst ist.“ 2 Anzeigen A conversation about organization of diversity, challenges for anthropology and some central terms von NORMA DESEKE und BIRGIT PESTAL Questioning the Cosmopolitan Ulf Hannerz about the internally quite diverse Ulf Hannerz is a Swedish professor and one of the leading anthropologists worldwide. He sees culture as something being constantly in motion – this is fitting very well with the dynamic image of a world shaped by the ongoing excitement for globalization and interconnectedness. From this point of view, culture and meaning may become durable in the sense of „cultural invention“. Today’s Cultural Anthropology has moved on from what is used to be in its beginnings. As a voice for a new generation of anthropologists, Ulf Hannerz has focused on concepts like creolization, cultural flows, cosmopolitans or organization of diversity and therefore also provided useful tools for thinking about the increasingly popular term of „culture“. His work provides an account of culture in an ever more globalizing world. We met him in autumn 2007 in Vienna at the IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften). The following interview aims to provide a summary of some of our main discussion points. How did your interest for KSA start? Like many people I came to anthropology without intending to stay in it forever. I had this interest in Africa. This was in the 1960s and Africa was becoming independent, one state after another. That was exciting but I really intended to go into zoology and decided just to take one course in what was called „ethnography“. I found that interesting – so I remained there. Ethnography was then a very small subject in Sweden, so I did what there was to do for an undergraduate, but since I was becoming more serious about it, I went on to an American university for a year. That broadened my new knowledge on what anthropology was really about. What I had studied in Stockholm was very old-fashioned. Then a little later I was invited to come and do research with a socio-linguistic project in Washington DC. The project was studying Black American dialect, and I provided ethnographic background information. Can you tell us more about your interest in West African culture? I did eventually go to West Africa, in the 1970s and 1980s, and did field work in a Nigerian town. That actually took me to my interest in globalization, and creolization, but that is another story. In the American context, there was this question to what extent Black Americans actually have anything West African in their culture, which has survived the slave trade and slavery and the incorporation into American life. That has been a controversial issue: are Black people just like any other Americans or do they really have a separate culture? I still feel that most Black Americans have never really become fully integrated and assimilated into American society. So there has been a degree of autonomy to maintain and develop some culture of their own. I think recently there has probably more readiness to acknowledge a certain distinctiveness in the black tradition. What do you mean by this distinctiveness? My most obvious example would be in Black American music which has always maintained a certain autonomy. Black culture is also about storytelling, the emphasis on speaking. That’s something that has been cultivated for generations. It is about telling a story well or winning in an argument: the mastery of words. But also I think of one figure which exists in West African culture and which I think somehow Salon – Globalisierung 3 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie survived not only in Black America but also in the Caribbean. This is a trickster figure, who seems politically and physically weak but who is smart and can win conflicts by outwitting the opponents and doing this by being rather unpredictable and perhaps not always a fully respectable being. And I think you find this in some black political figures also, at least at the local level. So what do you think about the presidential candidate Barack Obama in this context? I don’t really think Obama belongs to this, because actually he does not come out of the African American tradition. His mother is a White American, his father was from Kenya, but during his early life Obama seems to have had little to do with Black America. His mother remarried someone from Indonesia, and Barack spent some years growing up there. Only when he became an adult he did turn into a community organizer in Black American neighbourhoods. I think he is a very interesting phenomenon for various reasons, but I think he’s a phenomenon on his own, really a cosmopolitan figure rather than a Black American figure. Is an anthropologist automatically a cosmopolitan? No (laughs). I think there is a certain potential in anthropology and it may draw people who have a cosmopolitan intention. Of course, one can do what’s called anthropology at home, you don’t necessarily go abroad. But even among colleagues who do go abroad in a conventional anthropological way to do fieldwork in one foreign country, you find that this may be the only place elsewhere in the world they become interested in. So they become locals of two places, but it does not necessarily mean that they are interested in lots of things in the entire wider world. Maybe a small step towards cosmopolitanism, but not quite. You live in Vienna now, doing a project called „The Geocultural Imagination: Scenarios and Story Lines“. What is it about? It’s something which I’ve been thinking about close to fifteen years. We have had in recent years a number of what I call world scenarios beginning with an American political scientist named Fukuyama, asking whether we have now reached The End of History, as liberal democracy seemed to have triumphed once and for all. Then there was Samuel Huntington with his ‚Clash of Civilizations theory‘. He said that now that the Cold War is over, it’s also the end of the battle between ideologies. So according to Huntington, there is the conflict of civilizations instead. I think many of these scenarios were the product of the end of the Cold War. Much of this genre of writing is about how politics relates to the geography of culture in the world. My particular interest 4 Salon – Globalisierung in this genre is how do their statements and assumptions about culture match with what anthropologists nowadays think about culture – frequently not very well, really. Some of it is a very rhetorical use of culture to suggest that things are very strong, very widespread, very old and thick. When anthropologists, not least including myself, think of culture much more in processual terms and something that’s changeable and internally quite diverse it doesn’t fit well with the assumptions of Huntington and such people. Can you please try to sum up your concept of culture? In my book Cultural Complexity I pushed the idea of socially organized meaning, and I still tend to stick to it. My main point of departure would be that compared to other animals, human beings depend very much on continuous learning in all phases of life. We need to draw from ideas, skills, and all kinds of knowledge that are available in our social environment. It’s the old natureculture-divide again, which is always tricky. I mean you have a renewal of this debate because after all human biology certainly makes progress, and so we have to be prepared to think again about the details of that divide. Have you also used the term „software“ in this context? I’ve done it, but there are complications with this metaphor. On the whole it is useful to think of biology as „hardware“ and culture as „software“. But still – it’s very important to know when to leave aside this metaphor. There is sometimes this unfortunate tendency to think that culture is so determining that once you have learned something you can’t get away from it. That you’re becoming a kind of robot under whatever culture gets to you first. And then it would become much like what is biologically and genetically determined. With culture you can learn certain things but you can also learn other things and you may reject what you learned before. Culture is negotiable and changeable over time. We need to understand socialisation and resocialisation, the way that culture is continuously under negotiation. In the 1960s, Anthony Wallace wrote about the „Organization of Diversity“, a marvellous formulation. The complex society involves people knowing and doing different things, and still fitting into some sort of organization. Let’s switch to the topic of individuality and the construction of identity… Sometimes when we talk about identities we have in mind collective identities, and sometimes personal, individual identities. Much talk about identity politics would involve collective identities in some sort: how do you belong to categories or group shared identities, to an ethnic group, or generation, or gender? But also you have a personal identity which may be entirely unique. With Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie this kind of organization of diversity, it is very likely that a larger proportion of things end up being quite individualized, at least in the collection of things put together. With globalization you have a certain rhetoric saying that people are becoming very similar all over the world. But at the same time, when people have so much more culture to pick from (literature, food, music), there is also a greater opportunity to put together an absolutely unique setup of knowledge and preferences, and in the end also identities. At one level I think that globalization can also contribute to individuation. Again, I think of Barack Obama as an example. How far is cultural homogenization happening? would suppose that survival is pretty much a universal value. In context of the suicide bomber – Is rage a universal topic? Rage is a universal human sentiment that at times any human being can probably feel. Anthropology had this research genre of looking at feelings and sentiments. And trying to determine to what extent they are also culturally shaped. I haven’t followed that discussion so closely. I would think that it’s partly a matter of talking about emotions in different ways. Cultures have their vocabularies for such talk. I would believe human beings have certain sets of emotions which are biologically given but culturally handled. Homogenization has been very much tied to the market. The standard examples have become clichés like McDonalds, Starbucks, Ikea and Coca Cola – cultural commodities which are everywhere. They try to identify tastes that can be sold everywhere. But then the market will also be segmented. Consumers aren’t in fact going to be alike – they all have been socialized into different directions. So you can also find market niches which allow a lot of diversity. Undeniably homogenization has a certain impact, and the market is important. Then sometimes it is said that nation-states try to preserve their heritages, so they are forces against homogenization at the world level. But one should not forget that state machineries are likewise pushing similar things in many places – the idea of citizenship, for example, or universal primary education. States have these culture producing machineries which also lead in the direction of homogenization. I think since World War II the whole United Nations machinery provides an apparatus for spreading certain values, the Human Rights Declaration, for example. On the other hand, local, regional, and national traditions are still very strong and not entirely reachable for the market and for the state machineries. Theorizing the strength of everyday life in maintaining cultural diversity is very important. Should anthropologists take up more topics of emotions? Are there existing universal values? Should anthropologists give advice to politicians? What about topics like female genital mutilation? A very good question. Probably, but then they may also contradict each other. Since values are in practice so much linked to context, I am afraid trying to state them generally, out of particular contexts, leads to a rather unrealistic understanding of human life. For example, I would think that „survival“ is probably a very basic human value. But then we have the exception of suicide bombers. How can anybody become one? We are getting a sizeable literature on this now. But still, basically I Anthropologists are inclined to explore the cultural dimensions of just about anything. And emotions would tend to be one of these things. People may believe that emotions are beyond culture, a kind of rough biology – well, I think there is an interaction between nature and culture. Gender may come in here. There may be differences between the genders and also diversity within them. I think that’s very important to realize. Although I would suspect some biological base to this – however always intermingled with culture. The tendency to say that women do this and men do that – this is much too simple, because of the internal variations. In how far should scholars value the debates over controversial practices? One major value should be always being critical in the sense of also trying to see the weak points in one’s own position. And see if it really holds up. And that may be a rather difficult value to take into politics. If you decide to push one thing you are inclined to go for the strong sides and strong arguments for pushing that one thing. The balance between scholarship and politics is likely to be pretty tricky much of the time. It depends on what you mean by „politics“. My main principle in a lot of cases is: let the people decide. Let individuals themselves decide. In practice it still gets rather complicated. When it comes to practice like FGM or honour killings they tend to occur in situations where women have been the ones with less power and men have had more power – or where older people have more power than younger people. I think one problem with speaking about things like this in cultural Salon – Globalisierung 5 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie terms is that culture is understood to involve some sort of consensus. You may say, well, FGM is part of their culture – which suggests that they have agreed on this. I have my doubts. Because I frequently think that culture is involved in a power equation, where whatever has been established as a cultural practice may be based on that power equation. If you change the power equation, are you really going to find all the people – men, women, young, old – still wanting to stick to these customs? Is there a (political) overregulation in many things? I would think on the whole yes. Sometimes cultural diversity may do better without multiculturalism. In a sense multiculturalism tends to involve political and administrative decisions. That’s the way the term multiculturalism has become established. It becomes a tool of the organizations and the state for taking collective decisions or administrative decisions rather then leaving decisions to the individuals. And I think once you made multiculturalism a kind of administrative and political concept you end up with something that's more large scale and more static than I think culture really should be. It’s in the logic of the state or the municipality to need very stable, well-bounded categories of people. People should have the right to say „on this point I don’t really belong to this group“. The logic of state or collective multiculturalism to me seems to go against spontaneous natural cultural process, where people do learn and relearn and change their minds. I think people should be entitled to do that. How would you define the role of the media within anthropological work? I always have been sort of fairly intensive media consumer in terms of reading newspapers and magazines as well as listening to the radio and watching television. For me personally media play a major part in my life. Individuation in context of globalization of course has a lot to do with the media. We can now consume media from such a great variety of sources and that may be quite important to who we are. When I started doing fieldwork as an anthropologist in Washington in the black neighbourhood in the 1960s, I found myself sitting there, watching television and it worried me because in the classic anthropological texts I had read you don’t find any media. So what am I doing here watching television – just wasting my time? But then I realized that the media were an integral part in everyday life. Not only television but also the black radio stations, which were central institutions to Black community life. So I felt since then that if ethnography does not take media into account it may have a lack in credibility. It took quite a long time for sociology and anthropology to really incorporate media into both 6 Salon – Globalisierung method and theory, which is one reason why cultural studies developed as a field itself. What do think about the phenomenon of blogging? I don’t have a blog, and I haven’t really gotten around looking at blogs very regularly, partly as a matter of habit, partly as a matter of time. I do think they are interesting phenomena, but there may be getting to be too many of them. Does it become a kind of narcissism to have one’s own blog without anybody paying much attention, as a new form of self expression? But then, as I understand, some blogs are getting a lot of viewers. So in the American politics in the election year it seems like they can really make some difference in mobilizing opinion and in being dangerous for candidates who can also get destroyed by negative blogging. How do you see anthropology today? Anthropology has a lot of diversity inside itself, and I like that. I think it’s also important that people outside the university, in politics or wherever, have a reasonable understanding of what anthropologists do. And I think that’s a problem because there’s a conception that anthropologists are mostly antiquarians and study backwards, study the past, study what’s disappearing. I’m interested in these world scenarios we talked about before because they are future oriented, ways of trying to tell people what the world may be becoming. One should see them not as predictions, but as arguments about possibilities and risks. And I think anthropology can contribute here, because its methods, not least ethnography, should be good for identifying what are emergent tendencies in the present. What kind of new initiatives would you hope the next generation of anthropologists would launch? I hope they will continue to do a lot of different things, but also I hope they will perhaps be a bit more effective in bringing it to the ear and eye of a wider public than anthropologists have been doing. I think it’s dangerous to write in a style which is only for other researchers. We probably need to experiment with styles of writing and other communications. „Die Maske“ fits precisely into that, but also in writing books we should try to put anthropological ideas across in more different ways. There is now much more anthropological film making than there used to be. That is also good, but I tend to be a writing person, so I think that other kinds of writings are as important. With the globalization in the sense of global interconnectedness, cultural and otherwise, that should open up possibilities. Ordinary people may become more concerned with the rest of the world. That should provide openings for anthropologists to make their work interesting for a broader audience. Eine kulturanthropologische Untersuchung zum Konsumverhalten beim Essen von HELENE MÜHLWISCH Wiener Lebensstile und Globalisierung Fast Food oder Wiener Küche…? Neue, meist aus den USA kommende Esstrends, wie z.B. Fast Casual, werden häufig als Produkte einer fortschreitenden Globalisierung gesehen. Fast Casual ist eine Verbindung zwischen Fast Food und Casual Dining. Beim Konsum von Fast Casual bleiben die äußeren Formen eines traditionellen Mittagessens aufrecht, aber im Unterschied zu herkömmlichem Fast Food werden frische und möglichst regionale Zutaten verwendet (vgl. Rützler 2005: 50). In den USA hat der Konsum von Fast Food seit den achtziger Jahren längst alle kulturellen Grenzen gesprengt, sowie nahezu alle sozialen Schichten erfasst. Es stellt sich die Frage, ob sich der Verzehr von Fast Food in den letzten Jahrzehnten auch bei uns in solcher Weise etablieren konnte bzw. ob sich durch Prozesse der Globalisierung Veränderungen in unseren Lebensstilen erkennen lassen. ie von George Ritzer beschriebene Theorie der McDonaldisierung (Ritzer 2006) umfasst ein systematisches Vorgehen global agierender Unternehmen, deren Prinzipien zunehmend in verschiedensten Gesellschaftsbereichen Anwendung finden. Das Phänomen der McDonaldisierung sieht Ritzer als eine Erweiterung von Max Webers Theorie der formalen Rationalität an. Max Weber versteht darunter eine durch strenge Regeln und Vorschriften, sowie größere gesellschaftliche Strukturen geprägte menschliche Suche nach dem optimalen Mittel zum Erreichen eines Zwecks. Dabei geht er von einer rein quantitativen und zahlenmäßig erfassbaren Form des Wirtschaftens aus. Die menschlichen Komponenten werden hier nicht erfasst, weil Menschlichkeit im System der formalen Rationalität keinen Platz zu haben scheint. Als Musterbeispiel der formalen Rationalität beschreibt Weber die Bürokratie, deren wichtigste Vorteile vier grundlegende Prinzipien sind, die für Ritzer auch im System der McDonaldisierung zum Tragen kommen. D Prinzipien der McDonaldisierung Die vier Grundpfeiler der McDonaldisierung lauten Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Effizienz ist eine Situation, in der eine Organisation die Vorteile und Gewinne maximiert, während die Anstrengungen und Ausgaben gleichzeitig verringert werden. So ist in mcdonaldisierten Systemen das Bemühen groß, Waren und Dienstleistungen zu vereinfachen und die KundInnen für unbezahlte Arbeiten selbst einzusetzen. Für Fast FoodUnternehmen ist es effizient, wenn die KundInnen an der Selbstbedienungstheke Schlange stehen. Wenn sie den eigenen Service übernehmen, anstatt komfortabel an einem Tisch sitzend einem Restaurantkellner ihre Essenswünsche mitzuteilen und bedient zu werden. Beim zweiten Prinzip der Berechenbarkeit liegt die Betonung auf der Quantität, für die zahlenmäßige Standards festgelegt werden. Es gilt hier jedoch auch eine wichtige Kehrseite zu beachten; nämlich die Tatsache, dass in einer Gesellschaft, die vor allem die Quantität betont, viele Waren und Dienstleistungen zunehmend an Qualität verlieren können. Die dritte Dimension der McDonaldisierung ist die Vorhersagbarkeit. KonsumentInnen von McDonald's wünschen keine Überraschungen, wenn sie einen BigMac bestellen. Sie wollen sicher Salon – Globalisierung 7 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie sein können, dass dieser genauso schmeckt wie jener, den sie gestern gekauft haben und der, den sie morgen kaufen wollen. Erreicht wird die Vorhersagbarkeit vor allem durch die Schaffung gleicher Arbeits- und Besucherumgebungen, die Erstellung von gleichförmigen „Drehbüchern“ für die Kommunikation der MitarbeiterInnen mit den KundInnen, sowie die Erzeugung von einheitlichen Produkten. McDonald's Schlüssel zum Erfolg lautet: rationale Standardisierung und Uniformität! Die vierte Dimension der McDonaldisierung ist die Kontrolle, die überwiegend durch den Einsatz von nicht-menschlicher Technologie durchgeführt wird. Die Zubereitungsangaben für die diversen Fast Food-Produkte sind oft schon in den Maschinen integriert. In einer McDonald's-Küche summt und blinkt es überall, damit die Angestellten ganz genau wissen, was zu tun ist. An der Theke leuchten Tasten auf der Computerkasse auf und schlagen weitere Menübestandteile vor, wenn eine Bestellung aufgenommen wird. Die höchste Stufe der Kontrolle ist dann erreicht, wenn Angestellte völlig durch nicht-menschliche Technologie ersetzt werden. In den Labors von McDonald's werden jedenfalls schon Experimente durchgeführt, in denen die Zubereitung der Pommes frites von einem Roboter erfolgt (vgl. Wagner 1995: 67). Globale Folgerungen der McDonaldisierung Die Theorie der McDonaldisierung ist in vieler Hinsicht global angelegt. Zunächst haben viele der Methoden, die von McDonald's und anderen Unternehmen der Fast Food-Industrie entwickelt wurden, weltweite Verbreitung gefunden. Beispielsweise, dass man KundInnen innerhalb des Konsumationsprozesses durch Praktiken der Selbstbedienung selbst arbeiten oder deren Konsum im eigenen Auto abwickeln lässt (Mc Drive). So können Unternehmen auf rationelle Weise Zeit und Kosten sparen. Neu strukturiert wurden Ritzer zufolge auch wesentliche Gesellschaftsbereiche, wie beispielsweise der Esskonsum. Hier würden weniger Mahlzeiten zu Hause eingenommen werden und häufiger Besuche in Fast Food-Restaurants stattfinden (vgl. Ritzer 2006: 239). Letztere von George Ritzer getroffene Feststellung habe ich unter anderem einer empirischen Überprüfung unterzogen. Die vier Prinzipien der McDonaldisierung verstehen sich als Aspekte vielfältiger Globalisierungsprozesse und sind als Indikatoren für spezifische Merkmale unterschiedlicher Essgewohnheiten in verschiedenen Wiener Restaurants und Fast Food Gastronomiebetrieben der Beobachtung zugänglich. Einige der vorher von mir festgelegten Beobachtungskriterien lauten beispielsweise: (Selbst)Bedienung der KundInnen, Tischabräumen bzw. Tablettbeseitigung durch Ange- 8 Salon – Globalisierung stellte und/oder KundInnen, Dauer des Speisen-services, Speisenwahl, Verhalten des Personals im Umgang mit KundInnen und vieles mehr. Ergänzend zu den durchgeführten Beobachtungen habe ich in qualitativen Interviews Erhebungen über gegenwärtige und frühere Ess-, Koch- und Einkaufsgewohnheiten, sowie Restaurantbesuche durchgeführt. Die relevantesten Ergebnisse sowohl aus den Beobachtungen als auch aus den Befragungen möchte ich nachfolgend vorstellen. Zubereitung, Essen und Esskonsum im Zeitalter der Globalisierung Unser Alltag wird nicht mehr wie früher durch die traditionell morgens, mittags und abends eingenommenen Mahlzeiten strukturiert. Angesichts einer sich im Wandel befindlichen Arbeitswelt haben sich unsere Essgewohnheiten rapide verändert. Durch neue weltumspannende Informationstechnologien sind wir vor allem in beruflicher Hinsicht an differenzierte Zeitordnungen gebunden, während gleichzeitig in sämtlichen Bereichen ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, an Präsenz und an Einsatzbereitschaft gefordert wird. Für Berufstätige bedeutet das, die Organisation des Haushalts diesen neuen Strukturen des modernen Lebens anpassen zu müssen. Das betrifft vor allem die Zubereitung und Gestaltung der täglichen Mahlzeiten. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn ein unregelmäßiger und unaufwendiger Kochstil durch die zunehmende Verwendung von Convenience-Produkten gepflegt wird. Wir leben in einer „verbrauchsfertigen“ Welt, in der mit wenig Aufwand und in möglichst kurzer Zeit ein wohlschmeckendes Essen auf dem Tisch stehen soll. Ein weiterer Grund für einen bevorzugten Konsum von Convenience-Produkten betrifft die Zunahme der Einpersonenhaushalte. Je kleiner die Haushalte sind, desto seltener wird gekocht und umso einsamer wird eine Mahlzeit eingenommen. Derzeit wohnt in Österreichs Haushalten knapp jede/r Siebte allein, das entspricht 34,1 Prozent aller Haushalte (vgl. Klapfer et al. 2004: 17). Für Georg Simmel ist das soziale Moment des gemeinsamen Essens das entscheidende Kennzeichen einer Mahlzeit (vgl. Simmel 1957: 243). Ohne die soziale Bindekraft der gemeinsamen Mahlzeiten wird das Essen zur wenig beachteten Nahrungsaufnahme. Im Vordergrund des Genusses stehen andere Tätigkeiten, wie Lesen oder Fernsehen. Dank der Erfindung der Mikrowelle muss ein stummes „Nebeneinanderessen“ vor dem Fernsehapparat nicht einmal mehr gemeinsam stattfinden. Mikrowellengerechte Fertiggerichte sind in wenigen Minuten aufgewärmt und ermöglichen es jedem Familienmitglied, seine individuellen Essenszeiten zu wählen. Das ist der Nährboden, auf dem der Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Konsum von Fast Food-Produkten wachsen und stetig ansteigen kann. Die Erhebungsdaten im Rahmen meiner Diplomarbeitsrecherchen dokumentieren es, dass es vor allem die junge Generation unter 30 ist, die anstelle der früheren traditionellen Mahlzeiten bevorzugt mehrere kleine Imbisse über den Tag verteilt zu sich nimmt. Es scheint, als sickere langsam, aber unaufhörlich ein neuer Zeitgeist in unseren Esskonsum, getragen von den vielfältigen Prozessen der Globalisierung. Doch wie können diese Strömungen uns bzw. unsere „gewohnten“ Lebensstile derart beeinflussen? In unserer modernen Gesellschaft geht es in hohem Maße auch darum, eine möglichst angesehene Lebensführung zu erreichen. Wir gestehen uns den inneren „Motor“ meist nicht ein, der uns unentwegt zu einem sozialen und beruflichen Wettbewerb mit unseren Mitmenschen anzutreiben scheint. Es werden Berufe mit einem hohen sozialen Prestige und einem entsprechenden Einkommen angestrebt. Doch ein Großteil unserer beruflichen Verpflichtungen ist nicht mehr nur an einem einzigen Ort, an einer Arbeitsstätte lokalisiert. Auch täglich gleich bleibende, starre Arbeitsrhythmen sind längst flexibler Gleitzeit gewichen. Flexibilität heißt eines „der“ Schlagworte in unserer heutigen globalisierten Welt. Es gibt praktisch keine „reine“ Freizeit mehr, in der wir aufgrund modernster Kommunikationsmittel und Technologien – wie Internet, Mobiltelefone oder „mobile“ Büros – nicht für berufliche Verpflichtungen in Anspruch genommen werden können. In meiner empirischen Untersuchung konnte unter anderem eines zweifelsfrei gezeigt werden: der „wahre Regent“ unserer Ära ist die Zeit! Der Konsum von Fast Food und Fast Casual erfreut sich steigender Beliebtheit. Dennoch müssen Aussagen, wie jene von George Ritzer, wonach Globalisierungsprozesse weltweit den Esskonsum insofern verändert haben, als Mahlzeiten immer seltener zu Hause und immer häufiger in Fast Food-Restaurants eingenommen werden, zurückgewiesen werden. Es hat sich in den Befragungen meiner Untersuchung gezeigt, dass vor allem die junge Generation unter 30 den Geschmack von Fast Food schätzt; gleichzeitig jedoch liegt die Betonung einstimmig auf der Einnahme von mindestens einer warmen Mahlzeit pro Tag, die selbst gekocht wird. Hier berichten auch die interviewten Personen unter 30 von täglichen Kochzeiten bis zu einer Dreiviertelstunde. Wird außer Haus gegessen, dann lieber in Gastronomiebetrieben mit Wiener Küche, wo frisch gekochte Hausmannskost von einem aufmerksamen Bedienungspersonal serviert wird und das Sättigungsgefühl viel länger anhält als durch den Konsum von Fast Food. Helmut Österreicher, einer der bedeutendsten Köche Österreichs, weiß, dass Gäste eine abwechslungsreiche Küche zu schätzen wissen. Dass neue Gerichte für sie ein interessantes Aha-Erlebnis bedeuten, sie aber dennoch immer wieder auf ihr gewohntes Essen zurückkommen werden: auf die klassische Wiener Küche, mit der sie aufgewachsen sind. Die Wiener Küche ist eine Marke, die nicht von Werbefachleuten (wie beispielsweise diverse Fast FoodProdukte) gemacht worden ist, sondern von den Menschen, die sie verzehren. Für Helmut Österreicher liegt es somit auf der Hand, dass der Fast Food-Konsum die Wiener Küche nicht verdrängen kann. Seine Sichtweise wird auch durch die Ergebnisse meiner Untersuchung untermauert. Unser Esskonsum unterliegt den mannigfaltigen Veränderungen durch die Einflüsse der Globalisierung. Letztlich aber werden wir uns im Konsumverhalten beim Essen immer wieder auf unsere traditionellen Wurzeln besinnen und Altes mit Neuem kombinieren. Helene Mühlwisch ist Studierende der Psychologie, sowie der Kultur- und Sozialanthropologie. Sie schließt ihr KSAStudium im sechsten Semester mit der Diplomarbeit "Wiener Lebensstile und Globalisierung" ab. Ihre Interessensschwerpunkte sind Globalisierung und Interkulturalität. Literatur Klapfer K./Eichwalder R. Familien- und Haushaltsstatistik, Wien, 2004. Ritzer, George. Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz, 2006. Rützler, Hanni. Was essen wir morgen? 13 Food Trends der Zukunft. Wien, 2005. Simmel, Georg. Soziologie der Mahlzeit. In: K.F. Koehler: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart, 1957, S. 243-250. Wagner, Christoph. Fast schon Food. Die Geschichte des schnellen Essens. Frankfurt, 1995. Interview, geführt am 11. Oktober 2007: Helmut Österreicher, Vier-Hauben-Koch, Österreicher im MAK, 1010 Wien, Stubenring 5 Salon – Globalisierung 9 Die „Coca-Colonialisierung“ führt zu Prozessen mimetischer Aneignung und zu einer Pluralisierung des Waren-Angebots durch nationale und lokale Varianten von BERNHARD FUCHS Cola und Islam Eine symbolische Begegnung Coca Cola ist durch nichts zu ersetzen, außer durch ein Cola. So lautet eine These des indischen Kulturphilosophen Ashis Nandy (1994). Wo es einmal eingeführt wurde, muss das Bedürfnis nach Cola in irgendeiner Form gestillt werden. Doch die Befriedigung des ColaBedarfs wird nicht nur durch ökonomische Gründe sondern vorrangig durch ideologische erschwert. Hier erlangen Imitate eine Schlüsselstellung. Die „Coca-Colonialisierung“, welche stets Bemühung um lokale Integration, eine Glokalisierung des globalen Unternehmens, enthält, wird daher ebenso begleitet von Prozessen mimetischer Aneignung. Kopien dienen paradoxerweise auch der Abwehr des Fremden. er Kulturtransfer von Cola-Getränken nimmt in der Globalisierungsforschung eine bedeutende Position ein. Die Cola-Anthropologie erweist sich als ein erfrischendes und heuristisch wertvolles Unterfangen und besitzt durchaus gesellschaftliche Relevanz (vgl. Miller 1997; Gill 2004). Nicht alle Werke, die Coca Cola im Titel führen, setzen sich tatsächlich damit auseinander. Oft wird der Name benützt, um von seiner Ausstrahlung zu profitieren; in Werken wie „Islam und Coca Cola. Begegnung der Kulturen nach dem Irak-Krieg“ (Fikentscher 2003) wird Cola gar nicht thematisiert. Die semiotische Aufladung dieser Marke ist in der Tat so gewaltig, dass der populäre Mythos Coca Cola sich längst der Kontrolle des Firmenmanagements entzieht. D Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber (2002) beschwört kulturpessimistisch den Untergang der Demokratie in Folge der Konfrontation zwischen Coca Cola und Jihad. Seine unpräzise Verwendung des Begriffs Jihad irritiert ebenso wie das Bild, welches er von der Kulturanthropologie zeichnet: Er beklagt den „Rückgang des Teeverbrauchs, den Kulturanthropologen als ein unheilvolles Vorzeichen des Zerfalls der einheimischen Kultur ansehen“ (Barber 2002: 78). Die Substitution von „traditionellen“ Getränken durch Cola wird zum Indikator des Kulturwandels. Der Coca-ColaCulture würden sich nur religiöse Fundamentalismen und radikaler Nationalismus (zusammengefasst unter dem Schlagwort Jihad) entgegenstellen. Die Marke wird oft zur Synekdoche für amerikanischen Kulturimperialismus und kulturelle Homogenisierung, das Getränk zur Essenz des Amerikanismus (Pendergrast 1991). Das Schlagwort Coca-Colonialization etablierte einen festen Platz in populären sowie wissenschaftlichen Globalisierungsdiskursen. Doch: „Die ethnologische Konsumforschung in der Dritten Welt wird wesentlich durch die Intention geprägt, die Homogenisierungsthese (McDonaldisierung oder Coca-Colonization) zu widerlegen“ (Spittler 2002: 17). Auch ganz unabhängig von der Absicht sind die Diversität und die Fülle an kulturellen Neubildungen offensichtlich. Es ist bemerkenswert, dass Coca Cola stets Anstoß für die Kreation unzähliger Imitate gibt. Diese erlangen häufig Bedeutung als Symbole des Nationalismus und Antiamerikanismus (vgl. Nandy 2000; Tweder 1999). Auch in Österreich gab es ein nationalistisches Austro-Cola (Bandhauer-Schöffmann 1994). Das originale Coca Cola pocht weltweit auf seine Authentizität („It's the Real Thing.“) und ist bestrebt, die Marke im lokalen Kontext zu verankern. Doch ist das 10 Salon – Globalisierung Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Unternehmen erst Ende der 1990er Jahre von globalen Werbekampagnen abgerückt. Heute bemüht man sich, Amerikanität herunterzuspielen. Nationalistische Abwehrreaktionen und Anti-Amerikanismus Coca-Colonialisierung wurde in Frankreich bereits Ende der 1940er Jahre als ein Kampfbegriff in antiamerikanischen Kreisen geprägt (Kuisel 1991). Die Expansion von Coca Cola erfolgte im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, als das Getränk primär US-amerikanischen Soldaten zur Verfügung stand, und daher nicht von ungefähr zu einem nationalen Symbol US-Amerikas wurde (Pendergrast 1993). Auch in Österreich bildete sich eine ähnliche Allianz aus Kommunisten und lokalen Unternehmern, welche gegen das „braune Amerikawasser“ mobil machte (Bandhauer-Schöffmann 1994). Es wurden irrationale Ängste geschürt, Coca Cola würde zu Sucht und Wahnsinn führen oder die Eingeweide zerfressen. Letztlich taten derlei Gerüchte der Faszination, die Coca Cola und alles Amerikanische in dieser Zeit auf Europäer ausübten, keinen Abbruch. Als Cokelore, populäre Erzählungen, wurde Widerstand ebenso zum Bestandteil des Marken-Mythos, und wird als kulturelles Erbe (Heritage) in die offizielle Präsentation des Unternehmens integriert. In der Zeit des Kalten Krieges wurde Coca Cola zum Symbol des Westens. Mit der „neuen Weltordnung“ setzte sich erneut die alte Dichotomie Orient-Okzident durch. In Folge des Irak-Konfliktes wird Coca Cola neuerlich als ein Symbol des aggressiven Amerikanismus identifiziert und zu dessen Boykott aufgerufen. Die kritische Position der Cola-Getränke ist nichts Neues im Nahost-Konflikt. Das Worldwide Web trug wesentlich zur Beschleunigung der Ausbreitung der Cola-Mythen bei, sowie zu deren Beharrung. Zur Abschreckung wird gern behauptet, Coca Cola sei haram, weil es Alkohol, Schweinefett oder gar -blut enthalte. „Cola-Islamismus“ Ein in semiotischer Hinsicht faszinierendes Beispiel ist die These, das Logo von Coca Cola enthalte eine versteckte antiislamische Botschaft: Man müsse den bekannten Schriftzug nur spiegelverkehrt betrachten, um ihn als arabische Schriftzeichen zu lesen. So könne der blaphemische Aufruf „Nein zu Mekka, nein zu Mohammed!“ entlarvt werden. Coca Cola wird nicht nur als der Inbegriff der USA sondern als die heimtückische Inversion des Islam hingestellt. Dieser Vorwurf wurde zwar von islamischen Gelehrten als irrational zurückgewiesen (schließlich wurde das Design 1886 von einem Ameri- kaner in Atlanta entwickelt), doch damit ist dem Vorurteil keineswegs beizukommen: Im Internet zirkuliert der Hinweis weiter und wird nach wie vor als einleuchtende Erkenntnis entdeckt. Das Neue an der Anti-Cola-Welle des Jahres 2003 aber bestand darin, dass nun nicht bloß ein Konsum-Boykott gefordert wurde, sondern gleichzeitig „islamische“ Alternativprodukte auf den Markt gebracht wurden. Dies entspricht der in modernen Konsumgesellschaften verbreiteten Ideologie des kritischen Konsumenten, welcher durch seine Kaufentscheidung politische Zeichen setzt; was sich umgekehrt in der postmodernironischen Integration revolutionärer Ikonographie in das Warenangebot ausdrückt: „Aufgeklärter Konsum“ ersetzt Boykott und Revolution. Identität definiert sich primär über Konsum. Genau dieser Logik entsprechen muslimische Unternehmer, welche islamische ColaSorten auf den Markt brachten. Der Slogan von Mecca Cola forderte auf: „Trinke nicht sinnlos, trinke bewusst!“ Mecca Cola, Qibla Cola, Arab Cola, Muslim Up und Salam Cola drängten auf den Markt, so dass die Medien schon von einem Cola Jihad kündeten. Es muss betont werden, dass die realen Cola-Sorten jedoch Ausdruck von Modernisierung und einer „islamischen Renaissance“, nicht aber von „Fundamentalismus“ sind (vgl. Ammann 2004). „Islamismus“ stellt sich in der modernen Welt zunehmend als eine ökonomische Alternative, als ein kulturspezifisches Konsumangebot dar. Darüber hinaus versprechen islamische Colas auch soziales Engagement, indem 10% des Verkaufspreises für palästinensische Kinder und weitere 10% für lokale muslimische Sozialinitiativen verwendet werden. Damit folgen die Unternehmer einem Ideal der islamischen Ökonomie, institutionalisiert in der Armensteuer Zakat. Allerdings führt Glokalisierung, das „Assimilationsstreben“ von Coca Cola gleichfalls zu dessen „Islamisierung“ im regionalen Kontext. In Pakistan leistet das Unternehmen eine Abgabe für Arme (was auch dem westlichen Wohlfahrtskapitalismus entspricht) und finanziert ausgewählten Mitarbeitern die Hajj. Kulturelle Konvergenz betrifft daher Prozesse der „Islamisierung“ ebenso wie Zeichen der „Verwestlichung“. Cola-Kulturtransfer, Mimesis und Alterität Die neuen islamischen Alternativen waren vorrangig Produkte der Diaspora, Mecca Cola wurde von einem in Tunesien geborenen französischen Unternehmer gegründet. Das britisch-asiatische Produkt heißt nach der Gebetsrichtung der Muslime Qibla Cola, die Gründerin wurde in England geboren, mit pakistanischem Hintergrund. Salon – Globalisierung 11 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Aus kulturanthropologischer Perspektive fällt der räumliche Diskurs auf: die Namen einiger islamischer Colas knüpfen an die Orientierung der Umma an, indem sie auf das heilige Zentrum der islamischen Welt hinweisen. Der israelische Soziologe Uri Ram (2007) bietet eine treffende Interpretation des Phänomens „islamischer“ Colas: Er betont die analytische Unterscheidung zwischen struktureller und symbolischer Ebene. Während auf struktureller Ebene eine Homogenisierung festzustellen ist, findet gleichzeitig eine symbolische Heterogenisierung statt. Dazu sei aber ergänzend angemerkt, dass auch materielle Homogenisierung („dunkelbraune Erfrischungsgetränke“) eine symbolische Dimension besitzt. Imitation symbolisiert also Widerstand und auch Ebenbürtigkeit. Differenzierung impliziert eine symbolische Inszenierung von Gleichheit. In Prozessen des Cola-Kulturtransfers wiederholt sich das vom amerikanischen Kulturanthropologen Michael Taussig im kolonialen Kulturkontakt analysierte Prinzip von Mimesis und Alterität, wo Nachbildungen und Imitate zu einem wesentlichen Element der Verarbeitung von Fremdheit werden. Taussig greift dabei auf das Konzept der „sympathetischen Magie“ zurück: Nachahmung wird zu einem Mittel der Macht, Kopien werden instrumentalisiert, um auf den Fremden Einfluss zu gewinnen. Es würde zu weit führen, einen magischen Hintergrund für das globale Auftreten antiamerikanischer Cola-Kopien zu behaupten. Doch in einem übertragenen Sinn erfasst dieser Vergleich präzise das Wesen moderner Ökonomie. Der Cola-Kulturtransfer verstrickt die Welt in ein semiotisches Netz, ein komplexes System aus Mythen und Gegenmythen, die einander wechselseitig ausbeuten, aber trotz aller Heterogenität durch ihre interne Abhängigkeit eine Einheit bilden, denn Mecca Cola, Qibla Cola, oder Pepsi Cola wären undenkbar ohne Coca Cola. Vielmehr ziehen sie Kraft aus ihrem großen Kontrahenten. Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer, Migration, Medien. 12 Salon – Globalisierung Literatur Amman, Ludwig. Cola und Koran. Das Wagnis einer islamischen Renaissance. Freiburg im Breisgau 2004 Bandhauer-Schöffmann, Irene. Coca-Cola im Kracherlland. In: Roman Sandgruber (Hg.): Genuss & Kunst. Innsbruck 1994, 92-101. Barber, Benjamin. Coca Cola und Heiliger Krieg: Jihad versus McWorld. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit. Bern et al., 2002. [engl. Original 1996] Fikentscher, Rüdiger (Hg.). Islam und Coca Cola. Begegnung der Kulturen nach dem Irak-Krieg. Halle an der Saale 2003 Kuisel, Richard F.. Coca-Cola and the Cold War: The French Face Americanization, 1948-1953. In: French Historical Studies, Vol. 17, No. 1 (Spring 1991), 96-116. Nandy, Ashis. The Philosophy of Coca Cola. 1994 http://vlal.bol.ucla.edu/multiversity/Nandy/Nandy_coke.htm Nandy, Ashis. Gandhi after Gandhi after Gandhi. In: The Little Magazine. 2000 http://www.littlemag.com/2000/nandy.htm Miller, Daniel. Coca Cola: a black sweet drink from Trinidad. In: Material Cultures, Vol. 1, 4, November1997, 169-188. Pendergrast, Mark. For God, Country and Coca Cola: The unauthorized history of the great American soft drink and the company that makes it. New York. 1993 Ram, Uri. Liquid identities: Mecca Cola versus Coca-Cola. In: European Journal of Cultural Studies, 10, 2007, 465-484. Spittler, Gerd. Globale Waren - Lokale Aneignungen. In: Brigitta Hauser-Schäublin und Ulrich Braukämper (Hg.): Ethnologie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Berlin 2002, 15-30. Taussig, Michael. Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Regine Mundel und Christoph Schirmer. Hamburg 1997. Tweder, Fabian et al.. Vita-Cola & Timms Saurer. Getränkesaison in der DDR. Berlin 1999 Die Bedeutung von Religion für Identitätskonstruktionen von MigrantInnen aus der Türkei von MARIA SIX-HOHENBALKEN Religion im Zeitalter der Globalisierung Vernetzung von Glauben in der Diaspora In den letzten fünf Jahren wurde vermehrt festgestellt, dass Religion wesentlich für die Identitätskonstruktion von MigrantInnen ist. Religionsspezifische Fragen wurden im Migrationsdiskurs lange vernachlässigt. Religion ist ein Bindeglied für heterogene Zuwandererkommunitäten, sie wirkt über ethnische Grenzziehungen hinaus und kann eine Konkurrenzkategorie zu den politisch ausgerichteten Institutionen von MigrantInnen darstellen. Religion kann die Aufnahme in die als auch den Ausschluss von der Aufnahmegesellschaft bewirken, sie dient der Etablierung von Gemeinschaften und ist gleichzeitig ein Bindeglied zur Herkunftsgesellschaft. In Phasen der Unsicherheit ist Religion ein „Rettungsanker“ und bietet moralische, soziale und finanzielle Unterstützung. inige kulturanthropologische Studien haben die Bedeutung von Religion im Migrationskontext bzw. in transnationalen Gemeinschaften untersucht (Baumann 1996, Peggy Levitt 2001, Van der Veer 1995, 2001, Vertovec 2001). Dieser Beitrag basiert auf Befragungen von MigrantInnen aus der Türkei, die im Zuge von zwei Forschungen in Wien (1997-99 BMBWK, restudy 2006 Hochschuljubiläumsfonds) durchgeführt wurden und soll einen kleinen Einblick geben. E In den letzten zwei Jahrzehnten konnten Religionsgemeinschaften durch verbesserte Verkehrs- und Informationstechnologien vermehrt globale Netzwerke aufbauen. Religiöse Akteure, oft ausgebildet in mehreren Staaten, zirkulieren zwischen den transnationalen Kommuntitäten um sie zu betreuen. Moderne Kommunikationstechnologien spielen eine zunehmend wichtige Rolle, etwa websites für diverse Dienstleistungen oder chat rooms für religiöse Diskussionen. Diese globalen Bewegungen haben Rückwirkungen auf die Religion selbst, da beim Aufbau von Kommunitäten auf die rechtlichen Rahmenbedingungen in den Aufnahmeländern Bezug genommen und religiöse Praxen den nationalen Gegebenheiten angepasst werden müssen. Islamische Religionsgemeinschaften in Europa weisen eine Vielzahl von unterschiedlichen Orientierungen auf. Allein aufgrund der Diversitäten in den Herkunftsländern und den unterschiedlichen Bedingungen in den Aufnahmeländern haben MuslimInnen mehrere Optionen zur Religionsausübung (vgl Vertovec. 2001: 34ff.): Neben der Möglichkeit sekulär zu leben, können sie sozio-kulturellen Traditionen nachgehen ohne den religiösen Aspekt besonders zu betonen. Es können Kooperationen mit unterschiedlichen muslimischen Gruppen angestrebt werden, die die Rolle der Religion oder eine ethnisch-religiöse Orientierung hervorheben. Man kann religiöse Orientierungen allein durch moralisches Verhalten zum Ausdruck bringen oder eine ideologisch-politische Einstellung gegenüber dem offiziellen Islam in der Heimat, durch eine Verteidigungs- oder Oppositionshaltung einnehmen. Gläubige können versuchen intakte Strukturen zu (re)kreiren, homogenisierende Einstellungen vertreten, ökumenische Strukturen schaffen, spezifische religiöse Formen universalisieren oder eine kosmopolitische Einstellung vertreten, so Vertovec. Im europäischen Vergleich hat Österreich eine Sonder- Salon – Globalisierung 13 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie stellung, da der Islam hier seit 1912 den Status einer Religionsgemeinschaft inne hat und 1979 als „Rechtsperson“ vollständig anerkannt wurde. Etwa ein Drittel der ca. 350.000 MuslimInnen in Österreich stammen aus der Türkei. Die über 150 Moscheenvereine sowie zahlreiche Initiativen und Dachverbände spiegeln unterschiedliche Orientierungen und Herkunftsländer wider. Alleine bei der kleinen Anzahl von InformantInnen (zwölf Familien aus der Türkei, befragt 1997 und 2006) zeigen sich differenzierte religiöse Orientierungen und Transformationen. Bei Familie A war ein Wandel zu einem normativen Islam feststellbar. Vor einem Jahrzehnt war die Familie noch sehr türkeiorientier – aufgrund existenzieller Probleme kamen jährliche Familienurlaube in der Türkei nicht in Frage; auch hatte man keinen Besitz im Herkunftsland. Saudi-Arabien und die Teilnahme am Hajj steht nun im Zentrum der Reiseplanung der Eltern. Die Gespräche in dieser Familie konzentrierten sich häufig auf islamfeindliche Aussagen in der Öffentlichkeit. Beklagt wurden Stereotypisierungen und ein sozialer Ausschluss, der alle Familienmitglieder sehr belastete. Auch bei Familie B war ein Wandel in der Orientierung an der Türkei feststellbar. Es wurde nicht mehr in die Herkunftsregionen in Zentralanatolien investiert, sondern man orientierte sich an den Kinderwünschen und kaufte ein Sommerhaus am Meer. Trotz bestehender Türkeiorientiertheit sind die Familienmitglieder an Reisen nach Mekka interessiert, Frau B nahm im letzten Jahr zusammen mit Familie A am Hajj teil und plante im folgenden Jahr mit ihren sekulär eingestellten Kindern wieder daran teilzunehmen. Religion ist für die Familienmitglieder zunehmend ein kulturelles Identifikationsmerkmal, basierend auf den Vorschriften eines normativen Islams. Bei kurdischen Familien ist im letzten Jahrzehnt eine Neuorientierung feststellbar. Lange waren ethnopolitische Faktoren und politische Organisationen wichtig für ihre Identitätskonstruktionen, Religion spielte keine besondere Rolle. In den letzten Jahren gewann die religiöse Orientierung an Bedeutung für multiple Identitätskonstruktionen (von kurdischen SunnitInnen und AlevitInnen). Diese Entwicklung gipfelte in der Eröffnung einer kurdisch-sunnitischen Gebetsstätte – nach Vertovec also eine ethno-politische religiöse Orientierung. Bei einigen GesprächspartnerInnen wurde deutlich, welche Rolle den rechtlichen Rahmenbedingungen zukommt, um Religion zu praktizieren und sich im Residenzland „zu Hause“ fühlen zu können. Die gläubige Muslimin Frau C. kam als Schülerin aus dem Westen der Türkei nach Wien und konnte aufgrund 14 Salon – Globalisierung der Sprachproblematik nicht den von ihr gewünschten Schulerfolg erzielen, weshalb sie sich ausgeschlossen fühlte. Erst als sie die Möglichkeit hatte, als Kopftuchträgerin zu studieren – was in der Türkei nicht möglich gewesen wäre – und Kontakte zu vorurteilsfreien ÖsterreicherInnen aufzubauen, fühlte sie sich „ganz angekommen“ und „zu Hause“. Sie wertet diese Möglichkeit als einen Beitrag zur Freiheit der muslimischen Frau. Frau H. gab an, aus einer sehr gläubigen Familie zu stammen, in der sich alle weiblichen Verwandten „bedecken“. Sie wurde nie von ihren Eltern dazu gezwungen, aber entfernte weibliche Verwandte übten soziale Kontrolle aus und forderten die Einhaltung von Kleidungsvorschriften. Frau H.s säkulare Einstellung wird von ihren Eltern akzeptiert und damit „entschuldigt“, dass sie ohne Eltern in die Türkei zurückgeschickt wurde um die Volksschule zu besuchen. Ihr „abweichendes“ Verhalten wurde damit erklärt, dass sie unter der familiären Trennung in ihrer Kindheit gelitten hatte und man von ihr die Einhaltung der familiären Normen nicht mit Nachdruck einfordern könne. Für Frau H. war es von besonderer Bedeutung, dass ihr Freundeskreis multi-ethnisch und multi-religiös ist, ebenso für Frau K. Für Frau K ist es nicht die religiöse Praxis, sondern das Wissen um die religiösen Vorschriften und ihre „kulturelle“ Vermittlerfunktion, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Bei Integrationsprojekten in einem Gemeindebau kommt Frau K. eine besondere Rolle zu, da sie die Speisegebote und Kleidervorschriften kennt und diese Nicht-MuslimInnen vermitteln kann. Für sie hat Religion eher die Bedeutung einer sozio-kulturellen Orientierung: Als sie Probleme mit ihrem pubertierenden Sohn hatte, da er sich nicht respektvoll gegenüber älteren Personen und seinen Eltern verhielt, erklärte sie, dass sie es verabsäumt hätte ihn in den islamischen Religionsunterricht zu schicken, um dieses richtige Verhalten zu lernen. Weitere InterviewpartnerInnen vertraten säkuläre Einstellungen, bzw. meinten, dass der Glaube etwas Individuelles, wie auch eine Privatangelegenheit sei und Religion in einem demokratischen Land nicht überbewertet werden dürfe. Aufgrund der unterschiedlichen muslimischen Institutionen in Österreich sind transnationale religiöse Beziehungen für diese InformantInnen weniger von Bedeutung und waren eher auf den privaten Bereich beschränkt. Für demographisch kleinere Religionsgemeinschaften haben transnationale Verflechtungen hingegen eine besondere Relevanz. Die Herausbildung eines europaweiten Netzwerkes von türkischen und kurdischen AlevitInnen hat nicht allein zu einer Veränderung des Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Selbstverständnisses in der Migration/Diaspora beigetragen, sondern einen transnationalen Raum entstehen lassen, der auf die alevitische Bewegung in der Heimat rückwirkt. So auch in Wien, wo es alevitische Vereinigungen gibt und ein cemhane (religiöse Stätte) geplant ist. Das Alevitentum – türkisch- wie kurdischsprachig – wird als die anatolische Variante des Schiismus gesehen, in den Elemente der islamischen Mystik und die Philosophie des Neuplatonismus eingeflossen sind. Das Alevitentum ist in sich sehr heterogen und wurde vor allem mündlich tradiert. Aufgrund der jahrhundertlangen Verfolgungen im Herkunftsland war es lange eine Geheimreligion – die Mitgliedschaft erfolgte über die patrilineare Abstammung. Jede/r Gläubige hat einen dede oder hoca (religiöser Würdenträger), den man mindestens einmal jährlich trifft. Es gibt in Mitteleuropa mittlerweile ein Netz von dedes, die ihre Gemeinden betreuen und zwischen den einzelnen Städten zirkulieren, jedoch stellen die in der Migration gegründeten Vereine eine gewisse Konkurrenz für die Autorität der religiösen Würdenträger dar (vgl. Sökefeld 2002). Seit Mitte der 1970er Jahre sind von christlichen Gruppierungen – infolge des Konflikts zwischen türkischem Militär und der kurdischen Widerstandsbewegungen – enorme Auswanderungs- und Fluchtwellen zu verzeichnen. Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 700.000 AssyrerInnen im Tur Abdin (SO-Türkei), sind es heute nur noch 1600 Personen. Die Bezeichnung Assyrer ist ein politischer Terminus, der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Entfaltung des Nationalgedankens unter den aramäisch sprechenden ChristInnen (d.h. syrisch-orthodoxen und chaldäischen ChristInnen) entstand. Aufgrund der Unmöglichkeit einer Remigration ist Religion und Glaube ein wesentlicher Bestandteil der Identitäten. Unterschiedliche Strategien in den Identitätskonstruktionen – religiös oder ethno-politisch orientiert – spiegeln sich auch in den Organisationen und Institutionen wider. In Österreich leben fast 7000 AssyrerInnen. Bereits von den ersten Flüchtlingen wurde eine syrisch-orthodoxe Kirche gegründet, eine weitere folgte in den 1990er Jahren. Eine andere Kirche wird hauptsächlich von Flüchtlinge aus dem Iran und Syrien besucht (syrischorthodoxe, chaldäische, armenische oder protestantische ChristInnen) deren Schicksal noch ungewiss ist. Hier werden religiöse Spaltungen, die lange Zeit in den Herkunftsländern eine Rolle spielten, überwunden. In kleinen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften ist die Suche nach geeigneten HeiratspartnerInnen schwierig, wenn Wert auf eine intra-religiöse Eheschließung gelegt wird. In den letzten Jahren sind Internetforen entstanden, über die HeiratspartnerInnen in den europäischen oder US-amerikanischen Diasporen gesucht werden. Zu diesem Trend meinte ein Informant, dass AssyrerInnen in Wien aus verschiedenen Ländern Westasiens stammen. Die erste Generation war multilingual, da es eine eigene Kultsprache und mehrere Verkehrssprachen gab. Durch die Migration ist diese Multilingualität nicht mehr gegeben, im Mittelpunkt steht vor allem die Sprache des Aufnahmelandes. Die verbindende Sprache im Internet ist Englisch, aber gerade in den unterschiedlichen Sprachkenntnissen liegt ein wesentliches Hindernis für die Schließung von transnationalen Ehen. Dr. Maria Six-Hohenbalken ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Sozialanthropologie, Zentrum Asienwissenschaften und Sozialanthropologie der ÖAW. Univ.-Lektorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie. Literatur Baumann, Gerd. Contesting culture: discourses of identity in multiethnic, London Cambridge University Press, 1996. Levitt, Peggy. Between God, Ethnicity, and Country: An Approach to the Study of Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 13, 2001. Sökefeld, Martin. Alevi Dedes in the German Diaspora. The Transformation of a Religious Institution. In: Zeitschrift für Ethnologie 2002, 127. S. 163 - 186. Van der Veer, Peter. Nation and Migration. The Politics of Space in the South Asian Diaspora. Philadelphia: Univ. of Penn. Press, 1995. Van der Veer, Peter. Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 18, 2001. Vertovec, Steven. Three meanings of ‚diaspora‘, exemplified among South Asian religions. Diaspora 7/2/1999 online: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/diaspora.pdf, 1.7.2005. Vertovec, Steven. Religion and Diaspora. In:WPTC- 01 - 01, 2001. WPTC: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working_papers.htm Salon – Globalisierung 15 Flexible und mobiler werdende Lebensumstände schaffen ein neues Konzept von Identität von GERHARD JOST Flexibilisierung von Identitäten? Biografien unter globalisierten Verhältnissen Mit Globalisierung wird oft die Zunahme ungleicher Macht- und Verteilungsverhältnisse innerhalb und zwischen Ländern angesprochen: durch die Macht internationaler Unternehmenskonzerne und infolge neoliberaler Tendenzen werden sie nur unzulänglich reguliert. Globalisierung bedeutet jedoch genauso, dass ein größeres Potential an Mobilität besteht, das Biografien „strukturiert“. Mit solchen Tendenzen taucht die Frage auf, ob sich diese gesellschaftlichen Veränderungen in Prozessen der Identitätsbildung manifestieren. n industrialisierten Ländern zeigen Lebensgeschichten ein widersprüchliches Bild. Einerseits wurden Biografien durch differenzierte Arbeitsteilung, höhere Lebenserwartung und Vorsorgesysteme langfristiger planbar. Biografische Arbeit und Lebensplanung wurden zur Ressource, um sich innerhalb von Unwägbarkeiten sowie ausdifferenzierten sozialen und kulturellen Welten zu orientieren. Andererseits nehmen nun Risiken der Planund Berechenbarkeit des Lebenslaufs in diesen Ländern zu. Bereits für Angehörige der Mittelschicht entsteht ein beschleunigter Wandel, sei es durch neue Formen der Arbeitsorganisation, plurale Erwartungen oder durch flexible Arbeitszeiten und -orte. Solche Veränderungen könnten potentiell neue biografische Ordnungen nach sich ziehen. I Identität als Notwendigkeit der „Moderne“ Programmatisch lässt sich zunächst behaupten, dass „moderne“ Gesellschaften stabile, unverrückbare Identitäten benötigen, die über verschiedene Lebensphasen und Lebensbereiche hinweg konsistent und kohärent sind. Sie sind bedeutend, weil sie als Planungsinstanz fungieren sowie die Gestaltung von Interaktionen in multiplen Lebenszusammenhängen anleiten. Ein integriertes "Ich", verstanden als Syntheseleistungen aus verschiedenen Erwartungshorizonten, ist handlungsfähig; ein dezentriertes hingegen birgt Symptome wie Identitätsdiffusion, Depersonalisation oder psychotische Subjektstrukturen in sich, aus denen soziale und gesundheitliche Probleme resultieren können. Zu verweisen ist auf die negativen psychischen Folgen fragmentierter Biografien, die auch in Form eines narzisstischindividualistischen Rückzugs auftreten können. Trotz der weitläufigen Verwendung des Begriffes ist Identität – ausgehend von Erikson (1966) – als Einheit zu verstehen. Erfahrungen werden durch einen selbstbezüglichen, reflexiv-synthetischen Prozess integriert. Gelungene Identitätsbildung bedeutet dann, dass sich die Struktur des Selbstausdrucks bzw. der Erfahrungen über zeitliche und räumliche Bereiche hinweg nicht grundlegend verändert. Kindheit und Jugend gelten als essentielle (Aus-) Bildungsphasen, in welcher der Kern der Identität festgelegt wird. Danach sollte sich eine relativ stabile Persönlichkeitsstruktur eingestellt haben, die auf Änderungen nur peripher anspricht. Teils werden jedoch auch die transformativen, 16 Salon – Globalisierung Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie dynamischen Komponenten im Identitätskonzept stärker hervorgehoben (vgl. Keupp u.a. 1999). Identität wird in der Regel mit Bezug auf soziale Gruppen und Institutionen reflektiert. So wird von kulturellen, ethnischen, religiösen, beruflichen oder sozialen Identitäten gesprochen, um die Disposition eines Subjekts als Mitglied einer sozialen Einheit beschreiben zu können. Identität entsteht jedoch nicht ausschließlich durch die Übernahme der Perspektive „signifikanter Anderer“ („Me“), sondern wird mit den spontanen, kreativen Bedürfnissen („I“) balanciert und vermittelt somit zwischen Gesellschaft und Subjekt. Einflüsse durch „Globalisierung“ Unter den Bedingungen der Globalisierung, stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Ausbildung einer konsistenten und kohärenten Identität heutzutage überhaupt noch möglich ist. Ein Merkmal der Globalisierung ist die zunehmende geografische und soziale Mobilität. Kommunikationsprozesse erfolgen heute über weite Zeit-Raum-Spannen, sodass sie nicht mehr vorrangig in regionalen Partikularitäten stattfinden. Dazu tragen international handelnde Unternehmen genauso bei wie neue Kommunikations- und Informationstechnologien. Mit dem tendenziellen Aufweichen der Normierungen lokaler bzw. nationaler Kollektive, entstehen nicht nur neue Handlungsfelder und Entwicklungsoptionen. Auch soziale Kosten sind mit dieser Entwicklung verbunden, die ein Gleichgewicht des familiären Umfelds und des Berufs erschweren. Statistiken über Binnen- und Zuwanderungen, über Arbeit (diskontinuierliche Berufsverläufe und Arbeitslosigkeit), sozialen Auf- und Abstieg (intergenerationelle Mobilität), Partnerschaft (Eheschließungen und Scheidungen) oder Parteienbindungen zeigen eine Zunahme von Mobilitätsprozessen (vgl. Preglau 1998: 363f.). Die Internationalisierung von Betrieben sowie die Entstehung supranationaler Verbände und Non-ProfitOrganisationen tragen zu verstärkter Mobilität bei. Diese wird wiederum dadurch gefördert, dass der lebenslange Verbleib in einem Beruf oder Betrieb weniger wahrscheinlich ist als in früheren Zeiten. Für Diskontinuitäten sorgen aber auch Entwicklungen innerhalb von Organisationen: Der Grad starrer und zentralisierter Führung hat zugunsten flacher Hierarchien und antiautoritäre Verhaltensmuster abgenommen. Dadurch werden Tätigkeitsfelder von Mitarbeitern wandelbarer. Auch neue atypische Formen von Arbeitsverhältnissen abseits der Normalarbeit, seien es Werkverträge durch outsourcing, neue Formen abhängiger (Schein-) Selbstständigkeit oder Telearbeit, genauso wie die Einführung neuer Arbeitszeitformen, bewirken neue soziale Ordnungen. Aber die Herauslösung aus herkömmlichen Arrangements unter neuen globalisierten Bedingungen ist mit Folgewirkungen verbunden. So verschärft sich bereits bei temporären Migrationen die Frage der Integration von Familie und Beruf, die Gestaltung intergenerationeller Beziehungen und generell die Bewältigung von Unsicherheiten eines neuen Umfeldes. Globalisierung und die Entwicklung von Biografien Eine These geht nun dahin, dass damit zunehmend nicht nur die Möglichkeit, sondern ein Zwang zur eigenständigen biografischen Arbeit entsteht (Beck u.a. 2003: 10f.). Identität ist zwar weiterhin institutionell gebunden, doch stärker selbst zu organisieren. Noch weiter geht die These, wenn der „flexible Mensch“ als Resultat des neuen, globalen Kapitalismus konstatiert wird (vgl. Sennett 1998). Flexible Arbeitsmärkte und Organisationen, so die Ausführungen, bewirken einen Drift von Personen. Damit ist ein "Dahintreiben" gemeint, das als Gegensatz zur Kontrolle über die eigene Biografie angesprochen wird und im Kontext des Lebens mit Unsicherheit steht. Der Einzelne hält sich Optionen offen und integriert sich nur zeitlich begrenzt in sein soziales Feld. Es etabliert sich eine Kultur der Kurzfristigkeit, in der die Gegenwart bedeutender scheint, als Vergangenes sowie Zukünftiges. Die permanente Präsenz von Wandel und die damit verbundenen Ungewissheiten manifestieren sich in einer Kultur der Äußerlichkeit. Es besteht wenig Zeit, um Kontinuität und Vertrauen aufzubauen. Bindungen zu einem Betrieb werden etwa durch temporäre, professionelle Loyalitäten und durch eine flexible Leistungsbereitschaft abgelöst, wodurch das Individuum viel stärker mit anonymen Systemen konfrontiert ist. Es entsteht eine neue Form der Abstumpfung, die nun nicht mehr nur durch Routinetätigkeiten z.B. des Arbeiters in der Fabrik und technische Rationalität, sondern vor allem durch Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist. Früher waren die Handlungsoptionen insbesondere durch das Normalarbeitsverhältnis und durch institutionelle Vorgaben beschränkt. Geringere Wahlmöglichkeiten bedeutete auch eine Begrenzung in sozialen, beruflichen und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten. Unter Bedingungen der Entgrenzung regionaler und sozialer Einheiten wachsen zwar die Handlungsmöglichkeiten, jedoch nicht selbstverständlich auch die Autonomie. Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich einzelne Fragmente nicht mehr zu einer linearen Lebensgeschichte bündeln lassen und sozialen Vorgängen die Innerlichkeit fehlt. Allerdings können Identitäten, selbst unter einer deregulierten Dynamik beschleunigten Wandels, nicht Salon – Globalisierung 17 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie nur Momentaufnahmen sein und beliebig transformiert werden. Fortgeschrittene Flexibilität und Komplexität bedeutet im Prinzip noch nicht, dass die Konstruktion biografischer Sinnzusammenhänge nicht mehr notwendig wäre. Individuen benötigen aus gesellschaftlichen und individuellen Gründen eine Biografie, die ihrem Leben einen Sinn verleiht und an der sich Interaktionspartner orientieren können. Unumstritten ist daher, dass selbst unter globalisierten Bedingungen (der Postmoderne) ein biografisches Orientierungsmuster benötigt wird, d.h. Erfahrungen in irgendeiner Form geordnet sind. Die dabei entstehenden biografischen Strukturen sind veränderbar und werden anlässlich bedeutender Lebensereignisse überarbeitet. Soziologische Biografieforschung, die weder zu (starren) Identitätsvorstellungen noch zu postmodernen Konzepten wie jenem des „flexiblen Selbst“ tendiert, verweist stattdessen auf die Bedeutung von erzählten Biografien, die auch als narrative Identitäten (vgl. Lucius-Hoehne/ Deppermann 2002) verstanden werden können. Mit ihnen kann der lebensgeschichtliche Prozess des Werdens fokussiert werden (vgl. Rosenthal 1999: 22). Gleichzeitig nimmt ein Konzept biografischer Strukturierung Abstand von der Normativität des Identitätskonzepts, welches auf einen Soll-Zustand des Individuums verweist (vgl. Fischer-Rosenthal 2000: 227f.). Biografische Studien zu einzelnen Aspekten der Globalisierung beschäftigen sich dann weniger mit der Frage, inwieweit Biografien aufgrund von Fragmentierungen kohärent oder flexibel sind, sondern gehen beispielsweise auf die Bedeutung von Ethnizität und regionalen Handlungs- und Wissensstrukturen für die Gestaltung von lebensgeschichtlichen und sozialintegrativen Prozessen ein (vgl. Apitzsch 1999). Dabei werden auch Transformationsprozesse von Traditionalität in der globalen Peripherie untersucht (vgl. u.a.: Bosse 1999). Biografien von MigrantInnen stellen ohnehin ein wichtiges Thema der Biografieforschung dar, beginnend mit der klassischen Studie über polnische Bauern in Amerika (Thomas/Znaniencki 1958). In diesem Kontext sind auch die durch Globalisierungstendenzen getragenen Transmigrationen von Interesse, die durch professions- oder karrierebedingte Wechsel zwischen Heimatland und fremden Ländern entstehen. Analysiert werden unter anderem Biografien und Muster der Lebensführung von MitarbeiterInnen humanitärer NPO's, EntwicklungshelferInnen, WissenschaftlerInnen, oder Finanzbeschäftigen (vgl. Kreutzer/Roth 2006). 18 Salon – Globalisierung Gerhard Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung an der WU. Forschungs- & Lehrschwerpunkte: Biografienforschung, Methoden der qualitativen Sozialfoschung, Migrationssoziologie, familiensoziologische Fragestellungen sowie Arbeit & Beruf. Literatur Apitzsch, Ursula (Hg.). Migration und Traditionsbildung. Opladen, 1999. Beck, Ulrich /Vossenkuhl, Wilhelm/Rautert, Timm: Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München, 1995. Bosse, Hans. Zur Interdependenz individueller und kollektiver Sinnbildungsprozesse. Religiöse Erfahrungen jugendlicher Bildungsmigranten aus Papua Neuguinea. In: Apitzsch, Ursula (Hg.): a.a.O. 1999. S. 244-272. Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main, 1966. Fischer-Rosenthal, Wolfram. Melancholie der Identität und dezentrierte biografische Selbstbeschreibung. Anmerkungen zu einem langen Abschied aus der selbstverschuldeten Zentriertheit des Subjekts. In: Hoerning, E. M. (Hg.): Biografische Sozialisation. Stuttgart, 2000. S. 227-255. Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas / Gmür, Wolfgang / Höfer, Renate / Mitzscherlich, Beate / Kraus, Wolfgang / Straus, Florian. Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg, 1999. Kreutzer, Florian / Roth, Silke (Hg.). Transnationale Karrieren. Biografien, Lebensführung und Mobilität, 2006. Lucius-Höhne, Gabriele / Deppermann, Arnulf. Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Opladen, 2002. Preglau, Max. Postmodernisierung des Selbst? Versuch einer theoretischen und empirischen Annäherung. In: Preglau, M./Richter R. (Hg.): Postmodernes Österreich? Konturen des Wandels in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Wien, 1998. S. 353-371. Rosenthal, Gabriele. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biografischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/New York, 1995. Sennett, Richard. Der flexible Mensch. Berlin, 1998. Thomas, William I./Znaniencki, Florian. The Polish Peasant in Europe and America. New York, 1958. Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Kultur – praktisch? Sonja Windmüller, Saskia Frank (Hg.): Normieren, Standardisieren, Vereinheitlichen. Marburg, Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Jonas Verlag, 2005, 194 Seiten, s/w-Abb. Die Hessischen Blätter legen zum Phänomen der Normierung einen Konzeptband vor. „Hat sich das ursprünglich technisch-ökonomische Phänomen doch längst in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche ausgeweitet – Normierung ist zu einem zentralen Kulturprinzip avanciert“, schreiben die Herausgeberinnen in der Einleitung. Diesem Kulturprinzip spüren die Aufsätze des Bandes nach. Elke Gaugele untersucht in ihrem Text zum Avatar Körpervermessungen. Der Avatar ist eine virtuelle Puppe mit genauen Körpermaßen. „Über einen Avatar kann sowohl im Internet als auch in Modegeschäften Kleidung anprobiert und konsumiert werden.“ Gaugele kommt zu dem Schluss, dass sich darüber Körperbilder und -konstruktionen verbreiten, da in Großbritannien der NormKörper errechnet und statistisch erfasst wird. Siegfried Becker untersucht das „Gestalten von Tieren nach den Bedürfnissen der Menschen“ anhand der Tierzucht. Hier werden weltweite Standards erstellt, wie Tiere auszusehen haben. Für Legehennen gibt es etwa nur wenige Basiszuchtbetriebe, „eine Globalisierung des Marktes, die zu einer extremen Verengung der genetischen Potentiale geführt hat.“ Ähnlichen Globalisierungstendenzen spürt Manuel Trummer mit seinem Aufsatz zur "McKropolisRevolution" nach. Es wird dabei untersucht, wie eine Nobilitierung schnellen Essens bei McDonalds oder Burger King angestrebt wird. Das liegt daran, dass es zu einer „nahezu kultischen Verehrung einzelner Lebensmittel, vor allem des Döners gekommen“ ist. Denn „die Perzeption der Kulturpraxis Standardisierung seitens des Konsumenten ist im Bereich der Ernährung überwiegend ins Negative gekippt.“ Entstanden ist somit ein sehr fundierter Konzeptband, der das Phänomen Globalisierung anhand konkreter Beispiele untersucht. rezensiert von Malte Borsdorf Anthropologie – theoretisch? Fernand Kreff. Grundkonzepte der Sozial- und Kulturanthropologie in der Globalisierungsdebatte. Berlin. Dietrich Reimer Verlag 2003 233 S., 29,90 € Die Studie untersucht die Bedeutung der Debatte um Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie. Sie verfolgt dabei zwei Ebenen: Die fachinterne Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Globalisierung hat zum einen die Entwicklung neuer Konzepte oder Modelle zur Interpretation und Erforschung der gegenwärtigen Situation herausgefordert. Neben den Konzeptionen von Kultur und Gesellschaft wurde insbesondere die Verortung soziokultureller Prozesse innerhalb eines globalen sozio-ökonomischen und politischen Rahmens zu einer der wichtigsten Problemstellungen für die Forschung. Damit wurden aber zugleich auch bis dahin von einem breiten Konsens getragene Grundkonzepte des Fachs überhaupt fragwürdig. Und nicht zuletzt sah sich die Anthropologie gezwungen, gegenüber anderen Fächern wie etwa den cultural studies, den postcolonial studies oder der Kultursoziologie Position zu beziehen. Ziel ist es, den LeserInnen einen Leitfaden entlang der Diskussionen und Neuansätze von Theorie und methodischem Zugang in die Hand zu geben: die neuen Forschungsobjekte und -felder werden dargestellt; Probleme und Grenzen der neuen Konzepte ausgelotet. Die Auswahl der im Buch behandelten TheoretikerInnen aus Sozial- und Kulturanthropologie orientiert sich hauptsächlich daran, inwieweit diese ein ausgearbeitetes Modell zur Analyse soziokultureller Neupositionierungen im globalen Rahmen liefern. Dabei wurde die Darstellung eines möglichst breiten Spektrums an theoretischen Denktraditionen angestrebt. Die Präsentation der Ansätze erfolgt nicht nur im Kontext des Gesamtwerks der einzelnen AutorInnen, sondern berücksichtigt darüber hinaus den jeweiligen Diskurszusammenhang. Besonderes Gewicht liegt daher auf der theoriegeschichtlichen Verortung und gegenseitigen Anknüpfung bzw. Abgrenzung der besprochenen Modelle. In den zwischengestellten Kommentaren werden die einzelnen Modellbildungen zudem im Kontext anderer Fächer – etwa der Philosophie – beleuchtet. Das Buch bietet somit einen Einstieg in die anhaltenden Diskussionen um Globalisierung und führt über die kritische Reflexion der Disziplin selbst ins Zentrum der aktuellen sozial- und kulturanthropologischen Wissensproduktion. präsentiert von Fernand Kreff Buchrezension/-präsentation 19 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Einsame Weltmacht Raimund Löw. Einsame Weltmacht. Die USA im Abseits. Ecowin Verlag 2007 288 S., 23.60 EUR. ISBN 103902404477. Der Historiker und Journalist Raimund Löw arbeitete ab 1988 als ORF-Korrespondent in Washington und Moskau, war danach Ressortchef Ausland-EU in der ZiB2, und bis August 2007 Leiter des ORF-Büros in Washington. Zu seinen Interview-Partnern zählten unter anderem Bill Clinton, George W. Bush, Arnold Schwarzenegger, Michail Gorbatschow, Tony Blair und Gerhard Schröder. Er wurde 2007 für seine Reportagen und Publikationen zu zeitgeschichtlichen Fragen und Themen der internationalen Politik zum Außenpolitischen Journalisten des Jahres gewählt. Das Buch Einsame Weltmacht beschäftigt sich hauptsächlich mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Die betrachteten Themen beschränken sich allerdings nicht auf den Terrorismus, sondern reichen von Zensur und dem USA Patriot Act, den Kriegen in Afghanistan und dem Irak (inkl. Massenvernichtungswaffen, den erfundenen Heldengeschichten und Ungereimtheiten bei der Vergabe von gut bezahlten Aufträgen), über Guantánamo zu den Folterskandalen und deren Hintergründen. Ein Kapitel des Buches ist dem Bundesstaat Kalifornien gewidmet, mit Schwerpunkt auf Arnold Schwarzenegger als Gouverneur. Weitere Themen, von denen Löw berichtet, sind etwa die wandelnde Einstellung zum Umweltschutz, die Schere zwischen Arm und Reich, die Thematik der illegalen Einwanderer, das Gesundheitssystem und die Todesstrafe. Auch das Thema Religion kommt unter der Überschrift „Krieg um Gott“ nicht zu kurz. Die Mischung von objektiver, unaufgeregter Erzählweise und persönlichen Erfahrungsberichten macht das Buch besonders lesenswert. So finden sich nach jedem Kapitel Quellenangaben und auch die Auswahl der InterviewPartner ist keineswegs einseitig. Die Schilderungen vom Dinner der White House Correspondents Association mit Präsident Bush und den Pressekonferenzen im White House briefing room lockern das Buch auf, und geben dem Leser das Gefühl dabei zu sein. Auch die Berichte über die Aufenthalte des Autors in Guantánamo und im Pentagon sind atmosphärisch geschrieben und sehr spannend zu lesen. Raimund Löw kann zurecht als „Augenzeuge der Weltpolitik“ bezeichnet werden. rezensiert von Markus Chvojka Hinterm Zaun und davor Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007. Dokumentation. Sibylle Kappes. Deutschland. 2008. Schon im Vorfeld löste der G8-Gipfel Kontroversen im Kulturbetrieb aus. Der Abriss des unter Schutz stehenden Gebäudekomplexes „Perlenkette“ mit der Begründung, dass die PolitikerInnen dadurch eine bessere Aussicht auf die Ostsee haben würden, sorgte für Entrüstung. In Berlin entsteht derzeit ein Film mit dem Arbeitstitel Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007, der 2008 an ausgewählten Orten zu sehen sein wird. Die Regisseurin Sibylle Kappes sucht dafür einen künstlerischen Zugang. Gemeinsam mit VideoaktivistenInnen und professionellen Medienschaffenden dokumentiert sie die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung von Seattle bis Heiligendamm. Dargestellt wird die Entscheidung, aktiv zu werden oder nicht. Dazu sammelt der Film Informationen, die die offizielle Seite und die Alternativen immer weiter auseinander treiben. Denn im Diskurs über Globalisierung, so Kappes, wird nicht versucht Probleme anzusprechen um sie zu lösen, sondern nur, wie die Probleme der so genannten 20 Buch-/Filmrezension „Dritten Welt“ und der Umweltverschmutzung weggesperrt werden können. Symbolisch dafür steht der Aufbau des Zauns um Heiligendamm, den die Bilder des Kameramanns Peter Przyblinski dokumentieren. Ein Zaun, der den Ort zu einer Festung werden lässt. Die dialogischen Textpassagen des Films gliedern sich inhaltlich in drei Abschnitte: Zum einen die philosophisch-ethische Grundlage, die von einer Auswahl altgriechischer Textzitate zur Demokratie- und Staatstheorie ausgeht. Daraufhin geht der Film anhand des Beispiels einer Freihandelszone über zur Lebensrealität in kapitalistischen Systemen. Daraus ergibt sich als Drittes die Beschreibung des durch den Kapitalismus ausgelösten Akts zivilen Ungehorsams, der früheren Blockaden und der aus dieser Handlung folgenden Erfahrung von Inhaftierung und gewaltsamen Übergriffen, wie etwa in Genua 1998. Der Film wird im Sommersemester 2008 unter anderem am Institut für Europäische Ethnologie und im Schikane der-Kino gezeigt werden. rezensiert von Urs Malte Borsdorf Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Multinationale Konzerne auf Psychiaters Couch The Cooperation. Dokumentation. Jennifer Abbott und Mark Achbar. Kanada. 2004. 145 Minuten. www.thecorporation.com Die kanadische Dokumentation The Corporation, die auf dem Sachbuch Das Ende der Konzerne. Die selbstzerstörerische Kraft der Unternehmen von Joel Bakan beruht, beschäftigt sich mit den Schattenseiten des Kapitalismus. Besonders hervorzuheben ist, dass neben AktivistInnen und GlobalisierungskritikerInnen wie Michael Moore oder Naomi Klein auch Personen der Geschäftsführung von z.B. Goodyear Tire und Pfizer unter den 43 Interviewten zu finden sind. Allen SprecherInnen wurde die Möglichkeit gegeben das Gesagte erneut aufzunehmen, falls sie mit dem Ergebnis unzufrieden seien, wodurch sich die Dokumentation stark von denen Moores, die polemische Tendenzen aufweisen, abhebt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass The Corporation gratis verfügbar ist und ursprünglich als dreiteilige Fernsehdoku ausgestrahlt wurde, also nicht aus kommerziellen Gründen vertrieben wird. Seit dem Ende des Bürgerkriegs in den USA 1865 gilt eine Kapitalgesellschaft als juristische Person. Die Dokumentation wirft die Frage auf, welche Wesenszüge diese „Person“ hat. Durch Fallbeispiele wird aufgezeigt, dass vieles, z.B. wiederholtes Lügen, die rücksichtslose Missachtung der Sicherheit anderer oder die Verletzung gesetzlicher Vorschriften, auf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung hinweist (der veraltete Begriff für diese Beschreibung lautet „Psychopath“). Da eine Aktiengesellschaft verpflichtet ist, die finanziellen Interessen ihrer Aktionäre über alles zu stellen, scheint sie kein Moralempfinden zu haben. Die gesetzliche (relativ geringe) Geld-Strafe für irreführende Werbung oder Umweltschäden zu bezahlen ist (und das ist selbstverständlich) im Budget der großen Konzerne eingeplant. Oft wird abgewogen, ob es billiger ist sich an ein Gesetz zu halten oder es zu brechen. Die Reporter Jane Akre und Steve Wilson, die sich ausführlich mit Posilac, einem Mittel der Firma Monsanto zur Steigerung der Milchproduktion, beschäftigten, wurden beispielsweise gefeuert, weil sie sich weigerten die von FOX vorgeschriebenen Änderungen in ihrem Beitrag zu akzeptieren. Ein besonders plakatives Beispiel für das reine Profitdenken der Konzerne gibt Lucy Hughes, eine Mitarbeiterin der Mediaagentur Initiative Media. Ihrer Meinung nach müssen Kinder schon früh auf konsumorientiertes Verhalten konditioniert werden, damit ihnen die unterschiedlichen Firmen später schon vertraut sind. „You can manipulate consumers into wanting, and therefore buying, your products. It's a game.“ Die Frage, ob die Manipulation von Kindern moralisch vertretbar ist, stellt sich für Hughes gar nicht. Profitgierige Unternehmen beeinflussen neben den Medien, unserer Gesundheit und unserer Umwelt, aber auch die Politik. So verweist The Corporation z.B. darauf, dass Großkonzerne einen wesentlichen Beitrag zum Aufstieg des Faschismus in Europa leisteten. Noam Chomsky sagt allerdings: „When you look at a corporation, just like when you look at a slave owner, you want to distinguish between the institution and the individual.“ Besonders deutlich verkörpert das Sir Mark Moody-Stuart, der ehemalige Vorsitzende von Royal Dutch Shell. Als DemonstrantInnen ein Banner mit der Aufschrift „Murderer“ auf sein Haus hängen wollen, beginnt er eine mehrstündige Diskussion mit ihnen, um zu beweisen, dass auch er sich Gedanken über die Umwelt und Menschenrechte macht. Wie das damit vereinbar ist, dass in vielen Ländern, in denen Öl gefördert wird, Royal Dutch Shell an Umweltverschmutzung und Unruhen mitschuldig ist und wer letztlich die Verantwortung trägt bleibt in der Dokumentation unbeantwortet. Auch wenn der Einzelne machtlos gegenüber diesem monströsen System wirkt, soll den Menschen aber auch Hoffnung gegeben werden, dass Veränderungen möglich sind. Oscar Olivera, der sich maßgeblich an Demonstrationen gegen die erzwungene Privatisierung der Wasserversorgung beteiligte, sagt diesbezüglich gegen Ende der Dokumentation „Unterschätze nie die Macht des Volkes! Vereint ist es unbesiegbar!“ Fazit: Eine brisante und mit mehreren Publikumspreisen (sowie auch dem Sundance-Filmpreis) ausgezeichnete Dokumentation, die auch 3 Jahre nach ihrem Erscheinen keineswegs an Aktualität verloren hat. Ein globalisierungskritisches Fundstück, das interessante Fragen aufwirft. rezensiert von Lydia Garnitschnig Filmrezension 21 Betrachtungen über Selbst- und Fremdzuschreibungen im österreichischen Fußballsport von NIKO REINBERG Wir und die Anderen Mentalitätskonstrukte im Männerfußball Mit seinen regional verschiedenen Spielweisen und den ebenso unterschiedlichen sportlichen Erfolgen einzelner Nationen bietet der Fußballsport ideale Vorrausetzungen für die Zuschreibung von Fremdem und Eigenem. In diesem Sinne ist der Fußballsport an der Entstehung bestimmter Bilder nationaler sowie regionaler kollektiver Identitäten beteiligt. Geht man allerdings nach den Spielregeln, so ist das Fußballspielen auf der ganzen Welt gleich. Trotzdem existieren verschiedene Stile und es treffen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache, sozialer Schicht und Hautfarbe in einem Team zusammen. Dabei werden Ansichten über die Menschen, mit denen oder gegen die gespielt wird, verfestigt, neu geformt oder revidiert. Die vorliegende Kolumne beschäftigt sich mit eben diesen Ansichten und den damit verbundenen Erfahrungen von Männern, die, so wie der Autor selbst, in kleinen Vereinen Fußball spielen. I „Die ausländischen Kinder turnen, uns’re österreichischen Kinder sitzen mit´m Fresspackl auf der Bank.“ (Zitat eines Im Rahmen eines Forschungsprojektes interviewte ich mehrere Spieler und Funktionäre des FC-Purkersdorf. Diese beschrieben den südländischen Spielertyp durchwegs als „temperamentvoller, technisch besser, heißsporniger“ aber auch als „ballgierig, schwer verspielt und eigensinnig“. Auffallend ist hier, dass positive Zuschreibungen als Komparativ und negative Zuschreibungen als für sich stehende Eigenschaftswörter genannt wurden. Ein Fußballer, der Türken und Spieler aus dem ehemaligen Jugoslawien als eigensinnig beschrieb, meinte, „die lassen sich nix dreinreden, das fehlt uns manchmal“, was die ambivalenten Interpretationsmöglichkeiten dieser Zuschreibungen illustriert. österreichischen Hobbyfußballers). 22 Kolumne m Zusammenhang mit dem argentinischen Fußball beschreibt der Sozialanthropologe Eduardo Archetti zwei große idealtypische Richtungen des Sportes. Zum einen den englischen Stil, der auf Attributen wie kollektive Disziplin, Mut und Willenskraft aufbaut, zum anderen einen criollo-Stil, der das Künstlerische und Improvisierende in den Vordergrund stellt. Der Autor beschreibt den argentinischen Fußball als eine Mischung dieser zwei Richtungen. Die Vermischung entstand laut Archetti durch die Hybridität der argentinischen Gesellschaft, die aus MigrantInnen aus Nord- und Südeuropa, indigener Bevölkerung und den Nachfahren ehemaliger SklavInnenen aus Schwarzafrika besteht. Die zwei von Archetti beschriebenen Richtungen sind, so meine ich, selbst auf lokaler Ebene die Grundlage vieler Fremd- und Eigenbilder im Fußball. Auf diese Bilder wird immer wieder Bezug genommen. In Analogie zu Archetti unterscheiden viele österreichische Hobbyfußballer zwei verschiedene Stile als entweder südländisch oder englisch. Die Gefahr der Verallgemeinerung und Stereotypisierung im Rahmen solcher dichotomen Zuschreibungen ist mir bewusst und ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass Begriffe wie südländisch, jugoslawisch, türkisch, brasilianisch, österreichisch und englisch vor allem im Zusammenhang mit Mentalitätskonstrukten zumeist stark reduzierte Verallgemeinerungen und Rassismen darstellen. Trotzdem komme ich nicht umhin, mit diesen Begriffen zu arbeiten, denn sie sind ein essentieller Bestandteil der Diskurse um das Fußballspiel. Österreichisches wird im Fußball tendenziell als minderwertig angesehen. Grund dafür sind wohl die schwachen Leistungen österreichischer Vereine, mangelnde Begeisterung der Fans bzw. mangelnde Fans und die traurigen Darbietungen der Nationalmannschaft. Südländischer Fußball wird meist mit Ex-Jugoslawien, der Türkei, Afrika oder Brasilien in Zusammenhang gebracht. Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie „Der Goran muss einen, wenn nicht zwei überspielen, das ist einfach, sag ich mal, in den Jugoslawen drinnen, die sind alle ballverliebt.“ (Zitat eines österreichischen Hobbyfußballers). Spieler aus südlichen Ländern wurden von der Mentalität her als verspielt und eigensinnig beschrieben. Ausschlaggebend für die Entstehung dieser Mentalitätskonstrukte sind laut meinen Informanten persönliche Erlebnisse aus dem Urlaub, der Jugend in Wien oder Erfahrungen aus der unmittelbaren fußballerischen Lebenswelt. Tendenziell wurde der südländische Fußballertyp dem österreichischen übergeordnet. Englischer Fußball stand für England sowie Deutschland und wurde als geradliniger, hart aber auch technisch gut beschrieben. In Bezug auf Fremdheit wurde der englische Stil generell vom österreichischen Fußball getrennt, aber doch als verwandt betrachtet. In fast jedem Interview wurde ein Zusammenhang zwischen (nationaler) Mentalität und dem jeweiligen Stil geortet. Tatsächlich, so meine Beobachtungen (ich arbeitete mehrere Jahre in Wiener Parks als Jugendbetreuer bzw. Ferienanimateur, leitete öfters Fußballturniere von Wiener Jugendeinrichtungen und spielte eine Saison lang in einer mexikanischen Fußballliga), bewegen sich und spielen mexikanische, türkische oder aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Jugendliche und Erwachsene tendenziell anders als viele meiner „österreichischen“ Fußballerkollegen. Die Erklärung für dieses Faktum liegt aber weniger in diffusen Mentalitätskonstrukten als in der Benützung verschiedenartiger Fußballplätze beim Erlernen des Fußballspiels. Während viele Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Betonplätzen, Hinterhöfen, Sandplätzen und Sportkäfigen das Fußballer-Handwerk erlernen, spielt eine große Anzahl von Jugendlichen, die sich selbst als Österreicher sehen, auf weitläufigen Rasenplätzen. Am Beton oder harten Boden muss technisch feiner gespielt werden. Fouls und harte Attacken führen einfach leichter zu Verletzungen. Ein Fußballrasen hingegen erlaubt eine härtere Spielweise. Viele als technisch und kreativ geltende Spieler Österreichs, die eher mit dem südländischen Stil verbunden werden – wie zum Beispiel Herbert Prohaska – trainierten lange Zeit auf kleinen Betonsportplätzen. Die ersten aus wohlhabenden englischen Migranten geformten Fußballteams in Argentinien spielten, wie auch kaum anders zu erwarten, zumeist auf weitläufigen Rasenplätzen. In der Sportberichterstattung und in Alltagsgesprächen über Fußball wird immer wieder nach kulturellen Differenzen geurteilt. Oft werden diese Differenzen geradezu gesucht. Hierbei wäre es meines Erachtens aber wichtig, Kultur – im Sinne Arjun Appadurais – nicht als statische Substanz zu sehen, sondern als Phänomen, das sich über die Wahrnehmung von Unterschieden in den sozialen Kontakten der Menschen manifestiert. Appadurai schreibt: „Culture is not useful regarded as a substance but is better regarded as a dimension of a phenomena, a phenomena that attends to situated and embodied difference (Appadurai 2000: 12-13). Die von vielen Fußballern und Fernsehkommentatoren wahrgenommene kulturelle Differenz ist nicht die Ursache einer unüberbrückbaren Differenz zweier unabänderlicher Kulturen, sondern vielmehr ein Merkmal verschiedener sozialer Hintergründe und Lebenswelten, die miteinander in meist hierarchischer Verbindung stehen (vgl. Tsing 2005, Appadurai 2000). „Die kulturellen Differenzen zwischen einer (konstruierten) einheimischen Bevölkerung und einer fremden Bevölkerung werden dabei als unüberwindbar dargestellt“ (Fanizadeh 2000). Auch im Fußball gibt es Unterschiede, sie zu negieren wäre genauso falsch wie sie über zu bewerten. Leider ist dies ist jedoch oft der Fall. Wallerstein und Balibar (1998) beschreiben diese Überbewertung als „Wesen des modernen Rassismus“. Dieser moderne Rassismus ist nicht mehr von überkommenen Biologismen, sondern von einer kulturell definierten Form der Diskriminierung getragen. Auch soziale Faktoren werden von vielen Fußballern für verschiedene Mentalitäten im Fußball verantwortlich gemacht. So wurde die andere Art zu spielen mit Armut in Verbindung gebracht. Ein Vereinsfunktionär des FCPurkersdorf meinte, dass das „eigene“ österreichische Kolumne 23 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Wunderteam, das 1934 den 4. Platz bei der Weltmeisterschaft erreichte, brasilianischen Fußball spielte. Die Menschen klammerten sich der Armut wegen an den Sport und erhoben diesen zur Passion. Der Wiener Fußball der Dreißiger Jahre soll tatsächlich ein technisch versierter, verspielter Fußball gewesen sein. Hier lässt sich der Bezug zu den Sportstätten herstellen: die meisten Fußballer des Wunderteams erlernten ihre Kunst unter ähnlichen Bedingungen wie viele junge brasilianische FußballerInnen der Gegenwart. Armut wird auch von einer Reihe aktiver Fußballer als wesentlicher Faktor für eine bestimmte FußballerMentalität identifiziert. Das Mentalitätskonstrukt verliert somit an Starrheit da es von sozialen und wandelbaren Gegebenheiten abhängig gemacht wird. Generell muss hier angefügt werden, dass sich spielerische Eigenheiten im globalisierten Profisport in Richtung universale, Team und Körper betonte, gleichzeitig aber auch technisch perfekte Spielweise auflösen. „Wir spielen Fußball, die leben Fußball.“ (Zitat eines Hobbyfußballers). Interessanterweise haben meine Interviews und Gespräche mit Fußballern ergeben, dass die meisten – von der Art Fußball zu spielen ausgehenden – Fremdbilder positiv belastet sind. Viele „Andere“ haben also aus unterschiedlichsten Gründen eine andere Einstellung als „wir Österreicher“ zum Sport. Sie spielen deshalb besser. Keiner meiner Interviewpartner verband die Präsenz von „türkisch-stämmigen“ und aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Jugendlichen als direktes Hindernis für – als solche bezeichnete – „österreichische Jugendliche“, das Fußballspiel zu erlernen und zu betreiben. Vielmehr wurde den Österreichern eine weniger ambitionierte Einstellung zum Sport zugeschrieben. Das eigene ist – so der Tenor unter Hobbyfußballern – sowohl der südländischen als auch der englischen Art zu spielen unterlegen. Die Einstellung zum Sport sei sowohl in England als auch im Süden eine intensivere. In England „gibt es mehr Fußballplätze und daher auch mehr Tradition“, Engländer, Brasilianer und auch Afrikaner würden den „Fußball leben“ während er in Österreich, so das obige Zitat – „lediglich gespielt würde“. Im Fußballsport werden vorherrschende gesellschaftliche Strukturen und Bilder gespiegelt und produziert – Fußball widerspricht diesen Bildern aber auch. Fußball markiert Grenzen zwischen einem „Wir“ und „den Anderen“. Österreicher sehen sich hier tendenziell als „trendmäßig hinten nach bzw. unmotiviert“. Migranten 24 Kolumne werden, genauso wie den Österreichern, bestimmte Eigenschaften zugeordnet. So werden über die Art Fußball zu spielen, eine Reihe positiver als auch negativer Stereotypen produziert. In Österreich oft negativ gegen sich selbst. Ich persönlich freue mich trotzdem schon sehr auf die erste Europameisterschaft mit österreichischer Beteiligung, auch wenn „Wir“ es echt nicht verdient haben… Niko Reinberg, wohnt in Graz, ist Kultur und Sozialanthropologe, Erzähler, Autor, Rapid Wien Fan und Amateurfußballer. Vor kurzem erschien sein Buch “Jenseits von Sonnenpyramiden und Revolutionstourismus” in dem auch über Fußball in einer indigenen Comunidad berichtet wird. Literatur Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Minneapolis, 2000. Archetti, Eduardo. Masculinities – Football, Polo and the Tango in Argentina. Oxford, 1999. Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel. Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg, 1998. Tsing Lowenhaupt, Anna. Friction- Ethnography of Global Connection. Princeton, 2005. Fanizadeh, Franz. Kulturalismus und die Globalisierung im Fußball. In: Kurswechsel 1/2000. Ein Überblick zu Geschichte, Konzepten, Methoden und Feldern der Medienanthropologie von PHILIPP BUDKA Anthropologie der Medien Ein aktuelles Forschungsgebiet Die Anthropologie der Medien kann zu jenen Forschungszweigen der Kultur- und Sozialanthropologie (KSA) gezählt werden, die im 21. Jahrhundert massiv an Bedeutung und Relevanz gewonnen haben. Indikator für diesen Aufschwung ist die steigende Zahl an fachrelevanten Publikation, Veranstaltungen, Organisationen, Netzwerken sowie Studiengängen und -schwerpunkten. Motivation für die KSA, sich nun endlich auch an den interdisziplinär geführten medientheoretischen Debatten zu beteiligen, scheint die Ignoranz anderer Disziplinen gegenüber nicht-westlichen Medientechnologien und -nutzungen zu sein (vgl. Ginsburg et al.: 2002). Die in der KSA übliche Einbeziehung einer kulturvergleichenden Dimension erscheint jedoch sinnvoll, um etwa Fragen nach der Produktion von individueller und kollektiver Identität, der Konstruktion von Gemeinschaften oder der Verschiebung von Machtverhältnissen im Kontext von Medien befriedigend beantworten zu können. So treten Kultur- und SozialanthropologInnen auch verbreiteten Tendenzen entgegen, Medien getrennt vom soziokulturellen Leben der Menschen zu behandeln (vgl. Askew: 2002). bgesehen von einigen Ausnahmen, wie die ethnographische Untersuchung von Hortense Powdermaker zur Filmindustrie in Hollywood in den 1940er Jahren oder den zeitgleichen Filmdokumentanalysen von Margaret Mead und Gregory Bateson, wurden Medien erst ab Ende der 1980er Jahre systematisch von einigen Kultur- und SozialanthropologInnen untersucht (Ginsburg et al. 2002). Da dies zumeist im Rahmen eines nicht medienspezifischen Feldforschungkontextes geschah, schrieb Spitulnik noch 1993 „there is yet no ‚anthropology of mass media‘“ (Spitulnik 1993: 293). Die Gründe für das Desinteresse vieler Kultur- und SozialanthropologInnen besonders an den Massenmedien lassen sich bis in die 1940er Jahre zurückverfolgen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden, etwa von den in die USA emigrierten Vertretern der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, elektronischen Massenmedien vor allem gefährliche Eigenschaften, wie die „Totalisierung“ der Gesellschaft und die „Massifizierung“ des Individuums zugeschrieben (vgl. Dracklé 1999). Diese Annahme führte letztlich zu einem Kulturpessimismus, der sich erst durch den Wechsel des analytischen Fokus von der bloßen Wirkung von Medien auf deren Rezeption abschwächte. Eine entscheidende Rolle bei diesem Paradigmenwechsel spielten die Cultural Studies, die sich in den frühen 1970er Jahren in Großbritannien zu etablieren begannen. Theoretiker wie Marx, Gramsci und Althusser, die sich mit Macht, dominanten Ideologien und Strukturen befassten, beeinflussten Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall und David Morley und trugen wesentlich dazu bei, dass die Menschen nicht mehr ausschließlich als passive MedienkonsumentInnen gesehen wurden, sondern vielmehr als aktive RezipientInnen, die die Medien und deren Botschaften mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen und so auch in der Lage sind „Widerstand gegen dominante Ideologien“ zu leisten (Askew 2002, Dracklé 1999: 266). Diese optimistischere Darstellung vom sich frei entscheidenden Medienrezipienten wurde später, vor allem nach Einbeziehung von empirischem Forschungsmaterial, kritisiert, da sie den tatsächlichen Machtverhältnissen zwischen MedienproduzentInnen und -konsumentInnen zu wenig Bedeutung beimessen würde (vgl. Rojek 2003). Der Einfluss der „modernen“ Cultural Studies auf die KSA resultierte in einer verstärkten Beachtung von „Populärkulturen“ und deren Inhalten, wie eben Massenmedien, als Forschungsfelder (vgl. Dracklé 1999). Die Gründe für das steigende Interesse der KSA an Medien können also mit einem Wechsel sowohl des theoretischen als auch des geographischen Fokus innerhalb der Disziplin erklärt werden. Die A Fachgebiet – Medienanthropologie 25 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie theoretischen und methodischen Umwälzungen in den 1980er und 1990er Jahren – Stichwort „Postmodernismus“ – sowie die Verlagerung von ethnographischen Forschungsfeldern von abgelegenen Dorfgemeinschaften in den „Entwicklungsländern“ in die urbanen Räume der Industriestaaten, die wesentlich stärker von Massenmedien durchdrungen sind, trugen maßgeblich zur Etablierung einer Medienanthropologie bei (vgl. Ginsburg et al. 2002). Konzepte und Methoden Die Medienanthropologie ist einerseits eng mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen verwoben und übernimmt von diesen theoretische Konzepte. Andererseits trägt die KSA selbst zum Verständnis von Medienproduktion und -nutzung bei (vgl. Rothenbuhler/Coman 2005). Prominente theoretische Konzepte, die in der Medienanthropologie Verwendung finden jedoch nicht der KSA entstammen, sind etwa Benedict Andersons’ Konzept der „vorgestellten Gemeinschaft“, das das Potential von Massenmedien zur Bildung von imaginierten Vergesellschaftungen – z.B. Nationalstaaten – aufzeigt, sowie Jürgen Habermas’ theoretischer Abriss zur „Öffentlichkeit“ oder die Aktor-Netzwerk-Theorie, entwickelt unter anderem von Bruno Latour und John Law, die besonders geeignet scheint, Prozesse in technologisierten „Netzwerkgesellschaften“ zu verstehen. Altgediente Konzepte der Kultur- und Sozialanthropologie werden wiederum nicht ausschließlich von AnthropologInnen verwendet, auch MedienwissenschaftlerInnen greifen in ihren Versuchen Medienphänomene theoretisch und analytisch zu erfassen immer häufiger auf diese zurück. Zu nennen wären hier etwa die diversen Theorien zu Ritual und Ritualisierung (z.B. Couldry 2003), Theorien zu Tausch und Handel, theoretische Konzepte der materiellen Kultur (z.B. Miller/ Slater 2000), zentrale Konzepte zur kulturellen, geschlechtlichen und ethnischen Identität bzw. Identitätskonstruktion sowie Konzepte zu „Gemeinschaft“ oder alternativen Vergesellschaftungsformen (z.B. Postill 2006). Ein prominentes Beispiel für die Verschmelzung von medienanthropologisch-relevanten Theorien liefert Appadurai (1996). Er verwendet sowohl Andersons „vorgestellte Gemeinschaften“ um in seinen theoretischen Konzepten die Bedeutung von Imaginationen für die Bildung von transnationalen Medienlandschaften heraus zu arbeiten, als auch Habermas’ Verständnis von Öffentlichkeit, um eine „hypothetische Arena“ (public 26 Fachgebiet – Medienanthropologie culture) zu umreißen, die sich von Unterscheidungen in „erste“, „zweite“ und „dritte“ Welt distanziert und eine „kulturelle Hierarchisierung“ ablehnt (Kreff 2003: 130). In dieser public culture spielen Massenmedien wiederum eine bedeutende Rolle. Wesentlichste Methode, um nun die unterschiedlichen Medienphänomene zu erfassen, ist für die Medienanthropologie die ethnographische Feldforschung. Die Methode passt sich dabei sowohl dem Feld als auch den soziokulturellen Handlungsräumen der Menschen an und kann sich also nicht allein auf Inhalte und deren Rezeption beschränken. Sie muss auch die physischen und sensorischen Dimensionen von Medientechnologien mit einbeziehen, da über diese soziale Beziehungen hergestellt werden können. Felder In der Analyse von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) wird im sozial- und kulturanthropologischen Kontext gerne von Cyberanthropologie, Anthropologie des Cyberspace oder Anthropologie der Cyberkultur gesprochen. Bei dem Begriff Cyberspace handelt es sich um eine Wortschöpfung des Science Fiction Autors William Gibson, der diesen in seinem Buch Neuromancer 1984 prägte. Der Präfix „cyber“ wurde Ende der 1940er Jahre erstmals vom Mathematiker Norbert Wiener in dem Begriff cybernetics verwendet, um Mensch-Maschine oder MenschComputer Interaktion zu beschreiben. Cybernetics leitet sich dabei vom griechischen Wort für Steuermann – kybernetes – ab. Einer der ersten Kultur- und Sozialanthropologen, der sich grundlegend mit den neuen IKT befasste, war Escobar (1994) mit seinem Artikel Welcome to Cyberia. Dort entwickelt er das Konzept der „Cyberkultur“, das die strukturellen Veränderungen, die IKT sowie Biotechnologien in den „modernen“ Gesellschaften hervorrufen, analysieren und so zu verstehen helfen soll: „As a new domain of anthropological practice, the study of cyberculture is particularly concerned with the cultural construction and reconstruction on which the new technologies are based and which they in turn help to shape” (Escobar 1994: 211). Für die Kultur- und Sozialanthropologie eröffnen sich nach Escobar (1994) hier drei potentielle Forschungsprojekte: 1) Die soziale Produktion von „virtuellen“ Technologien, die zu einer post-körperlichen Stufe in der menschlichen Entwicklung führen könnte. 2) Eine Cyborg Anthropologie könnte sich mittels ethnographischer Forschung den zusehends verschwimmenden Grenzen zwischen Mensch und Maschine widmen. Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 3) Und im Rahmen einer Anthropologie der Cyberkultur könnten kulturelle Diagnosen zu den Transformationen und Veränderungen erstellt werden, die durch die Entwicklung neuer Technologien in den Gesellschaften ausgelöst werden. Mitglieder der EASA haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, das vor allem den Austausch von Informationen sowie die Koordination von Lehr- und Forschungsprojekten im Bereich der kultur- und sozialanthropologischen Bearbeitung von Medien fördern will (vgl. URL 1). Die Anthropologie der Medien ist also ein lebendiger und ständig wachsender Forschungszweig der Kulturund Sozialanthropologie, der sowohl theoretisch als auch methodisch bestens gerüstet ist, auch zukünftig zum Verstehen der soziokulturellen Bedeutungen und Kontexte von Medientechnologien aktiv und kritisch beizutragen. Anm. des Autors: Dieser Artikel baut auf einem Vortrag, den ich im März 2006 bei den „Tagen der Kultur- und Sozialanthropologie“ in Wien gehalten habe, auf. Diesen Überlegungen Escobars’ folgend haben sich auch andere Kultur- und SozialanthropologInnen Gedanken über die ethnographischen Forschungsfelder gemacht, die im Zuge der raschen Entwicklung neuer IKT entstehen. Etwa Hakken (1999), der in seiner Arbeit weitere Felder identifiziert und diskutiert oder Miller und Slater (2000), die die erste holistisch konzipierte ethnographische Untersuchung über das Internet und seine Anwendungen in Trinidad durchführten. Sie kommen gegen Ende ihrer Ethnographie zu dem Schluss, dass das Internet in Trinidad weniger als Technologie zu verstehen ist, sondern vielmehr als materielle Kultur, da die diversen Internettechnologien in unterschiedlichen Formen alltäglicher Praktiken eingebettet wurden. Oder anders formuliert: In einem Prozess der Konsumption wurde das Internet für die NutzerInnen von einer unpersönlichen Ware zu einer Sache mit (persönlicher) Bedeutung, versehen mit einem bestimmten Platz in deren Leben. Aktivitäten Immer mehr kultur- und sozialanthropologische Fachkonferenzen bieten Workshops oder Tagungsschwerpunkte, die sich dem Thema Medien widmen. So veranstaltete etwa die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde bei ihren Tagungen 2005 und 2007 in Halle gleich mehrere medienanthropologisch relevante Workshops. Auch bei der 2006 in Bristol abgehaltenen Konferenz der European Association of Social Anthropologists (EASA) wurden Arbeitsgruppen zu Medien aus kultur- und sozialanthropologischen Perspektiven angeboten (vgl. Postill/Bräuchler 2008). Philipp Budka, Mag. Doktorand, Lektor und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie sowie an der Fakultät für Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie, Ethnographie, Indigene Organisationen und Netzwerke, Wissensvermittlung und -produktion, eLearning, Globalisierung und Fußballfankulturen. www.philbu.net. Literatur Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis, 1996. Askew, Kelly. Introduction. In: Askew, Kelly, Wilk, Richard (Hg.): The Anthropology of Media. A Reader, Malden, MA, 2002. S. 1-13. Couldry, Nick. Media rituals. A critical approach. London, 2003. Dracklé, Dorle. Medienethnologie: Eine Option auf die Zukunft. In: Kokot, Waltraud, Dracklé, Dorle (Hg.): Wozu Ethnologie? Berlin, 1999. Escobar, Arturo. „Welcome to Cyberia. Notes on the Anthropology of Cyberculture“. In Current Anthropology, 35/3, 1994. S. 211-231. Ginsburg, Fay/Abu-Lughod, Lila/Larkin, Brian. Introduction. In: Dies. (Hg.): Media Worlds. Anthropology on New Terrain. Berkeley, 2002. S. 1-36. Hakken, David. Cyborgs@Cyberspace. An Ethnographer Looks to the Future. London, 1999. Kreff, Fernand. Grundkonzepte der Sozial- und Kulturanthropologie in der Globalisierungsdebatte. Berlin, 2003. Miller, Daniel/Slater, Don. The Internet. An Ethnographic Approach. Oxford, 2000. Postill, John. Media and Nation Building: How the Iban Became Malaysian. Oxford, 2006. Postill, John/Bräuchler, Birgit (Hg.). Theorising Media and Practice. Oxford, 2008. Rojek, Chris. Stuart Hall. Cambridge, 2003. Rothenbuler, Eric/Coman, Mihai (Hg.). Media Anthropology. Thousand Oaks, CA, 2005. Spitulnik, Debra. „Anthropology and Mass Media“. In Annual Review of Anthropology 22, 1993. S. 293-315. URL 1: www.media-anthropology.net, 12.12.2007. Fachgebiet – Medienanthropologie 27 Indische Populärkultur im globalen Kontext von ELKE MADER Mythen und Medien „Wir sind alle ein bisschen bolly…“ In einem deutschsprachigen InternetForum, in dem sich Fans des indischen Filmstars Shah Rukh Khan unterhalten, drängt die Administratorin auf das Einhalten von Regeln der Höflichkeit sowie generell auf gutes Benehmen. Die TeilnehmerInnen antworten, dass sie sich natürlich an die Regeln halten werden – nichts Abfälliges über andere SchauspielerInnen, nichts Bösartiges zu den oder über die Mitglieder des Forums, keine unangebrachten Bemerkungen über die Ehefrau des Stars. „Ich bin eh so lieb“, schreibt eine Teilnehmerin „aber eben ein bisschen Bollywood-verrückt.“ Eine andere Person antwortet: „Ach ja, wir sind doch alle ein bisschen bolly….“ olly-Sein ist zurzeit ein weltweites kulturelles Phänomen, das verschiedene Dimensionen von narrativer und visueller Kultur, von diskursiven und performativen Praktiken umfasst und sich in mehreren Medien manifestiert. Im Umfeld des indischen populären Kinos, seiner Filme und Stars entfaltet sich ein komplexes Szenario von signifying practises (Hall 1997). Dazu gehört die hindi-mania in Peru oder auch Fan-Kunst im Internet – wie etwa die ca. 1000 Video-Clips zu Shah Rukh Khan bei MyVideo.de, die von Fans aus dem deutschsprachigen Raum gestaltet wurden: Hier werden aus Bildern, Filmausschnitten, Musik und Text neue Beiträge zu einer „kosmopolitischen Populärkultur“ im Sinne von Henry Jenkins (2006) gebastelt, betrachtet und kommentiert. Eine ähnliche kulturelle Praxis beschäftigt sich mit der Gestaltung von Erzählungen und Gedichten – so genannte fan fiction: Die Bastelei erstreckt sich hier unter anderem auf die Produktion, Zirkulation und Diskussion von Texten, die sich auf Inhalte von Filmen sowie auf Stars beziehen – „… how stories travel,“ schreibt Salman Rushdie, „what mouths they end up in!“. B Intertextualität, Konvergenz und mythscapes Diese Form der bricolage á la Lévi-Strauss ist einer von mehreren Berührungspunkten von Mythen und Medien in diesem Zusammenhang. Solche Verbindungen wurden in den vergangenen Jahren im Rahmen der Medienanthropologie häufig angesprochen: Eric Rothenbuhler und Mihai Coman argumentieren, dass Methoden und Konzepte aus anderen Forschungsfeldern der Kultur- und Sozialanthropologie wichtige Werkzeuge für die Analyse von medialen Prozessen darstellen. Theoretische Modelle aus der anthropologischen Auseinandersetzung mit Mythen, Ritualen und Religionen sind dabei besonders relevant und können an die neuen Forschungsgegenstände angepasst werden. Die Schnittstelle zwischen Mythen und Medien wird dabei aus mehreren Perspektiven untersucht, im Mittelpunkt vieler Studien stehen „… narrative patterns and figures considered to represent modern ‚mythologies‘ in movies, TV programs, advertising, music, sports, and other entertainments“ (Coman und Rothenbuhler 2005: 6). Einige Fragestellungen in diesem Zusammenhang beschäftigen sich mit dem Naheverhältnis von Mythen und Filmen. Sie erkunden die mythischen Topoi im Kino und setzten sich mit dem Film als Repräsentationsform traditioneller und neuer mythischer Erzählstoffe auseinander. Eine Reihe von Arbeiten untersucht darüber hinaus, inwieweit Mythen eine Matrix oder Metaerzählung darstellen, welche sowohl die narrative Struktur von Filmen als auch die Charak- 28 Fachgebiet – Medienanthropologie Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Foto: Elke Mader terisierung der Handlungsträger prägt. Andere Studien wiederum betrachten populäres Kino generell als Mythen der Gegenwart und analysieren Filme oft mittels erweiterter Methoden der anthropologischen Mythenforschung (vgl. z.B. Drummond 1996 für HollywoodBlockbuster). Die oben skizzierten kulturellen Praktiken des „Bolly-Seins“ sprengen jedoch den Rahmen einer Filmanalyse in Hinblick auf mythische Kodes (vgl. Mader 2007). Aus der Perspektive der Medienforschung handelt es sich dabei zum einen um Phänomene einer „globalen Kultur der Medien-Konvergenz“ (vgl. Jenkins 2006), zum anderen um „performative Intertextualität“ (vgl. Petterson 2006). Der Begriff der globalen Konvergenz von alten und neuen Medien bezieht sich in diesem Zusammenhang auf neue Formen der Partizipation von KonsumentInnen an medialen Prozessen. Petterson (2006) stellt aufbauend auf Bhaktin (1981) das Dekontextualisieren und Rekontextualisieren – das Ausbauen und neu Zusammenfügen von Inhaltselementen medialer Herkunft – in den Mittelpunkt seiner Analysen. Er betont vor allem den Zusammenhang von Medientexten, der Kommunikation im Alltag und sozialen Praktiken. Shah Rukh Khan, Shreyas Talpade und Fans bei der Premiere von Om Shanti Om in London Eine Annäherung an diese Phänomene kann auch durch Ansätze der Anthropologie der Mythen erfolgen und diese auf die Untersuchung von neuen medialen Welten anwenden. Von Bronislav Malinowski bis Joanna Overing beschäftigt sich die sozialanthropologische Mythenforschung im 20. Jahrhundert mit verschiedenen Facetten der Verbindungen von Mythen (Texten) und sozialen sowie rituellen und/oder religiösen Kontexten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die „mythmakers“, die Geschichten vermitteln aber auch gestalten, und ihre aktive Rolle bei der Interpretation, Zirkulation und Veränderung von Mythen. Inhalte, Figuren sowie das Wertsystem der Geschichten sind eng mit Alltagspraktiken verwoben und stellen – so Joanna Overing – mythische Landschaften (mythscapes) dar, in denen die mythische Welt und die Alltagswelt miteinander verschmelzen, sie sind „landscapes of myth as situated practises in the world.“ (Overing 2004: 71) In Hinblick auf die flexible Konfiguration von Bedeutungen und Praktiken rund um Bollywood kann man von einer globalen und transkulturellen mythischen Landschaft sprechen, die Überschneidungen mit dem Konzept der medialen Landschaften (mediascapes) von Arjun Appadurai aufweist (vgl. Mader 2007). Dieser Raum geht außerhalb des indischen Subkontinents teilweise Hand in Hand mit dem ethnoscape der südasiatischen Diaspora, reicht aber auch weit darüber hinaus. So leben etwa in Peru oder Deutschland/Schweiz/Österreich nur wenige MigrantInnen aus dem indischen Raum, dennoch gibt es eine begrenzte, aber sehr ausgeprägte Bolly-Kultur. Ethnographische Fragmente aus „Bolly-Land“ „Bollyscape“ oder „Bolly-Land“ ist auch als ein Raum zu verstehen, den es ethnographisch zu erforschen gilt. Er ist vielfach lokalisiert und immer auch deterritorial. Man begegnet dort einem Geflecht aus Geschichten und Bildern, aus mythischen Figuren und ihren Verkörperungen, den Stars, sowie Personen aus diversen kulturellen und sozialen Kontexten, die sich in diesem Raum bewegen – ihn durchwandern, betrachten und mitgestalten und dabei Beziehungen zu anderen Personen aufbauen. Manche sind neu im „Bolly-Land“ und auf der Suche nach der Basis seiner Topografie, den Filmen. „Kann mir jemand sagen, wo ich hier indische Filme bekomme?“ erkundigt sich der 15jährige Pablo aus Pucallpa im peruanischen Amazonasgebiet per Internet bei einem Fan-Club in der Hauptstadt Lima, der über eine eigene Seite für Mitglieder aus der Provinz verfügt. Dort, beim Club de Fans de Shahrukh Khan, gibt es ein breites Spektrum von Aktivitäten. Einige kreisen um den großen Star, der einen Kristallisationspunkt im mythischen Raum darstellt. „I am just an employee of the Shah Rukh Khan myth“, sagt er über sich selbst (Chopra 2007: 155), der indische Soziologe Rajinder Kumar Dudrah (2006) bezeichnet ihn als Bedeutungsvermittler und „glokale Ware“. Als eine Transfiguration seiner Rollen als Liebender, die auch mit diversen mythischen Geschichten verwoben sind, ist er für Viele eine Ikone für Liebe und Erotik. Dieser Aspekt seiner Star-Persona bildet den Kern für seine Repräsentation im Internet, für die affektiven Beziehungen der Fans zu ihm und für Diskurse über ihn. Die Gestaltung vieler Internetseiten weltweit und die Gespräche in einigen Foren stellen eine besondere Form der medialen Konvergenzen bzw. des Verschmelzens von Mythen und Alltag dar: Sie reflektieren sowohl die visuelle Kultur des populären indischen Films als auch lokale visuelle Repräsentationen, sie reden eine Sprache der Liebe, die wiederum Fachgebiet – Medienanthropologie 29 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie mit Inhalt und Form der filmischen Erzählweisen verbunden ist. Die Fans in Lima führen auch ein reges Vereinsleben mit diversen Treffen und Ausflügen – z.B. Reisen zu „Provinz-Mitgliedern“ ins Andenhochland oder zur Aufführung einer „Danza-Hindu“ Gruppe. Im Mai 2007 fand eine solche Veranstaltung in der Stadt Arequipa statt, wo ebenfalls eine rege Bolly-Tanzszene besteht. Das Vorbild für die Show in einem Kinosaal war die Welttournee der großen Stars Bollywood Temptations 2004. Vor einer Kulisse bestehend aus einem riesigen Stoffbild des Taj Mahal präsentierten die jungen TänzerInnen aus der lokalen urbanen Mittelschicht Variationen über die Choreographien von Song and Dance-Nummern aus diversen indischen Filmen, die entsprechenden Videoaufnahmen kann man weltweit auf YouTube betrachten (zu Bollywood Fans in Österreich, online und offline, vgl. Fuchs 2007). Reisen im „Bolly-Land“ stehen auch in Zusammenhang mit besonderen Ereignissen, dazu zählen u.a. alle Veranstaltungen, bei denen Shah Rukh Khan persönlich anwesend ist. In England gab es im Jahr 2007 mehrere solcher Rituale der Begegnung, z.B. die Weltpremiere des Films Chak de India (Indien 2007, Regie Shimit Amin). An die 2000 Personen konnten an der Freilichtveranstaltung im Hof des Summerset House in London teilnehmen, neben vielen Menschen aus England (meist südasiatischer Herkunft) waren u.a. auch Gäste aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Polen angereist – ein Fan hat eine 24stündige Busfahrt auf sich genommen um dabei zu sein. Sie ist Mitglied eines internationalen Internet-Forums und gekommen um SRK zu sehen, den sie seit vielen Jahren verehrt, aber auch um ihre FreundInnen aus dem Forum zu treffen. An die 20 Personen aus diesem Kreis (vor allem aus Deutschland) haben sich bei der Premiere eingefunden, einige sind schon seit mehreren Jahren Bollywood und SRK Fans, andere erst seit kurzem. Die Reise wurde gründlich im Internet vorbereitet, neben der Premiere war auch ein Besuch in Southall, dem „Little India“ in der Umgebung von London, geplant. Ein Mitglied hatte das Glück zum roten Teppich der Presse Konferenz zu gelangen und war verzaubert von einem Moment der Nähe und einer Berührung von SRK. Andere mussten sich mit der zehnminütigen Ansprache des Stars, die immer wieder von der enthusiastisch schreienden Menge rund um sein Podium unterbrochen wurde, zufrieden geben. In den folgenden Tagen war dieses Ereignis ein zentrales Thema in vielen Internet-Foren, innerhalb weniger Stunden zirkulierten Bilder und Erlebnisberichte weltweit, und wurden dankbar von vielen Fans (u.a. in Peru) aufgenommen und kommentiert. 30 Fachgebiet – Medienanthropologie Ähnliches ereignet sich im November 2007 rund um die Premiere des neuen Films mit Shah Rukh Khan – Om Shanti Om (Indien 2007, Regie Farah Khan): Eine Gala Premiere mit dem Star in London ist angekündigt, die (voraussichtlich) einzige Premiere im deutschsprachigen Raum findet in Wien statt (allerdings ohne Stars). Und da ich beide Ereignisse teilnehmend beobachten möchte, und die Dokumentation der Wiener Premiere auch Teil eines Praktikums am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie ist, mache ich jetzt schnell Schluss, denn – ich bin gerade ein bisschen bolly…. Elke Mader ist Professorin am KSA-Institut. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Mythen, Film, (Neue) Medien, Gender, transkulturelle Prozesse, Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Literatur Bakhtin, Mikhail. The Dialogic Imagination: Four Essays. Herausgegeben und übersetzt von Michael Holquist und Caryl Emerson. Austin und London, University of Texas Press, 1981. Chopra, Anupama. King of Bollywood: Shah Rukh Khan and the Seductive World of Indian Cinema. New York, 2007. Drummond, Lee. American Dreamtime. A Cultural Analysis of Popular Movies, and their Implications for a Science of Humanity. Maryland, 1996. Dudrah, Rajinder. Bollywood: Sociology goes to the Movies. London/ New Delhi/Thousand Oaks, 2006. Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline. Filmkultur im Internet, bei Stammtischen und auf Clubbings. ZfKZeitschrift für Kulturwissenschaften 2: 69-84. Wien, 2007. Hall, Stuart. Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London, 1997. Jenkins, Henry. Fans, bloggers, and gamers. Exploring participatory culture. New York, 2006. Mader, Elke. Anthropologie der Mythen. Wien, 2007. Overing, Joanna. The Grotesque Landscape of Mythic 'Before Time'; the Folly of Sociality in 'today time': an egalitarian aesthetics of human existence. In: Ernst Halbmayer and Elke Mader (Hg.): Kultur, Raum, Landschaft. Zur Bedeutung des Raumes in Zeiten der Globalität. Wien/Frankfurt, 2004. Peterson, Mark. Performing Media. Towards an Ethnography of Intertextuality. In: Eric Rothenbuhler und Mihai Coman (Hg.): Media Anthropology. Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005. Coman, Mihai/Rothenbuhler, Eric.The Promise of Media Anthropology. In: Rothenbuhler, Eric und Mihai Coman (Hg): Media Anthropology. Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005. Blogger tragen zu einer Pluralisierung der Medienwelt bei und sind dabei auch VermittlerInnen zwischen Kulturindustrie und Medien-RezipientInnen von BERNHARD FUCHS und BIRGIT PESTAL Online-Journalismus und Filmkonsum Anmerkungen zur Bollywood-Blogosphere In der Bollywood-Fankultur spielt das Internet als ein Tandem-Medium zum Film eine bedeutende Rolle. Gerade in Europa und den USA kommt diese besonders zum Tragen, da hier die mediale Präsenz Bollywood nicht so ausgeprägt ist, wie am indischen Subkontinent. Das Internet gewinnt also an Bedeutung als ein Ergänzungsmedium für eine periphere Kulturindustrie. Die Ausbreitung der Bollywood-Mediascape (vgl. Bollyscape, Mader, Seite 29) stützt sich ganz massiv auf neue Medien, die besonders für nicht-indisches Publikum eine essentielle Mittlerrolle besitzen. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Weblogs der Bollywood-Fans, die sich selbst auch als Bollyblogger bezeichnen. Foto: Barbara Skoda Bollyblogger-Meeting in Wien, 2007 ollywood ist ein Begriff für den indischen Mainstream-Film in der Sprache Hindi, die Filme werden in der Metropole Mumbai produziert. Seit den 1970er Jahren wurde in journalistischen Kreisen die spöttische Bezeichnung Bollywood für das Bombay-Kino verwendet, die sich aber mittlerweile international etablierte – ganz ohne pejorativen Unterton. Auch „im Westen“ wird die indische Kulturindustrie zunehmend als eine ernstzunehmende Alternative für Hollywood-Produktionen betrachtet, im deutschsprachigen Raum hat die Fangemeinde eine anzuerkennende Größe erreicht. RTL2 zeigt seit dem Jahr 2005 kontinuierlich Bollywoodfilme und entsprechende Clubbings finden vielerorts erfolgreich statt. Indische Popkultur und das „Indiengefühl“ (Horkheimer 2007) halten Einzug in den Alltag vieler deutschsprachiger Fans. Special Interest-Magazine (z.B. Ishq-Bollywood & Lifestyle) bedienen bereits diesen Markt. B Die Rezeption indischer Filme durch ein nicht-indisches Publikum ist noch ein relativ junges Forschungsthema. Bollyblogger nehmen in diesem Forschungsfeld eine Sonderposition ein – sie stehen (als virtuelle Kulturvermittler) zwischen der Hindi-Filmindustrie und dem deutschsprachigen Publikum. Sie übersetzen, machen und verbreiten News, sie kommentieren und kontrollieren sich gegenseitig und thematisieren Ereignisse im Kontext der indischen Traumfabrik, die große westliche Medien nicht registrieren. Sie sind somit Pioniere (oder auch Opinion Leader), die auf eine alternative Popkultur zum euro-amerikanischen Mainstream aufmerksam machen. Den Respekt der Fan-Community, der z.B. in Fan-Foren sichtbar wird, erwirbt sich ein Bollyblogger über seine kontinuierliche, ausführliche, vielleicht auch witzige und subjektive Beschäftigung mit der Thematik. Die lokale Bollywood-Print-Berichterstattung, sofern diese überhaupt vorhanden ist, wird von Fans im Netz stark kritisiert, die Blogger hingegen sind hoch angesehen. Als Bloggen bezeichnet man eine Form des populären OnlineJournalismus, die seit Ende der 1990er Jahre aufgrund benutzerfreundlicher Gratis-Software zunehmend bekannt wurde. „Masken“, vorgefertigte Templates für Homepages, ermöglichen es auch Laien Online-Tagebücher zu verfassen, so genannte Weblogs, kurz Blogs. Fachgebiet – Medienanthropologie 31 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Wie bei einem Tagebuch werden hier laufend Einträge weil ich die Fremdsprache so übe, aber ich mache auch vorgenommen. Die VerfasserInnen geben ihrer Seite ein Bemerkungen in Hinglish oder Hindi, einfach weil ich charakteristisches Layout, um auch graphisch eine eben cool sein will“, meint etwa die Bollywoodbloggerin Identität aufzubauen, welche dem gewählten textuellen Barbara Skoda. Ihr Blog (http://babasko.blogspot.com), Genre entspricht. Zahlreiche Extras (Bilder, Labels, den sie 2005 angelegt hat, verzeichnet heute mehr als 100 Statistiken, RSS-Feeds, etc.) lassen sich auf einem Blog LeserInnen pro Tag. Sie ist sowohl mit der deutschen als auch mit der internationalen Bloggereinfach einbauen. Der BollywoodJeder Blogger ist Szene vernetzt. Indische FilmplattNewsblogger Michael z.B. hat ein eher minimalistisches Layout gewählt Niemandem verpflichtet, formen kopieren ihre Film-Reviews nebenbei bloggt sie auch auf der (www.bollywoodblog.de). De r Bollyauch anderen Bloggern und indischen Webseite von AOL. Barbaras blog von „Mariakäfer“ ist hin gegenüber nicht. Der Meinung ist gefragt – so wird sie z.B. gegen sehr persönlich gestaltet (www.mariakaefer.de). Blogs sind eine Blogger ist die gelebte persönlich gebeten auf großen Bollybezogenen Online-Plattformen relativ geschützte und sichere Variante Freiheit in guten, wie in wood Kommentare zu hinterlassen. „In sich selbst darzustellen. Identität wird also online konstruiert, was den schlechten Zeiten. Krisen Online-Foren ist man nur eine Stimme unter vielen. Bloggen ist definitiv eine Blogger vor die Aufgabe stellt (mehr sind durchzustehen. oder weniger bewusst), wie eine Schweigen ist verboten. Form von Narzissmus, ich find’ das ehrlich gesagt einfach genial, wenn eigenständige Ein-Personen-Redaktion (Ziffer 6 aus dem Blogger-Kodex von Leute bei mir Kommentare hinterlassen zu agieren. Das betrifft z.B. die SelbstBollybloggerin Maini) oder meine Themen irgendwo wieder zensur, das Lektorat oder die ThemenAgenda. Ein großes Plus in der Ökonomie der aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite gibt es Aufmerksamkeit: Blogs tauchen bei Google oft in durchaus auch kontroverse Themen, wie z.B. die Sanjay privilegierter Position bei den Suchergebnissen auf, da Dutt-Affäre [es geht um einen berühmten Schauspieler, große Suchmaschinen ihre Ergebnisse danach filtern, wie der 2007 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, Anm.], bei oft eine Webseite verlinkt ist. Blogger, z.B. Bollyblogger, denen ich meine Kommentare lieber in einem Forum [in vernetzen sich stark untereinander und bilden Netz- deutscher Sprache] abgebe, weil ich hier quasi werke, sie tragen somit zu einer Demokratisierung – geschützter bin.“ zumindest jedoch zu einer Pluralisierung – der Galt das Internet früher eher als „abstrakte“ MännerMedienwelt bei. domäne, ist mit dem Weblog ein neues Medium aufgetaucht, das Frauen in hohem Maße auf einer kreativen Subjektivität, Identität und Intimität Ebene anzusprechen scheint. Beim Bloggen ist insbeBlogger gelten als bzw. sind tatsächlich oft Insider, die sondere der spielerische Zugang und der Unterhalbrisante Inhalte schneller und würziger vermitteln, tungsaspekt für Frauen attraktiv. Tagebuchschreiben ist übersetzen und kommentieren als Massenmedien. historisch sehr stark eine weibliche Aktivität (vgl. Umgekehrt werden sie aber kritisiert, irrelevantes, Schönberger 2006). Das Bloggen bringt diese Tätigkeit als selbstverliebtes Geschwätz zu veröffentlichen und eine Form der Äußerung auf eine öffentliche Bühne. Banalitäten auf eine globale Bühne zu stellen. Das Auch die Fangemeinschaft von kommerziellen HindiIndividuelle und Persönliche steht hier aber auch klar im Filmen ist außerhalb Indiens primär weiblich (Pestal Vordergrund, es ist sogar erwünscht konkrete Aspekte 2007: 138). aus einem größeren Kontext herauszugreifen. Bei der Suche nach deutschen Bollywood-Fanblogs Blogs können ein Sprachrohr für private Ansichten finden sich viele liebevoll und aufwendig gestaltete darstellen. Sie lassen die Grenzen von Öffentlichkeit und sowie permanent aktualisierte Blogs, die auch die Privatsphäre verschwimmen und drängen bisweilen Persönlichkeit der AutorInnen stilvoll reflektieren (Etwa auch Intimitäten in den Vordergrund, allerdings im 16 Bollyblogs finden sich im deutschsprachigen Internet, Schutz einer (relativen) Anonymität. Das Phänomen lässt zehn davon werden von weiblichen Bloggern betreut). sich als Bestandteil eines allgemeinen Wandels der Über ein gemeinsames Interesse entwickeln sich über Zivilgesellschaft betrachten, auch im Sinne der von Blogs zudem soziale Netzwerke und Freundschaften, die durch symbolische Handlungen bekräftigt und sichtbar Richard Sennett beschriebenen „Tyrannei der Intimität“. LeserInnen, die kontinuierlich einen Blog besuchen, gemacht werden. Blogger, WebseitenbetreiberInnen und wissen, was sie dort erwartet. Erfolgreiche Blogger Fans finden in Foren zueinander und unternehmen bleiben ihrem Schreibstil treu. „Ich blogge auf Englisch, gemeinsame Offline-Aktivitäten. 32 Fachgebiet – Medienanthropologie Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie „Signifying practices“ Die Unterscheidung von „virtuell“ und „real“ ist in intensiven Kommunikationszusammenhängen hinfällig. Tatsächlich erlaubt die Verbindung mit dem Internet einer cineastischen Subkultur die Überwindung räumlicher Barrieren bis hin zur globalen Vernetzung (vgl. Fuchs 2007). Es scheint ein Bedarf zu bestehen, diese virtuellen Beziehungen in Face-to-Face Beziehungen zu transformieren. In Bezug auf Bollywood lässt sich das verdeutlichen: Das erste Paneuropäische Internationale Bollywood Blogger Meeting (PEIBBM) fand im Frühjahr 2007 in Wien statt und führte die deutschsprachige Blogger-Community erstmals im „realen Leben“ zusammen. Das Programm bestand aus einem gemeinsamen Brunch, einem Filmscreening mit Live-Blogging, und der Verleihung eines online inszenierten BollywoodPublikums-Preises, dem ACEBA (Annual Central European Bollywood Award), für den im Vorfeld rund 1000 Forumsmitglieder online über indische Stars und Filme abstimmten. Dieses Ereignis trug wesentlich zur Profilierung der Wiener Fan-Community bei. Das nächste PEIBBM wird bereits in größerem Rahmen konzipiert und soll im Frühling 2008 in München stattfinden. Blogger-Treffen dienen der Etablierung einer Gemeinschaft und auch deren Erhalt. Wichtig ist der sprachliche Aspekt: Deutschsprachige Bollywood-Blogger bilden eine eigene Community, die zwar sehr wohl die englischsprachigen Diskurse verfolgt und auch übersetzt, aber umgekehrt von außen kaum rezipiert werden kann. Andere. Online Communities lassen sich als „Easy Entry – Easy Exit“-Gemeinschaften charakterisieren. Die Etablierung von „Face to Face“-Beziehungen und symbolische Interaktionen steigern hier den Grad an Verbindlichkeit – indem sie Bindungen schaffen. Blogger schärfen allgemein den Blick auf neue Trends und kreieren eine alternative Medienlandschaft, die auch von größeren Medien anerkannt und wahrgenommen wird. Sie sind gleichzeitig KonsumentInnen und VermittlerInnen, die Grenzen von Konsumption und Produktion verschwimmen („Produser“). Blogs werden auch von „großen“ Printmedien rezipiert und kopiert. Sie umgehen also einerseits Massenmedien, sind aber gleichzeitig aufgrund ihrer größeren Freiheit in der Lage diese zu beeinflussen bzw. auch zu inspirieren. Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer, Migration, Medien. Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt: Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood. Literatur Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline. Filmkultur im Internet, auf Stammtischen und bei Clubbings. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd.2. 2007 Horkheimer, Max. Trendreport 2007. http://www.zukunftsinstitut.de Im Herbst 2007 wurde das Mini-Khan Projekt ins Leben gerufen. Ziel ist die Intensivierung der BollybloggerCommunity. Es geht um eine Shah Rukh Khan Puppe, die von Blogger zu Blogger rund um die Welt geschickt wird, wobei jede/r sich etwas Kreatives überlegt, was er oder sie mit der Puppe unternimmt. Das verstärkt die wechselseitigen Blog-Besuche und Kommentare. Die Idee entstand in einer amerikanisch-deutschen Kooperation; das Projekt reicht also über den deutschen Sprachraum hinaus. Die „Erlebnisse“ der zirkulierenden Puppe des Bollywood-Stars werden in einem Tagebuch festgehalten, und auch online dokumentiert. Es handelt sich um eine symbolische Praxis, die dazu beiträgt soziale Netzwerke zu intensivieren. Ganz im Stil des KulaHandels der Trobriander bringt die Cyber Community der Bollywood-Fans ein signifikantes Objekt in Umlauf, um die Grundlage für künftiges Handeln zu festigen. Symbolisches Handeln macht aus Individuen, die einander in einer Cyber-Welt begegnen, signifikante Interview Fuchs/Pestal mit Barbara Skoda, Wien, 26.10.1007 Pestal, Birgit. Faszination Bollywood. Zahlen, Fakten und Hintergründe zum „Trend“ im deutschsprachigen Raum. Marburg, 2007 Schmidt, Jan. Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie. Konstanz, 2006 Sennett, Richard. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 1983 Winter, Rainer. Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. München, 2005 Schönberger, Klaus. Weblogs: Persönliches Tagebuch, Wissensmanagement-Werkzeugund Publikationsorgan. In: Schlobinski, Peter (Hg.): Von »hdl« bis »cul8r«.Sprache und Kommunikation in den neuen Medien. DUDEN Thema Deutsch. Bd. 7.Mannheim et al. 2006, S. 233-248. Maini (Bollybloggerin): http://maini.wordpress.com Fachgebiet – Medienanthropologie 33 Kooperative Beziehungen im spielerischen virtuellen Umfeld umgehen traditionelle Machtbeziehungen und territoriale Zugehörigkeiten - aber sie erschaffen auch neue von BIRGIT PESTAL World of Warcraft Vignetten aus einem virtuellen Wunderland Massive(ly) Multiplayer Online RolePlaying Games (MMORPGs), also Online-Rollenspiele, sind ein besonderes mediales und soziales Phänomen unserer Zeit und verzeichnen einen massiven Zuwachs an SpielerInnen. World of Warcraft (kurz: WOW) ist mit rund 9 Millionen AbonentInnen (Stand vom 24.Juli 2007) das meistgespielte Onlinerollenspiel der Welt. Ebenso viele Forschungsfragen eröffnen sich bei einem Rundgang durch diese atmosphärische Spielwelt. Ein kurzer Blick auf den Forschungsstand zeigt, dass MUDs (Multi User Dungeons), die Vorgänger der MMPORGs, noch immer besser untersucht zu sein scheinen, als diese weitaus komplexeren Spielwelten des neuen Jahrtausends. Dieser Artikel will ein sehr spannendes und junges Forschungsfeld skizzieren – ohne sich in den faszinierenden Details dieses phantasievollen Online-Universums zu verlieren. 34 Fachgebiet – Medienanthropologie er WOW verstehen will, muss es selbst spielen. Also zunächst einmal einen Charakter erschaffen. Ihn entwickeln, „skillen“ und „hochleveln“. Aufgaben und Rätsel lösen. Berufe erlernen. Gildenmitglied werden. Das Auktionshaus verwenden. Einer Schlachtgruppe beitreten. Rufpunkte sammeln. Wahrhaft epische Rüstungsgegenstände und Waffen erwerben. Addons (externe Applikationen) installieren. Makros programmieren. Kommunikationskanäle benutzen. Kontakte pflegen. Strategien besprechen. Und es geht immer so weiter. W Wenn das Ziel des Spiels sein soll, den gesamten Content (Spiel-Inhalt) zu ergründen, wird dieses Unterfangen von der Hersteller-Firma Blizzard erfolgreich sabotiert. Immer neue Gebiete und Spielvarianten werden zu der bestehenden Welt hinzugefügt. World of Warcraft wächst und expandiert kontinuierlich. Das letzte Addon erschien am 17. Jänner 2007. Eine buchstäblich neue Welt tat sich punkt Mitternacht auf. Die Begeisterung unter den SpielerInnen war grenzenlos und die Spielerweiterung in vielen Geschäften schnell ausverkauft. Mit nahezu 3,5 Millionen verkauften Exemplaren im ersten Monat, brach das Addon in Nordamerika und Europa sämtliche Verkaufsrekorde für PC-Spiele. WOW ist zweifellos der Harry Potter unter den Onlinespielen. In diesem Spiel lassen sich mühelos Tage, Wochen und sogar Jahre verbringen. Die Atmosphäre der virtuellen dreidimensionalen Welt will buchstäblich eingeatmet werden. Das Online-Rollenspiel ist auf hochspezialisierte Kampfaktionen in einem Herr der Ringe-ähnlichen Umfeld ausgerichtet (Freigegeben ist es ab 12 Jahren). Gemeinsam überwinden die SpielerInnen hier verschiedene Herausforderungen oder Gegner (d.h. NPCs, also Non Player Character, das sind vorprogrammierte Figuren, die nicht von anderen Menschen gespielt werden). Daneben können die SpielerInnen auch in verschiedenen Spielmodi gegeneinander antreten, z.B. in „Duellen“, in der „Arena“ oder auf „Schlachtfeldern“. Dieses Player vs. Player-spielen (PVP) schafft für viele WOW-Gamer einen besonderen Anreiz. Ein anderer Motivationsfaktor, der die SpielerInnen jahrelang an das Spiel bindet, ist das Spielen in großen Stammgruppen, die in beschränkten Bereichen der Spielwelt (Instanzen) mächtige „Endbosse“ (z.B. Drachen) überwinden. Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Unkonventionelle soziale Vernetzung Die Mitgliedschaft in einer „Gilde“ oder Stammgruppe, also einer Vereinigung innerhalb des Spiels, fördert erwiesenermaßen den Spielkonsum. Laut einer Studie von Olgierd Cypra gaben insgesamt 9226 Befragte an, Mitglied einer Gilde zu sein, dies sind 80,6% des Gesamtsamples. Außerdem zeigt die Studie: Die Anzahl der durch das Spielen gefundenen Freundschaften erhöht den Spielkonsum. Und: Der Spielkonsum unter den Gildenmitgliedern fällt vor allem dann hoch aus, wenn die dortigen Kontakte als qualitativ hochwertig (den realweltlichen Kontakten mindestens ebenbürtig) angesehen werden. Die Anonymität ermöglicht demokratische und offene Kommunikation im Chat oder im „Teamspeak“ (Gruppen-Online-Telefonie). Das kann z.B. bedeuten: Ein deutscher Mathelehrer spielt inkognito mit seinen eigenen Schülern. Oder: Ein erwachsener Familienvater ordnet sich im Gruppenspiel einem 16jährigen unter, in manchen Fällen ohne es überhaupt zu wissen. „Das wäre vielleicht im echten Leben auch manchmal nicht so schlecht“, meint dazu ein 36-jähriger Psychologe und erfahrener WOW-Spieler. „Make Love not Warcraft“ Kurz gesagt sei es ein „Ultrawahnsinnsspiel“, so meint er im Teamspeak während des Spielens. Besonders spannend findet er z.B. die Sachlage, dass viele Frauen männliche Avatare (Charaktere) erschaffen und umgekehrt. „Vielleicht will man nur etwas anderes ausprobieren, vielleicht wird aber auch irgendetwas kompensiert.“ Möglicherweise will eine Frau aber auch nicht unbedingt, dass sie im Spiel gleich als Frau identifiziert wird. „Einmal als Frau erkannt, ist man in dem Spiel bereits Freiwild und wird oft angeflirtet“, meint dazu die langjährige Spielerin und Stammgruppenleiterin namens Swiby, die auch schon im wahren Leben mit dem Namen ihres WOW-Avatars angesprochen wird. Ihr Lebenspartner und WOW-Spielgefährte Jebbie ergänzt: „Und vielleicht schaut man als Mann, wenn man schon so viele Stunden vor dem PC verbringt, ganz einfach lieber einer weiblichen, wohlgeformten Nachtelfe beim interagieren zu, als z.B. einem männlichen Avatar.“ Tatsächlich ist der Anteil weiblicher Nachtelfen bei WOW bemerkenswert groß. Und jener der männlichen WOW-Spieler ist immer noch signifikant. Die beiden Schweizer spielen seit der Betaphase (2005) und organisieren heute regelmäßig große Spielevents mit 25 bis 40 SpielerInnen. Der soziale Aspekt ist mittlerweile für die beiden die Hauptantriebsfeder weiterzuspielen. „In WOW ist es egal, ob jemand groß oder klein oder dick oder dünn ist, oder Pickel hat. Wir haben ein gemeinsames Hobby und eine gleiche Wellenlänge und darauf kommt es an. Die Menschen lernen sich ingame [im Spiel, Anm.] kennen. Da gibt es keine Vorurteile. Menschen, die sich im wahren Leben schwer tun Freunde zu finden, werden hier respektiert. Bei LANParties kann man dann beobachten, wie diese Menschen ganz normal integriert werden“, meint Swiby. In WOW gibt es hohe moralische Werte, Ritterlichkeit und Fairplay. Ideale also, die wir nicht immer im wahren Leben finden. Dazu Jebbie: „WOW ist schon irgendwie eine Metapher für unsere Welt, wenn man sich z.B. die Mythologie anschaut. Es gibt ‚Rassen‘, die sich bekriegen. Das ist eigentlich brutal. Aber es stört mich sehr, wenn Außenstehende WOW mit Ego-shootern [Schießspielen, Anm.] in einen Topf werfen und als gewaltverherrlichend abtun.“ WOW ist tatsächlich vergleichsweise steril. Es gibt keine kämpferischen Blutgemetzel. In China wird die Grafik außerdem noch zusätzlich an einen gewissen kulturellen Ländercode angepasst, da manche Grafiken als morbide empfunden werden: Hier gibt es z.B. keine Leichen (von besiegten Gegnern) oder Untote (Skelette) zu sehen, die Texturen werden aufwendig verändert. Das letzte Addon kam (u.a.) daher auch mit einem halben Jahr Verspätung nach China. Die Spielserver sind übrigens grundsätzlich in Sprachgebiete unterteilt, aber es ist technisch möglich auch auf ausländischen Servern zu spielen. Ein relativ bekanntes Phänomen sind z.B. ChinesInnen, die auf ausländischen Servern spielen, die so genannten Chinafarmer. Echtes Geld wert WOW hat China schon lange erobert. Ein besonderes Phänomen ergibt sich aus der Sachlage, dass es außerhalb Chinas SpielerInnen gibt, die nicht erst selbst Fachgebiet – Medienanthropologie 35 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie einen Charakter auf Level 70 spielen wollen, sondern sich allerdings eine wichtige Rolle. Die SpielerInnen treffen nur für das Raiden, also das Spielen in großen Highlevel- sich auch im wahren Leben und unternehmen Schlachtgruppen interessieren. Für reales Geld wollen sie gemeinsame Offline-Aktivitäten. Im Spiel selbst wird einen hochgelevelten Charakter unter anderem via eBay auch viel Privates ausgetauscht. Es wird über erwerben. Dasselbe gilt auch für virtuelle Gegenstände Musikvorlieben oder Tages-Politik geplaudert. Der Feierabend wird gemeinsam zelebriert. Und (Items), wie z.B. Waffen. Das Geschäft wird über eBay abgewickelt – die Items „Im wahren Leben auch Geschehnisse aus dem wahren Leben wie bin ich nur ein z.B. Hochzeiten oder Todesfälle werden ingame werden ingame übergeben. In China ist eine Debatte um das so genannte farmen einfacher Geologe, reproduziert und ausgelebt. Die Kulturwissenschaftlerin und Spieltheoretikerin (d.h. das Erwerben von virtuellem Gold aber HIER bin ich Adamowsky meinte dazu, dass persönliche oder Gegenständen) entstanden. Eine FALCON, Beziehungen im Cyberspace möglich sind, sie unüberschaubare Zahl (geschätzte 100.000, vgl. Geiges 2006) Jugendlicher Verteidiger der funktionieren anders, doch das heißt nicht, dass sie weniger intensiv sind. Man kann also verdient so heute bereits echtes Geld. Allianz. Jäger der durchaus den Wunsch erkennen, ein soziales Eine ganze Berufsparte inkl. GesetzStufe 2.“ Band zu schaffen, das „sich nicht auf gebung ist in China entstanden. Hier (Zitat aus South Park) territoriale Zugehörigkeiten, institutionelle gibt es nicht nur Zensur und Versuche den Zugang zum Spiel einzuschränken, sondern auch Beziehungen oder Machtbeziehungen gründet, sondern offenbar eine echte Angst, dass Jugendliche vom Land, auf die Vereinigung durch gemeinsame Interessen, auf die eigentlich die reale Ernte von den Feldern einbringen einen spielerischen Umgang, die Mitteilung des Wissens, sollten, lieber ihre Zeit in der Online-Welt verbringen, auf einen kooperativen Lernprozess und auf offene um für einen ungefähren Monatslohn von 800 Yuan (vgl. Prozesse der Zusammenarbeit.“ Geiges 2006) virtuell zu farmen. Die Abnehmer für die gefarmten Items sind, so könnte man zumindest leicht vermuten, vorwiegend in Europa oder den USA zuhause. Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik Sie haben mehr Interesse am ausgereiften Gruppenspiel studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist als am „mühsamen“ hochleveln der Spielfiguren. derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt: Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood. Organisation, Dynamik und Innovation Gilden oder Stammgruppen verhalten sich wie lernende Organisationen. Sie betreiben Aktivität auf Dauer, haben gemeinsame Ziele, sie interagieren arbeitsteilig, es gibt Mitgliedschaftsregeln und Kompetenzverteilung, ein Logo (Gildenwappen), eigene Kommunikationsnetze, Systeme die Anreize schaffen (z.B. Ehren-Punktesysteme) und gezielte Problemlösungsprozesse bzw. Konsensfindung. Eine lernende Organisation ist idealerweise ein System, welches sich ständig in Bewegung befindet. Gewisse Ereignisse werden als Anregung aufgefasst und für Entwicklungsprozesse genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume an die neuen Erfordernisse anzupassen. Dem zugrunde liegt eine offene und von Individualität geprägte Organisation, die ein innovatives Lösen von Problemen erlaubt und unterstützt. All das lässt sich in einer WOWStammgruppe erleben. Jede WOW-Gruppe erfindet dabei eigene Methoden und Wege das Spiel zu meistern. Bestimmte Gruppen sind besonders erfolgreich, wie z.B. Nihilum, die so gut wie jeden „Endboss“ als erstes besiegt haben. In vielen Fan-Foren wird die Frage diskutiert, ob diese SpielerInnen überhaupt noch ein Privatleben haben. Bei Jebbie und Swibys sehr erfolgreicher Stammgruppe Unmatched spielen persönliche Kontakte 36 Fachgebiet – Medienanthropologie Literatur Adamowsky, Natascha. Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt/ New York, 2000 Cypra, Olgierd. Warum spielen Menschen in virtuellen Welten? Eine empirische Untersuchung zu Online-Rollenspielen und ihren Nutzern. http://www.mmorpg-research.de. Diplomarbeit. Mainz 2005 Geiges, Adrian. Goldrausch in Azeroth. In: Stern 19/2006 Götzenbrucker, Gerit. Integrationspotentiale neuer Technologie am Beispiel von Multi User Dimensions. Eine empirische Analyse gemeinschaftsbildender Prozesse in kollaborativen Spielewelten. Dissertation. Wien 2001 Interview mit den WOW-Stammspielern Jebbie und Swiby in Wien am 19.10.07. Link: http://www.unmatched-guild.com „Make Love not Warcraft“: Unter diesem Titel kam im Oktober 2006 eine Folge der berühmten Comic-Serie „South Park“ heraus. Die Episode karikierte, unterstützt von Blizzard, die Klischees mit denen WOW-SpielerInnen immer wieder konfrontiert werden. Siehe hier: http://www.youtube.com/watch?v=xAEMVwb6Y5k In Filmen und Projekten versucht Ivo Strecker die Lebenswelt der Hamar in Äthiopien greifbar zu machen von IXY NOEVER und JULIA PONTILLER Ivo Strecker im Gespräch Ein ethnographischer Filmemacher Ivo Strecker zeichnen besonders die enge Verwobenheit seiner beiden Berufe sowie seine tiefe Verbundenheit mit den Hamar in Südäthiopien aus, zu denen er und seine Frau Jean Lydall seit den 1970er Jahren Feldforschungsreisen unternehmen. Von 1984 bis zu seiner Pensionierung 2005 war Ivo Strecker Professor für Ethnologie am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Seine ethnologischen Arbeiten und Filme können wie Puzzelstücke betrachtet werden, in denen er sich bestimmten Themenschwerpunkten zuwendet. Puzzelstücke, die sich wie zu einem Bild der umfassenden Lebensweise der Hamar zusammenfügen lassen und die zeigen, wie sehr Ivo Strecker während der letzten drei Jahrzehnte mit ihrer Lebenswelt verbunden war und ist. Wie sind Sie zu den Hamar gekommen? Robert Gardner (ein amerikanischer Filmemacher, der sich auf Filme ethnographischen Inhalts spezialisierte, zu seinen bekanntesten Werken zählen Dead Birds oder Forest of Bliss) drehte gerade seinen Film Rivers of Sand und wir wurden von ihm aufgefordert, ihm als anthropologische BeraterInnen zur Seite zu stehen. Während wir den Film vorbereiteten, lernten wir die Sprache der Hamar. Wir waren tief in ihren Alltag eingetaucht und hatten uns vom Drama des dortigen Lebens leiten lassen. Das Tonbandgerät und die Filmkamera spielten dabei eine große Rolle. All dies konnten wir unter der Obhut von Baldambe verwirklichen. Er war unser Gastgeber, Freund, Lehrer und Mentor. So wuchsen wir über die Jahre immer tiefer in die Kultur der Hamar hinein. Wie hat sich Ihre filmische Arbeit entwickelt? Die Themen, die wir in den Filmen behandelten, haben sich durch Gespräche mit unseren Hamarfreunden entwickelt. Ich beschäftige mich in meinen Filmen mit den Themen Männerwelt, Initiation, Symbole, rituelle Schlachtung und Weissagung während sich meine Frau Jean Lydall mit der Beziehung zwischen den Geschlechtern und allem, was Kinder- und Frauenwelten anbelangt, auseinandersetzt. Sie haben den Aufsatz „Filming Dreams“ geschrieben und man hört immer wieder Kritiken, dass Sie Träume filmen – quasi nur die schönen Seiten im Leben der Hamar? Die Idee zu diesem Aufsatz war, zu sagen, dass wir alle von positiven Erfahrungen leben. Auf allerhöchster Ebene ist dies das Prinzip der Hoffnung. Aber Hoffnungen sind immer zeit-, orts-, gesellschafts- und kulturspezifisch. Man lebt z.B. auch von der Hoffnung, dass die Sonne wieder scheinen wird, selbst in langen Zeiten des Hungers lebt man bei den Hamar von dem Traum, der einmal Wirklichkeit war, dass man wieder satt wird. Fremde Kulturen werden oft nur als Hungerkulturen dargestellt – wie das nun auch definitiv mit Äthiopien der Fall ist; Äthiopien ist ja weltberühmt für seine Hungeropfer. Wir haben gefilmt, wie die Leute nun nicht hungern. Den Traum, dass das Leben möglich sein könnte als Glücksleben, den kulturspezifischen Traum, den man als Ethnograph auch herüberbringen muss, und dann können auch die Schreckensdinge kommen. Filming Fachgebiet – Medienanthropologie 37 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie dreams bedeutet, die Träume anderer sichtbar zu machen und mit ihnen zusammen zu träumen. Wie weit fühlen Sie sich in die Kultur der Hamar integriert? Ich sehe die größte ethnographische Herausforderung darin, dem Eigenen und dem Fremden gleichen Raum, gleiche Ausdruckskraft, gleiche Möglichkeiten für Enthüllung und Geheimnis zu geben, und die Schnittpunkte zu finden, an denen sich die geistigen Bahnen kreuzen und zum Klingen kommen. Während der Feldforschung erfährt man aber oft auch schmerzlich, dass die eigene geistige und emotionale Bewegung zwar auf den anderen zuführt, dann jedoch an ihm vorbeigeht und umgekehrt, der andere sich im Begriff wähnt, den Ethnographen zu verstehen, nur um festzustellen, dass Verständnis eine Illusion sein kann. In ihrem letzten Film „Bury the Spear“ geht es um Friedensverhandlungen. Sie waren damals sehr enttäuscht, dass der Film nicht im Fernsehen gezeigt wurde. Der Film Bury the Spear ist zum Teil als Antwort auf den Wunsch eines Mannes tief im südlichen Äthiopien entstanden, der sagte: „Lasst uns hier Frieden machen.“ Eine Gruppe von EthnologInnen meinte: „Da helfen wir mit, wenn sechs verschiedene Gruppen miteinander verhandeln wollen.“ Eine Friedensgeschichte wurde vorbereitet, die wir dann mit ganz einfachen Mitteln gefilmt haben. Damals gab es in Somalia und im Sudan Krieg, daher wollten wir der Welt zeigen, dass es auch einen Willen zum Frieden gibt. Nachdem wir die Geschichte verfilmt hatten vergingen mehrere Jahre, dann erreichte uns die Nachricht von dem Alten, der es geschafft hatte, Frieden zu stiften. Ich sollte kommen. Er sagte nun: „Der Film soll gesehen werden auf der ganzen Welt!“, und dann ist das der einzige Film, den das Fernsehen nicht senden will. Er ist nämlich technisch nicht so gut, und schon wird er nicht gezeigt, darin liegt die große Enttäuschung. Wie ist Ihre Idee zum South Omo Research Center entstanden? Die Idee für ein Museum und Forschungszentrum in Südäthiopien entstand nur langsam und speiste sich aus verschiedenen Interessen und Visionen. Als ich an der Uni Mainz lehrte, lud ich Baldambe ein, mir bei meinen Seminaren zur Kultur der Hamar zur Seite zu stehen, und eigentlich nahm die Entstehung des South Omo Research Centers (SORC) hier ihren Anfang. Im SORC bin ich der Moderator eines Projekts, das beim Abbau 38 Fachgebiet – Medienanthropologie politischer Spannungen in Südäthiopien mitwirken soll. Zu den für Entwicklungsarbeit wichtigen Wissenschaften gehört auch die Ethnologie. Dies gilt nicht zuletzt für Äthiopien, ein Land, das gegenwärtig versucht, sich von einer langen und qualvollen Geschichte sozialer und kultureller Ungerechtigkeit zu verabschieden. Besonders seit dem Fall des Mengisturegimes (1991) und der Einführung einer neuen Verfassung, die den einzelnen „Zonen“ Äthiopiens zumindest auf dem Papier eine gewisse Eigenständigkeit garantiert, versucht sich Äthiopien zu einem modernen, demokratischen und föderalen Staat zu entwickeln. Was sind die Ziele dieses Zentrums? Ziel und Aufgabe ist es, zur Erforschung und Dokumentation sowie zum Erhalt des kulturellen Erbes Äthiopiens beizutragen. Die Aufmerksamkeit galt anfangs vor allem den alten, auf dem Gebrauch der Schrift aufbauenden „Hochkulturen“ Nord- und Zentraläthiopiens. Inzwischen kommen auch die ehemals „marginalen“ oder „Randvölker“ Äthiopiens hinzu. Hier steht das Zentrum vor der schwierigen Aufgabe, den ethnischen Minderheiten des Landes zu helfen, sich aus ihrer historischen Stigmatisierung zu befreien und eigene Institutionen zur Bewahrung ihres kulturellen Erbes zu gründen. Das South Omo Research Center stellt einen ersten Modellversuch in diese Richtung dar und soll sich neben der Bewahrung kulturellen Erbes insbesondere auch der angewandten sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung widmen, mit dem Ziel, das Bestreben nach good governance und Demokratisierung in der Region tatkräftig zu unterstützen. In Ihren Arbeiten und speziell in Zusammenhang mit den Hamar beziehen Sie sich immer wieder auf den „woko“. Was versteht man darunter? Der woko ist ein Stock, der sich an einem Ende gabelt und am anderen Ende zu einem Haken formt. Wie bei aller Symbolik, gibt es zuerst einmal eine praktische Ordnung der Dinge. Mit der Gabel des Stockes drückt man die dornigen Zweige des Busches zur Seite. Diese praktische Funktion lässt sich nun analog auch auf andere Bereiche erweitern. Das heißt, mit der Gabel kann man auch andere dornige Dinge wie Hunger, Krankheit, Krieg, von sich abwehren, und mit dem Haken kann man gute Dinge wie Bienen, Regen, Frieden heranholen. Man kann sagen, dass jeder Mensch in sich einen woko trägt und dass ihn erst das Leben lehrt, kunstvoll damit zu hantieren. Denn: besteht nicht die Kunst des sozialen Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Lebens darin, immer die richtige Distanz zum „anderen“ zu gewinnen und zu halten? Kommt uns jemand zu nahe, dann schieben wir ihn oder sie mit der Gabel unseres unsichtbaren wokos in die richtige Distanz. Wollen wir aber, dass uns der andere nicht entflieht, dann drehen wir den woko um und holen ihn wieder zu uns zurück. Auf diese Weise ist der woko ein Symbol für das universale Problem von Nähe und Distanz, das wir auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens antreffen und das letztlich auch die ganze Ethnologie motiviert. Julia Pontiller, 1974 in Innsbruck geb., ist diplomierte Ethnologin und Filmcutterin, sie arbeitet als selbständige Cutterin und freie Lektorin an den Universitäten in Wien und Innsbruck zu visueller Anthropologie und Schnitt. Ixy Noever, 17 .7.1969 in Wien geb., Studium: Ethnologie an der Uni. Wien, Selbstständige Tätigkeit als Mediatorin und Beraterin, Lehraufträge an verschiedenen Instituten österr. Universitäten (Visuelle Anthropologie, Scheidungen im Kulturvergleich), Filmregisseurin. Fachgebiet – Medienanthropologie 39 Zahlen, Fakten und Hintergründe zum „Trend“ im deutschsprachigen Raum Faszination Bollywood Autorin: Birgit Pestal Tectum Verlag Marburg 2007 ISBN 978-3-8288-9315-3 Bestellungen: www.tectum-verlag.de Ziel des Buches ist es, mithilfe quantitativer Daten, Zahlen und Hintergrundinformationen die Faszination Bollywoods in Österreich, der Schweiz und Deutschland zu porträtieren. Die Fragestellungen sind umfassend, reichen vom Erforschen des Bekanntheitsgrades Bollywoods im deutschsprachigen Raum, hin zur Dokumentation der Prozesse, die zu einer verstärkten Wahrnehmung des indischen Filmgenres geführt haben. Um die Dynamik dieses Themenfeldes besser darzustellen, gewährt dieses Buch ebenfalls einen Einblick in die Veränderungen der indischen Unterhaltungsindustrie im Lichte der immer stärker voranschreitenden Globalisierungswelle gewähren. Jede Menge statistisch ausgewertete Daten über die Zusammensetzung und Präferenzen des deutschsprachigen Bollywoodpublikums bereichern die Lektüre in Form von Tabellen und narrativen Beschreibungen, die im leicht-lockeren Stil nebst einfallsreich gewählten Überschriften, Zitaten und (vielleicht an mancher Stelle zu vielen) Quellenangaben das Leserinteresse wecken. So erfahren wir etwa in der detailreichen Einleitung nicht nur von der spannenden Geschichte des indischen Films, sondern auch von de vergleichsweise engen Beziehungen der Bollywoodindustrie mit der Schweiz, Deutschland und Österreich. Wussten sie z.B., dass, obwohl Österreich in Sachen Bollywood von der Autorin als „Entwicklungsland“ bezeichnet wird, die Tiroler Berglandschaft anscheinend die perfekte Kulisse für den Dreh dieser farbenprächtigen, durchaus melodramatischen, stimmungsvollen Bollywoodfilme bietet? In den darauf folgenden Kapiteln illustriert die Autorin mit aufschlussreichem Hintergrundmaterial, dass Bollywood heute längst keine flüchtige Modeerscheinung mehr darstellt; so wird fast nebenbei erwähnt, dass Bollywood weltweit auf eine Milliarde mehr ZuseherInnen vorweisen kann als Hollywood! Die lesenswerten Schlussbetrachtungen spannen den resümierenden Bogen und stellen klar die Forschungserkenntnisse in den Mittelpunkt: Im deutschsprachigen Raum ist das Potenzial Bollywoods bemerkenswert, nicht nur hinsichtlich der Reichweiten von Filmausstrahlungen, sondern auch in Bezug auf Bollywood als Lifestyle-Phänomen. Auf das westliche Publikum scheinen das visuelle Arrangement, die Musik, Farbenpracht und Stimmung eine besonders starke Anziehungskraft auszuüben. Auch ist ein gewisses Konkurrenzpotenzial zwischen Bolly- und Hollywood nachvollziehbar. Es entstehen hybride Formen der indischen Unterhaltungsindustrie, ganz im Zeichen der ökonomischen und kulturellen Globalisierungstendenzen des 21. Jahrhunderts. Sowohl eine Pflichtlektüre für die bereits bestehende Bollywood-Fangemeinde, als auch für diejenigen, die Bollywood fälschlicherweise als unbedeutenden Ableger Hollywoods betrachtet haben, ist dieses kenntnisreiche Buch absolut empfehlenswert. rezensiert von Lisa Ringhofer 40 Buchrezension Betrachtungen zur Struktur von Ritualen anhand ethnographischer Beispiele aus dem Nahen Osten und der Mongolei von GEBHARD FARTACEK und MARIA-KATHARINA LANG Fremde Länder, fremde Sitten? Rituale und Tabus in Zeiten des Übergangs „Als meine Freundin Duniya geheiratet hat, ging ich zu ihr, um zu gratulieren. Kaum saß ich in ihrem neuen Wohnzimmer, da läutete es. Eine weitere Besucherin, betrat die Türschwelle – blieb kurz stehen – und während sie auf eine Kristallvase am Wohnzimmertisch blickte, rief sie voll Bewunderung: ‚Hee, was hast du denn da für eine schöne Schale!‘ Und sie sagte nicht: ‚mashallah‘ [was Gott will]. Noch im selben Moment zerbrach die Schale – wie von selbst.“ Für viele EuropäerInnen mag diese Begebenheit kurios klingen. Im Nahen Osten hingegen ist sie Teil der Alltagswelt. Sie ist eine von den tagtäglich erzählten Geschichten zur Wirkung des Bösen Blickes. Dieser wird ausgelöst, wenn jemand Bewunderung ausdrückt und gleichzeitig vergisst bestimmter ritualisiert Redewendungen auszusprechen. abus und Rituale sind Ausdruck von Glaubensgrundsätzen und dienen zur Verhaltensorientierung. Inhaltlich gesehen sind sie in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, dennoch lassen sich auf struktureller Ebene allgemeine Aussagen – hinsichtlich Funktion und Aufbau – treffen. In diesem Beitrag stellen wir drei sozialanthropologische Thesen vor, die wir mit ethnographischen Beispielen aus nicht-säkularisierten Gesellschaften belegen: T 1. Das Ritual als „gesicherter“ Übergang in einen anderen Lebensabschnitt: Übergangszeiten sind Zeiten der Ungewissheit, die rituell abgesichert werden (müssen). In allen Kulturen gibt es umfangreiche Rituale, die jeweils zu Beginn eines neuen Lebensabschnittes vollzogen werden. In der Mongolei wird der Übergang vom Kind-sein zum Erwachsen-sein nicht durch einen Initiationsritus im eigentlichen Sinn markiert, sondern durch das Ereignis der Hochzeit. Dieses traditionelle mongolische Hochzeitsritual wird heute nur noch unter den nomadisierenden ViehzüchterInnen in vereinfachter Form praktiziert (vgl. Lang 1998). Ist der Tag der Hochzeit festgelegt, beginnt für die Braut das Abschiednehmen von ihrer Familie. Die Jurte für das zukünftige Ehepaar wird neben der Jurte der Eltern des Bräutigams errichtet. Noch vor der Hochzeit wird der Herd aufgestellt und von der Bräutigam-Mutter mit Feuer aus ihrem Herd angezündet. Die eigentliche Hochzeit findet daraufhin in drei Etappen statt: Zunächst mit einem Festessen in der Jurte der Brauteltern, an dem auch der Bräutigam mit seinen engsten Angehörigen teilnimmt. Am nächsten Morgen wird die Braut von ihrem Bräutigam abgeholt. Hierbei kommt es häufig zu einem symbolischen Widerstand von Freunden und Verwandten der Braut, der vom Bräutigam und seinen Begleitern gebrochen werden muss. Ist dies gelungen reitet das Brautpaar mit der Gruppe von Verwandten und Gästen, die die Mitgift der Braut transportieren, zur neuen Jurte, wo die Braut zum ersten Mal Tee aufstellt, den Platz der Hausfrau ein die Gäste bewirtet. Schließlich zieht sie sich zurück, um mit Hilfe von Frauen aus ihrer Familie neu gekleidet und frisiert zu werden. Anschließend begibt sich die Braut zu der Jurte ihrer Schwiegereltern, wobei sie auf dem Weg dorthin zwei brennende Feuerstellen passieren muss. Dort angekommen Region – Naher Osten/Mongolei 41 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie verbeugt sie sich vor dem Herd, den Familiengottheiten, den Schwiegereltern sowie vor den Ehrengästen und bringt der Schutzgottheit des Herdfeuers ein Opfer dar. Dann trinkt das Brautpaar gegorene Stutenmilch, danach beginnt das Festessen. Die Feuerzeremonien sind die wichtigsten rituellen Handlungen im Lager der Familie des Bräutigams, da sie den eigentlichen Eintritt der Braut in den Clan des Mannes markieren. Zum einen wird ein Fruchtbarkeitsritus vollzogen, zum anderen wird die Frau vom Einfluss der Geister ihrer Familie gereinigt. Traditionellerweise ist die jungvermählte Frau im ersten Ehejahr einigen beträchtlichen Reglementierungen unterworfen. Ihre Aufnahme in die Familie stellt eine potentielle Gefahr dar. Neben den Geistern ihrer HerkunftsFamilie bringt eine Schwiegertochter auch "fremde Sitten" mit. Verhaltensregeln, wie die Gebote des Nichtanschauens, Nichtberührens und Nichtbenennens, stellen dieser Auffassung zufolge Schutzmaßnahmen für die Familienmitglieder des Mannes dar. Die Hochzeit wird also als Zeit des Übergangs gesehen, die mit potentiellen Gefahren verbunden ist. Das Ritual schafft Sicherheit, wo sonst Unsicherheit wäre und gewährleistet auf diese Weise einen „gesicherten“ Übergang in den nächsten Lebensabschnitt. Darüber hinaus wird beim Hochzeitsritual noch ein weiterer Aspekt deutlich: Der Übergang zwischen nicht-verheiratet-sein zu verheiratet-sein und der damit verbundene Austausch sozialer Kategorien. Dazu die nächste These: 2. Das Ritual als Austausch sozialer Kategorien: Zeitliche Begrenzungen von sozialen Kategorien werden durch Rituale markiert, wodurch der Wechsel von einer Kategorie zur anderen vollzogen werden kann. Ein Ritual, das von der Westsahara bis Usbekistan und von der Türkei bis in den Jemen, von AnhängerInnen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften nahezu gleichermaßen praktiziert wird, ist das Ablegen von Gelübden (vgl. Fartacek 2003: 177-186). Es ist oft üblich zu einem lokalen Heiligtum zu pilgern, wenn das soziale Leben aus den Bahnen gerät. Am Pilgerort tritt man dann mit dem dort verehrten Heiligen in Kontakt und legt ein Gelübde ab: Man bittet ihn um Hilfe bei der Problemlösung und verspricht als Gegenleistung den Vollzug eines Opfers, welches sobald das Problem behoben ist, erbracht werden muss. Zur Illustration dieses Vorganges ein Fallbeispiel aus dem Ladaqiye-Gebirge in Syrien: Ein älterer Mann litt an extremen Bauchschmerzen und musste dringend operiert werden, wofür der Familie allerdings das notwendige Geld fehlte. In seiner Not pilgerte der Mann zu einem lokalen Heiligtum, das einem gewissen Scheich Hassan gewidmet war, und legte dort ein Gelübde ab: „Ich gelobe, ein Schaf zu opfern, wenn 42 Region – Naher Osten/Mongolei Handabdrücke aus Opferblut an einem Heiligtum in Nordsyrien ich nur wieder gesund werde. Das Schlachtopfer soll hier an diesem [heiligen] Ort vollzogen werden und ist dir, Scheich Hassan, gewidmet!“ Anschließend übernachtete der Mann am heiligen Platz, am nächsten Morgen bemerkte er das Wunder: Über Nacht war er auf übernatürliche Weise von Scheich Hassan geheilt worden. An seinem Bauch sah man einen frisch vernähten Schnitt die Narbe ist heute noch sichtbar. Der Mann war anfangs von der Operation noch etwas geschwächt. Als er wieder in den Status des Gesundseins eintrat, vollzog er das versprochene Schlachtopfer. Im Zuge dieses Rituals tauchte er seine rechte Hand in das Blut des Tieres und drückte sie an die Wand der Pilgerstätte, um so auf symbolische Weise in Beziehung zum Opfertier und zum sakralen Platz zu treten. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde das Schaf an Ort und Stelle zubereitet und verzehrt. Nur der Mann, der das Opfer darbrachte, war von der Mahlzeit ausgeschlossen, da dies sonst als eigennützig angesehen worden wäre. Diese Begebenheit, die sich erst vor wenigen Jahren ereignet haben soll, stellt in der Wahrnehmung vieler Menschen dieser Region keinen Einzelfall dar. Ähnliche Geschichten werden von den BewohnerInnen des LadaqiyeGebirges gerne erzählt und dienen dazu, die Kraft des sakralen Platzes bzw. des Heiligen zu unterstreichen. Hier werden einige grundsätzliche Prinzipien des Gelübdewesens deutlich: Ein Gelübde wird in der Regel als individueller Vertrag zwischen demjenigen, der es ablegt und dem jeweiligen Heiligen aufgefasst. In diesem Vertrag sollten möglichst alle Einzelheiten geregelt sein, nachträgliche Änderungen sind nicht möglich. Ein Gelübde wird in der Regel konditional verstanden: Nur wenn der Wunsch in Erfüllung geht, muss ein Opfer dargebracht werden. Hat man ein Gelübde abgelegt, befindet man sich bis zu dessen Einlösung in der Rolle des Schuldners. Beim Ablegen des Gelübdes wird der Nicht-Schuldner zum Schuldner, bei der Einlösung des Gelübdes erfolgt die Umkehrung. Dem Ritual wird also grundsätzlich eine Doppelfunktion zuteil: Einerseits Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie führt es den Austausch der sozialen Kategorien herbei, andererseits werden die einzelnen sozialen Kategorien jeweils zeitlich markiert, d.h. es wird Klarheit geschaffen, bis zu welchem Zeitpunkt man welchen sozialen Status innehat. Bei dem geheilten Mann, markierte das Ritual nicht nur den Übergang von Schuldner-sein zum NichtSchuldner-sein, sondern auch den Übergang vom Kranksein zum Gesund-sein. 3. Das Ritual als Manifestation von Mythen: Religiöse Rituale stehen in einem direkten Zusammenhang mit Mythen und umgekehrt – Mythen sind auf Rituale bezogen. Dieser Aspekt wird beim religiösen Schlachtopfer deutlich, dessen Durchführung mit einem mythologischen Ereignis begründet wird, das der Koran ebenso erwähnt wie die Bibel (Sure 37, 99-113 bzw. Gen. 22,1-19): Abraham, „Vater aller Religionen“, hatte einst einen prophetischen, ständig wiederkehrenden Traum: Er sah sich seinen Sohn Ismael opfern. Für Abraham gab es nur eine Schlussfolgerung: Es musste Gottes Wille sein, dass er seinen geliebten Sohn Ismael opfern sollte. Abraham erzählte den Traum seinem Sohn, dieser fügte sich seinem Schicksal. Im entscheidenden Augenblick erschien der Engel Gabriel zusammen mit einem großen Widder: „Nimm den Widder als Ersatz und opfere ihn Gott!“ Seit damals ist es üblich, Tiere (insbesondere Widder) stellvertretend für Menschen zu opfern. Während in der jüdischen und christlichen Tradition diese Bibelstelle häufig so interpretiert wird, dass Gott Abraham auf die Probe stellen wollte, sehen viele Menschen islamischen Glaubens darin eine mythologische Begründung für die Durchführung von Schlachtopfern. Hier dient dieses Beispiel dazu, zu zeigen, dass in Ritualen auch Glaubensdoktrinen, Mythologien und damit verbundene Weltbilder zum Ausdruck kommen. Rituale sind keine Tätigkeiten oder Handlungen, die isoliert für sich betrachtet eine Bedeutung hätten. Vielmehr erlangen sie diese erst in Beziehung mit anderen Zeichen und Symbolen einer Kultur. Sie sind immer eingebettet in Glaubenssysteme und Wertvorstellungen und erst als Teil davon ergeben sie einen „Sinn“. Fazit Rekapitulieren wir die angesprochenen Dimensionen des Rituals: 1. Rituale treten in Übergangszeiten auf, 2. sie bewirken eine Änderung von Status und Rolle der Betroffenen, und 3. sie sind mit Weltbildern verknüpft. Übergangszeiten gelten als Zeiten der Gefahr, sie sind mit Unsicherheiten und Tabus assoziiert. Von strukturalen Ansätzen ausgehend können sie als Grenzzonen, als „Schwellenzustände“ zwischen unterschiedlichen sozialen Kategorien interpretiert werden. Epistemologisch betrachtet besteht Ungewissheit darüber, welche der jeweils angrenzenden Kategorien Gültigkeit erlangt. Rituale geben Sicherheit, sie markieren und gewährleisten die Bewältigung von Übergängen sozialer, zeitlicher und räumlicher Kategorien. Auf der Grundlage dieser Überlegungen möchten wir nun zum eingangs erwähnten Bösen Blick zurückkehren. Dabei wird deutlich, dass Zeit und Ort des Unglücks keine Zufälle sind. Das Unglück geschah aufgrund der Nichtbeachtung eines Rituals – die Besucherin sagte nicht ‚mashallah‘. Zeitlich und räumlich betrachtet passierte es in Momenten des Übergangs – und zwar in mehrerlei Hinsicht: Es findet genau zu der Zeit statt, als Duniya heiratet, eine Übergangszeit, die im gesamten orientalischen Raum mit dem Wirken des Bösen Blicks verbunden wird. Und es findet genau in dem Moment statt, in dem die Besucherin eintritt und in die soziale Rolle des Gast-seins schlüpft. Auch räumlich gesehen passiert das Unglück an einer Grenze, und zwar an der Türschwelle, die als Grenzzone zwischen dem privaten und öffentlichen Raum interpretiert werden kann. Die „Erklärung“, dass für das Zerbrechen der Vase der „Böse Blick“ der Besucherin verantwortlich ist, ist wiederum Ausdruck eines bestimmten Glaubenssystems bzw. Ausdruck eines orientalischen Weltbildes. Anm. der AutorInnen: Bei diesem Beitrag handelt es sich um die stark gekürzte Fassung eines Artikels, der im Zuge sozialanthropologischer Projektarbeit an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entstanden ist und bislang nicht publiziert wurde. Gebhard Fartacek, Mag. Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor an der Forschungsstelle Sozialanthropologie (ÖAW), Universitätslektor am Institut für KSA (Wien). Forschungsschwerpunkte: Kosmologien und religiöse Glaubenssysteme im Nahen Osten sowie lokale Strategien der Konfliktbewältigung Maria-Katharina Lang, Mag.a phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Sozialanthropologie (ÖAW) und am Museum für Völkerkunde Wien. Forschungsschwerpunkte: Soziokulturelle Transformationsprozesse im zentralasiatischen Raum und Kunstethnologie. Literatur Fartacek, Gebhard. Pilgerstätten in der syrischen Peripherie. Eine ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und deren Praxisrelevanz. Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse 700. Band, Wien: ÖAW-Verlag. 2003. Lang, Maria-Katharina. Ein Schmuckstück aus der Mongolei/Sammlung des Museums für Völkerkunde Wien als Ausgangspunkt für die Untersuchung soziokultureller Zusammenhänge. Diplomarbeit. Wien, 1998. Region – Naher Osten/Mongolei 43 Zur Zeit der sassanidischen Herrschaft [225 n. Chr. - 651 n. Chr.] entstand durch den sozialrevolutionären Mazdak eine kritische Bewegung von THOMAS SCHMIDINGER Der Mazdakismus im Iran Widerstand gegen eine Theokratie Schon vor 1500 Jahren fielen im Iran religiöse und politische Herrschaft zusammen. Die zarathustrische Theokratie der Sassaniden war jedoch genauso umstritten wie die heutige islamisch-schiitische Theokratie. Um das Jahr 500 wurde sie von einer revolutionären sozialen Bewegung, dem Mazdakismus herausgefordert. Das Leben Mazdaks und die Geschichte der MazdakitInnen sind nur äußerst spärlich dokumentiert. Wie bei anderen gescheiterten Oppositionsbewegungen steht die heutige Geschichtsschreibung auch hier vor dem Problem, eigentlich nur über Quellen der siegreichen Gegner zu verfügen. 44 Region – Iran ür Mazdak und seine AnhängerInnen ist die Quellenlage besonders prekär. Das dürfte daran liegen, dass andere religiös-politische Oppositionsbewegungen wie die christlichen Kirchen oder der Manichäismus als weit weniger gefährlich für die Sassanidenherrschaft eingestuft wurden (Klima, 1977: 16). Die Syrische Chronik des Josua des Styliten ist die einzige bekannte zeitgenössische Quelle; alle anderen Texte wurden viel später verfasst. Trotzdem beschäftigten sich nicht nur frühe arabische und persische Historiker, wie z.B. al-Tabar, mit dieser Bewegung, sondern auch späte römische Autoren wie Prokopios von Caesarea und Agathias. F Die Sassaniden und ihre Staatsreligion Das Sassanidenreich (224 – 651) hatte in seinem überzeichneten Rückgriff auf „altiranische“ Kulturelemente den Zorastrismus zu einer Staatskirche erhoben. Die rund 1800 Jahre vor Christi vermutlich im heutigen Khorasan entstandene Religion mit einem starken Dualismus zwischen Gut und Böse und ihrer Verehrung des „heiligen Feuers“, wurde damit von einer vielfältigen und regional durchaus unterschiedlich ausgeprägten Glaubensgemeinschaft zu einem monopolisierten Staatskult. Dabei wurde dem guten Gott Ahura Mazda und seinem „bösen“ Gegenspieler Ahriman mit Zervan, dem Gott der Zeit, noch ein Schöpfergott vorgesetzt, der aus sich heraus erst Ahura Mazda und Ahriman geboren hatte. Der Zervanismus bzw. Zervani-sche Zorastrismus war damit zu einer streng monotheistischen Staats-religion geworden. Ähnlich wie bei seinem großen Gegenspieler, dem christlich-orthodoxen Oströmischen Reich, befand sich auch hier die Religion in einem sehr engen Verhältnis zur Staatsmacht. Allerdings bedeutete im Iran bereits damals die Existenz einer Staatsreligion nicht automatisch das generelle Verbot aller anderen Religionen. Neben dem Zorastrismus existierte noch eine Fülle weiterer kleinerer und größerer Religionsgemeinschaften, die meist stark unterdrückt wurden. So lobt etwa der zarostrische Priester Kidir die Verfolgung von Juden (yahud), Buddhisten (saman), Hinduisten (braman), Nazarenern (nasra), Christen (kristiyan), Täufern (makdag) und Manichäern (zandik) unter König Vahram II. (267 – 293) (Wiesehöfer, 1993: 266). Im Gegensatz zur völligen Verfolgung und Unterdrückung aller Nichtchristen im Oströmischen Reich, akzeptierte jedoch auch bereits die sassanidische Staatsreligion vielfach die Existenz anderer religiöser Überzeugungen, solange diese die Position des Zorastrismus als Staatsreligion nicht in Frage stellten. Nicht alle Iraner mussten Zorastrier sein, aber alle mussten akzeptieren, dass der Zorastrismus die Religion war, die Reich und Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Gesellschaft dominierten, ein Konzept an das nach 651 das islamische „Toleranzverständnis“ mit dem Status der Gläubigen der Buchreligionen als Dhimmis durchaus anknüpfen konnte. In dieser vielfältigen religiösen Landschaft wuchs jedoch die mazdakitische Bewegung zwei Jahrhunderte nach den Massakern unter König Vahram II. zu einer ernsthaften Gefahr für den Adel und die Geistlichkeit heran. Mazdak und die Mazdakitische Bewegung In einer Phase der gesellschaftlichen und politischen Erstarrung um 500 schrieb nun die mazdakitische Bewegung Geschichte. Dabei gehen bis heute die Positionen der Historiker und Iranisten über den wirklichen Begründer der mazdakitischen Bewegung auseinander. Der deutsche Orientalist Theodor Nöldeke, kommentierte 1879 in seiner Übersetzung der „Universalgeschichte“ al-Tabars: „Als Stifter des Mazdakismus wird gewöhnlich Mazdak, Sohn des Bamdadh angesehn, aber [...] Tabari [...] nennt als solchen den Zaradust, Sohn des Choraran, aus Pasa, während Mazdak nur sein Apostel beim Pöbel gewesen sei“ (Nöldeke, 1879: 456). Weitgehende Übereinstimmung gibt es lediglich darin, dass Mazdak im weltlichen Besitz die Wurzel allen Übels sah und dies zumindest in Teilen der Bewegung die Idee einer frühkommunistischen Gütergemeinschaft hervorrief. Dabei ist auch von der Forderung nach einer „Frauengemeinschaft“ die Rede, wobei diese – wie bereits erwähnt – nur über Quellen der Gegner der Be-wegung überliefert ist. Über die Biographie Mazdaks ist so wenig bekannt, dass manche IranistInnen seine reale Existenz überhaupt in Frage stellen und ihn eher als mystische Gründerfigur sehen. U.U. kam es auch zu einer Vermischung ursprünglich unterschiedlicher Gruppierungen zu einer Bewegung, die religiöse und sozialrevolutionäre Momente in sich vereinte. Unabhängig von der realen Existenz der Gründerfigur Mazdak ist jedenfalls unumstritten, dass es eine breite religiöse und politische Strömung unter dem Sassanidenherrscher Kavad (488 – 496, 499 – 531) gab, die sich auf Mazdak berief. Umstritten ist jedoch, ob der Mazdakismus eine Häresie der Zarostrischen Staatsreligion oder des Manichäismus – einer damals sehr starken, anwachsenden, aber auch massiv verfolgten Religionsgemeinschaft – darstellte oder ob es sich dabei um eine von beiden Religionen unabhängige Neugründung handelte. In der „Enzyclopedia of Islam“ heißt es dazu: „The movement seems to have been Zoroastrian rather than Manichaean in origin, although it acquired gnostic features that gave it an affinity to Manichaeism.“ (Enzyclopedia of Islam, 1991: 949). Durch die Vernichtung der mazdakitischen Schriften sind die Inhalte der mazdakitischen Lehre aus- schließlich aus den Werken ihrer GegnerInnen und den Folgen ihres Aufstandes zu entnehmen. In sozialer Hinsicht war wohl der Gemeinschaftsbesitz die wichtigste sozialrevolutionäre Forderung Mazdaks, die auf theologischem Gebiet mit mystischen Vorstellungen die teilweise an die Gnostik der Manichäer erinnern, ergänzt wurden. „Mazdak lehrte, daß alle Menschen gleich geschaffen seien und daß es ein Unrecht sei, wenn der Eine mehr Güter und mehr Weiber habe als der Andre. Daß die Ehe von ihm principiell aufgehoben sei, behaupten die arabischen Quellen nicht gradezu, aber schon die gewaltsame Wegnahme der Weiber, welche einer zu viel habe, und die Aufhebung der Vermögens- und Standesunterschie-de führte mit Notwendigkeit dazu: dauerhafte Güter-gleichheit ist nur denkbar bei Gütergemeinschaft d. h. bei Aufhebung alles persönlichen Eigentums; wer dieses zerstören will, der muss die Erblichkeit und die damit auf's engste verbundene Familie abschaffen“ (Nöldeke, 1879: 458). Obwohl Mazdak vermutlich weder die „freie Liebe“ noch eine frühe Form von Feminismus predigte, hatte die „Frauengemeinschaft“ – so sie historisch überhaupt real und keine Erfindung der Gegner des Mazdakismus war – doch u.U. einen emanzipatorischen Effekt, der zum besonderen Hass gegen den Maz-dakismus beigetragen haben könnte. „Wem die patrilineare Abstammung sowie die Bewahrung des Haushalts in männlicher Linie Grundvoraussetzungen und -anliegen gesellschaftlichen Lebens waren, dem konnten die Geltung matrilinearer Deszendenz als Folge unsicherer Vaterschaft und die Übertragung familiärer Erziehungsaufgaben an die Gemeinschaft nur als ungeheuerlich erscheinen“ (Wiesenhöfer, 1993: 279-280). Vom Mazdakismus sind auf der einen Seite gewisse hedonistische Bestrebungen überliefert, die auf ein angenehmes Leben für alle abzielten, allerdings auch sehr strikte ethische Gebote wie das „Verbot des Blutvergießens und des Fleischgenusses“ (Nöldeke, 1879: 460). Die soziale Basis des Mazdakismus dürfte überwiegend aus der armen Landbevölkerung, die sich gegen die Oberschicht des strikten kastenartigen Systems zur Wehr setzen wollte, bestanden haben. Allerdings wurde der Mazdakismus auch von Teilen der Herrschenden selbst zeitweise auch positiv aufgenommen. Schah Kavad I. zeigte sich von der neuen religiösen Bewegung angetan, trat ihr dennoch nicht bei. Diese freundliche Duldung des Mazdakismus stellte wohl eine Art taktisches Bündnis gegen den Adel und die mächtige zorastrische Priesterschaft dar, deren Einfluß er zurückdrängen wollte. Region – Iran 45 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Die so in die Enge getriebenen, setzten Kavad 496 jedoch ab und ersetzten ihn durch Zamasp, der bereits erste Verfolgungen gegen die MazdakitInnen einleitete. Ein Vierteljahrhundert nach Kavads Rückkehr in den Königspalast hatten sich die MazdakitInnen wieder so weit erholt, dass sie sich laut Timotheus, Malala und Theophanes in den Poker um die Nachfolge Kavads einmischten und den ihnen ergebenen Prinzen Pataswarsah auf den Thron setzen wollten. Kavad soll zum Schein auf diesen Vorschlag eingegangen sein und sämtliche MazdakitInnen mit Frauen und Kindern zur Übergabe der Macht an Pataswarsah versammelt haben, um sie dann alle niedermetzeln zu lassen. Nach dem Massaker wurde die Habe der Getöteten durch den Staat konfisziert. Überlebende MazdakitInnen sollten ebenso wie ihre Lehren dem Feuer übergeben werden und ihre Gebetsstätten wurden laut Malala den Christen zugeteilt. (vgl. Nöldeke, 1879: 462 – 463). Ob diese Berichte stimmen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Sicher ist lediglich, dass entweder kurz vor oder nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch Xusro I. – dem Nachfolger Kavads – im Jahr 531 eine massive Verfolgung von MazdakitInnen im ganzen Land begann, die beinahe die vollständige Ausrottung der Gemeinschaften zur Folge hatte. Nach der Verfolgung Nach der Niederschlagung des Mazdakismus als soziale Bewegung trat ihr religiöser Charakter in den Vordergrund. In Kleingruppen überlebte die Religionsgemeinschaft vor allem an den Rändern des Sassanidenreiches. Erst die Eroberung des Sassanidischen Iran durch Islamische Armeen brachte den MazdakitInnen wieder etwas mehr Freiraum. Allerdings waren sie zu diesem Zeitraum bereits so geschwächt, dass sie sich im 8. und 9. Jahrhundert in verschiedenste Kleinstsekten spalteten. Viele ehemalige MazdakitInnen dürften auch – so wie andere von den Sassaniden unterdrückte Minderheiten – eher dem Islam beigetreten sein, den sie durchaus als Befreiung von der Sassanidenherrschaft empfanden. So kamen auch mazdakitische Einflüsse in den iranischen Islam, der auch andere synkretistische Elemente aus vorislamischen Religionen des Iran aufgenommen hatte. Neo-Mazdakitische Gruppen leisteten vor allen einen Beitrag zur Entwicklung von Kaysaniyya-Schiiten. Otokar Klima sieht in der Sekte der Khurramiten, die zum ersten Mal im Jahr 118 H. (736-737 n.Chr.) auftauchte ebenso einen islamisierten Nachfolger der Mazdakiten wie im Aufstand des zarathustrischen Magiers Sunbad. In Zentralasien überlebte der Maz-dakismus bis ins 12. Jahhundert in den Gegenden von Kish, Nakhshab und in einigen Dörfern in der Umgebung von Buchara. 46 Region – Iran Noch in der Ilkhanidischen Periode wurden die Mazdakiten als eine von vierzehn zarathustrischen Sekten aufgezählt. Im Rudbar von Qazwin, nordwestlich von Teharan, soll mazdakitische Sekte namens Maraghiyya existiert haben, die in sieben Dörfern bis ins 20. Jahrhundert überlebt haben soll (Enzyclopedia of Islam, 1991: 951-952). Rezeption im Iran Die spärliche Literatur über die Mazdakiten in Europa kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Mazdak im Iran selber immer erwähnt und seine Bewegung als umstürzlerischer Referenzpunkt in der iranischen Geschichte herangezogen wurde. Nicht nur Geschichtswerke wie Firdausis Schahname beinhalteten die MazdakitInnenaufstände seit Jahrhunderten, sondern die MazdakitInnen wurden auch immer wieder zum Synonym für dissidente gesellschaftliche Gruppen und Häretiker. Je nach ideologischer Ausrichtung der AutorInnen wird Mazdak zum subversiven Element, zum Staatsfeind, zum Revolutionär, zum Sektenführer … In der Spätphase der Pahlavi-Dynastie verwiesen Teile der iranischen Linken auf Mazdak als subversives Gegenprogramm. Während Shah Reza Pahlavi 1971 sich selbst und 2500 Jahre iranisches Kaiserreich in Persepolis feiern ließ, sammelten sich bereits die verarmten und unterdrückten Massen, um acht Jahre später in einer erfolgreichen Revolution der Monarchie ein Ende zu bereiten. Dass diese dabei schließlich an die Macht gekommenen neuen Herren keine Demokratie errichteten, sondern mit der „Islamischen Republik“ wiederum ein System, in dem politische und religiöse Herrschaft zusammenfielen, sollte vor dem Hintergrund der iranischen Geschichte eine Warnung sein. Thomas Schmidinger hat in Wien Politikwissenschaft und Ethnologie studiert und ist derzeit Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft, Flüchtlingsbetreuer in Niederösterreich, Obmann der in Kurdistan tätigen Hilfsorganisation LEEZA (Liga für Emanzi-patorische Entwicklungszusammenarbeit, vormals WADI Österreich) und Vorstandsmitglied des Österreichisch-Irakischen Freundschaftsvereins IRAQUNA. http://homepage.univie.ac.at/thomas.schmidinger/ Literatur Encyclopedia of Islam, New Edition IV MAHK-MID. Leiden, 1991. Klima, Otakar. Beiträge zur Geschichte des Mazdakismus. Prag, 1977. Nöldeke, Theodor. Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der Sassaniden. Aus der Arabischen Chronik des Tabari, übersetzt und mit ausführlichen Erläuterungen und Ergänzungen versehen von Th. Nöldeke. Leyden, 1879. Wiesehöfer, Josef. Das antike Persien. Zürich, 1993. Irakische Frauen als Betroffene von Gewalt: Staat, Milizen und Familienangehörige als Täter von INES GARNITSCHNIG Die alltägliche Gewalt Frauenleben im Irak Viereinhalb Jahre sind vergangen, seit das Ba’th-Regime im Irak gestürzt wurde. Die Aufbruchstimmung, die danach zu spüren war, ist angesichts des sich ausweitenden Terrors vielfach wieder Resignation und Angst gewichen. Über geographische, soziale, historische, ethnische und religiöse Unterschiede hinweg haben Frauen im Irak heute wie damals vor allem eines gemeinsam: Sie leben doppelt, dreifach, mehrfach unter Gewaltverhältnissen. Nicht nur als Menschen, die dem täglichen Terror der Milizen ausgesetzt sind, nicht nur als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe oder als Flüchtlinge, sondern auch als Leidtragende von gezielter Gewalt gegen Frauen – heute nicht mehr durch den Staat, sondern durch Milizen, Terrororganisationen und Banden und nach wie vor vielfach durch die eigene Familie. it der Machtergreifung der Ba’th-Partei 1968 erlitt die irakische Frauenpolitik einen herben Rückschlag. Kurze Zeit danach wurden viele Frauenverbände verboten und die ba’thistische General Federation of Iraqi Women (GFIW) gegründet. Aber erst in den 1980ern, mit dem Einsetzen des Iran-Irak-Kriegs, wandelte sich die Lage der Frauen drastisch. Bildungsprogramme nahmen ab, die Repression hingegen zu. Im Golfkrieg festigte die Ba’th-Partei ab 1990 ihre Machtposition durch Allianzen mit religiösen Führern und Clanchefs und nahm islamische Symbole und Denkweisen in ihre Politik auf. Während der gesamten Herrschaft der Ba’th-Partei waren Frauen als politische AktivistInnen, als Angehörige von politischen AktivistInnen, als Mitglieder bestimmter ethnischer Gruppen und als (angebliche) Prostituierte physischer wie sexualisierter Gewalt durch Angehörige des Regimes ausgesetzt. Das Ausmaß dieser sexualisierten Gewalt gegen Frauen war enorm. Der irakische Geheimdienst hatte eigens Männer für die Vergewaltigung von gefangenen Frauen angestellt. In jedem größeren Gefängnis befand sich neben den Folterkammern auch ein speziell ausgestatteter Raum für Vergewaltigungen. Ebensowar es staatliche Politik der Ba’thisten, sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Mittel einzusetzen, um jemandem „das Auge zu brechen“, Familienangehörige öffentlich zu demütigen. Ein weiteres Mittel war die Erpressung von Frauen durch heimliches Filmen, etwa in der Umkleidekabine eines noblen Bagdader Modegeschäfts. Gegenüber kurdischen Frauen griff die Ba’th-Partei zu besonderen Mitteln der Repression. So wurden etwa zahlreiche Kurdinnen, besonders Überlebende der Anfal-Kampagne, zur Zwangsprostitution in arabische Nachbarstaaten verkauft. Ein weiteres brutales Kapitel staatlicher Gewalt gegen Frauen im Irak ist die Verfolgung von Frauen, denen Prostitution vorgeworfen wurde. Zwischen 1991 und 2002 wurden 1500 solcher Frauen von den Feddayin, Udai Saddam Husseins Elitetruppe, ermordet. Viele von ihnen wurden öffentlich enthauptet, die Köpfe wurden an den Häusern der Familien aufgepfählt. Auch rechtlich waren Frauen unter dem Ba’th-Regime benachteiligt. Die Spitze des Eisbergs bildete ein in den 1980ern erlassenes Gesetz, das die „Bestrafung“ von Frauen durch männliche Angehörige bis zum Mord legalisierte. Frauen hatten auch eine wesentlich schwächere Position vor Gericht als Männer. Heute ist die direkte Gewaltausübung von Seiten des Staates weitgehend eingedämmt. In rechtlicher Hinsicht und als Teilnehmende am öffentlichen Leben sind Frauen aber nach wie vor benachteiligt. Der Beschluss 137, ein Antrag des Regierungsrats vom Jänner 2004, das Personenstandsrecht durch die islamische Rechtssprechung der Sharia zu ersetzen, wurde durch das Engagement von zahlreichen Einzelpersonen und über 80 Organisationen, die an den Demonstrationen teilnahmen, zu Fall gebracht (Mahmoud, Houzan 2004: 330f). M Region – Irak 47 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Gewalt durch islamistische Milizen, Terrororganisationen und Banden Bereits ab Ende der 1990er etablierten sich islamistische Gruppen in einigen Städten im Süd- und Nordirak. Seit dem Ende der Ba’th-Herrschaft stieg die Anzahl islamistischer Gruppen drastisch. Frauen, die sich nicht entsprechend der islamischen Kleiderordnung anziehen, werden bedroht, mit Säure überschüttet oder anderweitig tätlich angegriffen. Unter dem Ba’th-Regime war es lebensgefährlich, sich politisch zu engagieren. Heute treten Menschen für ihre Anliegen ein, unzählige Zeitschriften werden publiziert und Demon-strationen abgehalten. Aber immer noch sind besonders politisch aktive Frauen in ständiger Lebensgefahr. Zahlreiche Frauenrechtsaktivistinnen und Politikerinnen wurden mit dem Tod bedroht oder ermordet, viele haben inzwischen das Land verlassen. Während früher viele Eltern Angst hatten, ihren Töchtern den Besuch einer Universität zu erlauben, weil Saddam Husseins Söhne Frauen von der Universität verschleppten, vergewaltigten und oftmals ermordeten, ist diese Angst nun jener vor Anschlägen, Überfällen, Entführungen, Vergewaltigungen und Morden islamistischer oder mafiaähnlicher Gruppen gewichen. Ein Beispiel von vielen: Im November 2006 wurden im Bagdader Leichenschauhaus innerhalb von zehn Tagen 150 Frauenleichen eingeliefert, nach denen niemand fragte. Viele davon waren geköpft, verstümmelt oder zeigten Anzeichen extremer Folter (Organization of Women’s Freedom in Iraq, 2007). Gewalt gegen Frauen und Mädchen, vor allem Entführungen und Vergewaltigungen, werden als Mittel eingesetzt, um Familien unter Druck zu setzen und die Gesellschaft als ganze zu demoralisieren und zu traumatisieren. Besonders Angehörige von Mitgliedern internationaler Organisationen, Menschenrechtsorganisationen sowie Intelektuelle sind gefährdet. Zudem ist der Frauenhandel weit verbreitet. Seit 2003 sind 4.000 Frauen und Mädchen verschwunden, viele davon wurden vermutlich verkauft (ebd.). Gewalt innerhalb der Verwandtschaft Die weltweit am stärksten verbreitete Form von Gewalt gegen Frauen ist jene, die im häuslichen Bereich von Familie und Verwandtschaft ausgeübt wird. Diese Formen von Gewalt werden bisher in weiten Teilen der Gesellschaft wenig problematisiert. Entsprechend sind hier die Dunkelziffern wohl meist erheblich höher als die berichteten Zahlen, ein Anstieg derselben ist vor diesem Hintergrund oft eher ein Zeichen für gestiegenes Problembewusstsein bzw. größeres Vertrauen in staatliche Institutionen. So ergab eine 2003 im Südirak durchgeführte Umfrage, dass sowohl die Hälfte der Frauen als auch der Männer es als Recht eines Mannes 48 Region – Irak erachtete, seine Frau zu schlagen, wenn sie ihm nicht gehorcht. Diese Auffassung wird bis heute von irakischen Gesetzen gedeckt. Darüber hinaus gilt es als eine Verletzung der Familienehre, sich öffentlich als Betroffene von häuslicher Gewalt zu positionieren. Mit häuslicher Gewalt eng verbunden sind Gewalttaten, die oft als „traditionsbedingte Gewalt“ bezeichnet werden. Hierzu zählen so genannte Ehrenmorde und die Verstümmelung von Frauen. Ehemänner, Brüder, Väter und Söhne handeln teilweise nach Beschlüssen der Familien oder auch von Clanältesten, die meinen, eine Frau oder ein Mädchen habe durch ein (tatsächliches oder ihr zugeschriebenes) Verhalten die Ehre der Familie verletzt, die durch das Verbrechen an der Frau wiederhergestellt werden müsse. Die Organisation Kurdish Women Against Honour Killings (KWAHK) berichtet von hunderten Frauen, die zwischen 1991 und 1998 aus Gründen der „Ehre“ – wegen (angeblicher) außerehelicher sexueller Beziehungen, Verweigerung einer Zwangsheirat oder der (geplanten) Heirat gegen den Willen der Familie – ermordet wurden. Laut dem elften Bericht der United Nations Assistance Mission in Iraq (UNAMI) über die Menschenrechtssituation im Irak sind Morde aus Gründen der „Ehre“ derzeit wieder im Steigen begriffen. Allein die offiziellen Statistiken der kurdischen Regionalregierung hierzu sprechen von 137 solchen Morden im Zeitraum April bis Juni 2007 (UNAMI 2007). Erst 2002 wurde im kurdischen Nordirak die Basis für eine Verurteilung der Täter geschaffen: Eine Gesetzesnovelle verhindert, dass „ehrenwerte Motive“ als mildernder Umstand im Zusammenhang mit Verbrechen aufgrund der „Ehre“ akzeptiert werden. Ebenso gestiegen ist in den letzten Jahren die berichtete Zahl der Vergewaltigungen. Die betroffenen Frauen sind auch nach der Vergewaltigung extrem gefährdet, da sie als „minderwertig“, als entehrt gelten und viele von ihnen getötet oder mit ihren Vergewaltigern „versöhnt“ werden. So wurden laut Berichten des irakischen Frauenministeriums in den ersten vier Monaten des Kriegs mehr als 400 Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen gemeldet – mehr als die Hälfte davon wurde danach von Familienangehörigen ermordet. Zahlreiche Irakerinnen nehmen sich aufgrund von Familienstreitigkeiten, Gewalt und Zwangsehen das Leben. Erst in den letzten Jahren ist zudem durch die Arbeit von WADI allgemein bekannt geworden, dass in einigen Gebieten im Nordirak die Praxis der Genitalverstümmelung (FGM) weit verbreitet ist. Die Situation der Flüchtlinge Vor allem wegen des sich ausweitenden Terrors, aber auch wegen der damit zusammenhängenden schwindenden Lebensgrundlage sind inzwischen über 2,2 Millionen Menschen aus dem Irak geflüchtet. Etwa 1,2 Millionen Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie IrakerInnen versuchten sich seit 2003 dem Terror durch Binnenflucht zu entziehen, die meisten davon mussten ihre Wohnorte nach dem Bombenanschlag auf die Moschee in Samarra im Februar 2006 verlassen. Allein die Hälfte der Flüchtlinge außerhalb des Irak befindet sich derzeit in Syrien. Dort sowie in Jordanien arbeiten zahlreiche junge Mädchen aus Mangel an legalen Beschäftigungsmöglichkeiten für irakische Flüchtlinge als Sexarbeiterinnen. Viele Familien sehen darin ihre einzige Chance, das Notwendigste zum Überleben zu sichern. Unter den extrem schlechten Lebensbedingungen leiden auch hier die Frauen doppelt: Die häusliche Gewalt nimmt immer größere Ausmaße an. Kein Ende in Sicht … Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes änderten sich die Lebenssituationen von Frauen in vielerlei Hinsicht. Ebenso haben sich die Formen von Gewalt gewandelt. Zahlreiche Frauen nahmen ihre Chance wahr, selbstbestimmter zu leben und sich am sozialen und politischen Geschehen zu beteiligen. Dann nahmen die Anschläge zu, der Druck auf Frauen wuchs. Sicher fühlt sich niemand mehr. Nun, viereinhalb Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins, ist die Aufbruchstimmung, die unter irakischen Frauen zu spüren war, weitgehend verschwunden. Gegen das extrem hohe und stetig steigende Ausmaß an Gewalt haben sie kaum Chancen. Solange Frauen und Mädchen nicht mehr Wert als Personen zugestanden wird, werden sie immer gefährdet bzw. Gewalt ausgesetzt sein – sei es durch FGM, islamistischen Terror, Entführungen durch Milizen, Vergewaltigungen oder sogenannte „Ehrenmorde“. sorgen und ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Es bleibt zu hoffen und vor allem daran zu arbeiten, dass diese Möglichkeiten nicht weiter schwinden, sondern im Gegenteil: wachsen. Ines Garnitschnig ist Psychologin, in feministischen und antirassistischen Zusammenhängen aktiv und Mitglied der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI). Siehe: www.wadinet.at Literatur Al-Khayyat, Sana. Ehre und Schande. Frauen im Irak. München: Kunstmann. 1991. Houzan, Mahmoud. Partizipation durch Widerstand. Der Beschluß 137 und die neue Frauenbewegung für Gleichberechtigung und Frieden. In: Kreutzer/Schmidinger 2004: 330 f Kreutzer, Mary & Schmidinger, Thomas (Hg.). Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? Freiburg: ça ira. 2004 Makiya, Kanan. Republic of Fear. The Politics of Modern Iraq. Berkeley, Los Angeles: University of California Press. 1989/1998 Internet Iraq Decades of suffering, Now women deserve better (22.2.2005): http://web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE140012005?open&of=ENG-IRQ Haukari e.V. – Arbeitsgemeinschaft für internationale Zusammenarbeit: www.haukari.de Organization of Women’s Freedom in Iraq: http://www.equalityiniraq.com Bericht der UNAMI – United Nations Assistance Mission in Iraq – vom 11. 10. 2007: www.uniraq.org Women’s Commission for Refugee Women and Children: www.womenscommission.org Ein Hoffnungsschimmer …? Das Leben der meisten Frauen im Irak ist derzeit äußerst schwierig. Aber immerhin gibt es einige wenige Möglichkeiten für Frauen, Gewaltverhältnissen zu entkommen. Erst 1998 öffnete in Suleymania das erste Frauenschutzhaus, weitere Häuser im kurdischen Autonomiegebiet folgten. Im Jahr 2004 eröffneten schließlich Frauenschutzhäuser in Bagdad und Kirkuk. Nach wie vor gut besucht sind auch die Frauenzentren, etwa in den Regionen Germiyan und Hawraman, die als Kommunikationsund Ausbildungszentren fungieren. Das Radio Dengî Nwê, das sich besonders für Frauen und Jugendliche einsetzt, wurde vor kurzem als beliebteste Radiostation der Region ausgezeichnet. Frauen leiden im Irak heute sehr stark unter dem Terror und dessen Folgen. Und sie leiden ebenso unter sozialen Strukturen, die sie Gewalt aussetzen und ihnen Selbstbestimmung versagen. Dennoch haben sie inzwischen mehr Möglichkeiten und Mittel als unter dem Ba’th-Regime, an politischen Prozessen teilzuhaben, ihre Meinung zu äußern, sich gegen Gewalt zu wehren, für die Bestrafung der Täter zu Region – Irak 49 Ein EU-Projekt verbindet österreichische Institute mit palästinensischen Universitäten von GUDRUN KRONER CASOP – Ein EU-Projekt Geförderter Erfahrungs- und Wissensaustausch ASOP (Capacity Building in Social Sciences for Palestine) ist ein von der EU gefördertes TEMPUS Projekt und reiht sich in den großen Rahmen der Joint European Projects (JEP). Das Ziel von JEP Projekten ist eine Intensivierung der Kooperationen und der Netzwerke im Hochschulwesen zwischen EU-Mitgliedsländern und den verschiedenen Partnerländern. Diese Projekte unterstützen unter anderem die Entwicklung und Überarbeitung von Lehrplänen, Reformen der Hochschulstrukturen und einrichtungen sowie ihrer Verwaltung, die Schaffung berufsbezogener Ausbildungslehrgänge und den Beitrag der Hochschulbildung und -ausbildung zur Entwicklung des Staatsbürgertums und zur Stärkung der Demokratie. C Struktur Der Antragsteller und „grant holder“ von CASOP ist die Forschungsstelle Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die Partnerinstitutionen sind die Universität Aix-en-Provence bzw. IREMAM (Institut de Recherche et d'Etudes Méditerranéennes sur le Monde Arabe) und die Birzeit Universität in Palästina. Eine Besonderheit dieses Projektes ergibt sich daraus, dass die offizielle Koordination vom Partnerland übernommen wurde. Unter Berücksichtigung der oben genannten Ziele hat CASOP vor die Curriculumsentwicklung in Palästina aufzubauen und eine Angleichung an den Bologna Prozess zu erreichen. Das Projekt ist aus mehreren Bausteinen zusammengesetzt: Zwei Kurse mit methodischem und methodologischem Inhalt werden an der Universität Birzeit abgehalten, wobei die Vortragenden vor allem aus Frankreich und Österreich kommen. Gleichzeitig entsteht eine Projekt-Homepage auf der man Literatur, Videoaufnahmen der Seminare und diverse Vorträge finden kann. Ein Ziel ist die Etablierung eines e-learning Programms, da die Studierenden oft durch Straßensperren und Checkpoints daran gehindert werden, zur Universität zu gelangen. Auf der Website wird es auch ein Forum geben, in dem sich die Studierenden untereinander, aber auch Interessierte von außerhalb, austauschen können. Des weiteren werden fünf palästinensische Studierende für ein Semester nach Europa (Frankreich oder Österreich) eingeladen. In dieser Zeit sollen sie die Möglichkeit haben, Kurse zu belegen, die für den Abschluss ihres Studiums in Birzeit hilfreich sind. Zudem wird von Seiten der ÖOG (Österreichische OrientGesellschaft Hammer-Purgstall) versucht, Geld für Stipendien zu akquirieren, damit mindestens zwei dieser Studierenden ein Doktoratsstudium in Österreich absolvieren können. Um den Menschen dieses Sprachraum- 50 Region – Palästina es methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften zugänglich zu machen, soll zu diesem Thema ein Buch auf Englisch und Arabisch herausgegeben werden. Besonders die arabische Version ist wichtig, da es für viele sozialwissenschaftliche Fachtermini keine adäquaten Übersetzungen gibt. Hauptaufgabe des Buches ist es also, Termini für diese Begriffe zu finden oder sogar zu kreieren. Geschichte und Politik Diesem Projekt ging bereits ein erfolgreich abgeschlossenes TEMPUS MEDA voran, bei dem ebenfalls die ÖAW Antragsteller war. Während dieses Projektes gab es bereits einen Methodenkurs für DiplomandInnen der Birzeit Universität, sowie zwei Studien über die Situation und das Angebot an Sozialwissenschaften an den Universitäten in Gaza und dem Westjordanland. JEP Projekte sind auf drei Jahre beschränkt, im Fall von CASOP (das eine Laufzeit von zwei Jahren hat) wird jedoch versucht, langfristige Ziele zu erreichen. Dazu gehört das Vorhaben ein PhDProgramm in Sozialwissenschaften in Palästina aufzubauen, da palästinensische Studierende bisher nur im Ausland die Möglichkeit hatten, den Doktortitel zu erlangen. Aufgrund der politischen Situation wird dies jedoch immer schwieriger, gerade auch für Frauen die zusätzlich durch bestimmte Gesellschaftsnormen Probleme haben einen Auslandsaufenthalt durchzusetzen. Nur in wenigen Fällen ist es jungen Frauen möglich, alleine, d.h. ohne ihre Familien, im Ausland zu leben, deshalb wäre ein PhD-Programm in Palästina ein zusätzlicher Beitrag zur Fauenförderung. Für die Studierenden des Instituts der KSA bedeutet das Programm die Möglichkeit eines Erfahrungsund Wissensaustausches mit palästinensischen KollegInnen im akademischen Rahmen, die unter besonderen Umständen sozialwissenschaftlich arbeiten. Zusätzlich sollen aber auch die Beziehungen zwischen den Instituten, Universitäten und Regionen verstärkt werden. Gudrun Kroner ist als CASOP-Koordinatorin (für Österreich) an der FS Sozanth, ÖAW, teilbeschäftigt. http://ec.europa.eu/education/programmes/tempus/index_en.html Die Lage in Gaza verschlechtert sich zunehmend, doch die BewohnerInnen und ihre Probleme werden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen von GUDRUN KRONER Menschen in Gaza Eingeschränkt durch Okkupation und Gesellschaft Foto: Gudrun Kroner “A lot of families prevent their daughters in this Intifada to spend hours at the checkpoints and to come back to the house at midnight. Some are even forced to stay at home. And some of them, because of financial problems, they prefer their sons go to study and the girls have to stay at home.” Die BewohnerInnen Gazas (besonders die Frauen) werden eingeschränkt: Sowohl geographisch, politisch als auch gesellschaftlich. So kam es als Reaktion auf die Besetzung u.a. zu einer Islamisierung der Gesellschaft, wodurch der ohnehin schon geringe Handlungsspielraum von Frauen weiter verkleinert wurde. aza zählt mit ca. 1,3 Millionen Menschen auf nur 365 km² zu den am dichtesten besiedelten Gebieten weltweit. Über eine Million der BewohnerInnen Gazas sind bei der UNRWA (United Nations Relief and Work Agency for Palestinian Refugees in the Near East) als Flüchtlinge registriert. Während des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 kamen 200.000 Flüchtlinge aus den umliegenden Ortschaften in das damals 80.000 EinwohnerInnen zählende Gebiet (Sayigh 1979). Die Unterbringung als auch die wirtschaftliche Versorgung für „the poorest, least skilled, and least priviliged of all groups forced to flee Palestine” stellten große Probleme dar (Graham-Brown 1984: 227). Die Anzahl dieser stieg durch den Sechstagekrieg 1967 und den Golfkrieg 1990 an, aber vor allem durch die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus. G Gaza wurde 1948 zunächst von Ägypten, nach dem Sechstagekrieg von Israel okkupiert. Die erste Intifada, der Aufstand gegen die israelische Besatzung, brach 1987 im größten Flüchtlingscamp Gazas aus. Trotz Intifada und langen Perioden der Ausgangssperren arbeiteten damals viele PalästinenserInnen als (schlecht bezahlte) TagelöhnerInnen in Israel. Seit dem Beginn der zweiten Intifada (2000) und der dadurch bedingten immer strikteren Abriegelung Gazas kommt es zu einem permanenten Anstieg der wirtschaftlichen Probleme und der daraus resultierenden sozialen Schwierigkeiten. Die Arbeitslosigkeit stieg innerhalb weniger Jahre auf 65%, die Armutsrate sogar auf über 80% (Worldbank 2002). Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Zustände sind immer mehr Menschen auf die Nothilfe der UNRWA, aber auch auf die Versorgung durch die Hamas angewiesen. Gaza - von der Welt vergessen? Schon 1997 bemerkte Tuastad, dass Gaza in der Wissenschaft vernachlässigt wird: Lediglich sieben von 107 Untersuchungen in Palästina befassten sich damals mit Flüchtlingen in Gaza (Tuastad 1997). Seither hat sich diese Situation aufgrund der schwierigen Sicherheitslage und durch die Abschottungspolitik Israels (seit kurzem dürfen nur noch DiplomatInnen, JournalistInnen und MitarbeiterInnen von namhaften (I)NGOs nach Gaza einreisen) noch verschärft. Bei politischen Verhandlungen oder internationalen Diskussionen über Palästina wird vor allem das Westjordanland angesprochen. Gaza wurde aufgrund seiner Hamas-Regierung zur „terra non grata“. Bei der Unterstützung wird Gaza zwar nicht vergessen, aber Region – Gaza 51 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie „Gaza is like a big prison“ Seit Monaten sind die Grenzübergänge immer wieder geschlossen. Am bekanntesten ist Rafah, der Grenzübergang zu Ägypten, er bietet für die BewohnerInnen die einzige Möglichkeit, ins Ausland zu gelangen. Die meisten Menschen, die versuchen über Rafah auszureisen, suchen medizinische Behandlung in Ägypten. In letzter Zeit saßen immer wieder tausende Menschen für Wochen, manchmal sogar für Monate, auf beiden Seiten der Grenze fest. Immer häufiger werden auch die Importwege für Waren blockiert. Dies hat desaströse Auswirkungen auf die ohnehin sehr schlechte wirtschaftliche Lage des kleinen Gebietes, da alle Rohstoffe und viele Lebensmittel eingeführt werden müssen. Dieser Umstand erschwert die Planung für Geschäftsleute wesentlich. Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, fühlen sich in Gaza wie in einem Gefängnis. Frauen sind hier doppelt betroffen: Einerseits durch die Okkupation, andererseits durch die Gesellschaft. In der (arabischen) Gesellschaft werden Frauen vor allem über Männer definiert. Verheiratete Frauen sind kaum unter ihrem eigenen Namen bekannt, sondern als Mutter ihres erstgeborenen Sohns (z.B. Umm Naseem, Umm Mohamed). Ein weiteres Beispiel für die Dominanz der Männer ergab sich aus einem Gespräch mit zwei Schwestern: Während Umm Naseem meinte, sie kämen aus dem Dorf Masmia Kbira (dem Ort von dem ihre Eltern flohen, beide Frauen wurden bereits in Gaza geboren), widersprach Umm Mohamed: sie stamme aus Bergera, dem Dorf ihres Mannes. Diese Männerdominanz zeigt sich auch in der Politik der Hilfsorganisationen. Nur Kinder von Flüchtlingsvätern, nicht aber jene von Flüchtlingsmüttern haben ein Anrecht auf den Flüchtlingsstatus (Gilen 1994). Ebenso wird die palästinensische Staatsbürgerschaft über den Vater definiert (Abdo 1999). Es gab jedoch auch eine Veränderung in der Rolle der Frauen, dies wurde besonders während der ersten Intifada behauptet. Zu jener Zeit wurde – vor allem wegen der Gründung von Frauenkomitees – von einer „Modernisierung“ der Gesellschaft gesprochen. Doch bereits während der Intifada wurde das Konzept von „Ehre und Schande“ von israelischer Seite für ihre Zwecke verwendet: Samira Haj spricht über die alarmierenden Zahlen von „gefallenen“ 52 Region – Gaza Frauen, die zu Kollaborateurinnen wurden. Vorangegangen war zumeist ein sexueller Angriff von israelischen Soldaten oder Kollaborateuren, anschließend wurde den Frauen gedroht, die sexuellen Übergriffe öffenlich zu machen. So wurden sie zur Zusammenarbeit mit den Israelis gezwungen, um etwa über politische Aktivitäten der PalästinenserInnen zu berichten (Haj 1992). Sexuelle Belästigungen durch Soldaten führten auch zu einer Senkung des Heiratsalters, ein gegenläufiger Trend zu anderen arabischen Ländern. Umm Hussein verheiratete ihre beiden Töchter im Alter von 15 Jahren. Sie „rechtfertigte“ dies folgendermaßen: „We had to marry them off because we did not feel security and safety for our girls, […] because the soldiers sometimes make troubles.“ Foto: Gudrun Kroner abgedrängt: z.B. bekommt die Region nur 19%, das Westjordanland hingegen 81% des Gesamtbudgets für NGO-Projekte, obwohl Gaza 35 % der gesamten palästinensischen Bevölkerung beherbergt und eine höhere Armutsrate und Arbeitslosigkeit aufweist (Hanafi /Tabari 2005: 343). Auch in Berichten über das Tagesgeschehen wird die Region – mit Ausnahme von Berichten über Bombenanschläge – vernachlässigt. Nach der ersten Intifada kam es zu einer weiteren Einschränkung im Leben der Frauen. Es wurde von ihnen erwartet, ihren „ursprünglichen“ Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen. Trotz dieser neuen/alten Einschränkungen mussten immer mehr Frauen neben ihren Haushaltsverpflichtungen arbeiten, damit ihre Familien überleben konnten. Heute ist das Straßenbild Gazas von verschleierten Frauen geprägt, da ab der ersten Intifada Männer Frauen in den Straßen dazu aufforderten, sich zu verschleiern (Hammami 1990) und lange Gewänder zu tragen. Es wurde berichtet, dass Männer Frauen, die sich nicht an die neuen Kleidungsvorschriften hielten, Säure auf die Beine sprühten. Während meiner Forschung konnte ich zwar keine Frau finden, der dies tatsächlich passierte, aber auch wenn dies – wie öfters behauptet – nur Gerüchte waren, der Effekt war derselbe: Frauen änderten ihr Verhalten und ihre Kleidung nicht aufgrund ihrer Überzeugung, sondern aus Angst. Dennoch schufen sich viele Frauen einen – zumindest informellen – Freiraum durch die Abwesenheit der unter der Woche in Israel arbeitenden Männer. Wochentags trafen sich Frauen um z.B. Stickereiarbeiten gemeinsam zu verrichten. Seitdem ihre Männer arbeitslos sind und oft frustriert zu Hause sitzen, fühlen sich manche Frauen sehr eingeschränkt, so Umm Ahmed: „Before I had time to do my work and sit with Umm Naseem and stitch or also go to Gaza to talk with people from the women organisations. Now he is always home, asks me where I go, who I meet. Sometimes he is depressed because there is nothing to do and he cannot bring us money, sometimes he is also aggressive. I miss the old time, but we have to deal with this situation now“. Diese Zitat spricht ein weiteres Problem an: die häusliche Gewalt. In Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie den letzten Jahren stieg die Anzahl von gewaltsamen Übergriffen stark, die Direktorin eines „Women's Empowerment Project“ meint, dass bei einer Untersuchung 65% der befragten Frauen darunter litten, die Dunkelziffer jedoch viel höher sei. Einer der Gründe für den Anstieg sei die ständige Anwesenheit und die Frustration der Männer. Zusätzlich mehrten sich Fälle von Blutrache und Ehrenmorden. Die Verringerung der Bewegungsfreiheit im Alltag wird jedoch nicht nur von der Familie hervorgerufen, sondern v.a. durch israelische Checkpoints. Obwohl Männer und Frauen darunter leiden sind Frauen doppelt betroffen, denn wie Bornstein bemerkt: „For women, the border was a place not of physical but of moral danger. In this case, it was the judgement of other Palestinians that kept women from crossing the border.“ (Bornstein 2001: 80). Eine ehemalige Studentin bekräftigte diese Aussage: „Now I cannot continue with the university, before I came 3 days in one week to Gaza city to attend my lectures. But now because the checkpoint is closed I cannot reach the university […]. I cannot afford to rent a room in Gaza City, also my parents would not allow me to live there alone without relatives.“ In den letzten Monaten hat sich die Lebenssituation für die BewohnerInnen Gazas weiter verschlechtert. Israel hat Gaza offiziell zu einer „enemy/hostile entity“ erklärt, es kontrolliert die Grenzen, den Luftraum, die Küstengebiete, Wasserressourcen und liefert 60 % des Stroms, der nun nach Gutdünken der israelischen Regierung abund angestellt wird. Eine Reaktion auf diese Lebensbedingungen ist die Zuwendung zur Hamas. Viele Frauen wurden in deren Hilfseinrichtungen aktiv, um ihre Familie finanziell zu unterstützen, aber auch junge Frauen, die keine Arbeit finden konnten, wurden in Kleinprojekten gefördert. Der Sieg der Hamas bei den Wahlen hat verschiedene Auswirkungen auf Frauen: Der soziale Druck auf „angemessenes“ Verhalten und Kleidung steigt, andererseits wurden viele Frauen in der HamasBewegung politisch aktiv. Sie agieren nun nicht mehr nur im Haus oder als Unterstützung für ihre Männer, wie man das von einer traditionellen, religiösen Bewegung erwarten könnte, sondern auch im öffentlichen Leben. Die erste gewählte Bürgermeisterin Palästinas kommt aus den Reihen der Hamas. In den Richtlinien der Hamas (www.hamasonline.org) wird behauptet, dass Frauen im Befreiungskampf keine geringere Bedeutung als Männer haben, und dass sie eine große Rolle durch die Erziehung der neuen Generationen innehaben. Auch steht hier, dass es wichtig ist, den Mädchen und Frauen eine Ausbildung in Schulen und Universitäten zu ermöglichen. Dennoch wird gleichzeitig ihre Position eingeschränkt, indem Frauen nur als Mütter und Schwestern von Kämpfern beschrieben werden. Die Situation der BewohnerInnen Gazas verschlechtert sich zusehends. Eine Besserung der Lage ist zurzeit nicht in Sicht. Gudrun Kroner studierte KSA und schloss 2006 ihre Dissertation mit dem Thema „Jenseits von Ortsgebundenheit: Eine komparatistische Analyse von weiblichen Flüchtlingsschicksalen in der arabisch-islamischen Welt“ ab. Derzeit ist sie an der FS Sozanth, ÖAW durch ein Drittmittelprojekt teilbeschäftigt. Sie ist affiliated Researcher am FMRS (Forced Migration and Refugee Studies) an der American University in Cairo. In den letzten Jahren führte sie zahlreiche Feldforschungen in Ägypten (zwei Jahre), Gaza (acht Monate) und Jordanien (drei Monate) durch. Schwerpunkte: Flüchtlingsforschung, Naher Osten, NO-Afrika, Feldforschungsmethoden, Genderstudies. Literatur Abdo, Nahla. Gender and Politics Under the Palestinian Authority. In: Journal of Palestine Studies Vol. 18. No. 2. Berkley, 1999. S. 38-51. Bornstein, Avram S. Crossing the Green Line between the West Bank and Israel. Philadelphia, 2002. Gilen, Signe et al. FAFO Report 177: Finding Ways – Palestinian Coping Strategies in Changing Environments. Oslo, 1994. Graham-Brown, Sarah. Impact on the Social Structure of Palestinian Society. In: Aruri, Naseer (Hg.): Occupation: Israel over Palestine. London, 1984. S. 223- 254. Hammami, Rema. Women, the Hijab and the Intifada. In: Middle Eastern Report No. 164/165. 1990. S.24-28. Hanafi, Sari/Tabari Linda. The Emergence of a Palestinian Globalized Elite: Donors, International Organizations and Local NGOs. Jerusalem, 2005. Sayigh, Rosemary. Palestinians: From Peasants to Revolutionaries, London, 1979. Tuastad, Dag H. The Organisation of Camp Life: The Palestinian Refugee Camp of Bureij, Gaza. In: Hovdenak, Are; Peterson, Jon et al.: Constructing Order: Palestinian Adaptations to Refugee Life. Fafo-Report 236, Oslo, 1997. S. 103-156. Empfehlungen Palestinian Centre for Human Rights (PCHR): www.pchrgaza.org Haaretz daily newspaper Israel: http://www.haaretz.com Region – Gaza 53 Ein historischer Abriss zur Entwicklung des politischen Islams in der Türkei als Gegenideologie zum Kemalismus von SAYA AHMAD Nach dem Khalifat ährend des türkischen Befreiungskriegs (1919–1922) spielte der Islam eine wesentliche Rolle als Mobilisierungsmittel. Nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 änderte sich die Situation jedoch für viele gläubige Muslime radikal. Mustafa Kemal kehrte der Religion den Rücken und führte eine laizistisch-nationalistische Ideologie ein, die durch die Einparteienherrschaft vertreten wurde und deren Religionspolitik jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens tangierte. Zahlreiche Reformen wurden durchgesetzt, die zum Teil auf eine drastische Art und Weise religiöse Elemente der Gesellschaft entfernen sollten. Religion musste sich auf den privaten Raum beschränken, was einen radikalen Bruch mit den praktizierten Traditionen des Osmanischen Reiches bedeutete. Das Säkularisierungsprogramm war jedoch nicht imstande, alle Teile der Bevölkerung zu integrieren, der politische Islam kristallisierte sich als Gegenideologie zum Kemalismus heraus. W Die Jahre danach (1946–1980) 1946 wurde das Mehrparteiensystem eingeführt. Das Jahr wird als großer Erfolg für den politischen Islam in der türkischen Republik gefeiert, denn die Abschaffung der Einparteienherrschaft ebnete den Weg für islamische Kräfte auf die politische Bühne. Tatsache ist, dass die Religion in der Türkei nie ganz von der Bildfläche verschwand. Atatürks Ziel, Religion vom Staat zu trennen, wurde nur teilweise erreicht. Ein großer Teil der Bevölkerung konnte für diese Denkweise nicht gewonnen werden. Dies zeigte sich in den ersten demokratischen Wahlen 1950. Die Republikanische Volkspartei (CHP) Atatürks wurde von der Demokratischen Partei (DP), die auch islamische Kräfte unter ihrem Dach vereinte, geschlagen. Der Militärputsch 1960 wurde nicht zuletzt mit dem Argument geführt, den Laizismus zu retten. Erst in den 1970erJahren erlebten islamistische oder nationalreligiöse Parteien wie die MSP oder die MHP ein Revival. Die Dekade war geprägt von politischen Konflikten, Terroranschläge destabilisierten die Situation im Land. Die Gewaltwelle führte zu einem generellen Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik und schließlich 1980 zum Militärputsch. Diesmal reagierte das Militär gegenüber den islamistischen Kräften vergleichsweise tolerant. Der Islam wurde bewusst eingesetzt, um linke Kräfte zurückzudrängen. Die vorherrschende Ideologie des dreijährigen Militärregimes zielte auf das Zusam- 54 Region – Türkei menspiel von Nationalismus und Islam ab und fand gewisse Resonanz in der Bevölkerung. Der Einfluss von religiösen Orden und Bruderschaften nahm zu. Parlamentarischer Islamismus Als 1983 das Militär einer zivilen Regierung wich, sich jedoch politischen Einfluss sicherte, gelang es der ANAP-Partei mit Turgut Özal an der Spitze, die Wahlen für sich zu entscheiden. Özal gehörte dem NayshidanyOrden an. Bis zum Beginn der 1990erJahre waren die gemäßigten Islamisten damit mächtiger als liberale Kräfte. Orden und Bruderschaften gründeten in diesen Jahren Schulen, Zeitungen und führten Unternehmen. Auch die Liberalisierung des Marktes erleichterte die Islamisierung der Türkei. Viele soziale Leistungen konnten vom Staat nicht finanziert werden, diese Lücke wurde von islamischen Gruppen gefüllt. So entstand in den 1980erJahren in den Großstädten eine neue Generation weltlicher, religiöser Intellektueller. Anfang der 1990erJahre kam die islamistische Refah-Partei unter Erbakan an die Macht. Ihre Führung konnte sie bis 1998 aufrechterhalten. Schließlich spaltete sich die Nachfolgepartei der Refah-Partei in zwei Flügel: einen religiös-liberalen (die AKP unter Erdogan) und einen islamistischen Flügel (die Saadet Partisi unter Erbakan). Ausblick In welche Richtung die Entwicklung der Parteien des politischen Islam geht, ist in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten. Einerseits wird in der Verfassung das Prinzip des Laizismus aufrechterhalten, andererseits wird die Religion von der AKP-Regierung instrumentalisiert, um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Türkei zu einen. Obwohl die AKP ihre Wurzeln in islamistischen Strömungen hat, ist es schwierig, sie einfach nur als islamistisch abzustempeln. Bisher verfolgte die Regierung eher einen Europäisierungsdenn einen Islamisierungskurs. Saya Ahmad, geb. in Kirkuk/Irak, lebt seit 15 Jahren in Österreich. Aufgewachsen in Kärnten, studiert sie seit 2003 Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien und ist Mitarbeiterin der LEEZA (vormals WADI Österreich). Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde in voller Länge in WADI - News Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht. Frauenrechte nur auf „women’s issues“ zu reduzieren, ist ein Schritt in die falsche Richtung von SOMA AHMAD Frauenpartizipation in der Türkei Interview mit Zeynep Alemdar eynep Alemdar ist Assistenz-Professorin für die Abteilung Internationale Beziehungen an der Okan Universität in Istanbul. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Bereichen Zivilgesellschaft, Global Governance sowie Frauen und Politik. Das Interview führte Soma Ahmad, Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI Österreich) im Oktober 2007. Z Wie stark ist die feministische Bewegung in der Türkei? Frauenorganisationen haben in den letzten Jahren an Stärke gewonnen. Einerseits liegt es an der Liberalisierung der Politik in den 1990erJahren, die feministischer Arbeit mehr Freiraum gewährt hat. Andererseits öffnete sich der Spielraum für die türkischen Frauenorganisationen nach dem EU-Gipfel in Helsinki, als die Türkei zu einem Beitrittskandidat deklariert wurde, da sich die Frauenorganisationen nun leichter mit ihren (west-)europäischen PartnerInnen vernetzen konnten. Wie hoch ist die Anzahl der Frauen im Parlament? Heute sind 46 Frauen im Parlament (bei insgesamt 550 Abgeordneten, Anm.). Nach den Wahlen 2002 gab es nur 21 Repräsentantinnen, nach den Wahlen in diesem Jahr (2007) hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Es ist zwar eine große Steigerung, aber die Anzahl der Frauen im Parlament ist immer noch sehr niedrig. Wie beeinflusst die AKP die Frauenbewegung in der Türkei? Die AKP (Adalet ve Kalk¦nma Partisi, die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung ist eine islamischkonservativ ausgerichtete politische Partei in der Türkei, Anm. der Red.) und ihre Vorgänger haben erfolgreich Frauengruppen organisiert. Das Organisieren von Frauengruppen und die Tatsache, dass sich immer mehr Frauen am politischen Geschehen beteiligen, ist eine positive Entwicklung. Aber die viel wichtigere Frage ist, wie viel diese zu einer Verbesserung der Frauenrechte beitragen. Ich persönlich habe gehört, dass eine Parlamentarierin der AKP gefordert hat, dass Frauen nur auf lokaler und nicht auf nationaler oder internationaler Ebene politisch aktiv sein sollen. Ihr Verständnis von Frauenpartizipation ist, dass sich Frauen nur zu „Frauenthemen“ einbringen sollen, nämlich Familienangelegenheiten, Kinderbetreuung etc., aber die „wichtigeren“ Themen sollten die Männer regeln. Wenn man Frauenrechte aber nur auf jene Bereiche reduziert, mit denen klassischerweise Frauen assoziiert werden, und sie dabei gleichzeitig von anderen Aspekten des Policy Makings ausschließt, trägt man nicht wirklich etwas Positives zur Frauenbewegung bei. Welche Änderung wollte die AKP zum Familienstandsrecht durchführen? Als sich der EU-Beitrittsprozess beschleunigt hatte, setzte sich die EU für die Frauen in der Türkei ein. Die AKP hat 2004, trotz der Proteste der Frauenorganisationen, vorgeschlagen, Ehebruch zu kriminalisieren. Die EU war hilfreich, da sie die Regierung unter Druck gesetzt hat, diesen Vorschlag zurückzuziehen. Günter Verheugen, Erweiterungskommissar der EU, hat den türkischen Premierminister und den Parteichef der AKP gewarnt, dass dieses Thema die Kampagne für eine Aufnahme in die EU unterminiere. Im September 2004 einigte sich das türkische Parlament auf den Gesetzesentwurf für das Strafgesetzbuch, der von Frauengruppen – auf Initiative von Women’s Working Group on the Turkish Penal Code – ausgearbeitet worden ist. Was bedeutet kemalistischer Feminismus? Der Kemalismus war die offizielle Staatsideologie in der Türkei seit dem Unabhängigkeitskrieg. Die kemalistische Revolution hat jeden Aspekt des osmanischen Systems abgeschafft, um einen modernen, säkularen türkischen Staat zu gründen. Einige FeministInnen behaupten allerdings, dass der Kemalismus nicht alle Aspekte von Gender umfasst. Soma Ahmad ist Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI Österreich), geboren in Kirkuk, studiert Politikwissenschaft und Arabistik an der Universität Wien. Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde bereits in WADINews Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht. Region – Türkei 55 LEEZA - Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit (vormals WADI Österreich) von MARY KREUTZER Feministische Projekte im Irak und in der Türkei Gelebte Solidarität und Demokratisierung LEEZA (vormals WADI Österreich), ist eine Hilfsorganisation, die emanzipatorische und feministische Projekte im Irak und in der Türkei unterstützt und durch die Zusammenarbeit mit demokratischen ExilantInnen aus dem Nahen Osten und der Türkei einen Beitrag zur Demokratisierung, zur Einhaltung von Menschenrechten und der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Region leistet. ir unterstützen v. a. Projekte mit und für Frauen im Irak, sind aber auch in Europa für die Rechte von AsylwerberInnen und in der Informationsarbeit über den Irak, Syrien, den Sudan und andere Staaten der Region aktiv. Weiters versenden wir kostenlos Newsletter mit aktuellen Informationen und Analysen zum Thema, welche per Mail bei uns bestellt werden können. All diese Aktivitäten geschehen in aktiver Zusammenarbeit mit den demokratischen (oft oppositionellen) Kräften in diesen Staaten. W In der ostanatolischen Hauptstadt Diyarbakir unterstützen wir seit Sommer 2007 das Frauenberatungszentrum EPI-DEM, im Nordirak laufen zur Zeit verschiedene, von uns mitfinanzierten Projekte: Drei Frauenzentren (in Halabja, Biyara und Kifri), der freie Radiosender Dengi Nwe, ein frauengeleitetes Mobiles Team, und eine breit angelegte Anti-FGM-Kampagne. Frauenzentrum in der Osttürkei Hauptziel dieses Projektes ist es, Frauen durch psychologische, medizinische, juridische Hilfe, sowie durch das Angebot eines Alphabetisierungs- und Türkischsprachkurses bei den Problemen, die durch Migration und Urbanisierung für sie entstehen, zu unterstützen. Frauen sollen lernen über ihren Körper selbst zu bestimmen und mit einfachen Methoden Empfängnisverhütung zu betreiben, dabei soll geholfen werden die hohe Rate an Selbstmordversuchen unter Frauen zu senken. Dieses Projekt sieht Alphabetisierungs- und Türkischkurse für kurdischsprachige Frauen vor. Weiters werden in medizinischen und juridischen Seminaren Themen wie Familienplanung, Frauengesundheit, Verhütung, Menschenrechte, und insbesondere Frauenrechte, besprochen. Da Frauen durch die Migration entwurzelt werden und ihr soziales Netzwerk verloren haben, steht ihnen während der gesamten Projektzeit eine Psychologin zur Verfügung. 56 Region – Türkei /Irak Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Frauenzentren im Nordirak Im Irak ist, wie in den meisten Staaten des Nahen Ostens, die öffentliche Sphäre weitgehend den Männern vorbehalten, während die Frauen im Privaten oft unter sich sind. Öffentliche Orte der Begegnung gibt es für Frauen selten. Bildungsmöglichkeiten sind für Männer viel leichter zugänglich als für Frauen. Genau hier sollen die Frauenzentren, die von LEEZA unterstützt werden, gegensteuern und einen Begegnungsraum schaffen, in dem sich Frauen und Mädchen treffen und fortbilden können. Gerade dort, wo der Einfluss reaktionärer Islamisten stark ist, muss Frauen erst wieder ein Zugang zu öffentlichem Handeln ermöglicht werden. In Halabja und in der Region Hawraman, in der die radikalislamistische Ansar al-Islam bis 2003 ein Terrorregime errichtet hatte, wurden nach der Vertreibung der Islamisten drei Frauenzentren eröffnet. In Kifri wurde 2005 ein weiteres Frauenzentrum eröffnet. Dort können Frauen ihre Erfahrungen austauschen und Freiräume selbstbestimmt nützen. Diese Zentren sind mit Bibliothek und Computerraum ausgestattet. Es werden verschiedenste Kurse angeboten, die vom Näh- und Schminkkurs über Alphabetisierungskurse bis zum Computerkurs reichen. Frauen und Mädchen bekommen so nicht nur endlich Zugang zu Bildung, sondern können auch selbst ihren öffentlichen Raum mitgestalten. Frauenhäuser Im Jänner 1999 eröffnete in Suleymaniah das erste Frauenhaus im Nahen Osten außerhalb Israels. 2002 folgte ein weiteres in Hawler / Erbil. In diesen Schutzhäusern finden Frauen Zuflucht, die vor Gewalt in der Familie, „Ehrenmord“ oder Zwangsheirat bedroht sind. Viele Frauen kommen mit selbst- oder fremdzugefügten schweren Verletzungen ins Frauenhaus und benötigen zusätzliche medizinische Betreuung. Die Frauen und Mädchen erhalten hier Unterkunft und Verpflegung, sowie rechtliche und psychosoziale Betreuung. Den betroffenen Frauen wird also nicht nur Schutz vor Gewalt geboten, vielmehr werden sie auch intensiv betreut. Ziel ist es, ihnen wieder ein möglichst selbstbestimmtes Leben außerhalb des Frauenhauses zu ermöglichen. Gewalt gegen Frauen ist keineswegs ein auf den Irak, den Nahen Osten oder die „islamische Welt“ beschränktes Phänomen. Allerdings gibt es in den meisten Staaten des Nahen Ostens bislang wesentlich weniger bis gar keine Einrichtungen für Frauen, die einer unerträglichen Situation entfliehen wollen. Unsere Frauenhäuser sollen einen ersten kleinen Beitrag leisten, auch hier das Bewusstsein der politisch Verantwortlichen und der Gesellschaften zu verändern und die Notwendigkeit von Einrichtungen für Frauen, die Unterstützung benötigen, sichtbar zu machen. Frauengeführte mobile Teams Seit 2003 betreuen sechs mobile Teams Frauen und Kinder in den Regionen Mossul, Hawler/Erbil, Kirkuk, Suleymaniah, Halabja und Germian. Die Teams bestehen aus einer Ärztin und einer Krankenschwester, die Gesundheitsberatung und ambulante Untersuchungen anbieten, sowie aus einer Sozialarbeiterin bzw. Psychologin, die den Frauen in rechtlichen und psychosozialen Fragen zur Seite steht. Die Aufklärung über Frauenrechte und die Thematisierung von Gewalt in der Familie tragen dazu bei, die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Kindern zu stärken. Zusätzlich erhalten besonders bedürftige Familien materielle Unterstützung in Form von Lebensmitteln, Kleidung und Medizin. Die mobilen Teams setzen sich dabei aus gebildeten jungen Frauen der jeweiligen Region zusammen. In multiethnischen Regionen, wie Kirkuk wird darauf geachtet, dass auch die unterschiedlichen Sprachgruppen in einem Team gemeinsam vertreten sind, was das Vertrauen der lokalen Bevölkerung in die mobilen Teams stärkt. Viele Frauen in den Dörfern haben durch die Ärztinnen der mobilen Teams erstmals Zugang zu medizinischer Versorgung und Beratung. Dabei werden auch Daten über die allgemeine gesundheitliche und soziale Situation in den Dörfern aufgenommen, um langfristige Verbesserungen zu erreichen. Kampagne gegen Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) Diese frauengeführten mobilen Teams organisieren seit mehreren Jahren in den verschiedenen Regionen des Nordirak Frauenversammlungen, diskutieren über gesundheitliche sowie gesellschaftliche Probleme und leisten Hilfestellung. Dabei wurden die Mitarbeiterinnen der Teams immer wieder mit der Existenz von Weiblicher Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation) konfrontiert. Im Oktober und November 2004 wurde eine erste Erhebung in ca. 40 Dörfern der Region Germian (im südlichen Nordirak) durchgeführt, deren Ergebnis zeigte, dass etwa 60 Prozent der Frauen und Mädchen unter 10 Jahren beschnitten worden waren. Eine umfassendere Studie soll in Zukunft Daten über die Verbreitung von FGM liefern, die für politisch MandatsträgerInnen und NGOs zur Verfügung stehen sollen. Im Sommer 2005 wurde ein Aufklärungsfilm über die schädlichen Konsequenzen von FGM gedreht, Region – Türkei /Irak 57 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie der nun von den Teams mittels mobiler Kinovorstellungen in den Dörfern und Städten der Region gezeigt wird. Freies Radio für Frauen und Jugendliche Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes entstand im Irak ein Freiraum für neue Medien, der trotz des anhaltenden Terrors und der patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen genutzt wird. Zum Beispiel von jenen Frauen und Jugendlichen im nordirakischen Gebiet von Shara Sur, Halabja und Hawraman, die mit dem Sender Dengue Nwe (Neue Stimme) ein einzigartiges Projekt umsetzten: Sie gründeten ein dezidiert parteiunabhängiges Community-Radio, das nach acht Monaten Vorbereitungszeit und Probebetrieb im September 2005 live on air ging. Der Sender besteht aus sechs Mitarbeiterinnen und vier Mitarbeitern. Sie sind allesamt Überlebende des Giftgasangriffs Saddam Husseins auf Halabja und teilen das Trauma von Tod und Vertreibung, Flucht und Exil, Rückkehr und Internierung in so genannten Collective Towns. Thematisch umfasst das Radioprogramm gesellschaftsrelevante Aspekte wie u.a. Umgang mit Behinderungen, Gewalt an Frauen und Jugendlichen, Gesundheit, Sexualität und den rechtlichen Status von Frauen. Dadurch soll das Bewusstsein für Frauenrechte und das Verständnis für die Jugend gestärkt werden. Frauen wird ein öffentliches Forum geboten, in dem sie über ihre Situation und Erfahrungen berichten können. Den TeilnehmerInnen soll dabei auch die Fähigkeit zu journalistischer Arbeit vermittelt werden. Weiters will das Team über Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Hintergrundinformationen zu Ausbildungsmöglichkeiten, Musik, Mode, sowie internationale Kultur berichten. der – zurzeit doch sehr zahlreichen und aufwendigen – Projekte unterstützt, macht uns immer wieder zu schaffen. Als klassische NGO sehen wir uns nicht. Wir bieten eine Struktur, in der sich feministische und demokratische Personen engagieren können: Es können Projekte konzipiert und besucht, JournalistInnen-Aufenthalte organisiert und Kontakte mit Gleichgesinnten im Nahen Osten und in der Türkei gepflegt und genutzt werden. Das ist unser Beitrag zur Demokratisierung des Nahen Ostens, gegen die Schürung von Feindbildern und für gelebte Solidarität auf Augenhöhe. Mary Kreutzer ist Mitbegründerin von LEEZA (vormals WADI Österreich). Sie ist Politikwissenschafterin, Redakteurin der Zeitschrift der „Liga für Menschenrechte“ und Vorstandsmitglied der „Gesellschaft für kritische Antisemitismusforschung“ (www.antisemitismusforschung.net). Zuletzt forschte sie über weibliche Genitalverstümmelung (FGM) in Spanien für die spanische Ausgabe von „Schmerzenskinder“ (Waris Dirie/Corinna Milborn) und leitete die Recherche für das Buch „Festung Europa“ (Corinna Milborn). Zur Zeit schreibt sie ein Buch über Frauenhandel von Afrika nach Europa. Kontakt LEEZA (vormals Wadi Österreich) Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit [email protected] www.leeza.at Tel.: 0699-11365509 Postfach 105, 1181 Wien Und die Finanzierung? Für die Projekte in der Türkei und im Irak erhalten wir ausschließlich „Ko-Finanzierungen“. Das heißt, dass ein Teil der Gelder aus Spenden bestehen muss, um Anspruch auf öffentliche Gelder der OEZA (Österreichische Entwicklungszusammenarbeit) geltend machen zu können. Auch die Stadt Wien, der Weltgebetstag der Frauen, das Land Oberösterreich und amnesty international unterstützen unsere Projekte. In Österreich engagieren sich die zehn LEEZAMitarbeiterInnen ehrenamtlich. Da es keine Basisfinanzierung für uns gibt, können wir auch leider kein Büro unterhalten und müssen von zu Hause aus arbeiten. Auch der Umstand, dass wir dringend zumindest eine Bürokraft bräuchten, die uns bei den Abrechnung 58 Region – Türkei /Irak Spendenkonto LEEZA Knt. Nr.: 6.955.355 BLZ: 32.000, Raiffeisen Landesbank NÖ Literaturtipps Zeitschrift des Vereins LEEZA (wird kostenlos per Post zugeschickt) Mary Kreutzer, Thomas Schmidinger (Hg.), Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? ça ira Verlag, 2004 Eine journalistische Reflexion über das Verhältnis des Helfers zum Opfer. von MONIKA MARIA KALCISC Der Helfer braucht das Opfer Wer hilft wem? s muss Anfang April gewesen sein. Anfang April vor vier Jahren. Über der Grenze tobte ein Krieg von dem ich nichts sah, aber vieles mitbekam. Es war ein sonnendurchtränkter lauer Abend. Wir saßen in einem großen Patio eines weiß gestrichenen einstöckigen Vierkanthauses; eine kleine Gruppe von acht Leuten. Unsere gemeinsame Sprache war Englisch. Wir lachten über unseren Akzent. Sie redeten ein Arabisch-Englisch und ich ein Deutsch-Englisch. Wir unterhielten uns über unsere Studien, unsere Familien, unsere Leben in Wien und in Bagdad. Sie waren Flüchtlinge aus dem Irak und ich war Katastrophenhelferin aus Österreich. Wir befanden uns im syrisch-irakischen Grenzgebiet. Es war mein erster Einsatz, der mich lehrte, nichts zu glauben, was ich nicht selbst gesehen habe. Das Kriegsopfer saß vor mir und war Mensch. Kein Entmündigter. Kein hilfloses Objekt. Das Opfer trug eine schöne Lederjacke, die nicht zu ihm passte, fanden MedienvertreterInnen und Hilfsorganisationen, denn Flüchtlinge sehen so nicht aus. Seit damals weiß ich: Nicht jedes Opfer eignet sich als Opfer. Wir suchen es uns aus. E Je besser sich die Betroffenengeschichten an das schlechte Gewissen der satten Gesellschaft verkaufen lassen, desto mehr wird darüber berichtet und gespendet. Indien hatte nach der Tsunami-Katastrophe das mediale Nachsehen, denn die umgekommenen TouristInnen hatten die falsche Nationalität: Es waren fast ausschließlich Einheimische. Als im Juni 2005 im westafrikanischen Niger die Hirseernte wegen Dürre ausfiel, organisierten wir vor Ort Nothilfe mit den lokalen Caritas-Partnern. Das Geld für die Lebensmittelversorgung der betroffenen Menschen ging uns aus. Die Öffentlichkeit erreichten wir nicht, denn Niger war keine News-Katastrophe. Wenn es zum Sterben kommt auf Europas südlichem Nachbarkontinent, dann heben wir kurz ein Augenbraue hoch, um uns enttäuscht wieder abzuwenden, denn: nichts Neues aus Afrika. Doch dann im Juli ein Aufschrei, der mediales Gehör fand. In einem Spital in Maradi: dürre Babys mit aufgeblähten Bäuchen und Ärmchen, die kleiner sind als die Infusionsnadeln, die in die ausgezehrten Körper gestochen werden. Bändchen in drei Farben markieren den Grad der Lebenschancen: rot für die fast schon Toten, grün für die man noch Hoffnung hat und weiß für die Überlebenden. Das hat Dramatik. TV-Teams rücken heran. Auf der Suche nach den Opfern plötzlich die Feststellung: Hier fehlen die Toten. Nicht die stillen Tode in den Dörfern, die das gestresste Auge des Kriegsreporters nicht erreichen, nein, es fehlt die sichtbare Masse. Ich finde es befremdend, wenn ich sehe, wie mit Opfern von Katastrophen Geschäfte gemacht werden. Ich sollte mich mittlerweile daran gewöhnt haben – an berechnende Plus-Minus-Kalkulationen von Medien genauso wie an das Katastrophenmanagement von PolitikerInnen, Behörden und NGOs. Der Wunsch zu helfen ist nicht genug. Das haben mich Hilfsorganisationen gelehrt, die wie Heuschreckenschwärme in ein Katastrophengebiet einfallen und nach kurzer Zeit wieder abziehen. Kein Opfer will einen Helfer, der es gut meint, aber nicht gut kann. Der hilflose Helfer braucht aber das Opfer, um seine Erfüllung zu finden: Ich bin du und du bist ich. Das Opfer wird zum Mittel, damit der Helfer zu sich findet: Dein Leid ist mein Leid. Es wird gehandelt, ohne zu hinterfragen. Das Opfer verliert in der Not seine letzte Würde, weil falsche Hilfe über ihm ausgeschüttet wird. Ihm wird die einfachste und gleichzeitig so schwere Frage nicht gestellt: Was brauchst du? Ich tue nichts für dich, sondern mit dir. Ich habe kein Mitleid, sondern Mitgefühl. Hilfreich sein ohne paternalistisches Gehabe funktioniert. Was daraus folgt ist der sinnvollste Moment meiner Hilfsarbeit: Ich mache mich selbst überflüssig. Monika Maria Kalcsics ist Radiojournalistin und Katastrophenhelferin. Sie studierte Politikwissenschaft und Spanisch in Innsbruck, Madrid und Mexico City. Seit 2000 arbeitet sie als Freie Mitarbeiterin beim ORF, im Radiosender Österreich 1. Seit 2003 leistet sie Katastrophenhilfe für Caritas Österreich und Caritas Internationalis. Anm. d. Red.: Dieser Beitrag entstand für die Ö1 Sendung „Diagonal“ und wurde am 18.11.2006 ausgestrahlt. Region – Irak 59 Der Cyberspace als virtuelle Kampfzone für extreme Ideologien von CHRISTIAN MAZAL Hindu-Nationalismus im Cyberspace Virtuelle Identitäten und reale Gewalt „The most alarming development in Indian context has been the rise of rabid Hindutva for the creation of a Hindu nation“ (Radhakrishnan 2004). Der Boom der Informations- und Kommunikationstechnologien in Indien bietet neue Berufsfelder, in den Städten wächst eine gebildete und mobile Mittelschicht heran. Zugleich verstärkt sich der soziale Kontrast zur Mehrheit der Bevölkerung, die auf dem Land oder auch in den Slums der Metropolen lebt. Nach wie vor wird die Gesellschaftsordnung vom hinduistischen Kastensystem geprägt. Die soziale Spaltung setzt sich im eingeschränkten Zugang zum Internet fort. „The result is continued upper-caste dominance in the professions, business, culture and the world of Information Technology“ (Omvedt 2004). Im Cyberspace, also in virtuell interaktiv und damit sozialen Räumen, kommt es in letzter Zeit vermehrt zu kulturellen und religiösen Identitätskonstruktionen. So wird einerseits der spirituelle Hinduismus präsentiert, andererseits aber auch die Ideologie der Hindutva, die ich im Folgenden näher erläutern möchte. 60 Region – Indien ie Einheit aller Hindus in einem Hindu-Staat ist das politische Ziel des Neo-Hinduismus. Dieses soll durch eine neu interpretierte Gemeinsamkeit der indischen Geschichte, Nation, Kultur und Religion verwirklicht werden. Die Kombination aus Religion und nationalistischer Politik zeichnet sich durch die Abgrenzung zum Islam, Christentum und politischen Säkularismus aus. Dieser Aufbau von Feindbildern birgt sozialen und politischen Sprengstoff und führt zu „disastrous consequences for the secular and pluralist nature of Indian democracy, for the diversity of Hinduism, and for minority religions“ (Radhakrishnan 2004). Das Konzept einer politischen Hindu-Identität wurde bereits in den 1920er Jahren von Vinayak Savarkar entwickelt, der für einen gewaltsamen Befreiungskampf gegen die britischen Kolonialherren eintrat. Er prägte für seine hindunationalistische Ideologie die Bezeichnung Hindutva (Hindutum). Das Blut der eingewanderten Arya, das sich mit der ansässigen Bevölkerung vermischte, bildet die Grundlage dieser Identität. „For Savarkar, Hindutva, the essence of the Hindu, comprised a common nation, a common civilization and a common ‚race‘. This idea of ‚race‘ was defined by the blood that Hindus share and which has flowed down from the ancient Vedic fathers“ (Bhatt/Mukta 2000). Diese Vorstellungen finden sich in den religiösnationalistischen Ideologien der Gegenwart wieder und erweisen sich als markantes Beispiel für die Erfindung einer „ursprünglichen Tradition“ im Dienste einer Politik der Ausgrenzung. D Das Netzwerk Im Jahr 1925 als patriotische Freiwilligenbewegung gegründet, besitzt der Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS bis heute größten Einfluss als ideologische Dachorganisation des Hindu-Nationalismus. Die emotionale Basis für die Konstruktion der Hindu-Identität liegt in der Personifizierung und Verehrung Indiens als Bharat Mata (Mutter Indien). Der RSS organisiert paramilitärische Trainingslager für männliche Hindus, „so that they would be able to fight for Hindutva“ (Bhatt/Mukta 2000). Die zweite Achse bildet der Vishva Hindu Parishad (VHP) mit dem Ziel der Verbreitung des HinduNationalismus und des Widerstands gegen Verwestlichung, Kommunismus und „fremde“ Religionen. „Die dem Hinduismus zugrunde liegende ethnische, religiöse und linguistische Vielfalt wird Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie einer uniformen Einheit von Staat, Religion und Nation geopfert, die durch die Arisierung und Sanskritisierung ganz Indiens erreicht werden soll“ (Ceming 2004). Die Niederlassungen des VHP in den Ländern der indischen Diaspora bilden ein ideologisches und finanzielles Netzwerk zwischen den EmigrantInnen und ihrer alten Heimat. Als politischer Arm dient dabei die indische Volkspartei Bharatiya Janata Party (BJP), die für das traditionelle Kastensystem und gegen die staatliche Förderung niederer Kasten und Dalits eintritt. Zum Sangh Parivar, der Familie der Hindutva, zählen neben vielen lokalen Vorfeldorganisationen auch die Frauenbewegung Rashtriya Sevika Samiti, der Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad für StudentInnen, die Gewerkschaft Bharatiya Mazdoor Sangh, der Bajrang Dal mit seinen bewaffneten Jugendbanden und die Partei Shiv Sena. Von Bal Thackeray gegründet, hat sich diese als militante politische Kraft vor allem in Mumbai etabliert: „Die Schlägertrupps der Shiv Sena sind nicht nur bei fast allen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen an vorderster Front, sondern sie sind auch oftmals deren Drahtzieher“. Thackerays Vision von Indien ist Hindustan, „ein religiös dominierter Staat, in dem ausschließlich die Gesetze des Hinduismus Gültigkeit haben“ (Ceming 2004). Neo-Hinduismus online Verbreitet wird die Ideologie der Hindutva über ein internationales Netz neo-hinduistischer Websites. So bietet etwa das Hindu Students Council ein Forum für StudentInnen in den USA und wirbt über das Interesse an Kultur und Yoga, Gesundheits- und Umweltthemen für das rechte Hindutum. Moralische und finanzielle Unterstützung bekommt das Netzwerk von der wachsenden Hindu-Mittelschicht inner- und außerhalb Indiens. Die Angst vor kultureller Entfremdung macht indische EmigrantInnen empfänglich für die Attraktivität einer transnationalen Hindugemeinschaft mit ihrem kulturellen Identifikationsmodell und kultischen Angeboten. „The dependence on cults […] for very materialistic ends signals a frantic need to latch onto certainties in the face of the destabilizing pulls of modernization and globalization“ (Robinson 2004). Die leicht verdauliche Kombination von Materialismus, indischer Spiritualität und nationalem Stolz punktet durch ihre Kompatibilität mit den ökonomischen Interessen der Mittelklasse und scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Eine für die global community des Internets verfasste Einführung in den Hinduismus präsentiert die Website Hindu Unity. Der Glaube an den einen Gott, der sich in der Welt inkarniert, bildet die Basis des Hindu-Seins. Unter den Inkarnationen wird Lord Rama zuerst genannt, er verweist auf das mythologische Königreich Ayodhya im Epos Ramayana. Nationalistische Gruppen setzen den Geburtsort des Götterkönigs Ram mit der heutigen Stadt Ayodhya im Bundesstaat Uttar Pradesh gleich. Dort stand die 1528 angeblich auf den Trümmern eines RamTempels erbaute Babri Masjid, jene Moschee, die am 6. Dezember 1992 von Hindu-AktivistInnen im Rahmen einer Welle anti-muslimischer Gewalttaten zerstört wurde. Den NationalistInnen gilt Ayodhya als „das geistige Zentrum der Hindu-Nation und Ram ihr Führer und Herrscher. Das ideologische Schlagwort lautet Ramraj (Herrschaft Rams)“ (Ceming 2004). Auch im täglichen Leben finden sich Beispiele für die Neuinterpretation alter Werte: Um dem Bedeutungsverlust des im brahmanischen Hinduismus strikt empfohlenen Vegetarismus entgegenzutreten, wird persönliches Verhalten mit sozialen Phänomenen verknüpft: „Yes, there are numerous Hindus who eat meat […]. The suffering that such deeds bring are visible all over the world. Immorality, cruelty, lack of ethical behavior etc are the results of it. In these times, incest, teen pregnancy, abortions, premarital sex, lack of respect for parents, Gurus and Saints is rampant“ (URL 1). Hier wird ein kulturelles Konstruktionselement der Identität in einen völlig neuen gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang gestellt. Der Trend zu einer Dogmatisierung und Angleichung an fundamentalistische Positionen zieht sich wie ein roter Faden durch den neohinduistischen Cyberspace. „All You Need to Know About the World's Oldest Faith“ Reichhaltiges Material zur religiösen und kulturellen Identitätsfindung bietet die Website Himalayan Academy. Unter den neun Glaubenswahrheiten des Hinduismus wird auch die Gewaltfreiheit (ahimsa) genannt: „Hindus believe that all life is sacred […] and therefore practice ahimsa, noninjury, in thought, word and deed“ (URL 2). Ahimsa, die wesentlich zum friedlichen und toleranten Erscheinungsbild des Hinduismus online beitragen soll, stößt jedoch bei Hindu Unity auf klare Grenzen, wenn es gilt, die heilige Ordnung (dharma) zu verteidigen: „When Dharma is under attack by rogues of uncivilized barbarians, then the concept of Ahimsa becomes useless.“ Dem ideologischen Kampf soll keine Glaubenswahrheit im Wege stehen. „Ahimsa only works when dealing with civilized cultures. Unfortunately we don't live in civilized times” (URL 3). Militante Abgrenzung Identitätsstiftend wirkt besonders der Kampf gegen alles „Fremde“. Mit dem Argument, dass ihre heiligen Zentren außerhalb Indiens liegen, wird bevorzugt Region – Indien 61 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie MuslimInnen und ChristInnen die Identifikation mit dem „heiligen Mutterland“ abgesprochen. Die behauptete Bedrohung der hinduistischen Mehrheit durch privilegierte Minderheiten dient als ständige Rechtfertigung der Mobilisierung zum kulturellen Abwehrkampf: „Hinduism is on the attack from three main groups and each is as dangerous as the other. Firstly, the Christians have an upper hand on us with the economies under their control, secondly the petro-dollars in the hands of the Muslims and thirdly, from within us, the Hindus who […] believe that Hinduism can survive the onslaught in modern times“ (URL 4). Der Ton wird noch militaristischer, etwa im Motto: „Hinduize politics and militarize Hindus!“ oder im Aufruf: „CHOOSE DEATH BEFORE DISHONOR! IF YOU ARE A HINDU, THERE IS NOTHING MORE IMPORTANT IN THIS WORLD THAN YOUR MOTHER LAND - BHARAT! FIGHT IF YOU MUST! DIE IF YOU MUST! NO HINDU CAN ASK FOR A BETTER DEATH THAN DEFENDING THEIR MAATRU BHOOMI (MOTHER LAND)“ (URL 5). Literatur Virtueller Kampf und reale Gewalt URL 3: http://hinduunity.org/aboutus.html Bhatt, Chetan and Parita Mukta. Hindutva in the West. mapping the antonomies of diaspora nationalism. In: Ethnic and Racial Studies Vol. 23 No. 3. Routledge, London 2000. S. 407 – 441. Ceming, Katharina. Hinduismus – Auf dem Weg vom Universalismus zum Fundamentalismus. polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5, 2004. Omvedt, Gail. Untouchables In The World Of IT. Panos Features, 2004.www.panos.org.uk/newsfeatures/featureprinteable. asp?id=1177 (04.05.2007) Radhakrishnan, P.. Religion under Globalisation. In: Economic and Political Weekly, March 27, 2004. http://www.epw.org.in Robinson, Rowena. Virtual Warfare: The Internet as the New Site for Global Religious Conflict. In: Asian Journal of Social Science, Vol. 32, No. 2, 2004. S. 198 – 215. Internet URL 1: http://hinduunity.org/basics.html#veg URL 2: http://www.himalayanacademy.com/basics/nineb/ URL 4: http://hinduunity.org/aboutus.html Der Errichtung einer Hindu-Nation (Hindu Rashtra) hat sich auch die Website Saffron Tigers verschrieben, „a Hindu organization of Young, educated, fearless and robust Hindu students […]. We have pledged to die for the cause of Hindu-Rashtra and to liberate our mother from the clutches of dirty Muslims and Indian politicians.“ (URL 6). Die historische Mogul-Herrschaft und die (von beiden Seiten verübten) Massenmorde bei der Teilung der britischen Kolonie in Indien und Pakistan (mit dem späteren Bangladesch) werden mit dem ungelösten Konflikt um Kaschmir und den Terroranschlägen radikaler muslimischer Gruppen im heutigen Indien verknüpft. Die Konstruktion der eigenen Identität durch Ausgrenzung mündet im Aufruf zur Gewalt: „The […] degraded terrorists don't deserve a fair trial. They need to be shot, shot on sight.“ (URL 7). So erweist sich der Cyberspace als virtuelle Kampfzone einer Ideologie, die sich mit ihrem religiös-nationalistischen Diskurs und ihrer gewaltbereiten Politik gegen eigenständige kulturelle Identitäten und das Existenzrecht ganzer Bevölkerungsgruppen richtet. Christian Mazal studierte Theologie in Wien und arbeitete jahrelang im EZA-Bereich mit den Schwerpunkten Management, Öffentlichkeitsarbeit und Reportagefotografie. Zurzeit betreut er am Afro-Asiatischen Institut in Wien internationale StipendiatInnen und schreibt am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie seine Dissertation über die Identitätskonstruktionen der Hindutva im Cyberspace. Fotopublikation: Nürnberg / Mazal (2003): Quellwärts. Brücken zwischen Nord und Süd. Verlag Christian Brandstätter, Wien. 62 Region – Indien URL 5: http://hinduunity.org/index.html URL 6: http://www.hinduunity.org/ saffrontigers/About_Us.html URL 7: http://www.hinduunity.org/ saffrontigers/islamq1.html http://them.polylog.org/5/ack-de.htm (26.03.2007) Bharatiya Janata Party BJP www.bjp.org Bajrang Dal www.hinduunity.org/bajrangdal.html Hindu Students Council www.hscnet.org Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS www.rss.org Vishva Hindu Parishad VHP www.vhp.org Die Ikone des jungen Indiens meint, dass gewaltbereite ExtremistInnen die eigentliche Minderheit sind von MEHRU JAFFER Seriously Shah Rukh Bollywoodlegend speaks on social issues hah Rukh is originally from Delhi and came to Mumbai nearly two decades ago with little except passion to make it in the world of cinema. No Godfather like figure exists in his life and the fruit of success that he enjoys today are a result of his own hard work. Although Shah Rukh is a Muslim he remains a living example of the majority in India who pride themselves on being Indian first and then Muslim, Hindu, South Indian, North Indian etc. despite the confusion caused within the country by fanatics and fundamentalists, including radical Hindus and Muslims who in their ignorance and arrogance are unable to celebrate the colourful contrasts that enrich Indian society. India is perhaps unique where protected by a secular constitution people of different ethnic and religious groups continue to freely express themselves in a variety of different languages, clothes and cuisine. The country remains joyously united in all its diversity and also in its undying adoration of Shah Rukh Khan, the Badshah of Bollywood. However the most celebrated matinee idol and high profile Indian Muslim sees himself merely as a monkey. S Apart from being the darling of the Indian film industry, Shah Rukh Khan is of great political importance. Today he is the most inspiring member of the Indian Muslim community that is the largest minority in the world at 12 percent of the total Indian population of more than one billion. This interview with him took place on the sets of “Swades” in February 2004, just before sunrise. It was on the eve of the general election in India that was held in four phases between April 20 and May 10 in the same year. Therefore many questions asked of Shah Rukh concern politics of the day. He is a role model for all minorities as his life is so spectacularly successful. What do you mean by saying that you are a mere monkey? When I was a child I once saw a monkey dance. Ever since I have wanted to thrill people like the monkey had thrilled me with its performance. That today I am the most famous monkey in India only adds to the thrill. But it does not change the fact that I am a monkey. It is just a job I do. It is not more or less important than what most other people do for living. Apart from being India’s most famous monkey you are also a very influential member of the country’s large but minority Muslim community? I am a Muslim, but first and foremost I am Indian and I am proud to be an Indian. Very proud. Besides you can’t take my performance on stage seriously; always remember that I am only acting. I look at films as pure entertainment. I cannot take a film too seriously. Even in films like Lagaan I enjoyed the cricket match but missed the social message, if any. Perhaps I am too shallow to concentrate on social issues while making a film. Do you think Indian Muslims, 12 percent of India’s more than one billion population face a crisis today? You mention the word crisis. By mentioning it, by recognising it, by bringing it to my notice even if the crisis did not exist, you make it exist. If you spot the crisis don’t you also spot how secular India is, the goodness that also exists in this country? Region – Indien 63 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Muslim leaders tell us that secularism in India is on the decline? I am a living example that it is not. The most influential member of the minority community, as you call me is also a superstar in India today. This would not be possible if only Muslims had appreciated me. Take it from there instead of just picking on the crisis part of it. Is everything all right then with the Muslim community? Of course there are problems. But problems of poverty and illiteracy are problems of the country, not just of Muslims. I hear that Muslims are illtreated and also that Muslims are terrorists. That is too simplistic. It is true that some very sad things have happened to Muslims. Gujarat is very sad. But what makes me most sad is that people died in Gujarat. When I hear about riots and violence I don’t count how many Muslims died before I become sad. When sad things happen in the country I am sad and when good things happen here, I am happy. Why do Muslims feel that they are ill-treated and why does the world look upon Muslims as terrorists? What is happening in Kashmir and what happened in Gujarat is way beyond my understanding. I don’t know why these things happen. But I also try not to take a too simplistic view of things and reduce it to this is right and this is wrong. However, without getting into the complexity of the problem I must say that what saddens me is violence against anyone. Whenever people are killed in the country it is shameful not just when Muslims are killed. I know that there is a problem – that there is a crisis – but there is a sunshine side to it too. People from the minority community are also doing well and dominating life in the country. This speaks volumes for the state of the minorities. And I do not look upon reservations that will benefit the minorities. What should the minorities do to improve their image? I think it is possible to do well in this country if religion is practiced in the private realm. We must live and work in this country beyond religion. When we look around us we should keep in mind that we as Indians have a problem and the problems in this country concern not just the minorities. The more we keep harping upon the differences between Hindus and Muslims the more harm we will do to each other as Indians. During a riot it is one bloody Indian fighting another bloody Indian. 64 Region – Indien What is the role of politics in a communal riot? Around the world politicians use communalism and religion to promote their respective agendas. This is wrong. Then, there are fanatics in every religion not only in Islam. But to me the fanatics and extremists are the real minority. It is not Christians, Muslims and Sikhs who are the minority but communal, violent people. And you should, I should and we all should point this out till this small minority of fanatics is seen and recognised by everyone for what they really are and exposed forever. The majority of Indians want to live and work in a peaceful environment and should stand up to the destructive forces of evil. Muslim politicians tell us that the minorities face the danger of being sidelined in India today? These politicians, I am sure they are very knowledgeable and better informed than I am. And if they have taken that stand they must be right and they must have information that I don’t have access to. What I would like to say to them is that I don’t like communalism and sectarianism. I am no politician. My life is totally apolitical. And I am sure that when people decide to go into politics their intentions are noble and they like to protect themselves and their larger family of voters. Just like I need power to run my family – to always be in control. But then if I loose perspective and allow myself to be misled that will lead to chaos. What about institutions like the Minority Commission? I know nothing about them. But if they exist there must be a reason. If they were set up to protect the rights of the minorities, then I hope they are doing their job. Do you vote? It is complicated for me to do so. My family votes. And yes, I have voted once in my life. Why would you take the trouble to vote, if ever you decide to do so in the future? That way I hope to help someone to guide the country. I am a capitalist by nature. I believe in hard work and the need for a strong head of state who is in control and takes good care of the community. When I vote, I hope that the person who gets my vote will make life easier for ordinary people. I believe in giving power to the politician to take care of some of my needs in public life. And this I can say from the bottom of my heart that every politician who Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie contests elections does have the good of the community in mind, but somewhere along the way politicians get lost and begin to think more of themselves than of the people. India has had more than half a century to attend to its problems. What has the country achieved in all these decades? Much has been achieved but the problems have also multiplied. I personally feel that India has made progress. Over the past two decades I have been made aware how huge the country is and the enormity of its problems and I think India has done very well. We are far more selfcontained than before. Japan was considered such a role model of progress but I found its lifestyle totally virtual. When I look around I find some virtuality here as well. But India is far more real and we have made some real progress. The problem of moving things at the grassroots remains. Maybe it will take another 50 years for that to be achieved. That is all right as I have the patience to go on working hard and to see that too happen one day. What bothers you most about the state of India today? That there are no roadside toilets for women. I am a small man with a small mind and this small problem bothers me most about India. I feel very sad when I travel by train and see women lined up along the railway tracks in the morning. It hurts me. It makes me feel that my mother and my sister are sitting there. With your kind of wealth and influence what are you doing about a simple problem like this one? If there is anything I can do about it, I will. This problem has played on my mind for a long time and as soon as I feel ready I would like to invest in a project that will line the country with toilets only for women, inshahallah. What is it that gives you the most pleasure about being an Indian today? That I am liked wherever I go in India today. I feel so fortunate. Although, when I travel abroad people do give me a warm reception and sing my praises but there is nothing to beat the warmth and ease of people and life in India. The standard of life here is so high. And I don’t say that because I am a rich person. I have found that even those who are not wealthy seem to give so easily in this country. Even those with few possessions are warm and friendly. I like the way I am able to work in this country. I often hear that Indians are lazy and slow. That is not true of the people I work with or all those Indians who have made a name in the world. I am very proud of Indians like Sabir Bhatia, the Tatas and the Birlas. Sometimes I get the feeling that the economy of the world is perhaps run by people of Indian origin. That is such a great high. You said that you are making an effort to rediscover Islam. Why now? Now I am a father. I have to read up on various subjects, including religion. When my children ask me questions about God, I have to give them an answer. But I am happiest when my son defines God as Ganesh Allah. I don’t want that to change. That sounds so right to me. I tell my son, God, Allah and Bhagwan are all one. My daughter is still too young to ask questions like these. What role does religion play in your personal life? I am God fearing and would not do anything to make God unhappy. I smoke and apologise to God for the bad habit. I believe in heaven and hell. In this life or in the afterlife? Here, in this life. I don’t think that the other world has room for concepts like heaven or hell. It is all here. I can feel it here. Up there, I imagine the world endlessly serene and peaceful. What is most important to you in life? Whatever is most important to everyone else. My family is important to me, my relationships, my job…like whatever is important to you. What is important to me affects only my life but what you do influences society. You can inspire an entire generation by lifting an eyebrow. Do you see that difference? Look, I can sit here and give you a whole spin on how important I am. That would not be true. A pilot does a far more amazing job; flying an aeroplane is more important than what I do. My job is only to entertain and in the bargain, if I am put on a pedestal and called a super star that is not of my choosing. Does your unreal life bother you sometimes? No, not at all. Not when I see the benefits that I reap from such a life. All my life I wanted to be a rock star and now that I am one, you can’t expect me to be unhappy about it. I always wanted to be this and now I can’t use it as an excuse to be someone else. No, I am very happy being what I am. And I am very thankful to my audience for helping me to realise my dream. Mehru Jaffer ist Journalistin und Autorin des Buches „The Book of Muhammad“. Sie lebt und arbeitet in Wien. Anm. d. Red.: „Seriously Shah Rukh“ von Mehru Jaffer erschien im April 2004 im indischen „Hardnews“ Magazin. Das Interview entstand während der Dreharbeiten zu dem späteren Bollywood-Blockbuster „Swades“ (Heimat). Region – Indien 65 Subbudu, Bharatanatyam und die indische Tanzkritik – kulturpolitische Betrachtungen. von ERIKA NEUBER Die Politisierung der Tanzkultur Vom Tempel auf die Weltbühne Foto: Christian Mazal Bharatanatyam als heute äußerst populärer, klassischer indischer Tanzstil steht im Brennpunkt der indischen Tanz- und Musikkritik. Darüber hinaus sind bis zur Gegenwart die Meinungen gespalten bezüglich des gesetzlichen Verbots des ursprünglichen Tempeltanzes im Jahr 1947, der Diskriminierung seiner ursprünglichen Ausführenden, der devadasis (siehe auch Seite 69 – 71), und seiner Übernahme, Umgestaltung und Umbenennung zu Bharatanatyam durch Angehörige der brahmanischen Elite Südindiens. Die hochpolitisierte Materie umfasst Themen der nationalen Identität, der sozialen Klassenzugehörigkeit von TänzerInnen und den Zugriff von Machthabern aller Art auf das Territorium der Künste. Berühmte Tanzkritiker wie Subbudu beeinflussen als scharfe Beobachter mit ihren Statements kulturpolitische Entscheidungen. 66 m 29.März 2007 verstarb der indische Tanz- und Musikkritiker, Padi V. Subramaniam, der unter dem Namen Subbudu bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war. Als Gesprächspartner indischer Staatspräsidenten, Premierminister und Kongressleader, ausgezeichnet mit hochkarätigen Awards, geachtet und gleichzeitig gefürchtet von den VertreterInnen der klassischen, indischen Tanz- und Musikszene, verlieh er derselben über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg ihr besonderes Gepräge. A Tempeltanz und devadasis Der ursprüngliche südindische Tempeltanz (sadir, sadirattam oder dasi attam) war über Jahrhunderte hinweg eine rituelle Notwendigkeit. Er sollte die Gunst der jeweils verehrten Tempelgottheit erwirken und damit Gedeihen und Fruchtbarkeit garantieren (KersenboomStory 1987: XIX, 87–164). Die speziell ausgebildeten und geweihten devadasis (sanskr. Dienerin der Gottheit), gehörten ebenso wie die Tanzmeister (nattuvanar) der isai-vellala-Community an. In vergangenen Epochen stellte der Dienstbereich der devadasis mit seinen vielfältigen Aufgaben die sichtbare Ausformung eines sozioreligiösen Konzeptes dar, das im Rahmen der Überlebensstrategien von Gesellschaften zu begreifen ist. Die Tänzerinnen hatten mit Hilfe ihres Tanzes und dessen ausgefeilter Gebärdensprache mit der als gefährlich erachteten Gottheit um den lebenswichtigen Segen zu „dealen“ (Marglin 1985: 300 ff.). Mitte des 20.Jahrhunderts wurde die Weihe von devadasis gesetzlich untersagt. Vor allem Fremdeinflüsse hatten eine teilweise Auflösung des traditionellen hinduistischen Weltbildes verursacht. Die Bedeutung der Tempel war gesunken und es erschien auch mit einem modernen Sozialgedanken nicht mehr vereinbar zu sein, dass devadasis mit einer Gottheit vermählt wurden und gleichzeitig seitens der Tempelbehörden dazu angehalten waren, mit irdischen Männern Intimbeziehungen einzugehen, um so symbolisch das Gedeihen der Gesellschaft zu sichern. „Pioniere“, Geächtete und nationale Identität Als „Pioniere“ des heutigen Bharatanatyam gelten vor allem der indische Jurist E. Krishna Iyer und Smt. Rukmini Devi Arundale. Beide stammten aus brahmanischen Familien und transferierten den Tanz unter dem Namen Bharatanatyam auf die weltlichen Konzertbühnen. Sie waren darauf bedacht, ihm gleichzeitig einen neuen, angemessenen Status zu verleihen. Rukmini Devi hatte den Tanz gegen den Willen ihrer Familie erlernt, hatte ihn mit Erfolg vor großem Publikum präsentiert und somit „salonfähig“ gemacht. Der Tanz war Region – Indien Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie vorerst gerettet, nachdem es so ausgesehen hatte, als würde er mitsamt dem unrespektabel und illegitim gewordenen Dienstbereich der devadasis in Vergessenheit geraten. Um jeden Zusammenhang mit den nunmehr sozial geächteten, ehemaligen Tempeltänzerinnen und ihrer Community zu tilgen, erachtete man es als unerlässlich, dem Tanz auch noch eine uralte Vergangenheit und „sacred origins“ zuzuschreiben, Eigenschaften, die den reellen Gegebenheiten keinesfalls entsprachen. Die damalige Bewegung rund um die Erneuerung und „Rettung“ des Tanzes wurde rasch gekoppelt mit Fragen der nationalen Identität (Bharucha 1995: 41 ff.). Der Tanz als Thema war landesweit zum Politikum geworden, wobei selbstverständlich das Jahr 1947 als Zeitpunkt der Unabhängigkeit, und die Betonung der Suche und Findung der eigenen kulturellen Wurzeln in Indien übermächtig hereinspielte. Plötzlich war der vor kurzem in den hinduistischen Tempeln als kultische Handlung per Gesetz verbotene Tanz zum nationalen Kulturerbe erklärt worden, nachdem die brahmanische Elite des Landes ihn in ihr „Ressort“ übernommen hatte! Zwei unterschiedliche Auffassungen kennzeichnen die Sicht der damaligen Ereignisse: die AnhängerInnen der brahmanischen Gruppe sehen in der Übernahme des Tanzes eindeutig einen Akt der „Rettung“ von Kulturgut, Angehörige der ehemaligen devadasi-Community sprechen demgegenüber aber von „Aneignung“: „…these Brahmins are stealing our art, our livelihood!“ (Ramnarayan 1984: 28). „Demokratisierung“ der indischen Tanzkunst Der Tanz hatte also Mitte des 20.Jahrhunderts sein Milieu gewechselt. Er war den Tempel-Autoritäten und der Devadasi-Community entglitten, und stand ab diesem Zeitpunkt unter dem Patronat der brahmanischen Elite Südindiens. Die im früheren Tempelgebrauch ursprünglich erotische Komponente des Tanzes hatte Rukmini Devi durch spirituelle Inhalte ersetzt. Seine mythisch-philosophische Aussagekraft, sowie das beeindruckende Vokabular seiner Ausdrucksformen bewirkten, daß binnen kurzer Zeit Mädchen und junge Frauen in Scharen herbeiströmten, um in den neu entstandenen Tanzschulen am Bharatanatyam-Training teilzunehmen. Schon bald gehörte dies zum zusätzlichen Erziehungsprogramm für die Töchter der sozialen Elite. Eine derartige Entwicklung hatte niemand erwartet; vor allem nicht, dass weit über Indiens Grenzen hinaus auch in der westlichen Welt in naher Zukunft ebenfalls Kurse und Schulen für Bharatanatyam eingerichtet werden sollten, wie z.B. auch in Wien seit den späten 1970er Jahren. Jedenfalls wurden nach den 1940er Jahren die Konzertbühnen Indiens zum umkämpften Auftrittsterritorium der engagierten Bharatanatyam-KünstlerInnen mit nunmehr als „klassisch“ bezeichneter Ausbildung: Rukmini Devi hatte als „Pionierin“ des Bharatanatyam neue Unterrichtsmethoden und -kriterien für den Tanz entwickelt. Im Jahr 1936 gründete sie in Madras die Tanz-Akademie von Kalakshetra (vgl. dazu Ramani: 2004: 7 ff.). All dies rief die Tanzkritik auf den Plan, die lobend, korrigierend, und schließlich wertend in das keineswegs mehr sakrale, sondern öffentliche, kulturelle Geschehen eingriff. Die Darbietungen, KünstlerInnen, ihre Anhängerschaft und Familien, die Tanzmeister (nattuvanar) und ihre Schulen sowie Kalakshetra gerieten gleichzeitig immer stärker in den Sog kulturpolitischer Machtinteressen. Singh bezeichnete den Aufstieg Subbudus als Kritiker als den besten Beweis für die zunehmende Demokratisierung der indischen Künste: Das Publikum war Patron geworden, die KritikerInnen übernahmen die wichtige Rolle der Vermittlung zwischen den Massen und den KünstlerInnen. Dabei entging Subbudu der Gefahr, von KünstlerInnen „gekauft“ zu werden, was immer wieder versucht wurde: Er war Beamter mit einem fixen Einkommen und verfasste seine Kritiken aus privater Begeisterung (Singh 2005: 23, 25, 55). Im Jahr 1953 wurde schließlich die Sangeet Natak Akademi in New Delhi gegründet, als Nationalakademie für Tanz, Drama und Musik. Lada Guruden Singh meint, dass dies auch der Zeitpunkt war, an dem es zu einer weiteren Politisierung innerhalb der darstellenden Künste Indiens kam, da etliche zu Bühnenstars avancierte Bharatanatyam-KünstlerInnen begannen, ihren persönlichen Einfluss bei amtierenden Ministern zu benützen: einerseits um Druck auf KritikerInnen auszuüben, andererseits um die begehrten Awards für ihre Leistungen verliehen zu bekommen (Singh 2005: 105, 134). Subbudu als „larger-than-life figure“ Als Kritiker erzielte Subbudu zwischen 1960 und 1980 seine größten Erfolge. In den beiden Jahrzehnten danach blieb er die oft heftig umstrittene, autoritäre Instanz auf dem Gebiet der indischen Tanzkritik. Die Feierlichkeiten zu seinem 85.Geburtstag im Jahr 2002 in Chennai und in New Delhi bildeten den Höhepunkt seines Lebens (Singh 2005: 247 ff.). Beinahe 60 Jahre zuvor war der 1917 in Madras geborene Subbudu nach Delhi gekommen. Er war selbst begabter Musiker, spielte mehrere Region – Indien 67 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Instrumente und war auch schauspielerisch tätig gewesen. Als 1954 der renommierte Schriftsteller und Musikkritiker Kalki Krishnamurthy starb, wusste Subbudu das verbleibende Vakuum auszufüllen. Aufsehen erregte er nicht nur durch seinen heißblütigen, pfeffrigen Schreibstil, sondern auch durch seine bedingungslos hohen Ansprüche (Singh 2005: 23, 89, 110, 137). Subbudu wurde bald zu einer harten, aber unparteilichen Prüfinstanz für Qualität und schuf durch seine spannend zu lesenden, kritischen Beiträge ein breites öffentliches Interesse für Bharatanatyam. Als Kritiker hatte er sich zu dem entwickelt, was man in Indien als „largerthan-life figure“ bezeichnet. der Betroffenen (Singh 2005: 19). Trotzdem: Subbudu war niemandes Gegner. Er fühlte sich aber der Aufgabe verpflichtet, die Qualität des klassischen Tanzes zu schützen und kämpfte auch für die Rechte der KünstlerInnen selbst (vgl. dazu Singh 2005: 119, 138, 214 ff.). Bharatantyam – „The ultimate metaphor“ Erika Neuber ist Lektorin im Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, und seit 1986 Leiterin der hiesigen Fachbereichsbibliothek. Schwerpunkte: Kunstforschung: Orientteppich-Kunst der Türkei, indische Tanzkunst in Südindien und Wien, sowie moderne bildende Kunst in PapuaNeuguinea. Was ist das Besondere an Bharatanatyam? Was hatte Subbudu bewegt, diesem Tanzstil ein Leben lang zu dienen? Die indische Tanzkritikerin Shanta Serbjeet Singh beschreibt den klassischen indischen Tanz als Metapher für die Sicht der Realität im hinduistischen Indien – „the ultimate metaphor“, wie sie sagt – als Spiegelung des althergebrachten Konzeptes des Hinduismus von Universum und Wirklichkeit: vor allem Polaritäten, wie etwa Gut und Böse, Freude und Leid, Leben und Tod, sowie das Männliche und das Weibliche, werden hier als zwei Seiten ein und derselben Realität verstanden. Raum und Zeit – und dies scheint von zentraler Bedeutung zu sein – werden lediglich als Konstrukte des menschlichen Geistes gesehen, die sich immer als relativ, begrenzt und letztlich als illusorisch erweisen (Singh, Sh.S. 2000: 3 ff). Eine außergewöhnliche Rolle spielt bis heute die im Tanz dargestellte Liebesbeziehung von einer Heldin (nayika) und ihrem Helden (nayaka), die die Sehnsucht der menschlichen Seele nach Vereinigung mit dem Transzendenten darstellen soll. Die in Südindien seit Jahrhunderten praktizierte Gottesmystik (bhakti) bildet die Grundlage dieser Thematik (vgl. dazu Gaston 2005: 87 ff.). Das Ende einer Ära? Subbudu bezog stets politische Positionen, wenn es um die Tanzkunst ging: In seinen Kritiken attackierte er berühmte Tanzmeister, stellte Sekretäre von sabhas für Unregelmäßigkeiten zur Rede und rügte Kulturorganisationen für ihr undurchschaubares Management, womit er die Betroffenen zur öffentlichen Stellungnahme zwang. Seine scharfen Attacken gegen alle experimentellen Tendenzen im Bereich des klassischen Tanzes und gegen Auftretende, welche seinen Ansprüchen nicht genügten, sorgten während Subbudus gesamter Schaffensperiode für Irritationen und Existenzängste, ja tätliche Angriffe und sogar Morddrohungen aus dem Kreis 68 Region – Indien Der Tanzkritiker Subbudu verstarb am 29.März 2007 um halb acht Uhr abends. Binnen weniger Stunden mailte es die südindische Bharatanatyam-Community an TanzkollegInnen in aller Welt: Subbudu is no more, eine Ära ist zu Ende gegangen, für diesen Mann gibt es keinen Ersatz. Literatur Bharucha, Rustom. Chandralekha. Woman – Dance – Resistance. New Delhi, 1995. Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to Theatre. New Delhi, 2005. Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi Tradition in South India. Delhi, 1987. Marglin, Fédérique Appfel. Wives of the God-King. The Rituals of the Devadasis in Puri. Delhi, Oxford, New York, 1985. Ramani, Shakuntala (comp. and ed.). Rukmini Devi Arundale. Centenary Valedictory Volume. Chennai, 2004 Ramnarayan, Gowri. Rukmini Devi: Dancer and Performer. A Profile (Part 2). Sruti. South Indian classical music and dance monthly. July 1984 Singh, Lada Guruden. Beyond Destiny. The Life and Times of Subbudu. Mumbai, 2005. Singh, Shanta Serbjeet. Dance. The ultimate Metaphor for the Indian View of Reality. In: Singh, Sh.S. (ed.): Indian Dance. The ultimate Metaphor. Hongkong, New Delhi, 2000. Früher waren die devadasis in ganz Indien verbreitet; heute gibt es sie vor allem noch im Süden des Landes. von EVELINE ROCHA TORREZ Indische devadasis einst und jetzt Priesterinnen, Tänzerinnen oder Prostituierte? Foto: Christian Mazal Gibt man den Begriff devadasi in eine Internet-Suchmaschine ein, so stößt man einerseits auf Berichte von zur Prostitution gezwungenen Minderjährigen, andererseits aber auch auf Websites zur indischen Tanzkunst und zu hinduistischen Priesterinnen. Man fragt sich zu Recht: Was hat all das miteinander zu tun? as Wort devadasi bedeutet soviel wie Gottesdienerin (Kersenboom-Story 1987: XV) und wird seit Ende des 19. Jahrhunderts als Sammelbegriff für geweihte Frauen (Svejda 1991: 67f) verwendet. Die Tradition, Frauen einem bestimmten Tempel zu weihen und sie dazu symbolisch mit der Tempelgottheit zu verheiraten, dürfte sehr weit zurückgehen. Unter verschiedenen Bezeichnungen werden derartige Tempelfrauen bereits ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. erwähnt (Svejda-Hirsch 1991: 34, Shankar 1994: 17); ihre Anzahl und auch ihr Tätigkeitsbereich scheint unterschiedlich gewesen zu sein. Glaubt man den Inschriften, so ließ der Chola-Monarch Rajaraja im Jahr 1004 vierhundert devadasis in den Haupttempel von Tanjore beordern (Shankar 1994: 53) und auch 200 Jahre später sollen hunderte devadasis im Tempel von Somnath in Gujarat gelebt haben (Svejda-Hirsch 1991: 36). Offenbar gab es eine starke Verstrickung zwischen dem Tempeldienst und den Tanzvorführungen in den königlichen Palästen: Die devadasis standen in einem Dreiecksverhältnis zwischen dem Tempel und einem reichen, adeligen oder gar königlichen Patron, der den Tempel einschließlich Priesterschaft und devadasis finanziell unterstützte (Svejda-Hirsch 1991: 48). Als Tempeltänzerinnen erhielten sie ein fixes Gehalt und Ackerland von ihrem Tempel, wurden aber mitunter selbst so wohlhabend, dass sie dem Tempel Gold, Lampen, Tiere oder ebenfalls Land schenken konnten (Kersenboom-Story 1987: 27). Außerdem wurden die devadasis nicht nur (ausschließlich von Männern!) in Musik und Tanz ausgebildet und durften lesen und schreiben lernen, sondern waren auch berechtigt, Kinder zu adoptieren, als Haushaltsvorstand zu agieren und zu erben (Svejda 1991: 48, Shankar 1994: 57); „Privilegien“, die für viele hinduistische Frauen bis zum heutigen Tag unvorstellbar sind. D Europäische Handelsreisende, Missionare und Mitglieder der britischen Kolonialmacht konnten mit der vorgefundenen Verbindung von Sexualität und Religion meist wenig anfangen (Jordan 2003: 160) und berichteten entsprechend schockiert über die „TempelProstituierten“. In seinem 1792 veröffentlichten Buch schildert Abbé Dubois u.a., dass wichtige Tempel jeweils acht bis zwölf devadasis beschäftigten (Gaston 1996: 46), dass diese den Göttern zwei Mal täglich mit Tanz und „obszönem“ Gesang huldigten bzw. schöne Frauen ihren Ehemännern von den priesterlichen Brahmanen für das Region – Indien 69 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie unsittliche Tempel-Treiben weggenommen wurden (Shankar 1994: 54f, Gaston 1996: 38f). 1870 berichtet John Shortt davon, dass die geweihten Mädchen als Fünfjährige ein hartes Tanztraining begannen und bei Erreichen der Pubertät entweder von den Tempelpriestern selbst oder von gut dafür zahlenden reichen Männern defloriert wurden und fortan allen gleich- oder höherkastigen Männern zur Verfügung stehen mussten. Verhältnisse mit Männern aus niedrigeren Kasten oder Shudras (Unberührbaren) wurden bestraft und konnten sogar einen Ausschluss aus dem Tempelwesen zur Folge haben (Shankar 1994: 56f, Gaston 1996: 41). In den meisten Fällen dürften sich vertraglich geregelte, längerfristige Konkubinate entwickelt haben, bei denen es der devadasi sehr wohl möglich war, selbst einen möglichst reichen, mächtigen und gebildeten Liebhaber auszuwählen bzw. hohe Summen für Tanz-Auftritte außerhalb des Tempels zu verlangen (Gaston 1996: 40ff). Religiöser Kontext Bei der gesamten Thematik darf nicht außer Acht gelassen werden, was Sexualität und Religiosität im hinduistischen Kontext bedeuten. Vor allem in Südindien haben sich drawidische Fruchtbarkeitskulte erhalten bzw. ab dem 5. Jahrhundert mit dem vedischen Hinduismus vermischt. Gleichzeitig wurde auch das tantrische Konzept der göttlichen Vereinigung von männlicher und weiblicher Energie (shiva-shakti) in die südindische Glaubenspraxis integriert (Vijaisri: 36ff). Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass den sakralen Prostitutierten wichtige Funktionen zuteil wurden und sie daher einen hohen Stellenwert genossen. Devadasis sollten den bösen Blick, schlechte Ernten, Krankheit und Tod abwehren, das Tempelheiligtum pflegen und die höheren Mächte sowohl durch ihre Kunst (Gesang und Tanz) als auch durch ihre Sexualität gütig stimmen. Als Frau, die durch ihre Ehe mit der Tempelgottheit nie Witwe werden konnte (und dadurch niemals von der sati, der Witwenverbrennung bedroht war), galt /gilt sie als nityasumangali, die ImmerGlückliche/Glückbringende. Devadasis wurden/werden oft auf Hochzeiten und zu anderen Festlichkeiten eingeladen, um den Anwesenden Glück zu bringen. In diesen Kontext passt das Sprichwort „to see a courtesan (or prostitute) is auspicious and the destruction of sin“ (Kersenboom-Story 1987: 47ff). Allerdings stellt sich hier die Frage, ob die solcherart bekundete Wertschätzung nicht einfach nur ein bequemes Instrument dafür war/ist, um mächtigen Königen bzw. reichen hochkastigen Männern eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Promiskuität mit Frauen aus niedrigeren Kasten zu ermöglichen (Jordan 2003: 151). 70 Region – Indien Wandel Auch wenn der Status der devadasis in früheren Jahrhunderten durchaus kritisch zu betrachten ist, kann man davon ausgehen, dass sich ihre gesellschaftliche Position in den letzten 150 Jahren enorm verschlechtert hat und von den einst vorhandenen Privilegien kaum mehr etwas übrig geblieben ist. Begonnen hat dieser Wandel mit der Besetzung Indiens durch die Briten im Jahr 1857. Die Verbreitung der christlich-viktorianischen Ideologie führte bald zum Heranwachsen einer von westlichem Gedankengut beeinflussten Mittel- und Oberschicht, die das Phänomen der devadasis aus europäischer Sicht zu betrachten begann. Gerne wurde die Tempelprostitution von den Brahmanen als für die „moderne“ Frau entwürdigend kritisiert und mit fiktiven, keuschen und „reinen“ Priesterinnen früherer Zeiten kontrastiert (Jordan 2003: 151). Es gilt mittlerweile als gesichert, dass es derartige „hinduistische Nonnen“ niemals gegeben hat und aus der geschichtlichen Distanz scheint auch der Anspruch der damaligen probritischen Sozialorganisationen äußerst fragwürdig, mit einem Verbot des devadasi-Kults den Status der Frau verbessern zu wollen (Jordan 2003: 156). Vielmehr dürfte es bei der groß angelegten Anti-Nautch-Kampagne (von natch = bestimmter devadasi-Tanz) ab 1882 eher darum gegangen zu sein, ein weibliches Privileg zu beseitigen, dass dem hinduistischen Patriarchat schon lange ein Dorn im Auge war. Durch gezielte Propaganda wurde den devadasis in den folgenden Jahrzehnten die Lebensgrundlage entzogen (Jordan 2003: 161 f). Dabei war es der europäisierten hinduistischen Mittelschicht ein Anliegen, im Ausland nicht mit „barbarischen“ Bräuchen in Verbindung gebracht zu werden. Immer wieder wurden die britischen Besatzer damit bedrängt, Anti-devadasi-Gesetze zu erlassen bzw. keine Auftritte von devadasis im Ausland oder vor hohen Regierungsmitgliedern zuzulassen. Zeitgleich mit der öffentlichen Diskreditierung der Tempeltänzerinnen entstand eine ebenfalls hochkastige revivalist-Bewegung, die den sadir-Tanz der devadasis zur rettenswerten klassischen Kunst stilisierte. Die Narrative von den ehemals keuschen „Hindu-Vestalinnen“ wurde dabei gern aufgegriffen, um den Tanz von seinem „unwürdigen“ Umfeld zu „reinigen“, für die brahmanische Oberschicht salonfähig zu machen (Shankar 1994: 146, Gaston 1996 b: 42) und als neue, für die indische Nation repräsentative Staatskunst zu etablieren. Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Was blieb von den devadasis – Heutige Situation Um es mit Svejda-Hirschs treffenden Worten auszudrücken: „Es sind einzig und allein die devadasis selbst, die […] zugrundegerichtet wurden. Weder der Tanz noch die Prostitution als solches wurden letztlich angeprangert oder verboten“ (Svejda-Hirsch 1991: 53). Tanz Unter dem neuen Namen Bharatanatyam wurde der sadir ab den 1930er Jahren zu der international anerkannten indischen Tanzkunst (Gaston 1996b: 45). Paradoxerweise hatten manche der aufstrebenden revivalist-Künstlerinnen überhaupt keine Bedenken, bei den geächteten devadasis Unterricht zu nehmen (wie etwa Rukmini Devi). Als inhaltlich problematisch erwies sich vor allem die tänzerische Darstellung von Erotik (shringar) im Rahmen der hingebungsvollen Gottesliebe (bhakti), die schlecht zum asketischen Bild des „neuen“ klassischen Tanzes passen wollte (Gaston 1996b: 46f). Ohne den Tanz selbst allzu stark zu verändern, wurde das Problem letztlich durch eine stärkere Fokussierung auf abstraktere Inhalte und die zunehmende Sanskritisierung (Einbeziehen klassischer Sanskrit-Texte, PujaOpfer auf der Bühne, Annahme brahmanischer Lebensformen) gelöst (Shankar 1994: 146). Veränderte Auftrittsbedingungen, wie große Bühnen und neue Unterrichtsformen (bezahlter Unterricht an Tanzakademien statt Unterweisung durch gurus aus devadasi-Familien), taten das ihre, um den Konnex zu den devadasis und zur Tempelprostitution vergessen zu machen. Prostitution Zwar verschwanden die devadasis mit dem Prevention of Dedication Act 1947 aus den großen, prestigeträchtigen Tempeln, am Land zeigte das Gesetz jedoch keinerlei Wirkung. 1975 wurden in Südindien drei- bis viertausend Mädchen der Göttin Yellamma geweiht (Jordan 2003: 151) und 1987 berichteten die Tageszeitungen des Bundesstaates Karnataka von der Weihe von tausend Mädchen, die im Beisein der Polizei erfolgte, als ob keinerlei Verbotsgesetze existierten (Shankar 1994: 131). Auf die Weihe im Kindesalter folgt unweigerlich eine Zukunft als Prostituierte, die nach einer möglichst gut finanziell abgegoltenen Entjungferung durch lokale Potentaten meist ein Leben in einem Großstadtbordell bedeutet. Eine Ausbildung erhalten die heutigen devadasis nicht; die meisten können, ebenso wie ihre Eltern, weder lesen noch schreiben. Nach einer Statistik der Indian Health Organisation waren 1994 15% der 10 Mio. indischen Prostituierten devadasis (Jordan 2003: 156). Gründe für eine Weihe sind oft familiäre Probleme (Krankheiten, unerfüllter Kinderwunsch), die mit einem „Opfer“ an die Dorfgöttin/den Tempelgott gelöst werden sollen, aber natürlich auch die bittere Armut und Unwissenheit, die die Eltern oft zur leichten Beute von Kupplerinnen und Bordellbesitzerinnen werden lässt. Tatsächlich verdienen die jungen Frauen in den Stadtbordellen meist ein Vielfaches von dem, was sie jemals als Landarbeiterinnen verdienen könnten und schüren bei ihren Besuchen im Dorf Hoffnungen auf ein besseres Leben. Mit ihrem Geld erhalten sie neben den Kuplerinnen und Bordellbesitzerinnen jahrelang die eigene Großfamilie, die sich trotzdem oft nicht um gealterte oder kranke devadasis kümmert. Um die eigene Altersversorgung zu gewährleisten, kaufen oder adoptieren viele devadasis Mädchen, die in den Teufelskreis eingespannt werden (Jordan 2003: 152). Der Preis ist hoch: Ungewollte Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten und der Tod durch eine HIV-Infektion sind übliche Schicksale. Nur selten gelingt der Ausstieg durch Heirat oder eines der überaus zaghaft installierten staatlichen devadasi-Rehabilitierungsprogramme. Internationale NGOs versuchen zu helfen, doch um das Übel an der Wurzel zu packen, müsste der Staat in den Bereichen Armutsbekämpfung und Bildung sehr aktiv werden (URL 1–3). Eveline Rocha Torrez hat die Studienrichtungen Handelswissenschaft und Wirtschaftpädagogik absolviert und studiert derzeit KSA im 2. Abschnitt. www.bolivia.at.tf Literatur Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to Theatre. Manohar, New Delhi, 1996. Gaston, Anne-Marie. Interpreting the Erotic in Bharata Natyam. In: Tanzkunst, Ritual und Bühne. Begegnungen zwischen Kulturen. Hrsg.: Nürnberger, Marianne/Schmiderer, Stephanie. Frankfurt am Main, 1996. Jordan, Kay K.. From Sacred Servant to Profane Prostitute. A History of the Changing Legal Status of the Devadasis in India, 1857-1647. Manohar, New Delhi, 2003. Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi tradition in South India. Motilal Banarsidass, New Delhi, 1987. Shankar, Jogan. Devadasi Cult. A sociological analisis. Ashish Publishing House, New Delhi, 1994. Svejda-Hirsch, Lenka. Die indischen devadasis im Wandel der Zeit. „Ehefrauen“ der Götter; Tempeltänzerinnen und Prostituierte. Peter Lang, Bern, 1991. Vijaisri, Priyadarshini. Recasting the Devadasi. Patterns of Sacred Prostitution in Colonial South India. Kanishka Publishers, New Delhi, 2004. Internet URL 1: http://www.worldvision.org/about_us.nsf/child/eNews_ india_051606, Stand 30.11.07 URL 2: Voykowitsch, Brigitte. http://www.nzz.ch/2005/05/30/fe/ articleCKMEA.html, Stand 30.11.07 URL 3: http://www.kindernothilfe.de/Bandhavi.html, Stand 30.11.07 Region – Indien 71 Ein Reisebericht über die Erfahrungen zweier Indien-Aufenthalte von KATHARINA HAMMERLE Reisen als Kind Kinder erleben Reisen anders als Erwachsene „24.7.1993 Heute bin ich sehr erschöpft von dem vielen Reisen […] Endlich waren wir in Bombay [Mumbai, Anm. K. H.] angelangt. Es war spät in der Nacht. Wir waren alle schon sehr müde. Wir mußten wieder einchecken, wegen dem nächsten Flug nach Bombay, Geld wechseln und noch viel mehr was halt dazu gehört […]“ (Tagebucheintrag) as Reisen als Kind beschäftigt mich schon lange. Besonders als ich im Sommer 2005 mit meinem Freund und unserem damals sieben Monate alten Sohn eine Reise nach Bali plante. Es stellten sich mehrere Fragen: Was macht das Reisen mit einem Kind? Inwieweit prägen Reisen den Lebenslauf? Was passiert durch das Reisen mit einem selbst? Welche Vor- und Nachteile, welche Konsequenzen entwickeln sich daraus und was ist dadurch anders im Alltagsleben? Ich begann intensiver als zuvor über das Reisen nachzudenken. Die wichtigste Erfahrung war, dass die Reisen erst zu Tage kommen, wenn man wieder „zu Hause“ ist. „Die Reise ist erst dann wirklich abgeschlossen, wenn der einzelne die Reise im Alltag für sich und vor anderen installiert, vorgezeigt und erzählt hat.“ (Fendl/Löffler 1995, 55). D Foto: Claudia Prinz Der Ausgangspunkt der Überlegungen für den vorliegenden Text waren zunächst die Bilder der Erinnerung. Es war schwer, die Bilder im Gedächtnis von denen zu trennen, die lediglich Erinnerungen an gemachte Fotos sind (vgl. Köstlin 1995). Meiner Ansicht nach werden sowohl im Alltag, als auch auf Reisen Bilder und Erlebnisse gespeichert, die in Kombination mit Gerüchen, Farben, dem Klima, mit Geräuschen etc. grundlegende Eindrücke hinterlassen. André Gingrich verdeutlicht hier: „Dies ist nicht bloß der elementare Bereich, in dem kulturelle Wertvorstellungen und Axiome an Angehörige der jeweiligen Kultur häufig vermittelt werden. Bei aller Betonung der Notwendigkeit des Erlernens lokaler Sprachen gilt auch für die ethnologische Feldforschung: Beispielhafte, oft wortlose Erfahrung ist eine nichtexklusive, aber unabdingbare Ebene, über die auch von außen kommende AnthropologInnen ‚Kultur erlernen‘“ (Gingrich 1999: 200). Die wortlose Erfahrung war das, was bei meinen mehrwöchigen Indienreisen im Alter von zehn und elf Jahren bedeutend war. Das lag wohl auch daran, dass man sich das Reisen als Kind nicht aussucht. Man reist mit, ist nicht autark. Ein wesentliches Moment des modernen Reisens ist dadurch ausgehebelt: Jenes, sich in einem Land frei zu bewegen. Die Erinnerungsbilder an Indien sind somit auch an passive Erlebnisse gebunden: Ein Bambusgewebe, eine Theke; Barstühle, große Chapati, eine ockerfarbene und eine grüne Soße in kleinen weißen Schälchen vor mir unter dem Kinn. Nach zwei Metern verschwimmt die Erinnerung an diesen Ort. Natürlich sind die Erinnerungen an spätere Reisen präsenter. Ich entsinne mich etwa, als Sechzehnjährige wortlos in der australischen 72 Reisebericht – Indien Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Ashram und „Adventure“ Wir wohnten gemeinsam mit einer befreundeten Reisegruppe in einem Ashram im Süden Indiens. Ein Ashram kann mit einem Kloster verglichen werden. Dadurch kam die Gruppe nicht viel mit Hotel-Komplexen und anderer touristischer Infrastruktur in Berührung. Lediglich bei Kurzaufenthalten, die durch die Flugzeiten oder Notfälle entstanden, verbrachten wir wenige Stunden oder eine Nacht in einem Hotel. Für die Fahrten, die wir hie und da z.B. in einen Nationalpark unternahmen, stand uns immer derselbe Taxifahrer zur Verfügung — was heute ein Gefühl von Kolonialismus entstehen lässt: Ich war als europäisches Kind in Indien und ließ mich herumchauffieren. Wir bewegten uns kurzzeitig in quasi europäischen Kontexten innerhalb Indiens. So erinnere ich mich etwa, dass ich Freunde besuchte, die in einem Hotel untergekommen waren. Als ich auf die Toilette ging, bewunderte ich das gefaltete Dreieck am Ende der Klopapierrolle. Die Verwunderung war sehr stark, denn es bestand ein großer Unterschied zu den Plumpsklos ohne Klopapier, wo es stattdessen fließendes Wasser gab. Diese Toilette unterschied sich auch von den europäischen Aborten. Ich wurde in Indien erstmals mit den Auswüchsen einer luxuriösen westlichen Kultur vertraut gemacht. Zwischendurch war es jedoch auch angenehm in einem „richtigen“ Bett zu schlafen und Spaghetti zu essen. Foto: Claudia Prinz Wüste gesessen und am Rande gehört zu haben, wie gut die Mitreisenden schon Englisch sprachen. Ich war überwältigt von der Landschaft und der Art zu Reisen. Kulturschock und Einsamkeit waren Gefühle, die aufkamen. „Es gehört zum Grundbestand bürgerlicher Reiseideologie, daß man das Fremde unverstellt in den Blick zu nehmen habe und gewissermaßen seine Herkunftskultur abstreifen müsse, um die Fremde wirklich authentisch erleben und erfahren zu können“, schreibt der empirische Kulturwissenschaftler HansJoachim Althaus. „Dieses gutgemeinte Reiseprogramm übersieht, daß es sich um eine Fiktion handelt: Niemand reist voraussetzungslos. Schon vor der Ankunft existieren Bilder dessen, was einen erwartet — was man erwartet“ (Althaus 1996: 105). Diese Bilder sind bei Kindern anders. Sie sind von Erziehung und Sozialisation geformt. So war in Indien die wortlose Erfahrung als Kind oft stärker, da ich in Situationen involviert war, die mir das Land „bescherte“: Allein und plärrend in einem dunklen Lift stecken zu bleiben und dann von lachenden Indern mit Brecheisenstangen wieder befreit zu werden. Es war das Einsammeln von Kniffen in die Wange. Blumengirlanden wurden von StraßenverkäuferInnen um mich gehängt, bis ich die wenige Meter entfernte Mutter erreichte, um Rupien zu bekommen. Kinder sind anders involviert als Jugendliche oder Erwachsene. Es waren Erlebnisse, jedoch nicht im Sinne des heute verbrauchten Begriffes „Adventure“. Derlei Kontraste wurden im Ashram aufgehoben. Es war ein einfaches Gebäude, das wir mit Matratzen und Gittergestellen von Straßenhändlern bewohnten. Es gab regelmäßige Essens- und Gebetszeiten, die wir nach Möglichkeit einhielten. Während der mehrwöchigen Aufenthalte wurden wir Kinder von meiner Mutter und anderen GruppenleiterInnen in Einheiten der „Erziehungsarbeit von Menschlichen Werten“ unterwiesen. So ergab sich viel Abwechslung und besondere Reiseumstände stellten sich ein. In der Erziehungsarbeit wurden wir etwa in die Kindermeditationen eingeführt. Theaterstücke ließen uns im Spiel die Werte erspüren, die uns vermittelt werden sollten. Erlebnisse wie Elefantenritte etc. konnten nachgespielt werden. Hier war auch die Verbindung zur Umwelt in Indien gegeben. Besonders stark waren die Empfindungen in den Gesangsrunden, die regelmäßig vor Sonnenauf- und Sonnenuntergang im Ashram stattfanden. Hunderte Menschen aus dem Inund Ausland sangen Mantras und musizierten. Der Ashram mutierte zu einem großen „Klanghaus“. Dies scheinen verbindende, transkulturelle Erfahrungen zu sein, die gemeinsam in einem Tun eingebettet sind (vgl. Wenter 1996). Weitere Erlebnisse waren, von bettelnden Kindern umgeben zu sein oder die eigene Schwester fast durch die Türe des fahrenden Taxis zu verlieren. Affen, die Mangos aus den Zimmern stahlen, oder ein indisches Kind, dessen Schlangenbiss durch einen Schnelltransport mit unserem Buggy nicht tödlich endete, waren Impressionen anderer Qualität, als ich es von Strandurlauben kannte. Nicht zuletzt beeinflussten die Düfte von Blumengirlanden, Räucherstäbchen und exotischen Reisebericht – Indien 73 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Foto: Privatfoto K. Hammerle Speisen in Kombination mit Farben von Saris und Waren, die an Märkten oder Straßenecken verkauft wurden, meinen Eindruck vom „typisch Indischen“. Dadurch dass wir in einem Ashram lebten, nahm ich an Aktivitäten der südindischen Bevölkerung teil — und nicht an solchen, die für ErlebnisurlauberInnen inszeniert werden. Was macht das Reisen mit einem selbst? Das Reisen verändert den Blick auf den europäischen Alltag, gibt zu denken und bereichert. Wenn ich in Wien unterwegs bin, erscheint manches vertraut. Die Erlebnisse aus Indien schalten sich oft in die Wahrnehmung und wirken wie ein Filter, der manches relativiert und die Distanz zu Menschen anderer Kulturen aufhebt. „Beim Zusammentreffen mit Fremdem und Vertrautem scheint sich letztlich oft das Vertraute durchzusetzen“, schreibt Ulf Hannerz (Hannerz 2007: 106). Doch die Reisen verändern den Blick sowohl auf Fremdes als auch auf Vertrautes. Die Sicht auf die eigenen „Mitbürger“ ist anders geworden. Das Reisen und die dabei gemachten Erfahrungen sind ein Zwischenort, in dem ein Rückzug in Form von Erinnerungen möglich ist. Im weiteren Lebenslauf entsteht also durch die Reisen eine Distanz zur europäischen Kultur. Aus einem Interview mit Ferdinand Gundolf, dem Leiter der damaligen Reisegruppe, und den Mitreisenden Marie Luise Prantner und Magdalena Hammerle gehen in Bezug auf das Reisen als Kind folgende Punkte hervor: Laut Prantner wird die Anpassungsfähigkeit des Kindes gefördert, Vorurteile und Generalisierungen gegenüber anderen Kulturen passieren nicht so schnell. Magdalena Hammerle sagte: „Wenn du in Indien warst, bist du für den Rest deines Lebens geimpft.“ Auf genaueres Nachfragen erklärte sie sinngemäß: Wenn du als Kind mit Armut, anderen Hygienepraktiken, einer anderen 74 Reisebericht – Indien Art menschlicher Bedürfnisse konfrontiert wirst, gehst du auch anders mit deiner Umgebung um. Nicht zuletzt steht für sie das Wissen um das Wesen im Menschen im Vordergrund und dessen Erkundung im Reisen. Vertrauen ist für sie ein Resultat des Reisens. Meines ist Beweglichkeit und Flexibilität im Leben. In diesen Erlebnissen und ihren Konsequenzen sehe ich auch meine Verbindung zur Kultur- und Sozialanthropologie und ihren Inhalten, die dazu beitragen, sich allgemein und vielseitig mit jeglicher Umgebung auseinander zu setzen. Katharina Hammerle studiert seit 2003 am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie. Ein Sohn. Interessensschwerpunkte im Bereich der Ethnomedizin, Generationen und Gebiete des osteuropäischen Raumes. Radioprojekt „Ethnowelle“. Literatur Althaus, Hans-Joachim. Auslandsleute. Westdeutsche Reiseerzählungen über Ostdeutschland. Tübingen, TVV-Verlag, 1996. Fendl, Elisabeth/Löffler, Klara. Die Reise im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit: zum Beispiel Diaabend. In: Cantauw-Groschek, Christiane (Hg.): Arbeit - Freizeit - Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag. Münster/New York, Waxmann, 1996, 55-68. Gingrich, André. Erkundungen. Themen der Ethnologischen Forschung. Wien, Köln, Weimar, Böhlau, 1999. Hannerz, Ulf. Das Lokale und das Globale: Kontinuität und Wandel. In: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin, Reimer, 2007, 95-113. Köstlin, Konrad. Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. In: Brunold Biegler, Ursula/Bausinger, Hermann (Hg.): Hören - Sagen Lesen - Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a., Lang, 1995, 395-410. Wenter, Gerlinde. ,fahren und er-fahren'. Pädagogische und Anthropologische Überlegungen zum Reisen. Innsbruck, 1996. (Univ. Diplomarbeit) Weiterführende Literatur Punnamparambil, Asok (Hg.). Im Schatten des Taj Mahal. Zeitgenössiche Erzählungen und Lyrik aus indischen Regionalsprachen. Bad Honnef, Horlemann, 2006. Ein anthropologischer Ausflug in die Welt von Words, Sounds and Power von WERNER ZIPS Nyahbinghi Eine elementare Erfahrung von Rastafari Foto: Werner Zips Über die Herkunft des Begriffes Nyahbinghi existiert eine Vielzahl von Theorien. Rastafari übersetzen den Terminus mit Tod den schwarzen und weißen Unterdrückern und beziehen sich auf den Befreiungskampf von Haile Selassie I. gegen die Besatzungsarmee Mussolins in Äthiopien ab dem Jahr 1935. Nyahbinghi betrachten sie als Speerspitze der antikolonialen Befreiung. Nyahbinghi werden aber auch die Versammlungen von Rastafari genannt, die üblicherweise zwischen drei Tagen und drei Wochen dauern. Nyahbinghi chants besitzen einige Ähnlichkeit mit den Hymnen afrikanisch-christlicher Glaubensgemeinschaften und gelten als wichtigste Inspiration, sowohl musikalisch als auch textlich für Rasta Reggae. s darf bezweifelt werden, dass sich selbst der inspirierteste, gehirnentzündete Ethno-Fantast jemals eine Konstruktion von Vorstellungen erträumen hätte können, die so merkwürdig und mächtig ist, wie jene von Rastafari – so etwa beginnt das Kapitel über die Brotherhood of Rastafari in Reggae Bloodlines, dem ersten Buchklassiker über die aus Jamaica stammende Musik und Kultur. Die Erinnerung an den Satz schießt mir durch den Kopf, als ich mich bei meinem ersten Nyahbinghi wieder finde, am erst fünften Tag meiner ersten Jamaika Reise. Angesichts dessen, was sich vor meinen Augen und in meiner structure (Körper) bei diesem Ereignis abspielt, nimmt sich das Zitat geradezu wie eine maßlose Untertreibung aus. Words können nur unvollkommen beschreiben, welche Energien (Fire) durch die Sounds and Power bei einem physischen Nyahbinghi frei gemacht werden. Selbst der heißeste Sizzla oder Capleton chant wirkt dagegen wie ein Streichholz neben einem ausbrechenden Vulkan. Auch heute noch, beinahe ein Vierteljahrhundert danach, fallen mir nur Superlative ein, um mein damaliges Empfinden zu beschreiben: es war das faszinierendste, mitreißendste, intensivste, aber auch bedrohlichste Erlebnis von kultureller Praxis, das ich bisher haben durfte – trust me! E Zu einem Binghi kann man nicht einfach hingehen, wie zu einem Reggae Konzert. Dazu bedarf es einer ausdrücklichen und formellen Einladung des Nyahbinghi Hauses oder wenigstens des jeweiligen veranstaltenden Elders und seiner Idren. Ich hatte nur die vage Info eines Korallenschnitzers in Montego Bay. Doch Jah schickte mir einen kleinen Dread mit mächtigen locks unter einer abgetragenen Tam als conductor meines Minibuses. Many are called, but chosen are few – ich musste ihn einfach fragen, ob er irgendetwas von einem Binghi wusste. Schließlich war ich hier, um eine Forschung über Rasta zu machen. Einen 500 Meter Sprint später, auf den Fersen des kleinen Dread hinter einem abfahrenden Taxi hinterher, finde ich mich mit vier Dreadlocks Rastafari eingepfercht in einem alten Cortina. Mit den Worten: „De I ah trod to the Binghi? Tek dis yah man deh!“ hatte mich der conductor einfach ins Taxi gesetzt. Aus der Perspektive der Vier im Cortina schien Jah schlicht jemanden zur Begleichung der Taxi Rechnung geschickt zu haben. Die legendenumwobenen Bergketten des Inselinneren haben schon den Maroons in ihrem Kampf gegen die Sklavenhalter Unterschlupf geboten. Eine kleine rot/gold/grüne Flagge am Wegrand ist das erste Zeichen für Eingeweihte, dass wir auf dem richtigen Weg zum Wiener Institut – Feldforschung 75 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Nyahbinghi ground sind. „Willst du da wirklich hin?“, fragt mich einer der Vier im Taxi. „You are going to a battlefield!“ Nicht gerade ermutigend. Schließlich bleibt das Taxi mit jaulendem Motor und rauchender Kupplung im Lehmboden hängen. „Babylon cyaan move forward again!“, lautet der trockene Kommentar eines der Mitfahrenden. Ich bezahle wie prophezeit die Rechnung und bekomme zum Dank zwei große Taschen in die Hand gedrückt. Der dumpfe Klang von Trommeln weist uns den Weg zum Nyahbinghi. Steven Spielberg hätte sich keine bessere Kulisse für einen Rasta-Film aussuchen können: Regenwald ringsum, aufsteigender Dampf von der dichten tropischen Vegetation im Dämmerlicht der untergehenden Sonne, Klangfetzen von Nyahbinghi-Kriegsliedern. Plötzlich steht er vor uns, wie aus dem Boden ge-wachsen. Barfüßig, dreadlocks bis über die Hüfte, nur mit einer roten Short bekleidet, eine Kalebasse auf dem Kopf: „Hotter Hot!“ schreit er zur Begrüßung. „Redder Red!“ erwidern meine Begleiter offensichtlich adäquat im Vorbeigehen. Gemeint ist der apokalyptische Endkampf, dem nach dem Untergang Satans und der Mächte des Bösen im kosmischen Feuer des Armageddon die Vollendung des Gottesreiches folgt. Dazu sollen mir die passenden Bilder sogleich nachgeliefert werden. Wir erreichen den Ort der Groun(d)ation. Mein Blick fällt auf ein gemaltes Bild neben dem Eingang, das einen Reiter mit fliegenden dreadlocks hoch zu (Kampf)Ross darstellt, der eine Lanze durch die Brust des Papstes bohrt, der wie ein Drache Babylon in seinen Fängen hält. Darunter die Losung: „Kill the pope!“ Über dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift: „Nyahbinghi means death to all black and white downpressors.“ „Rastafari!“, rufen meine Begleiter der königlichen Versammlung entgegen. „Selassie I! Fire bun!“, kommt es machtvoll zurück. Rund zweihundert Dreadlocks Rastafari, mehrheitlich Männer und Angehörige des Nyahbinghi Ordens, sind zur Feier des 92. Geburtstages von Haile Selassie zusammengekommen. Jetzt sind alle Augen auf uns gerichtet, genau genommen auf mich. Mit den beiden Taschen in der Hand wirke ich auf den (wichtigen) ersten Blick wie ein geladener Gast und nicht wie ein ungebetener Besuch. Trotzdem schlägt mir unverhohlenes Misstrauen entgegen. Ein freundliches Willkommen sieht anders aus. Nie zuvor haben mir Blicke allein meine Hautfarbe und Herkunft spürbarer vermittelt. Als ob es die Szenerie nicht ohnehin schon ausreichend in sich hätte. Eine Gruppe brethren mit dreads wie ich sie nie zuvor gesehen habe umringt eine Feuerstelle. Zwei Männer werfen einen ganzen Baumstamm in die meterhohen Flammen. „Fire!“ kommt es wie aus einem Munde. „Bun de wicked!" "Die Gottlosen mögen verbrennen!“ 76 Wiener Institut – Feldforschung Mittlerweile haben mir meine Taxi brethren ihre Taschen abgenommen und mich einfach stehen gelassen. Mit ziemlich weichen Knien begebe ich mich zu einer Gruppe Elders. Zu einer Begrüßung komme ich gar nicht. Schon prasselt ein Stakkato an Fragen auf mich ein. Woher kommst du? Warum kommst du? Was suchst du hier? Are you a Babylon spy? CIA? Ein Spiel von Herausforderungen und Druck, das so gar nicht wie ein Spiel wirkt. Am Anfang weiß ich nicht genau, wie mir geschieht, aber mit Fortdauer der challenges erwacht mein Widerstandsgeist und ich beginne, den pressure des Fragen-Bombardements aus zu halten. So laut und energisch wie möglich erkläre ich meine Positionen zu Apartheid in Südafrika, zur Verschleppung aus Afrika, zur Versklavung im Namen des Kreuzes, zu US polit(r)ic(k)s und britischem (Neo)Kolonialismus. Es ist eine Art Feuerprobe. A check, if you can take the heat. Nur wenn du die Hitze wie Daniel in the Lion's Den weg steckst – „cast in the fire, never get burn“ – darfst du bleiben. Grounding heißt dieser Prozess, den jeder Mensch durchlaufen muss, der an einem Binghi teilnehmen will. Eine Form von „Erdung“ im Rasta Bewusstsein. Wer dieses Verfahren einmal erfolgreich bestanden hat, fürchtet sich vor keiner Prüfung mehr. Wer hingegen bei der kollektiven Konfrontation mit „Words, Sounds, and Power“ durchfällt, gilt als „burned out of the Nyahbinghi“. Das passiert auch Dreads, die mit ihren deutschen oder italienischen Negril-Liebhaberinnen und aufgesetztem Rasta chat bei einem Binghi antanzen, als wäre es eine beach party in Rick's Cafe. So schnell können sie gar nicht an ihrem Spliff ziehen, dass sie sich schon mit Schimpf und Schande (Blood and Fire) davongejagt auf ihrer Leih-Honda samt Sozia wiederfinden, um heim nach Negril (Babylon fe true) zu düsen. Rasta ist keine Religion, die einen Aufnahmeritus vorschreibt, den eine bestimmte Autorität zu vollziehen hat. Wer Rasta fühlt, denkt und handelt, ist Teil von I and I – Ich und Ich – Jah Rastafari. Jah manifestiert sich in jedem Ich, das diese Manifestation sucht und zulässt. Also kann es keinen Unterschied zwischen dem eigenen Ich und dem der Anderen geben. Alle übrigen Fürwörter sind für jene da, die nicht den spirit of Jah in sich tragen. Sie sind Babylon und haben bei einem Binghi nichts verloren. Die kollektive Aufnahme bei einem Binghi, der kommunikative Prozess, grounded zu werden, bedeutet die Anerkennung einer Gemeinsamkeit. Kein Rasta wird den Tag, den Ort und die Umstände seines/ihres Groundings vergessen. Nyahbinghi heißt spirituelle Kriegsführung gegen Babylon, ein Synonym für Ungerechtigkeit. Bei dieser philosophischen und kulturellen Praxis würde jeder Fremdkörper die vibrations stören und schwächen. Vibrations, die den Untergang Babylons, Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie jener Mächte, die seit alten Zeiten mit Unterdrückung und Aus-beutung herrschen, beschwören. „To chant down Babylon“, erst nach einem Binghi weiß man, was diese Formel wirklich meint. Endlich scheine ich bestanden zu haben. Einer der Elders beendet das Rasta Verhör mit einer Art Willkommensgruß: „Du kommst am richtigen Tag. Heute ist der 23. Juli, der 92. Geburtstag seiner Imperialen Majestät Haile Selassie I. Er muss dich eingeladen haben. Sonst wärst du niemals bis hierher gekommen. Vielleicht bist du einer der 144.000 Auserwählten für den Berge Zion, die das Armageddon überleben werden. Rasta no partial. Hautfarbe und Herkunft haben damit nichts zu tun, nur dein Bewusstsein und dein Herz zählen am Judgement Day, dem Tag des jüngsten Gerichtes. Und glaube mir, längst nicht alle, die du hier mit ihrem dreadlocks Stolz siehst, werden dann noch dabei sein.“ „True, true, Bongo“, bestärkt ihn einer der Elders, und reicht mir ein Büschel der berühmten trockenen Pflanzen: „Das ist King's Bread, die Nahrung der Könige, it's good for your nerves“, lacht er. „It give the I the right Iditation fi chant down Babylon with I and I. Es macht Deinen Körper zum Tempel für Rastafari. Andere errichten prunkvolle Gebäude mit dem Schweiß und Blut der sufferers und nennen diese Gotteshäuser. Aber damit lästern sie Jah, denn Rastafari ist immer auf der Seite der Leidenden und Unterdrückten.“ Jetzt bin ich nicht mehr am Wort. Alle, die mich vorher „interviewt“ haben, erteilen mir jetzt Geschichtsunterricht nach dem Rasta-Lehrplan. Zwanzig, dreißig brethren beteiligen sich daran, mir stellvertretend für alle Weißen, eine Lektion zu geben, die mit Columbus, dem verdammten, aufgeblasenen Lügner beginnt. Nicht, dass ich die Klage über die unmögliche Entdeckung der längst besiedelten „neuen“ Welt nicht schon bei Burning Spear gehört hätte, aber dieses kollektive Lehrstück von gerechtem Zorn schlägt doch alles mir bisher Bekannte und sogar Vorstellbare. Angeheizt vom Feuerwerk der Nyahbinghi Trommeln in der anbrechenden Dunkelheit und untermalt vom stundenlangen chant „fire, fire, fire bun!“, schleudern mir immer neue Nyahbinghi warriors ihre Verbitterung über die Verschleppung aus Afrika, die anhaltende Gefangenschaft in Babylon, die ungerechte Verteilung des Wohlstands in der Welt, die Fremdbeherrschung der Massen durch eine kleine Minderheit und vor allem die doppelten Standards bei der Einhaltung von Menschenrechten und dem Gerede von der Demokratie ins Gesicht: „Europa hat im Auftrag Roms die Kinder Afrikas gestohlen und sie in Amerika zu Sklaven gemacht. Die Reinkarnation des Satans, der Papst in Rom, segnete all die Piraten und Sklavenschiffe, um an Afrikas Gold heranzukommen und es in den Vatikan verschleppen zu können. Und die Queen, die königliche Hure Babylons, war seine Sekretärin. Bis heute dauert die Knechtschaft Afrikas und seiner versklavten Söhne und Töchter an. Commonwealth – gemeinsamer Wohlstand – nennen sie das. Was für eine Lüge. That's why I and I say: Nyahbinghi! Death to all black and white downpressors!“ Ohne Unterbrechung setzt ein Binghi-Idren fort, dessen dreadlocks wie eine Fußmatte zu einem dicken Haarteppich verfilzt sind, der ihm bis weit unter das Gesäß reicht: „Ihr redet immer über Demokratie, die ihr über die ganze Welt verbreiten wollt, solange ihr eure Lakaien als Herrscher einsetzen könnt. Volksherrschaft soll das sein, wenn du einmal alle vier, fünf Jahre zwischen zwei Diktatoren und ihren Parteigängern wählen kannst? Ich sage dir: Herrschaft über das Volk ist es. Das nennen wir Dämonkratie, satanische Herrschaft der Reichen und Mächtigen. Wir Nyahbinghi predigen die Theokratie, die einzige wahre Herrschaft des Volkes über sich selbst. Denn Jah ist in allen von uns gleichermaßen.“ Langsam pendelt sich mein Adrenalin Spiegel auf sein normales Binghi Niveau ein und ich kann das tun, wozu ich hier bin: sehen, fühlen, erleben. Im Tabernakel, einer nach alle Seiten offenen Rundhütte mit einem Altar in der Mitte, auf dem Bilder von Haile Selassie stehen, umkreisen tanzende brethren die royal drummers. Ihre Hymnen preisen His Imperial Majesty und beschwören den Fall Babylons mit Formeln, die heute jeder Reggae Fan kennt: „Fire pon Rome! Fire fi di pope!“ Ein hagerer Elder stampft mit spindeldürren Beinen, die zur Hälfte aus einer rot gold grünen Robe herausstehen, auf den Boden, als gelte es, das Böse hier und jetzt zu zertrampeln. Seinen Stock lässt er im Takt Löcher ins malträtierte Gras bohren. Bei jedem symbolischen Stich Wiener Institut – Feldforschung 77 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie ins Herz des Drachens beutelt er seine angegraute dreadlocks Löwenmähne. Seine bambusdicken, fast weißen Bart-dreadlocks reichen bis zum rot/schwarz/grünen Gürtel, der ihn als Marcus Garvey Anhänger ausweist. Chalices aus Kokosnüssen kreisen unentwegt zwischen den Tanzenden. Eine Gruppe Empresses and Princesses bildet die Queen Omega Congregation auf einer Seite des Tabernakels. Sie geben der Versammlung Würde, ohne auch nur einen Hauch Abstriche von der Militancy der brethren zu machen. Nyahbinghi ist wahrhaftig dreadful – mit der gleichen Bedeutungsvielfalt, die schon in Dread oder dreadlocks steckt. Viele Jahre später sollte es Mutabaruka, mittlerweile einer der (wort)führenden Elders in Rastafari folgendermaßen auf den Punkt bringen (in seinem Vortrag „Rasta from Experience“ bei der Karibiktagung im Jahr 2001 an der Universität Wien): „Viele Leute haben Angst, sich auf das Nyahbinghi einzulassen, weil sie realisieren, wenn sie in die Erfahrung von Nyahbinghi hineingehen, dann lassen sie sich auf einen Orden ein, einen Afrikanischen Orden, der zum Ziel hat, alle europäischen Kolonialisten aus Afrika zu verjagen. [..] All diese (wissenschaftlichen, Anm. d. Red.) Studien und die ganzen Berichte werden dich niemals lehren und verstehen lassen können, wer Ich bin. Du musst Ich selbst erfahren. Das ist der größte Lehrer, die Erfahrung von Ich ist der größte Lehrer. Die Wissenschaftler können nur zu Papier bringen, was sie glauben, dass Ich bin. […] Im Ich und Ich ist eine Universalität, die transzendental ist, sobald wir mit der eigenen Erfahrung beginnen, anstatt darüber zu lesen. […] Du kannst mich töten, du kannst Muta töten, du kannst Tom und John töten, aber du kannst nicht Ich töten. Weil das Ich transzendiert. Ich ist nicht, was du glaubst, was Ich sein sollte. Ich bin, was Ich ist. Das Ich muss Ich eben so nehmen, wie Ich bin.“ Nyahbinghi, verstanden als spiritueller Kampf gegen die Unterdrückung von Menschen durch Menschen, gehört zum Kern der Rasta Erfahrung. Einer Erfahrung, die nur im Ich und nicht durch Zuhören und Nachbeten zu machen ist. In diesem Sinn lässt die Rastafari Philosophie Universalität zu. Niemand muss in Jamaica geboren oder Nachkomme von versklavten AfrikanerInnen sein, um für sich (im Ich und Ich) die Ungerechtigkeit jeder illegitimen Herrschaft von Menschen über Menschen erfahren zu können. Darin liegt der universelle Ansatz von Rastafari, der es erlaubt jegliche Grenzen der Hautfarbe, Nation, Sprache, Geschlecht, Alter, Schicht usw. zu überwinden, obwohl der Ausgangspunkt von 78 Wiener Institut – Feldforschung Rastafari als soziale Bewegung in Afrika und der Afrikanischen Diaspora (vor allem Jamaika) liegt. Wenn das Ich bei einem Binghi mit den oben zitierten Words, Sounds, and Power konfrontiert wird, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder die vibes treffen dich persönlich, dann wirst du von ihnen (spirituell) verbrannt und kannst es unmöglich aushalten, bei dem Binghi zu bleiben, oder das Ich spürt die positive vibration des Befreiungskampfes, aus dem die Worte kommen. Diese Botschaft habe ich auf dem Weg der Erfahrung von Ich und Ich schon von vielen Rastafari mit immer neuen Worten gehört, aber die Power der Worte kann nur die eigene Erfahrung vermitteln: who feels it, knows it. Dann erst können sich scheinbare Widersprüche auflösen, die im ersten Augenblick wie jenes Rätsel klingen mögen, das mir einer der Elders, Jah T, bei meinem ersten Binghi mit auf den weiteren Weg in Rastafari gab: „Du willst wissen, was Nyahbinghi eigentlich ist? Nyahbinghi ist ein alter Orden, den Seine Königliche Majestät, Haile Selassie, im Jahr 1936 als Kriegs-Orden gegen Mussolinis Truppen in Äthiopien verwendet hat. Nyahbinghi steht seit dem Anbeginn der Zeiten für: Tod den Schwarzen und Weißen Unterdrückern! Dafür schlagen wir die Nyahbinghi Trommeln. Denn diese Trommeln können töten. Damit töten wir die Unterdrücker. Nyahbinghi ist Krieg, aber die Waffe ist die Liebe. Denn nur die Liebe kann das Böse besiegen. Hass erzeugt nur immer neuen Hass. Rastafari! Peace and Love!“ Werner Zips, geboren 1958 in Wien, ist außerordentlicher Professor am Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropolgie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Rechtsanthropologie, Historische Anthropologie, Afrika, Afrikanische Diaspora, Visuelle Anthropologie. Anm. d Red: Dieser Artikel gibt Auszüge aus einem Artikel von Werner Zips in "Riddim" 04/04 wieder. Den gesamten Text gibt es unter: http://www.riddim.de/feature.php?id=176 Literatur Davis, Stephen und Simon, Peter. Brotherhood of Rastafari. Anchor Press/Doubleday. Wien,1977. Barretts, Leonard . The Rastafarians. Boston, 1977. Zips, Werner. Rastafari. Eine Kulturrevolution in der Afrikanischen Diaspora. In: Kremser, Manfred (Hg.): Ay BoBo. Afro-karibische Religionen. Teil 3: Rastafari. Wien, 1990. Zips, Werner. Rastafari - eine universelle Philosophie im 3. Jahrtausend. Wien, 2007. Siehe auch: Dokumentationen von Werner Zips: "Rastafari - Tod den Schwarzen und Weißen Unterdrückern" und "Mutabaruka - Rückkehr ins Mutterland" Interview with Bambi Schieffelin, professor of anthropology at New York University von STEFANIE SEITELBERGER und SONJA HOFMAIR Different languages, different cultures Approaching anthropology through linguistics In Austria linguistic anthropology is not a well-known subject. We only get to know it in the context of the four field approach. You are one of the leading experts in linguistic anthropology – so could you summarize how you would define linguistic anthropology? Professor Bambi Schieffelin is an expert on linguistic anthropology – a field of research that is hardly established in Europe. During her stay in Vienna this summer 2007 we took the opportunity to talk to her about linguistic anthropology and language socialization. She also gave us interesting insights into her current research on missionization and language change in Papua New Guinea. The Interview took place in context of the International Guest Lecture Series “Engaging With Linguistic Anthropology Today” of the ÖAW (Österreichische Akademie der Wissenschaften). Linguistic anthropology is the study of language in context and focuses on how members of communities all over the world use language to accomplish many different things in social life. Speech practices and the ways in which people think about and use them are rich resources not only for speakers, but also for researchers. Linguistic anthropologists can’t easily imagine doing anthropology without looking at the ways in which language constructs realities. Linguistic anthropologists investigate language and speech practices with the same systematicity as social and cultural anthropologists investigate other symbolic systems, such as religion, social organisation, kinship, etc. Linguistic and cultural practices and ideologies are viewed as interrelated. How important is linguistic anthropology in context of the four field approach? All four fields are important to understanding how we are human – we are biological, we are social, we have a past as evidenced in the archaeological record, but we also use language and talk to create and sustain our social worlds. We talk about all these things too, we talk about our biology, we talk about our past, we talk about our social lives, and we talk about language. To what extent is it important to you that linguistic anthropology will also be established in Europe? Europe is well known for being multilingual and valuing linguistic diversity. Linguistic anthropology would complement perspectives from social anthropology for understanding the dynamics of a broad range of cultural and historical processes taking place across Europe today. It would also enrich the training of social anthropologists in Europe whether they are working in urban, rural, traditional or diaspora communities around the world. The founders of linguistic Wiener Institut 79 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie anthropology, Franz Boas and Edward Sapir, both came to the United States from Germany and were multilingual. It is ironic that linguistic anthropology is part of anthropology in the United States because the prevailing ideology is that everyone should speak English, the „English-only-movement“ which is a limited view of communication, identity and society. What are your main interests in linguistic anthropology? I started studying language socialisation: The ways in which children are socialised to use language and socialised through the use of language. Elinor Ochs and I developed that research program together over many years and it is now established as an important field within linguistic anthropology. I am also interested in language and change: the ways in which both social and linguistic change are part of every society, whether such changes and transformations are due to larger types of changes like missionization and colonialization or change that takes place across the life cycle of persons. People are always learning languages and losing languages, and languages themselves are involved in how people construct and communicate their identities. And how did you get to anthropology and particularly to linguistic anthropology? In high school I was very interested in languages and was able to study French and Spanish. My undergraduate study started with comparative literature but then I discovered anthropology. By the time I started graduate school, I knew I wanted to do linguistic anthropology. It allowed me to combine my interest in language and culture, focusing on real peoples’ lives. You already told us what you are interested in the context of linguistic anthropology – but what was the most important thing for you? I think my most important contributions have been based on my work in Bosavi, Papua New Guinea, initially looking at the ways in which children acquire the linguistic and cultural practices of their community. It was the first ethnographic investigation of a nonwritten language, one that had a very different structure than English or other European languages. The research challenged many expectations that people had not only about how children learn but also what they learn. My second project investigating the introduction of literacy in this society builds on the earlier research. 80 Wiener Institut You prepared a Bosavi-English dictionary – can you tell us a little bit about that? The Bosavi-English-Tok Pisin dictionary that I put together was a long term project, done collaboratively with Steven Feld, my research partner, and several local consultants. When I asked people, „What would you like me to give back to you?“, they said they wanted a dictionary. First we were doing it just in the Bosavi language because the people said this would be helpful. In the 1990s people said it would be helpful to have an English part as well, because they were beginning to imagine a future where their children could go to school. We added the English to the Bosavi and Tok Pisin, so it was in three languages. It was our gift to the community – the Australian National University published it, and we gave it to the communities as a gift. How long did it take you to finish it? I started working on it in the 1970s and we presented it to the community in 1998. It took a long time but we learned a lot doing the dictionary. We used it to document the sources of new words that came into the language, for example, how do people acquired words for introduced things such as „lamp“ or „fishhook“, things, they did have before. We also tracked the new concepts as well as those that were lost. So the dictionary also traces Bosavi people’s contact with others’ ideas, people and things. About your field research: We saw that you carried out research in Papua-New Guinea and especially with the Kaluli. The Kaluli are one of the four groups that call themselves Bosavi people. There are approximately 2000 Bosavi people. There are four dialects of the Bosavi language, Kaluli is one of them. But for the dictionary, because of the way that people identified themselves, we called it Bosavi. And why did you choose the Bosavi? I went there first in 1967 because I had married an anthropologist who was doing his fieldwork there and so I spent the first 14 months of our marriage on that trip with him. I did a lot of photography during the first trip, and also worked on learning the language. When I started my own PhD study, I decided to go back, which I did, several times. I had already made many efforts in learning the language – and it was not an easy language Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie and there were a lot of interesting research questions. Bosavi people were very welcoming and they were really wonderful people to interact with. 1998 was my last trip, when I went there to bring the dictionary. but they could not run the school or clinic themselves. Could you tell us something about your new book project „New Words, New Worlds“? I think I was one of the first scholars to give talks in linguistic anthropology. Most people were not familiar with it – but I think most people now know more about this part of anthropology. Professor Gingrich is very supportive of linguistic anthropology. I think there is more interest, which is good. I have another book that was published by Oxford University Press in September, so I want to say a little bit about that one first: It is called „Consequences of contact: Language ideologies and sociocultural transformations in Pacific societies“. It’s an edited collection that deals with the impact of colonization and missionization on language and culture. I am very excited about it because it is the first volume to explore different outcomes of contact. My new book project examines the ways in which missionization has reorganised and transformed the ways in which the Bosavi people think about language, think about themselves, think about the place where they live. It also addresses the role of translation in social and linguistic change. It’s about the ways in which Bosavi people tried to understand Christianity from its introduction in the early 1970s through the 1990s. How did the missionaries change things and how did you perceive the whole community? There where many traditional practices that people simply stopped, for example performing major ceremonies that took place around marriage. Missionaries also changed living arrangements. People lived in communal long houses, and the missionaries thought this was primitive and encouraged people to live in single family houses. They wanted people to stay in the village and go to church several times a week. They discouraged hunting in the bush, and long stays at garden houses. The missionaries wanted to domesticate the Bosavi people according to their own ideas of domestication. They thought the Bosavi people lived in the Stone Age and they wanted to bring them into a western, Christian world. You have been visiting Vienna in 2001 – how did you experience Vienna and the institute? We are now at the seminar of Professor Gingrich about linguistic anthropology. What do you think about the presentations? Well, I am very impressed with the seriousness of the students. They did the work and engaged with the ideas. It is a really exiting and good form of cross-disciplinary contact. It is also intercultural, as well as crosslinguistic. I have learned a great deal. For me learning is always an exchange: If I don’t have students I can learn from, teaching is boring. That’s why many of us do this. Leaning from students helps to keep you excited, it’s 50 percent of the game. People in the seminar really did a great job, took it very seriously, and worked very hard. I hope this is seminar will be repeated again. Thank you very much for your time and the interview. Thank you and good luck with your own research. Wiener Institut 81 Do you know how they feel today about the missionaries? The missionaries left in 1990. They had introduced an elementary school, medical clinic, and a store, in addition to Bible study. But the missionaries didn’t teach people how to do anything for themselves, so when they left people were frustrated. They had a glimpse of change, Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit visuellen Codes, Zeichensystemen und unterschiedlichen Sinngebungen – ein kontroversieller Beitrag von CHRISTIAN F. FEEST Museum für Völkerkunde Neu Benin am Beginn, Fortsetzung folgt Foto: Christian Feest Mit der Sonderausstellung Benin: Könige und Rituale. Höfische Kunst aus Nigeria hat das wegen einer überfälligen Generalsanierung seit März 2004 geschlossene Museum für Völkerkunde Wien am Heldenplatz wieder ein nach außen hin sichtbares Lebenszeichen von sich gegeben. Die von Dr. Barbara Plankensteiner kuratierte Ausstellung kann ohne Übertreibung als die größte Schau zur Kunst, Kultur und Geschichte Benins bezeichnet werden, die jemals aus den in aller Welt verstreuten Bronzen und Elfenbeinarbeiten zusammengetragen wurde. Reichsapfel, Königtum Benin, Nigeria, 16./17. Jh. Museum für Völkerkunde Wien (Slg. W.D. Webster) 82 Wiener Institut – Völkerkunde Museum ie Diaspora dieser Gegenstände, die zugleich den Weltruhm Benins begründete, erfolgte 1897, als im Rahmen einer militärischen Strafexpedition der Briten, mit der die Tötung einer britischen Delegation gesühnt werden sollte, der Königspalast von Benin geplündert und die Kriegsbeute als Reparation nach England gebracht wurde. Andere Teile des Palastinventars, das teils dynastischen und rituellen Zwecken gedient hatte, teils bereits als „historisches Archiv“ abgelegt worden war, gelangten über Händler an der Küste Nigerias auf den europäischen Kunstmarkt. So tragisch diese Episode der Kolonialgeschichte aus heutiger Sicht ist, steht sie doch zugleich am Beginn höchster Wertschätzung für afrikanische Kunst im Westen und dient als Illustration für die wechselnden und widersprüchlichen Sinnzuschreibungen, die „leblosen“ Objekten eine wechselvolle Lebensgeschichte bescheren. Auch wenn die metallenen Platten, Köpfe und Figuren von, in einer langen Tradition ihres Metiers stehenden Meistern geschaffen worden waren, war in Benin ihr ästhetischer Gehalt nur ein untrennbarer Teil kultureller Praktiken zur Glorifizierung der Herrschaft der Könige. In ihrer Fülle spiegeln die Werke auch den Reichtum wider, den Benin aus seiner strategischen Stellung im Handel bezogen hatte – ein Beispiel dafür, wie rasch aus Gewinnern des Kulturkontakts Verlierer werden konnten. D In Europa spielte bei der „Entdeckung“ der Benin-Kunst der aus Österreich stammende Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde, Felix von Luschan, eine wichtige Rolle, der für sein Museum eine bedeutende Sammlung zusammentrug. In Wien gelang es dem Direktor der anthropologisch-ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums (dem Vorläufer des Museums für Völkerkunde), Franz Heger, einen Mäzen dazu zu bewegen, ebenfalls eine große Benin-Sammlung für das Museum zu kaufen. Während in den ethnologischen Museen die Transformation von Kultgegenständen in Kunstwerke im Gange war, wurde in der britischen Kolonie Nigeria das Königtum Benin als Mittel der indirekten Herrschaft wieder errichtet, dessen Repräsentanten bis heute den Verlust von 1897 nicht verschmerzt haben. Gegen Ende der Kolonialzeit begannen nigerianische Museen mit dem Rückkauf von Benin-Werken (damals noch relativ preisgünstig) – nicht für die Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Foto: Christian Feest Könige von Benin, sondern als Teil des historischen Erbes der Kolonie. Mit der Unabhängigkeit Nigerias begannen die Forderungen des Nationalstaats nach Rückstellung des „nationalen Erbes“ (unterstützt durch Resolutionen der UNESCO, teilweise unter Leitung eines nigerianischen Generalsekretärs). Heute stehen sich die Forderungen des Königshauses und jene Nigerias, mit jeweils anderer Zielsetzung bezüglich einer weiteren Verwendung, gegenüber und stoßen gemeinsam auf die Ablehnung der westlichen Museen. Gedenkkopf eines Königs, Königtum Benin, Nigeria, 19. Jh. Museum für Völkerkunde Wien (Slg. W.D. Webster) Bei aller Sympathie für beide Forderungen muss man jedoch die von der Geschichte geschaffenen Tatsachen anerkennen, die trotz aller damit verbundenen Schmerzen letztlich nicht umkehrbar sind. Ebenso wenig wie die Erfindung der Atombombe, lässt sich die Eroberung Amerikas rückgängig machen, und wenn die Kriegsbeute von 1897 zurück nach Afrika ginge, müssten wohl auch die Schweden die im Dreißigjährigen Krieg aus der Prager Burg verschleppten Kunstschätze reumütig zurückgeben. Die Anerkennung historischer Fakten bedeutet aber noch nicht, dass man nicht nach Wegen suchen sollte, um mit den bis in die Gegenwart wirkenden Folgen angemessen umzugehen. In dieser Hinsicht stellt die Wiener Ausstellung auch ein wichtiges Signal dar, da an ihrer Vorbereitung alle an dem historischen Geschehen Beteiligten mitgewirkt haben: das British Museum als Institution der ehemaligen Kolonialherren, der Nationalstaat Nigeria, und die königliche Familie von Benin haben Leihgaben beigesteuert; Vertreter Benins und Nigerias wirkten bei einem Symposium im Anschluss an die Eröffnung mit und setzten damit einen wichtigen Schritt der Vertrauensbildung, die für die Anerkennung der gemeinsamen Verantwortung für die Werke Benins notwendig ist. So kann möglicherweise ein Prozess in Gang gesetzt werden, an dessen Ende gemeinsam entwickelte Alternativen zu dem entweder/oder von Rückstellung und ihrer Verweigerung stehen könnten. Immerhin nahmen die Vertreter Benins lobend zur Kenntnis, dass die Schätze aus ihrem Königspalast vor allem auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung als Ritualgegenstände und nicht nur als Kunstwerke gezeigt wurden. Denn ungeachtet der Empfindungen der jeweiligen Betrachter, ist es auch eine historische Tatsache, dass diese Dinge nicht nur entweder Ritualgegenstände, nationales Erbe oder Werke der Weltkunst sind, sondern all dies zur gleichen Zeit. Globale Koexistenz funktioniert nur auf dem wechselseitigen Respekt vor den unterschiedlichen Sinngebungen, die man Dingen und Handlungen zuschreibt. Und damit sind wir schon beim Thema „Fortsetzung folgt“. Der baulichen Sanierung des Corps de Logis der Neuen Burg folgt nun die inhaltliche Sanierung des Museums für Völkerkunde. Die Benin-Ausstellung war nur ein Vorschuss auf ein Programm kleinerer und größerer Sonderausstellungen und schließlich auf die Neugestaltung der Schausammlung, an der seit der Schließung des Museums gearbeitet wird und die ab 2008 verwirklicht werden soll. Seit Gründung des Museums im Jahr 1928 hat sich die Welt rasant verändert. Mobilität und Kommunikation hat die Welt deutlich kleiner werden lassen, auf den Inseln der Südsee oder Karibik, von denen man früher in Anfällen von Zivilisationsflucht nur träumen konnte, fliegt man heute auf Urlaub. Die großen Migrationsströme der letzten Jahrzehnte haben die Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“ mitten in die eigene Gesellschaft verlegt. Niemals war es wichtige, die Gründe für die kulturelle Vielfalt der Menschheit und ihre Bedeutung für das Überleben der Welt zu verstehen. Museen als Sammlungen von Dokumenten dieser kulturellen Vielfalt sind Orte der Bewahrung notwendigerweise der Vergangenheit verpflichtet, sie richten sich aber an ein Publikum der Gegenwart, für das die Vergangenheit (auch die Wiener Institut – Völkerkunde Museum 83 Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie Neben dem weiterhin wichtigen Ziel der Erklärung des Lokalen muss in ethnologischen Museen unserer Zeit verstärkt der Kulturvergleich treten, die Auslotung der Bandbreite der kulturellen Artikulation des Menschen – die Vielfalt in der Einheit – deren Untersuchung einen wichtigen Traditionsstrang unserer Wissenschaft darstellt. Ethnologische Museen sollten sich aber auch der Möglichkeiten und Beschränkungen bewusst sein, die aus der Materialität ihrer Bestände, ihrer Entfremdung aus sinnstiftenden Lebenszusammenhängen, und (siehe Benin) ihrer Veränderung durch Einbettung in unsere eigene Kultur entstehen und – anstatt sie zu kaschieren – selbst zum Thema der Betrachtung zu machen. Aus historischen Gründen haben die ethnologischen Museen ein wenig den Anschluss an die Entwicklungen des eigenen Fachs verloren. Aber sie haben auch die Chance, ihre allzu selten als Quelle der Erkenntnis genutzten Bestände für die Weiterentwicklung einer etwas allzu mentalistisch und präsentistisch gewordenen akademischen Disziplin einzubringen. „Museum neu“ bedeutet also auch einen größeren Stellenwert für die Forschung, ohne die es niemals spannende Ausstellungen geben wird. Demnächst in diesem Museum … Christian Feest ist Direktor des Museums für Völkerkunde Wien und unterrichtet Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. 84 Wiener Institut – Völkerkunde Museum Foto: Christian Feest eigene) oft unverständlicher und „fremder“ ist als die Lebensentwürfe anderer Kulturen. Zugleich müssen sie dem Betrachter die Geschichtlichkeit des Dargestellten deutlich machen, Kultur als anhaltenden Prozess und nicht als statisches Produkt zeigen. Sie müssen den Blick für die Tatsache öffnen, dass menschliche Gesellschaften auf Dauer niemals Inselcharakter hatten, sondern stets im Austausch mit ihren Nachbarn standen. Reliefplatte: Portugiese mit fünf Manillas Königtum Benin, Nigeria, 16./17. Jh. Museum für Völkerkunde Wien (Slg. A. Maschmann) Die Institutsgruppe der Kultur-und Sozialanthropologie und die darin aktive und neu gewählte Studienvertretung stellen sich vor von der IG-KSA Studentisches Engagement – IG und STV: Was ist das? ei den Hochschülerschaftswahlen 2007 (22. - 24. Mai) wurde die neue Studienvertretung Kultur- und Sozialanthropologie gewählt. Seit Anfang Juli arbeitet die STV also in neuer Besetzung: Eine Gelegenheit sie gemeinsam mit der Institutsgruppe vorzustellen. B Die Studienvertretung (STV) Die STV der Kultur- und Sozialanthropologie ist die Interessenvertretung der Studierenden. Als solche beeinflusst sie die Institutspolitik u.a. durch die Teilnahme von Vertreter/innen in Gremien wie den Arbeitsgruppen für Curricula oder der Studienkonferenz (Stukon). Die Studienvertreter/innen sind gleichzeitig auch Mitglieder der Institutsgruppe (IG). In diesem Rahmen organisieren sie die Inskriptionsberatung, die Erstsemestrigentutorien und die während der Semester stattfindenden Journaldienste (Studienberatungen). Darüber hinaus leistet die STV finanzielle Unterstützung bei verschiedenen Projekten (wie etwa das Radioprojekt „Ethnowelle“ oder die Zeitschrift „Die Maske“) und organisiert Seminare, Veranstaltungen und Hörerinnen- und Hörerversammlungen. Die neue Studienvertretung KSA sind Verena Rechberger (Vorsitzende), Sandra Martinz (1.Stellvertreterin), Christiane Dajeng (2.Stellvertreterin), Valerie Linner, Florian Hahn bietet die IG auch einen guten Rahmen für bildungspolitische, aber auch außeruniversitäre Belange. Die IG verändert sich ständig, abhängig davon, wer gerade aktiv in, um und an ihr mitarbeitet. Mach dir also am besten selbst ein Bild von der IG und deiner STV und komm zu einem der wöchentlichen IG-Plena (jeden Donnerstag um 20:00 Uhr im STV-Kammerl, Zimmer C 419, NIG 4. Stock). Aus aktuellem Anlass: Wir möchten einen „Studienleitfaden für das neue Bachelorstudium“ entwerfen. Dafür würden wir uns besonders über die Mitarbeit von Erstsemestrigen freuen, da u. a. eure Fragen Ausgangspunkt für diesen Leitfaden sein sollen. Wer Erfahrungen im studienrechlichen und/oder redaktionellen Bereich sammeln möchte, melde sich bitte unter: [email protected]. Die Institutsgruppe (IG) Linksammlung Wie vielen der Basisgruppen (bagru) und Institutsgruppen (IG) ist es der Institutsgruppe Kultur- und Sozialanthropologie wichtig, unabhängig zu sein und eigene Standpunkte zu formulieren. In der IG-KSA werden Begriffe wie „unabhängig“, „links“, „undogmatisch?“, „emanzipatorisch“, „basisdemokratisch„ immer wieder explizit diskutiert oder sind zumindest oft implizit der Ausgangspunkt für das tägliche Engagement am und übers Institut hinaus. Durch ihre wöchentlichen Plena unterstützt die IG die Studienvertretung, einerseits bei der Entscheidungsfindung im Rahmen der studentischen Vertretung am Institut und andererseits bei der Durchführung von diversen Projekten. Neben studiumsergänzenden Aktivitäten STV-Homepage: http://www.univie.ac.at/stv-ksa/ Ethnomitschriften: http://www.ethnomitschriften.at/ Studierendenforum: http://www.univie.ac.at/stv-ksa/forum/ Kontakt: [email protected] Wiener Institut 85 Von der Mathematik zur KSA SPL-Support am Institut von EVELINE ROCHA-TORREZ Renate Fiala – Ein Porträt er in Wien Kulturund Sozialanthropologie studiert, kommt sehr schnell mit Renate Fiala in Kontakt. Sie betreut u.a. das von ihr selbst programmierte Victoria-Anmeldesystem und ist somit auch die erste Anlaufstelle für Kummer und Frust derer, die keinen Platz in der gewünschten LV erhalten haben. Renate Fiala steht aber auch denjenigen StudentInnen mit Rat und Tat zur Seite, die sich bei Anträgen und Bestätigungen verschiedenster Art an sie wenden. Was allerdings die wenigsten vermuten, ist, dass sich hinter der ganzen Energie und Lebensfreude eine Mathematikerin, Programmiererin und Ethnologin verbirgt … W Fragt sich nur: Wie kommt eine Mathematikerin ans Institut für KSA? „Schuld sind die Sami!“ Zumindest im Fall von Renate Fiala, die sich nach frustrierenden Erfahrungen als Mathematik-Lehrerin an einer Maturaschule für den einzigen Erasmus-Studienplatz im Diplomstudium Mathematik beworben und diesen auch bekommen hat. So kam es, dass sie ein Jahr im schwedischen Luleå verbrachte, das nur 80 km südlich des Polarkreises liegt. Wie vielen AustauschstudentInnen ist ihr das Zurückkommen sehr schwer gefallen, doch Renate Fiala wollte ihr MathematikStudium beenden, was ihr in Schweden nicht möglich gewesen wäre. Angeregt durch ihre Erfahrungen mit den Sami wollte sie sich nun auch in Wien intensiver mit deren Kultur und Lebensweise beschäftigen und beschloss deshalb kurzerhand, zusätzlich zur Mathematik, die Fächerkombination Skandinavistik und Ethnologie zu belegen. Nach acht Semestern KSA hätte eigentlich nur mehr die Diplomarbeit für den Abschluss gefehlt, doch es kam wieder einmal anders als geplant: Nachdem sie ihr Organisationstalent bei der EASA-Konferenz unter Beweis gestellt hatte, folgten gleich weitere universitäre Projekte, in die sie vor allem auch ihre langjährige Erfahrung mit Datenbanken einbringen konnte. Seit 2004 ist Renate Fiala nun Angestellte an der KSA – ein 86 Wiener Institut Job, der ihr sichtlich viel Freude bereitet. Deshalb hat sie es mit der Diplomarbeit auch nicht so eilig. Die könnte sie zwar gut über den Bereich der Organisationsentwicklung schreiben, den sie ja am Institut selbst aktiv mitgestaltet, aber „wenn, dann muss die Diplomarbeit schon zu den Sami sein!“. Das Programmieren der ersten Ausgabe von Victoria hat über ein Jahr in Anspruch genommen und die Umstellung auf das Bakkalaureat bringt natürlich seit Monaten jede Menge Arbeit, die noch lange nicht zu Ende ist. Die Lehrenden müssen auch organisatorisch versorgt werden; ein Bereich, den sich Renate Fiala mit dem Sekretariat und einer Studienassistentin teilt. Fragt man Renate Fiala danach, was ihr den Kontakt mit den Studierenden am meisten vergällt, dann kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Dass sie nicht lesen können!“ Naja, lesen können sie zwar, aber sie tun´s wohl sehr oft nicht. Da hilft es auch nicht, wenn man die Dinge auf die Homepage stellt, auf Infoblätter schreibt … Was Frau Fiala auch stört, sind StudentInnen, die nur so lange auf Biegen und Brechen ein Seminar besuchen wollen, solange sie glauben, dass es eine Pflicht-LV sei. Leute, die nicht einmal einen Blick ins Vorlesungsverzeichnis riskieren, bevor sie fragen kommen, sind auch eine Herausforderung der eigenen Geduld. Diese hat Renate Fiala zwar im Übermaß, aber wenn sich Leute absolut nur die Rosinen rauspicken wollen und so tun, als würde die Welt zusammenbrechen, wenn sie nicht ihre Lieblings-LV bekommen, dann kann auch sie einmal grantig werden. Dafür freut sich Renate Fiala aber auch sehr, wenn sie helfen kann und StudentInnen voller Begeisterung sind, weil sie doch noch einen der gewünschten Plätze bekommen haben. Auch Kleinigkeiten, die zeigen, dass die StudentInnen mitdenken, wenn sie nicht das halbe Institut mit ihren Anfragen beschäftigen, sondern nur diejenigen, welche die Angelegenheit wirklich betrifft, freuen sie. Bleibt nur zu hoffen, dass Renate Fiala noch lange am Wiener KSA-Institut bleibt. Denn: Lust hätte sie schon, wieder zu den Sami zu gehen. Allerdings: „Wenn ich das mach, dann bleib ich dort. So ein hin und her wär nichts für mich …“ textfeld ermöglicht es jungen ForscherInnen von der Seminararbeit bis zur Dissertation ihre Arbeiten publik zu machen. von THOMAS MÜLLER Von der Schublade ins Internet er Verein textfeld (vormals mnemopol) setzt sich für mehr Online-Publikationen an österreichischen Universitäten ein und beginnt bei den ForscherInnen von morgen: bei den Studierenden. Es war im Frühjahr 2001, als vier Studierende der Universität Wien eine Idee hatten: Uni-Arbeiten sind zu schade, um nach deren Abgabe in diversen Schubladen zu verschwinden; Immerhin werden jedes Semester unzählige Arbeitsstunden ins Recherchieren und Schreiben investiert. Vielmehr sollte das relativ neue Medium Internet dazu benutzt werden, um diese Texte einfach und kostengünstig zu veröffentlichen, ohne die Hindernisse des Print-Publikationssystems. D Aufbau Im Herbst 2001 ging schließlich die Webpräsenz mnemopol.net online, die Vorgängerin von textfeld.ac.at. Dem nicht-kommerziellen Grundgedanken entsprechend, sollten Publikation und Download für die BenutzerInnen kostenlos sein. Methode der Wahl war eine Online-Datenbank mit kopiergeschützten PDF-Dateien. Dank der Kooperationen mit der Bundes-ÖH, science.orf.at und derStandard.at/wissenschaft erfuhren nun immer mehr Studierende von dem Projekt und steuerten ihre Seminar- und Diplomarbeiten bei. So erfreulich diese Entwicklungen waren, so wenig passierte auf der materiellen Seite. Ein weiterer Ausbau war aber ohne finanzielle Unterstützung nicht zu machen. Auch das Zeitbudget der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen war begrenzt, schließlich musste das Studium vorangetrieben und finanziert werden. So fristete die Website noch einige Jahre ihr Dasein auf Sparflamme. Umso überraschender kam es dann, als im November 2006 die Fördergelder für den Relaunch vom damaligen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BMBWK) genehmigt wurden. Jetzt waren die finanziellen Mittel da, um die Website technisch auf den neuesten Stand zu bringen und sie auch bekannter zu machen. Das damals dreiköpfige Team erstellte das Konzept während für die Ausführung ein Datenbankprofi und eine Grafikerin unter Vertrag genommen wurden. Nach Monaten der Entwicklungs- arbeit (neben Studium oder eigentlichem Broterwerb) konnte die neue Website im Sommer 2007 der Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie bekam auch einen neuen handlicheren Namen verpasst: textfeld. Das Prinzip des kostenlosen PDF-Archivs wurde weitergeführt, aber im Gegensatz zu mnemopol.net sind auf textfeld.ac.at nun alle Fachrichtungen und alle Universitäten Österreichs in der Datenbank vertreten. Verbessert wurden zudem die Möglichkeiten zur Selbstpräsentation, Vernetzung mit den UserInnen und Verlinkung mit anderen Texten auf der Plattform. Seit September erscheinen wieder neue Rezensionen von Bakkalaureats- und Diplomarbeiten in einem eigenen Channel auf derStandard.at. Auch die UserInnen sind hierbei involviert und sind eingeladen (für ein Honorar von 40 Euro) Rezensionen zu verfassen. So ist das öffentliche Augenmerk für die Arbeiten auf textfeld.ac.at weiterhin gesichert. Zukunft Das langfristige Ziel ist die stärkere Etablierung von Online-Publikationen im universitären Betrieb. Der angelsächsische Raum lebt bereits vor, wie eine Welt ohne überteuerte Journals und langsame Verlagsabläufe aussehen kann. In Österreich kommt erst langsam Bewegung in die alten Publikationsstrukturen. textfeld konzentriert sich dabei vorerst auf junge ForscherInnen. Geplant ist die Zusammenarbeit mit SeminarleiterInnen und Studierenden, um gemeinsam inhaltliche Schwerpunkte auf der Seite zu setzen (so genannte „Themencluster“). Ein erster Versuch wird mit dem Thema „Netzwerke“ und dem Fach Publizistikund Kommunikationswissenschaft Ende 2007 gestartet. Aber auch gegenüber einer Zusammenarbeit mit der Kultur- und Sozialanthropologie ist der Verein aufgeschlossen, denn an interessanten Texten dürfte es hier nicht mangeln. Thomas Müller ist Absolvent der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (Universität Wien) und seit 2001 Mitarbeiter beim Verein textfeld. http://www.textfeld.ac.at Wiener Institut 87 Das Institut der Europäischen Ethnologie in Wien bietet eines der kreativsten Fächer von MALTE BORSDORF Das Studium der Volkskunde as ist Europäische Ethnologie? Eine Kulturwissenschaft des Alltags, die Kultur in ihrem weitesten Sinne auffasst; als das was Menschen in und mit ihren Alltagen tun. Somit können Mixer ebenso Untersuchungsgegenstand sein wie das Reisen in Mitfahrgelegenheiten, Einweihungsfeten oder der Schnellimbiss. In diesem Fachverständnis einer Kulturund Sozialwissenschaft des Alltags, entwickelte sich die Europäische Ethnologie aus der Volkskunde, die sich „vormodernen Kulturen“ verpflichtet sah und im 19. Jahrhundert erstarkte. W Das Wiener Institut wurde nach der Berufung Konrad Köstlins am 1. Januar 2000 von Institut für Volkskunde in Institut für Europäische Ethnologie umbenannt. Doch die Studienrichtung heißt nach wie vor Volkskunde. Bislang gliedert sie sich in zwei Studienabschnitte. Der erste dient dem Grundstudium, während der zweite Abschnitt mit einer Diplomarbeit abgeschlossen wird. Ab dem Wintersemester 2008/2009 ist auch hier eine Umstellung auf den Bakkelaureats- und Masterstudienplan geplant. Nach Informationen von Konrad Köstlin kommt das Institut derzeit auf etwa 500 Studierende, einschließlich der rund 100 DiplomandInnen und DissertantInnen. Regelmäßig sieht man davon ungefähr 120 Studierende. Dadurch ist das Institut vergleichsweise klein und die StudentInnen werden sehr gut betreut. Es findet eine rege Zusammenarbeit zwischen dem Institut und den StudienrichtungsvertreterInnen statt, was sich nicht nur bei den Institutsfesten zeigt. Diese Zusammenarbeit und Förderungen der StudentInnen wird z. B. beim Kauf von Diktiergeräten für die Feldforschung deutlich oder dadurch, dass das Institut für die Ideen der Studierenden offen ist. So wird derzeit beispielsweise eine studentische Veranstaltungsreihe mit Filmabenden und Lesungen entwickelt. Der Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre wird durch die regelmäßig stattfindenden Studienprojekte gestärkt. Unter der Leitung einer oder eines Lehrenden wird ein mehrere Semester dauerndes Forschungsprojekt durchgeführt. Um zwei Beispiele zu 88 Vernetzung – Deutschsprachige Institute nennen: Das von Elisabeth Timm geleitete Studienprojekt „Das Herz“ mündete in der Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Kalenders, während das Projekt „Leben und Überleben im Konzentrationslager Dachau“ von Michaela Haibl derzeit mit der Ausstellung „Zeit. Raum. Beziehung.“ in der Gedenkstätte Dachau und einer Publikation abgeschlossen wird. Auch andere Lehrveranstaltungen sind sehr praxisnah. So etwa das von Klara Löffler geleitete Seminar „Die Tücke des Objekts“ das sich zum Ziel setzt, einen Aufsatz zur Methodik der Objektanalyse zu schreiben und zu veröffentlichen. Vom 7. bis 10. Juni 2007 wurde das jährlich stattfindende Studierendentreffen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Wien ausgerichtet. Rund 160 TeilnehmerInnen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich debattierten am Institut und im Österreichischen Museum für Volkskunde über die Zukunft des Fachs und feierten ein ausgelassenes Fest im Gartenbaukino. Ergebnis des Studierendentreffens war u. a. die Vernetzung der StudentInnen auf einer WikiInternetseite. Außerdem wird momentan eine Publikation erstellt, die die weiteren Ergebnissen des Studierendentreffens vorstellt. Kurzum: ein abwechslungsreiches Studium in einem schönen Altbau zwischen Burggarten und Albertina. Urs Malte Borsdorf studierte Europäische Ethnologie in Innsbruck. Derzeit Magisterstudium am Institut für Europäische Ethnologie in Wien. Veröffentlichungen in Anthologien, Literatur- und Fachzeitschriften (bricolage, Schreibkraft, Podium u. a.). Internet Institut für Europäische Ethnologie: http://euroethnologie.univie.ac.at Studierenden-Wiki: http://www.ku-wi.net Österreichisches Museum für Volkskunde: http://www.volkskundemuseum.at Deutsche Gesellschaft für Volkskunde: http://www.d-g-v.org/ Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen von der ETHNOLOGIK-REDAKTION Ethnologik – München „Fremdes macht Sinn! – In unserem unermüdlichen Versuch fremde Lebensentwürfe zu verstehen, stoßen wir Ethnologen bisweilen an ernst zu nehmende Grenzen. Das im Feld Beobachtete kann schließlich nur mit den eigenen Kategorien erfasst, geordnet und beschrieben werden. Aber diese Erkenntnis ist nicht das Ende der Ethnologie. Im Gegenteil! – Sie gehört zu ihren großartigsten Leistungen!“ (Ethnologik 2007a: 3). Und gerade deshalb macht es Sinn, sich mit fremden Perspektiven auseinanderzusetzen. Nicht um zu werten, nicht um zu entwickeln, sondern um das eigene Denken zu bereichern und das volle Potential des "Menschseins" in einer gemeinsam bewohnten Welt sichtbar zu machen. Wir wollen ethnologische Themen daher nicht nur innerhalb unseres eigenen Faches diskutieren, sondern möglichst auch einer breiteren Öffentlichkeit nahe bringen. Mit diesem Vorsatz machte sich unsere Redaktion im Herbst 2005 an eine Neuauflage der schon lange existierenden Institutszeitschrift. Das Leitthema der ersten Ausgabe im Frühjahr 2006 „going public“ war somit schnell gefunden. Es folgten die Themen „flower power“ (Ethnologie ein Orchideenfach?), „Macht“ und „Integration“. Auf insgesamt sechzig Seiten bemühen wir uns seither um eine bunte Mischung aus theoretischen und journalistischen Artikeln, Feldforschungsberichten, Bildern, Interviews, Satire und vielem mehr. Dabei ist uns die „Lesbarkeit“ der Zeitung wichtig - keine trockene Textwüste, sondern abwechslungsreiche Unterhaltung! So hoffen wir einen kleinen Einblick in die Vielfalt ethnologischer Themen zu ermöglichen. Darüber hinaus legen wir Wert auf interdisziplinäres Arbeiten, denn der sprichwörtliche „Blick über den eigenen Tellerrand“ ist bei uns Programm. Mit der Rubrik „Normal in München“, die etwa ein Drittel der Zeitschrift umfasst, greifen wir konkrete Themen im Münchener Alltag heraus und recherchieren diese vor Ort mittels Feldforschung und Interviews. „Es ist der Versuch, einen kleinen Einblick in die Lebenswelten einzelner Münchener Mitmenschen zu erlangen“ (Ethnologik 2006a: 38). So recherchierten wir beispielsweise für die Herbstausgabe 2006 als teilnehmende Beobachter in einem integrierten Wohnheim für geistig Behinderte und Studenten und in unserer aktuellen Ausgabe widmen wir uns der Frage nach der Integration muslimischer Mitbürger in München. Die Ethnologik erscheint halbjährig mit einer Auflage von derzeit neunhundert Stück und ist auch im Internet unter www.ethnologik.de und im NIG Facultas verfügbar. Bestellbar ist die Zeitschrift über folgende Adresse: Redaktion Ethnologik, Institut für Ethnologie und Afrikanistik der Universität München, Oettingenstraße 67, 80538 München. Artikel können gerne per e-mail an ethnologik@gmx eingeschickt werden. Mit besten Grüßen nach Wien, die Ethnologik-Redaktion Vernetzung – Zeitschriftenporträts 89 Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen von der CARGO-REDAKTION Die Cargo – Halle ibt es eine Plattform, auf der Theorien, Perspektiven, Denkansätze und Debatten der Ethnologie unabhängig und frei diskutiert werden können? Ja: die Cargo – Zeitschrift für Ethnologie! Erstmals erschien die Zeitschrift im Jahre 1980. Seither sind durch wechselnde Redaktionen in unterschiedlichen Universitätsstädten 26 Ausgaben entstanden. 2003 schlief das Projekt ein, doch im April 2006 wurde durch einen Appell aus Göttingen, das studentische Zeitschriftenprojekt nicht aufzugeben, die Cargo offiziell aus ihrem Schlummerzustand geholt. So kam es, dass sich schließlich eine kleine Gruppe von Hallenser StudentInnen der Cargo angenommen hat und im Frühjahr 2007 mit Hilfe aus Göttingen die 27. Ausgabe herausgab. G Vor der anstehenden Neuauflage galt es einige Fragen zu klären. So stand zu Beginn nicht fest, ob die Cargo weiterhin Cargo heißen würde. Sollte man wirklich einen Namen wählen, der an einen Tropenhelm tragenden Ethnologen denken lässt? Ja, auf jeden Fall, denn was ist interessanter, als eine stereotype Vorstellung mit offenen und breit gefächerten Inhalten zu füllen? Ohne lang zu überlegen, übernahmen die „neuen Cargoten“ die Prämissen der Vergangenheit. So liest man in der Ausgabe 22: „ohne Hierarchien, offen für alle (bei uns dürfen sogar Profis schreiben), ohne Zensur, aber mit Anspruch“. Des Weiteren wurde eine Sache nie angezweifelt: Die Cargo ist und bleibt in erster Linie eine Zeitschrift von StudentInnen für StudentInnen. So setzt sich die Redaktion derzeit aus angehenden EthnologenInnen der Universitäten Halle, Leipzig und Göttingen zusammen. Wenn es nach den HerausgeberInnen ginge, könnte es eine Ausbreitung von Hamburg bis nach München geben. Ein Netzwerk zu schaffen ist eine der Intentionen der Cargo-RedakteurInnen. Gegenwärtig arbeiten neun EthnologiestudentInnen daran, dass es im kommenden Frühjahr 2008 die Ausgabe 28. geben wird. In Gedanken ist man auch schon bei Nummer 29., 30. und Folgenden. (Da hat das LangzeitstudentInnendasein doch gleich einen Anreiz mehr…) Ziel ist es, jedes Jahr eine bis zwei Cargos mit einer Auflagenstärke von 500 Stück und wechselnden Themenschwerpunkten zu drucken. Diese sind dann für drei Euro auf dem Völkerkundemarkt (bei euren Fachschaften oder im Internet) natürlich auch für NichtEthnologInnen zu erwerben. Die Inhalte der Cargo beziehen sich auf vielfältige Fragestellungen rund um 90 Vernetzung – Zeitschriftenporträts die Ethnologie, aber auch artverwandter Fachrichtungen. Aktualität wird groß geschrieben, sei es die derzeitige MigrantInnendebatte in Deutschland, die Umstellung des Studiums auf BA/MA-Abschlüsse, oder die Perspektiven der Ethnologie als gesellschaftlich relevantes Fach. Falls jetzt noch Fragen auf eurer Seele brennen, schaut auf der Homepage unter www.cargo-zeitschrift.de vorbei. Dort erfahrt ihr unter anderem auch, wie und wo die Cargo käuflich zu erwerben ist und an wen ihr euch wenden müsst, um ins Cargo-Boot einzusteigen. Vergesst eines nicht: Die Cargo will Platz zum Ausprobieren bieten, sowie die Möglichkeit, sich neben der Uni im journalistischen beziehungsweise wissenschaftsjournalistischen Schreiben und in redaktioneller Arbeit zu versuchen. Jeder kann sich angesprochen fühlen, mitzumachen und los zu schreiben. Also: Nur Mut und ran an die Füllfederhalter oder Notebooks! Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen von der AG MEDIEN CLTR – Zürich rgendwann, irgendwo, irgendwie, geisterte der Gedanke, ethnologischen Themen auch mal ausserhalb der Hörsäle in unterschiedlichen Formen Präsenz zu verschaffen, durch die Köpfe einiger Züricher Ethnostudis. Das Frühjahrssemester 07 näherte sich schon langsam dem Ende, als an einem warmen Sommerabend bei kühlem Bier ganz offiziell die AG Medien gegründet wurde. Ah ja, AG von wegen Arbeitsgruppe, nix mit Aktien … um auch gleich die ersten Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Von Radioprogrammen war da die Rede, und von Homepages, Blogs, Zeitschriften, Fotoausstellungen, Podcasts und Filmfestivals. An Ideen, was so eine AG Medien alles auf die Beine stellen könnte, mangelte es jedenfalls nicht. I Nach einem langen und ziemlich tiefen Sommerschlaf wurde der harte Kern der AG denn auch sofort wieder aktiv und langsam aber sicher wurde auch klar, dass als erster Schritt eine Zeitschrift ins Leben gerufen werden sollte. Als nächstes galt es natürlich einen passenden Namen für unser Heft zu finden. Nach einem längeren Aushandlungsprozess stand fest: CLTR heisst die erste Zürcher Ethno-Zeitschrift. CLTR ist eine Anspielung an die Begriffe culture/cultura aus dem Wortschatz verschiedenster Sprachen und an das täglich benutzte „Ctrl“ der Computertastatur: CLTR steht für den Umgang mit ethnologisch relevanten Themen in einem neuen Jahrtausend, für eine kritische Betrachtung aktueller Themen in der Welt: Weit weg von Zürich, gleich um die Ecke oder in sozialen Hyperspaces, wie dem Internet. Zukunft ein Mal pro Semester erscheinen. Weitere Infos findet ihr auch im virtuellen Zuhause unseres Fachvereins: www.fvez.ch oder direkt per Mail an: [email protected]. Ganz im Sinne der Globalisierung streben wir auch eine Vernetzung mit anderen Zeitschriften im Deutschsprachigen Raum an. Wer also Lust verspürt die Computertastatur auch mal außerhalb von Seminararbeiten zu quälen, soll sich doch bei uns melden! Wie der Name AG Medien vermuten lässt, haben wir natürlich unsere übrigen Ideen nicht verworfen; Ziel ist es, ethnologische Themen nicht nur via Printmedien zu verbreiten, sondern auf das gesamte Spektrum medialer Ausdrucksmöglichkeiten zurückzugreifen. Fotoausstellungen, Filmfestivals, Podcasts und ähnliches stehen somit weiterhin zur Diskussion und sollen Studierenden eine Möglichkeit bieten, sich in Medienaktivitäten zu üben. Also, was auch immer ihr macht, kontaktiert uns! Nicht nur Schreiberlinge, auch FotografInnen, FilmemacherInnen, ComiczeichnerInnen und KünstlerInnen aller Art sind willkommen! www.fvez.ch [email protected] Unterdessen hat der Kaffee an den Redaktionssitzungen das frühsommerabendliche Bier ersetzt, es wurden Druckkosten verglichen und Autor (-en und -innen) gesucht und gefunden. Diese widmen sich in der erste Ausgabe dem, was Wikipedia als den „archimedischen Anker“ unseres Faches beschreibt: dem Fremden. Einem Begriff, der der Ethnologie seit längerem suspekt zu sein scheint, aber nichts an Aktualität eingebüßt hat. Interviews, Reportagen, Analysen, Buchrezensionen aber auch künstlerische Beiträge werden aus den unterschiedlichsten Perspektiven heraus Blicke auf den „archimedischen Anker“ werfen. Mehr soll jetzt aber noch nicht verraten werden; ab Mitte Februar des kommenden Jahres wird CLTR schliesslich an der Uni Zürich käuflich erwerbbar sein und in Vernetzung – Zeitschriftenporträts 91 Ein kurzer Abriss zum Projekt Maske von der MASKE-REDAKTION Die Maske – The story continues… Es läuft! Und zwar gut! Mit der Zeit kristallisierte sich vor allem eines heraus: Die MASKE herauszugeben – das ist ein Fulltimejob. Die Doppelbelastung durch Studium und redaktionelle Arbeit ist nur dann zu schaffen, wenn es engagierte MitarbeiterInnen gibt, die die Zeitschrift als ihr eigenes Projekt anerkennen. Im vergangenen Semester gab es eine starke Teamumstrukturierung – die Köpfe hinter der MASKE verändern sich also, aber die MASKE bleibt. Wir haben Verstärkung im Kernteam (Wilhelm Binder, Birgit Pestal, Ursula Probst), beim Layout (Mathias Wittau), beim Lektorat (Malte Borsdorf, Martina Leovac, Lisa Ringhofer) und bei Fragen der professionellen Buchhaltung und des Web-Auftrittes erhalten. Aus dem Kernteam der ersten Ausgabe ist nur die Gründerin der Zeitschrift, Norma Deseke, erhalten geblieben, die das Projekt heute engagiert am Leben erhält und den Überblick bewahrt. Anthropologische Themen sind durch die Arbeit an der MASKE für uns praktisch, anschaulich und überaus brisant geworden. Wir stellen interessante Kontakte her, diskutieren Beiträge, Konzeptionen, anthropologische Theorien und Erklärungsmodelle und – wir geraten unter verschiedenste Arten von Druck, der mit redaktioneller Arbeit ganz natürlich einhergeht. Unweigerlich kommen wir dabei auch mal in Verlegenheit, begehen den einen oder anderen Fauxpas und lernen dazu. Die Auswahl an Fehlern scheint groß genug zu sein, wir versuchen also jeden nur einmal zu machen. Zudem scheint es notwendig, formale Prozedere zu entwickeln, die einheitlich sind, sowie Transparenz für die AutorInnen zu schaffen. Beim Lektorieren geben wir uns größte Mühe auch versteckte Ethnozentrismen aufzudecken. Und da auch StudentInnen für uns schreiben, geraten wir unter anderem in die brenzlige Situation, unsere eigenen KollegInnen zu kritisieren. Die Maske wird zunehmend ein diskursives Projekt. wollen wir evtl. auch StudentInnen anderer Fakultäten ermöglichen – wobei der Nutzen für das Projekt im Vordergrund steht. Wir brauchen z.B. rechtliche Beratung, jemanden der unsere PR und Werbung übernimmt und Aushilfe bei Verkauf und Anzeigen. Unser Lektorat kann noch Verstärkung gebrauchen. Auch Illustrationen sind immer gefragt. Wenn wir dafür Zeit hätten, würden wir auch gerne einen Weblog betreuen, der zu aktuellen Geschehnissen am Institut, bzw. in der Anthropologie allgemein, Stellung nimmt. Anthropologie kann für StudentInnen durch Mitarbeit bei der MASKE praktisch und realitätsnah werden, das ist zumindest unsere Erfahrung. Unterstützen kann man uns natürlich auch ganz einfach, indem man die MASKE im Freundeskreis weiterreicht und ins Gespräch bringt. Wir sind ein NoBudget Projekt – dementsprechend freuen wir uns auch über stille TeilnehmerInnen, die uns, bzw. den Kulturverein Pangea mit Spenden unterstützen wollen. Die Nachfrage für die erste Ausgabe ist immer noch vorhanden – wir planen daher einen Nachdruck – abhängig von den Geldmitteln die uns nach dem Verkauf von Ausgabe Nr.2 zur Verfügung stehen werden. Wenn alles gut geht, ist auch die dritte Ausgabe der MASKE finanziert – an dieser Stelle wollen wir uns beim Institut und insbesondere bei Thomas Fillitz für die moralische als auch finanzielle Unterstützung bedanken. Für 2008 planen wir eine klarer strukturierte Arbeitsverteilung, eine konkretere Konzeption sowie auch den Relaunch unserer Webseite. Gute Ideen sowie MitarbeiterInnen, die diese auch verwirklichen wollen, sind gefragt und mehr Vernetzung wird angestrebt. Unser Anspruch auf Qualität ist hoch und wir nehmen uns vor, ein Medium für originelle Beiträge zu sein, die wissenschaftlich und dennoch flott zu lesen sind. Wir hoffen, das ist uns auch mit dieser Ausgabe gelungen! Die MASKE-Redaktion Für das nächste Semester streben wir auch etwas an, das wir derzeit das „MASKE- Individualpraktikum“ nennen. Wir stellen uns vor, dass es künftig möglich sein wird, bei uns mitzuarbeiten und dafür auch ein Praktikumszeugnis ausgestellt zu bekommen. Diese Möglichkeit 92 Vernetzung www.diemaske.at Kulturverein Pangea Gussenbauerg.1/10, 1070 Wien Spenden-Knt..Nr.: 03010 923 890 BLZ 14000 BAWAG