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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
herausgegeben von
WILHELM BINDER, NORMA DESEKE, BIRGIT PESTAL, URSULA PROBST
INHALT
Salon…...................................Seite 3 - 18
Ulf Hannerz im Gespräch - Norma Deseke & Birgit Pestal
Wiener Lebensstile und Globalisierung - H. Mühlwisch
Islam und Cola - Bernhard Fuchs
Religion imZeitalter der Globalisierung-M.Six-Hohenbalken
Biografien unter globalisierten Verhältnissen - Gerhard Jost
Kolumne…...........................Seite 22 - 24
Wir und die Anderen - Niko Reinberg
Fachgebiete……..................Seite 25 - 39
Anthropologie der Medien - Philipp Budka
Mythen und Medien - Elke Mader
Online-Journalismus/Filmkonsum - B. Fuchs & B. Pestal
World of Warcraft - Birgit Pestal
Ivo Strecker im Gespräch - Ixy Noever & Julia Pontiller
Regionalgebiete…...............Seite 41 - 74
Fremde Länder, Fremde Sitten - G. Fartacek & M. K. Lang
Der Mazdakismus im Iran - Thomas Schmidinger
Die alltägliche Gewalt - Ines Garnitschnig
CASOP II - Gudrun Kroner
Menschen im Gaza - Gudrun Kroner
Nach dem Khalifat - Saya Ahmad
Frauenpartizipation in der Türkei - Soma Ahmad
LEEZA- Österreich - Mary Kreutzer
Der Helfer braucht das Opfer - Monika Maria Kalscisc
Hindunationalismus im Cyberspace - Christian Mazal
Seriously Shah Rukh - Mehru Jaffer
Die Politisierung der Tanzkultur - Erika Neuber
Indische devadasis einst und jetzt - Eveline Rocha Torrez
Reisen als Kind - Katherina Hammerle
Wiener Institut…................Seite 75 - 87
Nyahbinghi - Werner Zips
Interview Bambi Schieffelin - St. Seitelberger & S. Hofmair
Museum für Völkerkunde neu - Christian Feest
Studentisches Engagement - IG und Stv
Ein Poträt - Renate Fiala - Eveline Rocha Torrez
Von der Schublade ins Internet - Thomas Müller
Vernetzung….......................Seite 88 - 92
Das Studium der Volkskunde - Malte Borsdorf
Profile dreier KSA Zeitschriften - München
„Ethnologik“; Halle „Cargo“; Zürich CLTR
Das Projekt „Die Maske“ - Die Redaktion
Bücher&Filme...Seite 19/19/20/20/21/40
Normieren, standardisieren, vereinheitlichen - Malte Borsdorf
Grundkonzepte der KSAin der Globalisierungsdebatte-F. Kreff
Einsame Weltmacht - Markus Chvojka
Hinterm Zaun und davor - Malte Borsdorf
The Cooperation - Lydia Garnitschnig
Faszination Bollywood - Lisa Ringhofer
Anthropology
goes public!
Die zweite Ausgabe der MASKE – Zeitschrift für Kultur und
Sozialanthropologie behandelt im Salon Aspekte der Globalisierung,
das Fachgebiet Medienanthropologie und in der Rubrik Region
widmen wir uns dem Nahen Osten und Indien.
Die Anthropologie befindet sich im Wandel, sie ist das Fach der
Globalisierung schlechthin. Die Verbindungen zwischen dem lokalen
Lebensraum und den globalen Wirkungszusammenhängen und die
hier entstehenden Kreuzungspunkte fordern die spezifischen Zugänge, die das Fach bereitstellt. Es liefert Perspektiven und Möglichkeiten, sich mit den kulturellen Dimensionen aller Lebensbereiche zu
beschäftigen. Globalisierung ist streng genommen nichts Neues,
dennoch erleben wir sie mit einer beispiellosen Beschleunigung und
Intensität, die die Kultur- und Sozialanthropologie vor neue
Herausforderungen stellt.
Globalisierung bedeutet eine neue Zugänglichkeit zur kulturellen
Vielfalt. Neue Medien wie das Internet ermöglichen eine Form der
Vernetzung und Interaktion zwischen Menschen und über Grenzen
hinweg, wie es bisher nicht möglich war. Gerade hier kommt auch den
Massenmedien ihre zentrale Vermittlerposition zwischen Bevölkerung
und Politik zu. Medien konstruieren Realitäten und klammern andere
aus, sie selektieren Informationen und schaffen Deutungshoheiten
über Konzepte.
In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutend, Wissen über
Wertekonstruktionen und über die Vielfalt der menschlichen Organisationsformen zu vermitteln, um Konflikte zu vermeiden, Verständnis
zu erzeugen oder Kritik anbringen zu können. Die Anthropologie
liefert dieses Wissen, die Zeit der lediglich fachinternen Diskussionen
ist vorbei – Anthropology goes public. Dieser Trend ist z.B. durch die
neuen studentischen Zeitschriften in München, Halle, Zürich und
Wien bemerkbar: Die Ethnologik in München nahm ihre
Redaktionsarbeit wieder auf, die Maske in Wien wurde gegründet,
StudentInnen in Halle reanimierten die Cargo und jetzt passiert auch
etwas in Zürich, die Projektgruppe AG Medien arbeitet an der ersten
Ausgabe der CLTR. Außerhalb des studentischen Rahmens zeigen sich
ähnliche Tendenzen: So wird Arjun Appadurais The Fear of Small Numbers auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erscheinen, ebenso erscheint im
Herbst 2008 das Handbuch für Globalisierung - anthropologische und
sozialwissenschaftliche Kenntnisse für die Praxis (Suhrkamp) in einer
hohen Auflage. Zweifellos ist es eine spannende Zeit für lebendige,
interdisziplinäre anthropologische Forschung. Eine neue Generation
von AnthropologInnen arbeitet. Wir freuen uns, dabei zu sein!
„
Viel Spaß beim Schmökern!
Norma Deseke
Editorial
1
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
hellwach – bei Gewalt gegen Frauen
Das Projekt hellwach greift das Thema
„Gewalt an Frauen“ auf und trägt es mit
Hilfe der kunstpolitischen Interventionen in
den öffentlichen und privaten Raum.
Die Mittel, die wie verwenden sind:
großflächige Botschaften und die Zusammenarbeit mit Gewaltschutz-, Integrationsund politischen Eintichtungen, der Wirtschaft und Kunstprojekten. Ziel ist es, das
Thema mit künstlerischen Mitteln breit in
den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen
und damit wichtige Präventions- und
Aufklärungsarbeit zu leisten.
Die Texte sind zweisprachig: in
deutsch/türkisch und deutsch/serbokroatisch. Nehmen Sie die Kekse „mit
Inhalt“ und verteilen Sie sie weiter. Ganz im
Sinne des chinesischen Widerstander, als
im 13./14. Jahrhundert die Chinesen mit
Hilfe von Botschaften in Glückskeksen von
den möglichen Besatzern befreien konnten.
Carla Knapp & Angela Zwettler
[email protected]
Spendenkonto: Verein hellwach
PSK 00 510-021-088, BLZ 60000
Von den einzigartigen
Naturschönheiten in COSTA RICA
über das Land der Revolutionen
NIKARAGUA bis zur Welt der Mayas
in GUATEMALA spannt sich der Bogen
dieser Reise.
Heidi & Pascal Violo erleben
gemeinsam mit ihrer 2-jährigen Tochter
Amelie-Fè eine Welt der kulturellen
Vielfalt, die von den Begenungen mit
den Menschen geprägt wird. Sie lernen
das Volk der GUARI GUARI auf einer
Insel in PANAMA kennen, treffen nach
tagelangen Einbaumfahrten durch den
Dschungel die MISKITO Indianer in
HONDURAS und feiern ausgelassene
Feste mit den GARIFUNAS an der
Karibikküste.
So ist die junge Familie immer
„unterwegs um zu erleben, dass jede
Schöpfung eine Kunst ist.“
2
Anzeigen
A conversation about organization of diversity, challenges for anthropology
and some central terms
von NORMA DESEKE und BIRGIT PESTAL
Questioning
the Cosmopolitan
Ulf Hannerz about the internally quite diverse
Ulf Hannerz is a Swedish professor
and one of the leading anthropologists
worldwide. He sees culture as
something being constantly in motion
– this is fitting very well with the
dynamic image of a world shaped by
the ongoing excitement for
globalization and interconnectedness.
From this point of view, culture and
meaning may become durable in the
sense of „cultural invention“. Today’s
Cultural Anthropology has moved on
from what is used to be in its
beginnings. As a voice for a new
generation of anthropologists, Ulf
Hannerz has focused on concepts like
creolization, cultural flows, cosmopolitans
or organization of diversity and therefore
also provided useful tools for thinking
about the increasingly popular term of
„culture“. His work provides an
account of culture in an ever more
globalizing world.
We met him in autumn 2007 in Vienna
at the IFK (Internationales
Forschungszentrum
Kulturwissenschaften). The following
interview aims to provide a summary
of some of our main discussion points.
How did your interest for KSA start?
Like many people I came to anthropology without intending to stay in
it forever. I had this interest in Africa. This was in the 1960s and Africa
was becoming independent, one state after another. That was exciting
but I really intended to go into zoology and decided just to take one
course in what was called „ethnography“. I found that interesting – so
I remained there. Ethnography was then a very small subject in
Sweden, so I did what there was to do for an undergraduate, but since
I was becoming more serious about it, I went on to an American
university for a year. That broadened my new knowledge on what
anthropology was really about. What I had studied in Stockholm was
very old-fashioned. Then a little later I was invited to come and do
research with a socio-linguistic project in Washington DC. The project
was studying Black American dialect, and I provided ethnographic
background information.
Can you tell us more about your interest in West African culture?
I did eventually go to West Africa, in the 1970s and 1980s, and did field
work in a Nigerian town. That actually took me to my interest in globalization, and creolization, but that is another story. In the American
context, there was this question to what extent Black Americans
actually have anything West African in their culture, which has survived the slave trade and slavery and the incorporation into American
life. That has been a controversial issue: are Black people just like any
other Americans or do they really have a separate culture? I still feel
that most Black Americans have never really become fully integrated
and assimilated into American society. So there has been a degree of
autonomy to maintain and develop some culture of their own. I think
recently there has probably more readiness to acknowledge a certain
distinctiveness in the black tradition.
What do you mean by this distinctiveness?
My most obvious example would be in Black American music which
has always maintained a certain autonomy. Black culture is also about
storytelling, the emphasis on speaking. That’s something that has been
cultivated for generations. It is about telling a story well or winning in
an argument: the mastery of words. But also I think of one figure
which exists in West African culture and which I think somehow
Salon – Globalisierung
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
survived not only in Black America but also in the
Caribbean. This is a trickster figure, who seems
politically and physically weak but who is smart and can
win conflicts by outwitting the opponents and doing this
by being rather unpredictable and perhaps not always a
fully respectable being. And I think you find this in some
black political figures also, at least at the local level.
So what do you think about the presidential candidate Barack
Obama in this context?
I don’t really think Obama belongs to this, because
actually he does not come out of the African American
tradition. His mother is a White American, his father was
from Kenya, but during his early life Obama seems to
have had little to do with Black America. His mother
remarried someone from Indonesia, and Barack spent
some years growing up there. Only when he became an
adult he did turn into a community organizer in Black
American neighbourhoods. I think he is a very
interesting phenomenon for various reasons, but I think
he’s a phenomenon on his own, really a cosmopolitan
figure rather than a Black American figure.
Is an anthropologist automatically a cosmopolitan?
No (laughs). I think there is a certain potential in
anthropology and it may draw people who have a
cosmopolitan intention. Of course, one can do what’s
called anthropology at home, you don’t necessarily go
abroad. But even among colleagues who do go abroad in
a conventional anthropological way to do fieldwork in
one foreign country, you find that this may be the only
place elsewhere in the world they become interested in.
So they become locals of two places, but it does not
necessarily mean that they are interested in lots of things
in the entire wider world. Maybe a small step towards
cosmopolitanism, but not quite.
You live in Vienna now, doing a project called „The
Geocultural Imagination: Scenarios and Story Lines“. What is
it about?
It’s something which I’ve been thinking about close to
fifteen years. We have had in recent years a number of
what I call world scenarios beginning with an American
political scientist named Fukuyama, asking whether we
have now reached The End of History, as liberal
democracy seemed to have triumphed once and for all.
Then there was Samuel Huntington with his ‚Clash of
Civilizations theory‘. He said that now that the Cold War
is over, it’s also the end of the battle between ideologies.
So according to Huntington, there is the conflict of
civilizations instead. I think many of these scenarios were
the product of the end of the Cold War. Much of this
genre of writing is about how politics relates to the
geography of culture in the world. My particular interest
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Salon – Globalisierung
in this genre is how do their statements and assumptions
about culture match with what anthropologists
nowadays think about culture – frequently not very well,
really. Some of it is a very rhetorical use of culture to
suggest that things are very strong, very widespread,
very old and thick. When anthropologists, not least
including myself, think of culture much more in
processual terms and something that’s changeable and
internally quite diverse it doesn’t fit well with the
assumptions of Huntington and such people.
Can you please try to sum up your concept of culture?
In my book Cultural Complexity I pushed the idea of
socially organized meaning, and I still tend to stick to it.
My main point of departure would be that compared to
other animals, human beings depend very much on
continuous learning in all phases of life. We need to draw
from ideas, skills, and all kinds of knowledge that are
available in our social environment. It’s the old natureculture-divide again, which is always tricky. I mean you
have a renewal of this debate because after all human
biology certainly makes progress, and so we have to be
prepared to think again about the details of that divide.
Have you also used the term „software“ in this context?
I’ve done it, but there are complications with this
metaphor. On the whole it is useful to think of biology as
„hardware“ and culture as „software“. But still – it’s very
important to know when to leave aside this metaphor.
There is sometimes this unfortunate tendency to think
that culture is so determining that once you have learned
something you can’t get away from it. That you’re
becoming a kind of robot under whatever culture gets to
you first. And then it would become much like what is
biologically and genetically determined. With culture
you can learn certain things but you can also learn other
things and you may reject what you learned before.
Culture is negotiable and changeable over time. We need
to understand socialisation and resocialisation, the way
that culture is continuously under negotiation. In the
1960s, Anthony Wallace wrote about the „Organization
of Diversity“, a marvellous formulation. The complex
society involves people knowing and doing different
things, and still fitting into some sort of organization.
Let’s switch to the topic of individuality and the construction
of identity…
Sometimes when we talk about identities we have in
mind collective identities, and sometimes personal,
individual identities. Much talk about identity politics
would involve collective identities in some sort: how do
you belong to categories or group shared identities, to an
ethnic group, or generation, or gender? But also you have
a personal identity which may be entirely unique. With
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
this kind of organization of diversity, it is very likely that
a larger proportion of things end up being quite
individualized, at least in the collection of things put
together.
With globalization you have a certain rhetoric saying that
people are becoming very similar all over the world. But
at the same time, when people have so much more
culture to pick from (literature, food, music), there is also
a greater opportunity to put together an absolutely
unique setup of knowledge and preferences, and in the
end also identities. At one level I think that globalization
can also contribute to individuation. Again, I think of
Barack Obama as an example.
How far is cultural homogenization happening?
would suppose that survival is pretty much a universal
value.
In context of the suicide bomber – Is rage a universal topic?
Rage is a universal human sentiment that at times any
human being can probably feel.
Anthropology had this research genre of looking at
feelings and sentiments. And trying to determine to what
extent they are also culturally shaped. I haven’t followed
that discussion so closely. I would think that it’s partly a
matter of talking about emotions in different ways.
Cultures have their vocabularies for such talk. I would
believe human beings have certain sets of emotions
which are biologically given but culturally handled.
Homogenization has been very much tied to the market.
The standard examples have become clichés like
McDonalds, Starbucks, Ikea and Coca Cola
– cultural commodities which are everywhere. They try to identify tastes that can be
sold everywhere. But then the market will
also be segmented. Consumers aren’t in fact
going to be alike – they all have been
socialized into different directions. So you can
also find market niches which allow a lot of
diversity. Undeniably homogenization has a
certain impact, and the market is important.
Then sometimes it is said that nation-states
try to preserve their heritages, so they are
forces against homogenization at the world
level. But one should not forget that state machineries are
likewise pushing similar things in many places – the idea
of citizenship, for example, or universal primary
education. States have these culture producing
machineries which also lead in the direction of
homogenization. I think since World War II the whole
United Nations machinery provides an apparatus for
spreading certain values, the Human Rights Declaration,
for example. On the other hand, local, regional, and
national traditions are still very strong and not entirely
reachable for the market and for the state machineries.
Theorizing the strength of everyday life in maintaining
cultural diversity is very important.
Should anthropologists take up more topics of emotions?
Are there existing universal values?
Should anthropologists give advice to politicians? What about
topics like female genital mutilation?
A very good question. Probably, but then they may also
contradict each other. Since values are in practice so
much linked to context, I am afraid trying to state them
generally, out of particular contexts, leads to a rather
unrealistic understanding of human life. For example, I
would think that „survival“ is probably a very basic
human value. But then we have the exception of suicide
bombers. How can anybody become one? We are getting
a sizeable literature on this now. But still, basically I
Anthropologists are inclined to explore the cultural
dimensions of just about anything. And
emotions would tend to be one of these
things. People may believe that emotions are
beyond culture, a kind of rough biology
– well, I think there is an interaction between
nature and culture. Gender may come in
here. There may be differences between the
genders and also diversity within them. I
think that’s very important to realize.
Although I would suspect some biological
base to this – however always intermingled
with culture. The tendency to say that
women do this and men do that – this is
much too simple, because of the internal variations.
In how far should scholars value the debates over controversial
practices?
One major value should be always being critical in the
sense of also trying to see the weak points in one’s own
position. And see if it really holds up. And that may be a
rather difficult value to take into politics. If you decide to
push one thing you are inclined to go for the strong sides
and strong arguments for pushing that one thing. The
balance between scholarship and politics is likely to be
pretty tricky much of the time. It depends on what you
mean by „politics“.
My main principle in a lot of cases is: let the people
decide. Let individuals themselves decide. In practice it
still gets rather complicated. When it comes to practice
like FGM or honour killings they tend to occur in situations where women have been the ones with less power
and men have had more power – or where older people
have more power than younger people. I think one
problem with speaking about things like this in cultural
Salon – Globalisierung
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
terms is that culture is understood to involve some sort of
consensus. You may say, well, FGM is part of their
culture – which suggests that they have agreed on this. I
have my doubts. Because I frequently think that culture
is involved in a power equation, where whatever has
been established as a cultural practice may be based on
that power equation. If you change the power equation,
are you really going to find all the people – men, women,
young, old – still wanting to stick to these customs?
Is there a (political) overregulation in many things?
I would think on the whole yes. Sometimes cultural
diversity may do better without multiculturalism. In a
sense multiculturalism tends to involve political and
administrative decisions. That’s the way the term
multiculturalism has become established. It becomes a
tool of the organizations and the state for taking
collective decisions or administrative decisions rather
then leaving decisions to the individuals. And I think
once you made multiculturalism a kind of administrative
and political concept you end up with something that's
more large scale and more static than I think culture
really should be. It’s in the logic of the state or the
municipality to need very stable, well-bounded
categories of people. People should have the right to say
„on this point I don’t really belong to this group“. The
logic of state or collective multiculturalism to me seems
to go against spontaneous natural cultural process,
where people do learn and relearn and change their
minds. I think people should be entitled to do that.
How would you define the role of the media within
anthropological work?
I always have been sort of fairly intensive media
consumer in terms of reading newspapers and
magazines as well as listening to the radio and watching
television. For me personally media play a major part in
my life. Individuation in context of globalization of
course has a lot to do with the media. We can now
consume media from such a great variety of sources and
that may be quite important to who we are.
When I started doing fieldwork as an anthropologist in
Washington in the black neighbourhood in the 1960s, I
found myself sitting there, watching television and it
worried me because in the classic anthropological texts I
had read you don’t find any media. So what am I doing
here watching television – just wasting my time? But
then I realized that the media were an integral part in
everyday life. Not only television but also the black radio
stations, which were central institutions to Black
community life. So I felt since then that if ethnography
does not take media into account it may have a lack in
credibility. It took quite a long time for sociology and
anthropology to really incorporate media into both
6
Salon – Globalisierung
method and theory, which is one reason why cultural
studies developed as a field itself.
What do think about the phenomenon of blogging?
I don’t have a blog, and I haven’t really gotten around
looking at blogs very regularly, partly as a matter of
habit, partly as a matter of time. I do think they are
interesting phenomena, but there may be getting to be
too many of them. Does it become a kind of narcissism to
have one’s own blog without anybody paying much
attention, as a new form of self expression? But then, as I
understand, some blogs are getting a lot of viewers. So in
the American politics in the election year it seems like
they can really make some difference in mobilizing
opinion and in being dangerous for candidates who can
also get destroyed by negative blogging.
How do you see anthropology today?
Anthropology has a lot of diversity inside itself, and I like
that. I think it’s also important that people outside the
university, in politics or wherever, have a reasonable
understanding of what anthropologists do. And I think
that’s a problem because there’s a conception that
anthropologists are mostly antiquarians and study
backwards, study the past, study what’s disappearing.
I’m interested in these world scenarios we talked about
before because they are future oriented, ways of trying to
tell people what the world may be becoming. One should
see them not as predictions, but as arguments about
possibilities and risks. And I think anthropology can
contribute here, because its methods, not least
ethnography, should be good for identifying what are
emergent tendencies in the present.
What kind of new initiatives would you hope the next
generation of anthropologists would launch?
I hope they will continue to do a lot of different things,
but also I hope they will perhaps be a bit more effective
in bringing it to the ear and eye of a wider public than
anthropologists have been doing. I think it’s dangerous to
write in a style which is only for other researchers. We
probably need to experiment with styles of writing and
other communications. „Die Maske“ fits precisely into
that, but also in writing books we should try to put
anthropological ideas across in more different ways.
There is now much more anthropological film making
than there used to be. That is also good, but I tend to be
a writing person, so I think that other kinds of writings
are as important. With the globalization in the sense of
global interconnectedness, cultural and otherwise, that
should open up possibilities. Ordinary people may
become more concerned with the rest of the world. That
should provide openings for anthropologists to make
their work interesting for a broader audience.
„
Eine kulturanthropologische Untersuchung zum
Konsumverhalten beim Essen
von HELENE MÜHLWISCH
Wiener Lebensstile
und Globalisierung
Fast Food oder Wiener Küche…?
Neue, meist aus den USA kommende
Esstrends, wie z.B. Fast Casual, werden
häufig als Produkte einer
fortschreitenden Globalisierung
gesehen. Fast Casual ist eine
Verbindung zwischen Fast Food und
Casual Dining. Beim Konsum von Fast
Casual bleiben die äußeren Formen
eines traditionellen Mittagessens
aufrecht, aber im Unterschied zu
herkömmlichem Fast Food werden
frische und möglichst regionale
Zutaten verwendet (vgl. Rützler 2005:
50). In den USA hat der Konsum von
Fast Food seit den achtziger Jahren
längst alle kulturellen Grenzen
gesprengt, sowie nahezu alle sozialen
Schichten erfasst. Es stellt sich die
Frage, ob sich der Verzehr von Fast
Food in den letzten Jahrzehnten auch
bei uns in solcher Weise etablieren
konnte bzw. ob sich durch Prozesse
der Globalisierung Veränderungen in
unseren Lebensstilen erkennen lassen.
ie von George Ritzer beschriebene Theorie der McDonaldisierung (Ritzer 2006) umfasst ein systematisches Vorgehen
global agierender Unternehmen, deren Prinzipien zunehmend in verschiedensten Gesellschaftsbereichen Anwendung finden. Das Phänomen der McDonaldisierung sieht Ritzer als
eine Erweiterung von Max Webers Theorie der formalen Rationalität
an. Max Weber versteht darunter eine durch strenge Regeln und
Vorschriften, sowie größere gesellschaftliche Strukturen geprägte
menschliche Suche nach dem optimalen Mittel zum Erreichen eines
Zwecks. Dabei geht er von einer rein quantitativen und zahlenmäßig
erfassbaren Form des Wirtschaftens aus. Die menschlichen Komponenten werden hier nicht erfasst, weil Menschlichkeit im System der
formalen Rationalität keinen Platz zu haben scheint. Als Musterbeispiel der formalen Rationalität beschreibt Weber die Bürokratie,
deren wichtigste Vorteile vier grundlegende Prinzipien sind, die für
Ritzer auch im System der McDonaldisierung zum Tragen kommen.
D
Prinzipien der McDonaldisierung
Die vier Grundpfeiler der McDonaldisierung lauten Effizienz,
Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Effizienz ist eine
Situation, in der eine Organisation die Vorteile und Gewinne
maximiert, während die Anstrengungen und Ausgaben gleichzeitig
verringert werden. So ist in mcdonaldisierten Systemen das Bemühen
groß, Waren und Dienstleistungen zu vereinfachen und die
KundInnen für unbezahlte Arbeiten selbst einzusetzen. Für Fast FoodUnternehmen ist es effizient, wenn die KundInnen an der Selbstbedienungstheke Schlange stehen. Wenn sie den eigenen Service
übernehmen, anstatt komfortabel an einem Tisch sitzend einem
Restaurantkellner ihre Essenswünsche mitzuteilen und bedient zu
werden. Beim zweiten Prinzip der Berechenbarkeit liegt die Betonung
auf der Quantität, für die zahlenmäßige Standards festgelegt werden.
Es gilt hier jedoch auch eine wichtige Kehrseite zu beachten; nämlich
die Tatsache, dass in einer Gesellschaft, die vor allem die Quantität
betont, viele Waren und Dienstleistungen zunehmend an Qualität
verlieren können. Die dritte Dimension der McDonaldisierung ist die
Vorhersagbarkeit. KonsumentInnen von McDonald's wünschen keine
Überraschungen, wenn sie einen BigMac bestellen. Sie wollen sicher
Salon – Globalisierung
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
sein können, dass dieser genauso schmeckt wie jener,
den sie gestern gekauft haben und der, den sie morgen
kaufen wollen. Erreicht wird die Vorhersagbarkeit vor
allem durch die Schaffung gleicher Arbeits- und
Besucherumgebungen, die Erstellung von gleichförmigen „Drehbüchern“ für die Kommunikation der
MitarbeiterInnen mit den KundInnen, sowie die Erzeugung von einheitlichen Produkten. McDonald's Schlüssel
zum Erfolg lautet: rationale Standardisierung und
Uniformität! Die vierte Dimension der McDonaldisierung ist die Kontrolle, die überwiegend durch den
Einsatz von nicht-menschlicher Technologie durchgeführt wird. Die Zubereitungsangaben für die diversen
Fast Food-Produkte sind oft schon in den Maschinen
integriert. In einer McDonald's-Küche summt und blinkt
es überall, damit die Angestellten ganz genau wissen,
was zu tun ist. An der Theke leuchten Tasten auf der
Computerkasse auf und schlagen weitere Menübestandteile vor, wenn eine Bestellung aufgenommen wird. Die
höchste Stufe der Kontrolle ist dann erreicht, wenn
Angestellte völlig durch nicht-menschliche Technologie
ersetzt werden. In den Labors von McDonald's werden
jedenfalls schon Experimente durchgeführt, in denen die
Zubereitung der Pommes frites von einem Roboter
erfolgt (vgl. Wagner 1995: 67).
Globale Folgerungen der McDonaldisierung
Die Theorie der McDonaldisierung ist in vieler Hinsicht
global angelegt. Zunächst haben viele der Methoden, die
von McDonald's und anderen Unternehmen der Fast
Food-Industrie entwickelt wurden, weltweite Verbreitung gefunden. Beispielsweise, dass man KundInnen
innerhalb des Konsumationsprozesses durch Praktiken
der Selbstbedienung selbst arbeiten oder deren Konsum
im eigenen Auto abwickeln lässt (Mc Drive). So können
Unternehmen auf rationelle Weise Zeit und Kosten
sparen. Neu strukturiert wurden Ritzer zufolge auch
wesentliche Gesellschaftsbereiche, wie beispielsweise
der Esskonsum. Hier würden weniger Mahlzeiten zu
Hause eingenommen werden und häufiger Besuche in
Fast Food-Restaurants stattfinden (vgl. Ritzer 2006: 239).
Letztere von George Ritzer getroffene Feststellung habe
ich unter anderem einer empirischen Überprüfung
unterzogen. Die vier Prinzipien der McDonaldisierung
verstehen sich als Aspekte vielfältiger Globalisierungsprozesse und sind als Indikatoren für spezifische
Merkmale unterschiedlicher Essgewohnheiten in verschiedenen Wiener Restaurants und Fast Food Gastronomiebetrieben der Beobachtung zugänglich. Einige der
vorher von mir festgelegten Beobachtungskriterien lauten beispielsweise: (Selbst)Bedienung der KundInnen,
Tischabräumen bzw. Tablettbeseitigung durch Ange-
8
Salon – Globalisierung
stellte und/oder KundInnen, Dauer des Speisen-services,
Speisenwahl, Verhalten des Personals im Umgang mit
KundInnen und vieles mehr. Ergänzend zu den
durchgeführten Beobachtungen habe ich in qualitativen
Interviews Erhebungen über gegenwärtige und frühere
Ess-, Koch- und Einkaufsgewohnheiten, sowie Restaurantbesuche durchgeführt. Die relevantesten Ergebnisse
sowohl aus den Beobachtungen als auch aus den Befragungen möchte ich nachfolgend vorstellen.
Zubereitung, Essen und Esskonsum im
Zeitalter der Globalisierung
Unser Alltag wird nicht mehr wie früher durch die
traditionell morgens, mittags und abends eingenommenen Mahlzeiten strukturiert. Angesichts einer sich im
Wandel befindlichen Arbeitswelt haben sich unsere
Essgewohnheiten rapide verändert. Durch neue weltumspannende Informationstechnologien sind wir vor allem
in beruflicher Hinsicht an differenzierte Zeitordnungen
gebunden, während gleichzeitig in sämtlichen Bereichen
ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, an Präsenz und an
Einsatzbereitschaft gefordert wird. Für Berufstätige
bedeutet das, die Organisation des Haushalts diesen
neuen Strukturen des modernen Lebens anpassen zu
müssen. Das betrifft vor allem die Zubereitung und
Gestaltung der täglichen Mahlzeiten. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn ein unregelmäßiger und unaufwendiger Kochstil durch die zunehmende Verwendung
von Convenience-Produkten gepflegt wird. Wir leben in
einer „verbrauchsfertigen“ Welt, in der mit wenig
Aufwand und in möglichst kurzer Zeit ein wohlschmeckendes Essen auf dem Tisch stehen soll. Ein
weiterer Grund für einen bevorzugten Konsum von
Convenience-Produkten betrifft die Zunahme der
Einpersonenhaushalte. Je kleiner die Haushalte sind,
desto seltener wird gekocht und umso einsamer wird
eine Mahlzeit eingenommen. Derzeit wohnt in Österreichs Haushalten knapp jede/r Siebte allein, das
entspricht 34,1 Prozent aller Haushalte (vgl. Klapfer et al.
2004: 17). Für Georg Simmel ist das soziale Moment des
gemeinsamen Essens das entscheidende Kennzeichen
einer Mahlzeit (vgl. Simmel 1957: 243). Ohne die soziale
Bindekraft der gemeinsamen Mahlzeiten wird das Essen
zur wenig beachteten Nahrungsaufnahme. Im Vordergrund des Genusses stehen andere Tätigkeiten, wie
Lesen oder Fernsehen. Dank der Erfindung der Mikrowelle muss ein stummes „Nebeneinanderessen“ vor
dem Fernsehapparat nicht einmal mehr gemeinsam
stattfinden. Mikrowellengerechte Fertiggerichte sind in
wenigen Minuten aufgewärmt und ermöglichen es
jedem Familienmitglied, seine individuellen Essenszeiten zu wählen. Das ist der Nährboden, auf dem der
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Konsum von Fast Food-Produkten wachsen und stetig
ansteigen kann. Die Erhebungsdaten im Rahmen meiner
Diplomarbeitsrecherchen dokumentieren es, dass es vor
allem die junge Generation unter 30 ist, die anstelle der
früheren traditionellen Mahlzeiten bevorzugt mehrere
kleine Imbisse über den Tag verteilt zu sich nimmt. Es
scheint, als sickere langsam, aber unaufhörlich ein neuer
Zeitgeist in unseren Esskonsum, getragen von den
vielfältigen Prozessen der Globalisierung. Doch wie
können diese Strömungen uns bzw. unsere „gewohnten“
Lebensstile derart beeinflussen?
In unserer modernen Gesellschaft geht es in hohem Maße
auch darum, eine möglichst angesehene Lebensführung
zu erreichen. Wir gestehen uns den inneren „Motor“
meist nicht ein, der uns unentwegt zu einem sozialen
und beruflichen Wettbewerb mit unseren Mitmenschen
anzutreiben scheint. Es werden Berufe mit einem hohen
sozialen Prestige und einem entsprechenden Einkommen angestrebt. Doch ein Großteil unserer beruflichen
Verpflichtungen ist nicht mehr nur an einem einzigen
Ort, an einer Arbeitsstätte lokalisiert. Auch täglich gleich
bleibende, starre Arbeitsrhythmen sind längst flexibler
Gleitzeit gewichen. Flexibilität heißt eines „der“ Schlagworte in unserer heutigen globalisierten Welt. Es gibt
praktisch keine „reine“ Freizeit mehr, in der wir aufgrund modernster Kommunikationsmittel und Technologien – wie Internet, Mobiltelefone oder „mobile“ Büros
– nicht für berufliche Verpflichtungen in Anspruch
genommen werden können.
In meiner empirischen Untersuchung konnte unter
anderem eines zweifelsfrei gezeigt werden: der „wahre
Regent“ unserer Ära ist die Zeit! Der Konsum von Fast
Food und Fast Casual erfreut sich steigender Beliebtheit.
Dennoch müssen Aussagen, wie jene von George Ritzer,
wonach Globalisierungsprozesse weltweit den Esskonsum insofern verändert haben, als Mahlzeiten immer
seltener zu Hause und immer häufiger in Fast Food-Restaurants eingenommen werden, zurückgewiesen werden. Es hat sich in den Befragungen meiner Untersuchung gezeigt, dass vor allem die junge Generation
unter 30 den Geschmack von Fast Food schätzt;
gleichzeitig jedoch liegt die Betonung einstimmig auf der
Einnahme von mindestens einer warmen Mahlzeit pro
Tag, die selbst gekocht wird. Hier berichten auch die
interviewten Personen unter 30 von täglichen Kochzeiten bis zu einer Dreiviertelstunde. Wird außer Haus
gegessen, dann lieber in Gastronomiebetrieben mit Wiener Küche, wo frisch gekochte Hausmannskost von
einem aufmerksamen Bedienungspersonal serviert wird
und das Sättigungsgefühl viel länger anhält als durch
den Konsum von Fast Food. Helmut Österreicher, einer
der bedeutendsten Köche Österreichs, weiß, dass Gäste
eine abwechslungsreiche Küche zu schätzen wissen.
Dass neue Gerichte für sie ein interessantes Aha-Erlebnis
bedeuten, sie aber dennoch immer wieder auf ihr
gewohntes Essen zurückkommen werden: auf die
klassische Wiener Küche, mit der sie aufgewachsen sind.
Die Wiener Küche ist eine Marke, die nicht von
Werbefachleuten (wie beispielsweise diverse Fast FoodProdukte) gemacht worden ist, sondern von den
Menschen, die sie verzehren. Für Helmut Österreicher
liegt es somit auf der Hand, dass der Fast Food-Konsum
die Wiener Küche nicht verdrängen kann. Seine
Sichtweise wird auch durch die Ergebnisse meiner
Untersuchung untermauert. Unser Esskonsum unterliegt
den mannigfaltigen Veränderungen durch die Einflüsse
der Globalisierung. Letztlich aber werden wir uns im
Konsumverhalten beim Essen immer wieder auf unsere
traditionellen Wurzeln besinnen und Altes mit Neuem
kombinieren.
„
Helene Mühlwisch ist Studierende der Psychologie, sowie
der Kultur- und Sozialanthropologie. Sie schließt ihr KSAStudium im sechsten Semester mit der Diplomarbeit "Wiener
Lebensstile und Globalisierung" ab. Ihre Interessensschwerpunkte sind Globalisierung und Interkulturalität.
Literatur
Klapfer K./Eichwalder R. Familien- und Haushaltsstatistik, Wien, 2004.
Ritzer, George. Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz, 2006.
Rützler, Hanni. Was essen wir morgen? 13 Food Trends der Zukunft.
Wien, 2005.
Simmel, Georg. Soziologie der Mahlzeit. In: K.F. Koehler: Brücke und Tür.
Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und
Gesellschaft. Stuttgart, 1957, S. 243-250.
Wagner, Christoph. Fast schon Food. Die Geschichte des schnellen Essens.
Frankfurt, 1995.
Interview, geführt am 11. Oktober 2007:
Helmut Österreicher, Vier-Hauben-Koch, Österreicher im MAK, 1010
Wien, Stubenring 5
Salon – Globalisierung
9
Die „Coca-Colonialisierung“ führt zu Prozessen mimetischer Aneignung und zu einer
Pluralisierung des Waren-Angebots durch nationale und lokale Varianten
von BERNHARD FUCHS
Cola und Islam
Eine symbolische Begegnung
Coca Cola ist durch nichts zu ersetzen,
außer durch ein Cola. So lautet eine
These des indischen
Kulturphilosophen Ashis Nandy
(1994). Wo es einmal eingeführt
wurde, muss das Bedürfnis nach Cola
in irgendeiner Form gestillt werden.
Doch die Befriedigung des ColaBedarfs wird nicht nur durch
ökonomische Gründe sondern
vorrangig durch ideologische
erschwert. Hier erlangen Imitate eine
Schlüsselstellung. Die
„Coca-Colonialisierung“, welche
stets Bemühung um lokale Integration,
eine Glokalisierung des globalen
Unternehmens, enthält, wird daher
ebenso begleitet von Prozessen
mimetischer Aneignung. Kopien
dienen paradoxerweise auch der
Abwehr des Fremden.
er Kulturtransfer von Cola-Getränken nimmt in der Globalisierungsforschung eine bedeutende Position ein. Die
Cola-Anthropologie erweist sich als ein erfrischendes und
heuristisch wertvolles Unterfangen und besitzt durchaus
gesellschaftliche Relevanz (vgl. Miller 1997; Gill 2004). Nicht alle
Werke, die Coca Cola im Titel führen, setzen sich tatsächlich damit
auseinander. Oft wird der Name benützt, um von seiner Ausstrahlung
zu profitieren; in Werken wie „Islam und Coca Cola. Begegnung der
Kulturen nach dem Irak-Krieg“ (Fikentscher 2003) wird Cola gar nicht
thematisiert. Die semiotische Aufladung dieser Marke ist in der Tat so
gewaltig, dass der populäre Mythos Coca Cola sich längst der
Kontrolle des Firmenmanagements entzieht.
D
Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber (2002)
beschwört kulturpessimistisch den Untergang der Demokratie in
Folge der Konfrontation zwischen Coca Cola und Jihad. Seine unpräzise Verwendung des Begriffs Jihad irritiert ebenso wie das Bild,
welches er von der Kulturanthropologie zeichnet: Er beklagt den
„Rückgang des Teeverbrauchs, den Kulturanthropologen als ein unheilvolles Vorzeichen des Zerfalls der einheimischen Kultur ansehen“
(Barber 2002: 78). Die Substitution von „traditionellen“ Getränken
durch Cola wird zum Indikator des Kulturwandels. Der Coca-ColaCulture würden sich nur religiöse Fundamentalismen und radikaler
Nationalismus (zusammengefasst unter dem Schlagwort Jihad) entgegenstellen. Die Marke wird oft zur Synekdoche für amerikanischen
Kulturimperialismus und kulturelle Homogenisierung, das Getränk
zur Essenz des Amerikanismus (Pendergrast 1991).
Das Schlagwort Coca-Colonialization etablierte einen festen Platz in
populären sowie wissenschaftlichen Globalisierungsdiskursen. Doch:
„Die ethnologische Konsumforschung in der Dritten Welt wird
wesentlich durch die Intention geprägt, die Homogenisierungsthese
(McDonaldisierung oder Coca-Colonization) zu widerlegen“ (Spittler
2002: 17). Auch ganz unabhängig von der Absicht sind die Diversität
und die Fülle an kulturellen Neubildungen offensichtlich.
Es ist bemerkenswert, dass Coca Cola stets Anstoß für die Kreation
unzähliger Imitate gibt. Diese erlangen häufig Bedeutung als Symbole
des Nationalismus und Antiamerikanismus (vgl. Nandy 2000; Tweder
1999). Auch in Österreich gab es ein nationalistisches Austro-Cola
(Bandhauer-Schöffmann 1994). Das originale Coca Cola pocht
weltweit auf seine Authentizität („It's the Real Thing.“) und ist
bestrebt, die Marke im lokalen Kontext zu verankern. Doch ist das
10
Salon – Globalisierung
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Unternehmen erst Ende der 1990er Jahre von globalen
Werbekampagnen abgerückt. Heute bemüht man sich,
Amerikanität herunterzuspielen.
Nationalistische Abwehrreaktionen und
Anti-Amerikanismus
Coca-Colonialisierung wurde in Frankreich bereits Ende
der 1940er Jahre als ein Kampfbegriff in antiamerikanischen Kreisen geprägt (Kuisel 1991). Die Expansion
von Coca Cola erfolgte im Zweiten Weltkrieg und in der
Nachkriegszeit, als das Getränk primär US-amerikanischen Soldaten zur Verfügung stand, und daher nicht
von ungefähr zu einem nationalen Symbol US-Amerikas
wurde (Pendergrast 1993). Auch in Österreich bildete
sich eine ähnliche Allianz aus Kommunisten und lokalen
Unternehmern, welche gegen das „braune Amerikawasser“ mobil machte (Bandhauer-Schöffmann 1994). Es
wurden irrationale Ängste geschürt, Coca Cola würde zu
Sucht und Wahnsinn führen oder die Eingeweide zerfressen. Letztlich taten derlei Gerüchte der Faszination, die
Coca Cola und alles Amerikanische in dieser Zeit auf
Europäer ausübten, keinen Abbruch. Als Cokelore,
populäre Erzählungen, wurde Widerstand ebenso zum
Bestandteil des Marken-Mythos, und wird als kulturelles
Erbe (Heritage) in die offizielle Präsentation des Unternehmens integriert.
In der Zeit des Kalten Krieges wurde Coca Cola zum
Symbol des Westens. Mit der „neuen Weltordnung“
setzte sich erneut die alte Dichotomie Orient-Okzident
durch. In Folge des Irak-Konfliktes wird Coca Cola neuerlich als ein Symbol des aggressiven Amerikanismus
identifiziert und zu dessen Boykott aufgerufen. Die kritische Position der Cola-Getränke ist nichts Neues im
Nahost-Konflikt. Das Worldwide Web trug wesentlich
zur Beschleunigung der Ausbreitung der Cola-Mythen
bei, sowie zu deren Beharrung. Zur Abschreckung wird
gern behauptet, Coca Cola sei haram, weil es Alkohol,
Schweinefett oder gar -blut enthalte.
„Cola-Islamismus“
Ein in semiotischer Hinsicht faszinierendes Beispiel ist
die These, das Logo von Coca Cola enthalte eine versteckte antiislamische Botschaft: Man müsse den bekannten Schriftzug nur spiegelverkehrt betrachten, um ihn als
arabische Schriftzeichen zu lesen. So könne der blaphemische Aufruf „Nein zu Mekka, nein zu Mohammed!“
entlarvt werden. Coca Cola wird nicht nur als der
Inbegriff der USA sondern als die heimtückische Inversion des Islam hingestellt. Dieser Vorwurf wurde zwar
von islamischen Gelehrten als irrational zurückgewiesen
(schließlich wurde das Design 1886 von einem Ameri-
kaner in Atlanta entwickelt), doch damit ist dem
Vorurteil keineswegs beizukommen: Im Internet zirkuliert der Hinweis weiter und wird nach wie vor als
einleuchtende Erkenntnis entdeckt.
Das Neue an der Anti-Cola-Welle des Jahres 2003 aber
bestand darin, dass nun nicht bloß ein Konsum-Boykott
gefordert wurde, sondern gleichzeitig „islamische“
Alternativprodukte auf den Markt gebracht wurden.
Dies entspricht der in modernen Konsumgesellschaften
verbreiteten Ideologie des kritischen Konsumenten,
welcher durch seine Kaufentscheidung politische
Zeichen setzt; was sich umgekehrt in der postmodernironischen Integration revolutionärer Ikonographie in
das Warenangebot ausdrückt: „Aufgeklärter Konsum“
ersetzt Boykott und Revolution. Identität definiert sich
primär über Konsum. Genau dieser Logik entsprechen
muslimische Unternehmer, welche islamische ColaSorten auf den Markt brachten. Der Slogan von Mecca
Cola forderte auf: „Trinke nicht sinnlos, trinke bewusst!“
Mecca Cola, Qibla Cola, Arab Cola, Muslim Up und Salam
Cola drängten auf den Markt, so dass die Medien schon
von einem Cola Jihad kündeten.
Es muss betont werden, dass die realen Cola-Sorten
jedoch Ausdruck von Modernisierung und einer
„islamischen Renaissance“, nicht aber von „Fundamentalismus“ sind (vgl. Ammann 2004). „Islamismus“ stellt
sich in der modernen Welt zunehmend als eine
ökonomische Alternative, als ein kulturspezifisches
Konsumangebot dar. Darüber hinaus versprechen
islamische Colas auch soziales Engagement, indem 10%
des Verkaufspreises für palästinensische Kinder und
weitere 10% für lokale muslimische Sozialinitiativen
verwendet werden. Damit folgen die Unternehmer
einem Ideal der islamischen Ökonomie, institutionalisiert in der Armensteuer Zakat. Allerdings führt
Glokalisierung, das „Assimilationsstreben“ von Coca
Cola gleichfalls zu dessen „Islamisierung“ im regionalen
Kontext. In Pakistan leistet das Unternehmen eine
Abgabe für Arme (was auch dem westlichen Wohlfahrtskapitalismus entspricht) und finanziert ausgewählten
Mitarbeitern die Hajj. Kulturelle Konvergenz betrifft
daher Prozesse der „Islamisierung“ ebenso wie Zeichen
der „Verwestlichung“.
Cola-Kulturtransfer, Mimesis und Alterität
Die neuen islamischen Alternativen waren vorrangig
Produkte der Diaspora, Mecca Cola wurde von einem in
Tunesien geborenen französischen Unternehmer gegründet. Das britisch-asiatische Produkt heißt nach der
Gebetsrichtung der Muslime Qibla Cola, die Gründerin
wurde in England geboren, mit pakistanischem Hintergrund.
Salon – Globalisierung
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Aus kulturanthropologischer Perspektive fällt der
räumliche Diskurs auf: die Namen einiger islamischer
Colas knüpfen an die Orientierung der Umma an, indem
sie auf das heilige Zentrum der islamischen Welt
hinweisen.
Der israelische Soziologe Uri Ram (2007) bietet eine
treffende Interpretation des Phänomens „islamischer“
Colas: Er betont die analytische Unterscheidung zwischen struktureller und symbolischer Ebene. Während
auf struktureller Ebene eine Homogenisierung festzustellen ist, findet gleichzeitig eine symbolische Heterogenisierung statt. Dazu sei aber ergänzend angemerkt,
dass auch materielle Homogenisierung („dunkelbraune
Erfrischungsgetränke“) eine symbolische Dimension
besitzt. Imitation symbolisiert also Widerstand und auch
Ebenbürtigkeit. Differenzierung impliziert eine symbolische Inszenierung von Gleichheit.
In Prozessen des Cola-Kulturtransfers wiederholt sich
das vom amerikanischen Kulturanthropologen Michael
Taussig im kolonialen Kulturkontakt analysierte Prinzip
von Mimesis und Alterität, wo Nachbildungen und
Imitate zu einem wesentlichen Element der Verarbeitung
von Fremdheit werden. Taussig greift dabei auf das
Konzept der „sympathetischen Magie“ zurück: Nachahmung wird zu einem Mittel der Macht, Kopien werden
instrumentalisiert, um auf den Fremden Einfluss zu
gewinnen. Es würde zu weit führen, einen magischen
Hintergrund für das globale Auftreten antiamerikanischer Cola-Kopien zu behaupten. Doch in einem
übertragenen Sinn erfasst dieser Vergleich präzise das
Wesen moderner Ökonomie.
Der Cola-Kulturtransfer verstrickt die Welt in ein
semiotisches Netz, ein komplexes System aus Mythen
und Gegenmythen, die einander wechselseitig ausbeuten, aber trotz aller Heterogenität durch ihre interne
Abhängigkeit eine Einheit bilden, denn Mecca Cola,
Qibla Cola, oder Pepsi Cola wären undenkbar ohne Coca
Cola. Vielmehr ziehen sie Kraft aus ihrem großen
Kontrahenten.
„
Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am
Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.
Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer,
Migration, Medien.
12
Salon – Globalisierung
Literatur
Amman, Ludwig. Cola und Koran. Das Wagnis einer islamischen
Renaissance. Freiburg im Breisgau 2004
Bandhauer-Schöffmann, Irene. Coca-Cola im Kracherlland. In: Roman
Sandgruber (Hg.): Genuss & Kunst. Innsbruck 1994, 92-101.
Barber, Benjamin. Coca Cola und Heiliger Krieg: Jihad versus
McWorld. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit. Bern et al.,
2002. [engl. Original 1996]
Fikentscher, Rüdiger (Hg.). Islam und Coca Cola. Begegnung der
Kulturen nach dem Irak-Krieg. Halle an der Saale 2003
Kuisel, Richard F.. Coca-Cola and the Cold War: The French Face
Americanization, 1948-1953. In: French Historical Studies, Vol. 17,
No. 1 (Spring 1991), 96-116.
Nandy, Ashis. The Philosophy of Coca Cola. 1994
http://vlal.bol.ucla.edu/multiversity/Nandy/Nandy_coke.htm
Nandy, Ashis. Gandhi after Gandhi after Gandhi. In: The Little
Magazine. 2000 http://www.littlemag.com/2000/nandy.htm
Miller, Daniel. Coca Cola: a black sweet drink from Trinidad. In:
Material Cultures, Vol. 1, 4, November1997, 169-188.
Pendergrast, Mark. For God, Country and Coca Cola: The
unauthorized history of the great American soft drink and the
company that makes it. New York. 1993
Ram, Uri. Liquid identities: Mecca Cola versus Coca-Cola. In:
European Journal of Cultural Studies, 10, 2007, 465-484.
Spittler, Gerd. Globale Waren - Lokale Aneignungen. In: Brigitta
Hauser-Schäublin und Ulrich Braukämper (Hg.): Ethnologie der
Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Berlin
2002, 15-30.
Taussig, Michael. Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige
Geschichte der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Regine
Mundel und Christoph Schirmer. Hamburg 1997.
Tweder, Fabian et al.. Vita-Cola & Timms Saurer. Getränkesaison in
der DDR. Berlin 1999
Die Bedeutung von Religion für Identitätskonstruktionen von
MigrantInnen aus der Türkei
von MARIA SIX-HOHENBALKEN
Religion im Zeitalter
der Globalisierung
Vernetzung von Glauben in der Diaspora
In den letzten fünf Jahren wurde
vermehrt festgestellt, dass Religion
wesentlich für die
Identitätskonstruktion von
MigrantInnen ist. Religionsspezifische
Fragen wurden im Migrationsdiskurs
lange vernachlässigt. Religion ist ein
Bindeglied für heterogene
Zuwandererkommunitäten, sie wirkt
über ethnische Grenzziehungen hinaus
und kann eine Konkurrenzkategorie
zu den politisch ausgerichteten
Institutionen von MigrantInnen
darstellen. Religion kann die
Aufnahme in die als auch den
Ausschluss von der Aufnahmegesellschaft bewirken, sie dient der
Etablierung von Gemeinschaften und
ist gleichzeitig ein Bindeglied zur
Herkunftsgesellschaft. In Phasen der
Unsicherheit ist Religion ein
„Rettungsanker“ und bietet
moralische, soziale und finanzielle
Unterstützung.
inige kulturanthropologische Studien haben die Bedeutung
von Religion im Migrationskontext bzw. in transnationalen
Gemeinschaften untersucht (Baumann 1996, Peggy Levitt
2001, Van der Veer 1995, 2001, Vertovec 2001). Dieser Beitrag
basiert auf Befragungen von MigrantInnen aus der Türkei, die im
Zuge von zwei Forschungen in Wien (1997-99 BMBWK, restudy 2006
Hochschuljubiläumsfonds) durchgeführt wurden und soll einen
kleinen Einblick geben.
E
In den letzten zwei Jahrzehnten konnten Religionsgemeinschaften
durch verbesserte Verkehrs- und Informationstechnologien vermehrt
globale Netzwerke aufbauen. Religiöse Akteure, oft ausgebildet in
mehreren Staaten, zirkulieren zwischen den transnationalen
Kommuntitäten um sie zu betreuen. Moderne Kommunikationstechnologien spielen eine zunehmend wichtige Rolle, etwa websites für
diverse Dienstleistungen oder chat rooms für religiöse Diskussionen.
Diese globalen Bewegungen haben Rückwirkungen auf die Religion
selbst, da beim Aufbau von Kommunitäten auf die rechtlichen
Rahmenbedingungen in den Aufnahmeländern Bezug genommen
und religiöse Praxen den nationalen Gegebenheiten angepasst werden
müssen. Islamische Religionsgemeinschaften in Europa weisen eine
Vielzahl von unterschiedlichen Orientierungen auf. Allein aufgrund
der Diversitäten in den Herkunftsländern und den unterschiedlichen
Bedingungen in den Aufnahmeländern haben MuslimInnen mehrere
Optionen zur Religionsausübung (vgl Vertovec. 2001: 34ff.): Neben
der Möglichkeit sekulär zu leben, können sie sozio-kulturellen
Traditionen nachgehen ohne den religiösen Aspekt besonders zu
betonen. Es können Kooperationen mit unterschiedlichen muslimischen Gruppen angestrebt werden, die die Rolle der Religion oder
eine ethnisch-religiöse Orientierung hervorheben. Man kann religiöse
Orientierungen allein durch moralisches Verhalten zum Ausdruck
bringen oder eine ideologisch-politische Einstellung gegenüber dem
offiziellen Islam in der Heimat, durch eine Verteidigungs- oder
Oppositionshaltung einnehmen. Gläubige können versuchen intakte
Strukturen zu (re)kreiren, homogenisierende Einstellungen vertreten,
ökumenische Strukturen schaffen, spezifische religiöse Formen
universalisieren oder eine kosmopolitische Einstellung vertreten, so
Vertovec. Im europäischen Vergleich hat Österreich eine Sonder-
Salon – Globalisierung
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
stellung, da der Islam hier seit 1912 den Status einer
Religionsgemeinschaft inne hat und 1979 als „Rechtsperson“ vollständig anerkannt wurde. Etwa ein Drittel
der ca. 350.000 MuslimInnen in Österreich stammen aus
der Türkei. Die über 150 Moscheenvereine sowie zahlreiche Initiativen und Dachverbände spiegeln unterschiedliche Orientierungen und Herkunftsländer wider.
Alleine bei der kleinen Anzahl von InformantInnen
(zwölf Familien aus der Türkei, befragt 1997 und 2006)
zeigen sich differenzierte religiöse Orientierungen und
Transformationen.
Bei Familie A war ein Wandel zu einem normativen Islam
feststellbar. Vor einem Jahrzehnt war die Familie noch
sehr türkeiorientier – aufgrund existenzieller Probleme
kamen jährliche Familienurlaube in der Türkei nicht in
Frage; auch hatte man keinen Besitz im Herkunftsland.
Saudi-Arabien und die Teilnahme am Hajj steht nun im
Zentrum der Reiseplanung der Eltern. Die Gespräche in
dieser Familie konzentrierten sich häufig auf islamfeindliche Aussagen in der Öffentlichkeit. Beklagt wurden Stereotypisierungen und ein sozialer Ausschluss, der
alle Familienmitglieder sehr belastete.
Auch bei Familie B war ein Wandel in der Orientierung an
der Türkei feststellbar. Es wurde nicht mehr in die
Herkunftsregionen in Zentralanatolien investiert, sondern man orientierte sich an den Kinderwünschen und
kaufte ein Sommerhaus am Meer. Trotz bestehender Türkeiorientiertheit sind die Familienmitglieder an Reisen
nach Mekka interessiert, Frau B nahm im letzten Jahr
zusammen mit Familie A am Hajj teil und plante im
folgenden Jahr mit ihren sekulär eingestellten Kindern
wieder daran teilzunehmen. Religion ist für die Familienmitglieder zunehmend ein kulturelles Identifikationsmerkmal, basierend auf den Vorschriften eines normativen Islams.
Bei kurdischen Familien ist im letzten Jahrzehnt eine
Neuorientierung feststellbar. Lange waren ethnopolitische Faktoren und politische Organisationen
wichtig für ihre Identitätskonstruktionen, Religion
spielte keine besondere Rolle. In den letzten Jahren
gewann die religiöse Orientierung an Bedeutung für
multiple Identitätskonstruktionen (von kurdischen
SunnitInnen und AlevitInnen). Diese Entwicklung gipfelte in der Eröffnung einer kurdisch-sunnitischen Gebetsstätte – nach Vertovec also eine ethno-politische religiöse
Orientierung. Bei einigen GesprächspartnerInnen wurde
deutlich, welche Rolle den rechtlichen Rahmenbedingungen zukommt, um Religion zu praktizieren und sich
im Residenzland „zu Hause“ fühlen zu können.
Die gläubige Muslimin Frau C. kam als Schülerin aus
dem Westen der Türkei nach Wien und konnte aufgrund
14
Salon – Globalisierung
der Sprachproblematik nicht den von ihr gewünschten
Schulerfolg erzielen, weshalb sie sich ausgeschlossen
fühlte. Erst als sie die Möglichkeit hatte, als Kopftuchträgerin zu studieren – was in der Türkei nicht möglich
gewesen wäre – und Kontakte zu vorurteilsfreien ÖsterreicherInnen aufzubauen, fühlte sie sich „ganz angekommen“ und „zu Hause“. Sie wertet diese Möglichkeit als
einen Beitrag zur Freiheit der muslimischen Frau.
Frau H. gab an, aus einer sehr gläubigen Familie zu
stammen, in der sich alle weiblichen Verwandten
„bedecken“. Sie wurde nie von ihren Eltern dazu gezwungen, aber entfernte weibliche Verwandte übten
soziale Kontrolle aus und forderten die Einhaltung von
Kleidungsvorschriften. Frau H.s säkulare Einstellung
wird von ihren Eltern akzeptiert und damit „entschuldigt“, dass sie ohne Eltern in die Türkei zurückgeschickt
wurde um die Volksschule zu besuchen. Ihr „abweichendes“ Verhalten wurde damit erklärt, dass sie unter
der familiären Trennung in ihrer Kindheit gelitten hatte
und man von ihr die Einhaltung der familiären Normen
nicht mit Nachdruck einfordern könne. Für Frau H. war
es von besonderer Bedeutung, dass ihr Freundeskreis
multi-ethnisch und multi-religiös ist, ebenso für Frau K.
Für Frau K ist es nicht die religiöse Praxis, sondern das
Wissen um die religiösen Vorschriften und ihre „kulturelle“ Vermittlerfunktion, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Bei Integrationsprojekten in einem Gemeindebau kommt Frau K. eine besondere Rolle zu, da sie die
Speisegebote und Kleidervorschriften kennt und diese
Nicht-MuslimInnen vermitteln kann. Für sie hat Religion
eher die Bedeutung einer sozio-kulturellen Orientierung:
Als sie Probleme mit ihrem pubertierenden Sohn hatte,
da er sich nicht respektvoll gegenüber älteren Personen
und seinen Eltern verhielt, erklärte sie, dass sie es verabsäumt hätte ihn in den islamischen Religionsunterricht
zu schicken, um dieses richtige Verhalten zu lernen.
Weitere InterviewpartnerInnen vertraten säkuläre
Einstellungen, bzw. meinten, dass der Glaube etwas
Individuelles, wie auch eine Privatangelegenheit sei und
Religion in einem demokratischen Land nicht überbewertet werden dürfe. Aufgrund der unterschiedlichen
muslimischen Institutionen in Österreich sind transnationale religiöse Beziehungen für diese InformantInnen weniger von Bedeutung und waren eher auf
den privaten Bereich beschränkt.
Für demographisch kleinere Religionsgemeinschaften
haben transnationale Verflechtungen hingegen eine
besondere Relevanz. Die Herausbildung eines europaweiten Netzwerkes von türkischen und kurdischen
AlevitInnen hat nicht allein zu einer Veränderung des
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Selbstverständnisses in der Migration/Diaspora beigetragen, sondern einen transnationalen Raum entstehen
lassen, der auf die alevitische Bewegung in der Heimat
rückwirkt. So auch in Wien, wo es alevitische
Vereinigungen gibt und ein cemhane (religiöse Stätte)
geplant ist.
Das Alevitentum – türkisch- wie kurdischsprachig
– wird als die anatolische Variante des Schiismus
gesehen, in den Elemente der islamischen Mystik und die
Philosophie des Neuplatonismus eingeflossen sind. Das
Alevitentum ist in sich sehr heterogen und wurde vor
allem mündlich tradiert. Aufgrund der jahrhundertlangen Verfolgungen im Herkunftsland war es lange eine
Geheimreligion – die Mitgliedschaft erfolgte über die
patrilineare Abstammung. Jede/r Gläubige hat einen dede
oder hoca (religiöser Würdenträger), den man mindestens einmal jährlich trifft. Es gibt in Mitteleuropa
mittlerweile ein Netz von dedes, die ihre Gemeinden
betreuen und zwischen den einzelnen Städten zirkulieren, jedoch stellen die in der Migration gegründeten
Vereine eine gewisse Konkurrenz für die Autorität der
religiösen Würdenträger dar (vgl. Sökefeld 2002).
Seit Mitte der 1970er Jahre sind von christlichen
Gruppierungen – infolge des Konflikts zwischen türkischem Militär und der kurdischen Widerstandsbewegungen – enorme Auswanderungs- und Fluchtwellen zu verzeichnen. Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts
etwa 700.000 AssyrerInnen im Tur Abdin (SO-Türkei),
sind es heute nur noch 1600 Personen. Die Bezeichnung
Assyrer ist ein politischer Terminus, der Mitte des 19.
Jahrhunderts durch die Entfaltung des Nationalgedankens unter den aramäisch sprechenden ChristInnen (d.h.
syrisch-orthodoxen und chaldäischen ChristInnen)
entstand. Aufgrund der Unmöglichkeit einer Remigration ist Religion und Glaube ein wesentlicher Bestandteil
der Identitäten. Unterschiedliche Strategien in den
Identitätskonstruktionen – religiös oder ethno-politisch
orientiert – spiegeln sich auch in den Organisationen und
Institutionen wider.
In Österreich leben fast 7000 AssyrerInnen. Bereits von
den ersten Flüchtlingen wurde eine syrisch-orthodoxe
Kirche gegründet, eine weitere folgte in den 1990er
Jahren. Eine andere Kirche wird hauptsächlich von
Flüchtlinge aus dem Iran und Syrien besucht (syrischorthodoxe, chaldäische, armenische oder protestantische
ChristInnen) deren Schicksal noch ungewiss ist. Hier
werden religiöse Spaltungen, die lange Zeit in den
Herkunftsländern eine Rolle spielten, überwunden. In
kleinen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften ist
die Suche nach geeigneten HeiratspartnerInnen schwierig, wenn Wert auf eine intra-religiöse Eheschließung
gelegt wird. In den letzten Jahren sind Internetforen
entstanden, über die HeiratspartnerInnen in den europäischen oder US-amerikanischen Diasporen gesucht
werden. Zu diesem Trend meinte ein Informant, dass
AssyrerInnen in Wien aus verschiedenen Ländern Westasiens stammen. Die erste Generation war multilingual,
da es eine eigene Kultsprache und mehrere Verkehrssprachen gab. Durch die Migration ist diese Multilingualität nicht mehr gegeben, im Mittelpunkt steht vor
allem die Sprache des Aufnahmelandes. Die verbindende
Sprache im Internet ist Englisch, aber gerade in den
unterschiedlichen Sprachkenntnissen liegt ein wesentliches Hindernis für die Schließung von transnationalen
Ehen.
„
Dr. Maria Six-Hohenbalken ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Sozialanthropologie, Zentrum
Asienwissenschaften und Sozialanthropologie der ÖAW.
Univ.-Lektorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie.
Literatur
Baumann, Gerd. Contesting culture: discourses of identity in multiethnic, London Cambridge University Press, 1996.
Levitt, Peggy. Between God, Ethnicity, and Country: An Approach to
the Study of Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 13, 2001.
Sökefeld, Martin. Alevi Dedes in the German Diaspora. The
Transformation of a Religious Institution. In: Zeitschrift für
Ethnologie 2002, 127. S. 163 - 186.
Van der Veer, Peter. Nation and Migration. The Politics of Space in
the South Asian Diaspora. Philadelphia: Univ. of Penn. Press, 1995.
Van der Veer, Peter. Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 18, 2001.
Vertovec, Steven. Three meanings of ‚diaspora‘, exemplified among
South Asian religions. Diaspora 7/2/1999
online:
http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/diaspora.pdf,
1.7.2005.
Vertovec, Steven. Religion and Diaspora. In:WPTC- 01 - 01, 2001.
WPTC: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working_papers.htm
Salon – Globalisierung 15
Flexible und mobiler werdende Lebensumstände schaffen ein neues
Konzept von Identität
von GERHARD JOST
Flexibilisierung
von Identitäten?
Biografien unter globalisierten Verhältnissen
Mit Globalisierung wird oft die
Zunahme ungleicher Macht- und
Verteilungsverhältnisse innerhalb und
zwischen Ländern angesprochen:
durch die Macht internationaler
Unternehmenskonzerne und infolge
neoliberaler Tendenzen werden sie nur
unzulänglich reguliert. Globalisierung
bedeutet jedoch genauso, dass ein
größeres Potential an Mobilität besteht,
das Biografien „strukturiert“. Mit
solchen Tendenzen taucht die Frage
auf, ob sich diese gesellschaftlichen
Veränderungen in Prozessen der
Identitätsbildung manifestieren.
n industrialisierten Ländern zeigen Lebensgeschichten ein
widersprüchliches Bild. Einerseits wurden Biografien durch
differenzierte Arbeitsteilung, höhere Lebenserwartung und
Vorsorgesysteme langfristiger planbar. Biografische Arbeit und
Lebensplanung wurden zur Ressource, um sich innerhalb von
Unwägbarkeiten sowie ausdifferenzierten sozialen und kulturellen
Welten zu orientieren. Andererseits nehmen nun Risiken der Planund Berechenbarkeit des Lebenslaufs in diesen Ländern zu. Bereits für
Angehörige der Mittelschicht entsteht ein beschleunigter Wandel, sei
es durch neue Formen der Arbeitsorganisation, plurale Erwartungen
oder durch flexible Arbeitszeiten und -orte. Solche Veränderungen
könnten potentiell neue biografische Ordnungen nach sich ziehen.
I
Identität als Notwendigkeit der „Moderne“
Programmatisch lässt sich zunächst behaupten, dass „moderne“
Gesellschaften stabile, unverrückbare Identitäten benötigen, die über
verschiedene Lebensphasen und Lebensbereiche hinweg konsistent
und kohärent sind. Sie sind bedeutend, weil sie als Planungsinstanz
fungieren sowie die Gestaltung von Interaktionen in multiplen
Lebenszusammenhängen anleiten. Ein integriertes "Ich", verstanden
als Syntheseleistungen aus verschiedenen Erwartungshorizonten, ist
handlungsfähig; ein dezentriertes hingegen birgt Symptome wie
Identitätsdiffusion, Depersonalisation oder psychotische Subjektstrukturen in sich, aus denen soziale und gesundheitliche Probleme
resultieren können. Zu verweisen ist auf die negativen psychischen
Folgen fragmentierter Biografien, die auch in Form eines narzisstischindividualistischen Rückzugs auftreten können.
Trotz der weitläufigen Verwendung des Begriffes ist Identität – ausgehend von Erikson (1966) – als Einheit zu verstehen. Erfahrungen
werden durch einen selbstbezüglichen, reflexiv-synthetischen Prozess
integriert. Gelungene Identitätsbildung bedeutet dann, dass sich die
Struktur des Selbstausdrucks bzw. der Erfahrungen über zeitliche und
räumliche Bereiche hinweg nicht grundlegend verändert. Kindheit
und Jugend gelten als essentielle (Aus-) Bildungsphasen, in welcher
der Kern der Identität festgelegt wird. Danach sollte sich eine relativ
stabile Persönlichkeitsstruktur eingestellt haben, die auf Änderungen
nur peripher anspricht. Teils werden jedoch auch die transformativen,
16
Salon – Globalisierung
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
dynamischen Komponenten im Identitätskonzept stärker
hervorgehoben (vgl. Keupp u.a. 1999).
Identität wird in der Regel mit Bezug auf soziale
Gruppen und Institutionen reflektiert. So wird von
kulturellen, ethnischen, religiösen, beruflichen oder
sozialen Identitäten gesprochen, um die Disposition
eines Subjekts als Mitglied einer sozialen Einheit
beschreiben zu können. Identität entsteht jedoch nicht
ausschließlich durch die Übernahme der Perspektive
„signifikanter Anderer“ („Me“), sondern wird mit den
spontanen, kreativen Bedürfnissen („I“) balanciert und
vermittelt somit zwischen Gesellschaft und Subjekt.
Einflüsse durch „Globalisierung“
Unter den Bedingungen der Globalisierung, stellt sich
jedoch die Frage, inwieweit die Ausbildung einer
konsistenten und kohärenten Identität heutzutage
überhaupt noch möglich ist.
Ein Merkmal der Globalisierung ist die zunehmende
geografische und soziale Mobilität. Kommunikationsprozesse erfolgen heute über weite Zeit-Raum-Spannen,
sodass sie nicht mehr vorrangig in regionalen Partikularitäten stattfinden. Dazu tragen international handelnde Unternehmen genauso bei wie neue Kommunikations- und Informationstechnologien. Mit dem tendenziellen Aufweichen der Normierungen lokaler bzw.
nationaler Kollektive, entstehen nicht nur neue Handlungsfelder und Entwicklungsoptionen. Auch soziale
Kosten sind mit dieser Entwicklung verbunden, die ein
Gleichgewicht des familiären Umfelds und des Berufs
erschweren.
Statistiken über Binnen- und Zuwanderungen, über
Arbeit (diskontinuierliche Berufsverläufe und Arbeitslosigkeit), sozialen Auf- und Abstieg (intergenerationelle
Mobilität), Partnerschaft (Eheschließungen und Scheidungen) oder Parteienbindungen zeigen eine Zunahme
von Mobilitätsprozessen (vgl. Preglau 1998: 363f.). Die
Internationalisierung von Betrieben sowie die
Entstehung supranationaler Verbände und Non-ProfitOrganisationen tragen zu verstärkter Mobilität bei. Diese
wird wiederum dadurch gefördert, dass der lebenslange
Verbleib in einem Beruf oder Betrieb weniger wahrscheinlich ist als in früheren Zeiten. Für Diskontinuitäten
sorgen aber auch Entwicklungen innerhalb von Organisationen: Der Grad starrer und zentralisierter Führung
hat zugunsten flacher Hierarchien und antiautoritäre
Verhaltensmuster abgenommen. Dadurch werden Tätigkeitsfelder von Mitarbeitern wandelbarer. Auch neue
atypische Formen von Arbeitsverhältnissen abseits der
Normalarbeit, seien es Werkverträge durch outsourcing,
neue Formen abhängiger (Schein-) Selbstständigkeit oder
Telearbeit, genauso wie die Einführung neuer Arbeitszeitformen, bewirken neue soziale Ordnungen. Aber die
Herauslösung aus herkömmlichen Arrangements unter
neuen globalisierten Bedingungen ist mit Folgewirkungen verbunden. So verschärft sich bereits bei
temporären Migrationen die Frage der Integration von
Familie und Beruf, die Gestaltung intergenerationeller
Beziehungen und generell die Bewältigung von
Unsicherheiten eines neuen Umfeldes.
Globalisierung und die Entwicklung
von Biografien
Eine These geht nun dahin, dass damit zunehmend nicht
nur die Möglichkeit, sondern ein Zwang zur eigenständigen biografischen Arbeit entsteht (Beck u.a. 2003:
10f.). Identität ist zwar weiterhin institutionell gebunden,
doch stärker selbst zu organisieren. Noch weiter geht die
These, wenn der „flexible Mensch“ als Resultat des
neuen, globalen Kapitalismus konstatiert wird (vgl.
Sennett 1998). Flexible Arbeitsmärkte und Organisationen, so die Ausführungen, bewirken einen Drift von
Personen. Damit ist ein "Dahintreiben" gemeint, das als
Gegensatz zur Kontrolle über die eigene Biografie
angesprochen wird und im Kontext des Lebens mit
Unsicherheit steht. Der Einzelne hält sich Optionen offen
und integriert sich nur zeitlich begrenzt in sein soziales
Feld. Es etabliert sich eine Kultur der Kurzfristigkeit, in
der die Gegenwart bedeutender scheint, als Vergangenes
sowie Zukünftiges. Die permanente Präsenz von Wandel
und die damit verbundenen Ungewissheiten manifestieren sich in einer Kultur der Äußerlichkeit. Es besteht
wenig Zeit, um Kontinuität und Vertrauen aufzubauen.
Bindungen zu einem Betrieb werden etwa durch
temporäre, professionelle Loyalitäten und durch eine
flexible Leistungsbereitschaft abgelöst, wodurch das
Individuum viel stärker mit anonymen Systemen
konfrontiert ist. Es entsteht eine neue Form der
Abstumpfung, die nun nicht mehr nur durch Routinetätigkeiten z.B. des Arbeiters in der Fabrik und
technische Rationalität, sondern vor allem durch
Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist. Früher
waren die Handlungsoptionen insbesondere durch das
Normalarbeitsverhältnis und durch institutionelle
Vorgaben beschränkt. Geringere Wahlmöglichkeiten
bedeutete auch eine Begrenzung in sozialen, beruflichen
und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten. Unter
Bedingungen der Entgrenzung regionaler und sozialer
Einheiten wachsen zwar die Handlungsmöglichkeiten,
jedoch nicht selbstverständlich auch die Autonomie.
Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich einzelne
Fragmente nicht mehr zu einer linearen Lebensgeschichte bündeln lassen und sozialen Vorgängen die
Innerlichkeit fehlt.
Allerdings können Identitäten, selbst unter einer
deregulierten Dynamik beschleunigten Wandels, nicht
Salon – Globalisierung
17
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
nur Momentaufnahmen sein und beliebig transformiert
werden. Fortgeschrittene Flexibilität und Komplexität
bedeutet im Prinzip noch nicht, dass die Konstruktion
biografischer Sinnzusammenhänge nicht mehr notwendig wäre. Individuen benötigen aus gesellschaftlichen
und individuellen Gründen eine Biografie, die ihrem
Leben einen Sinn verleiht und an der sich Interaktionspartner orientieren können. Unumstritten ist
daher, dass selbst unter globalisierten Bedingungen (der
Postmoderne) ein biografisches Orientierungsmuster
benötigt wird, d.h. Erfahrungen in irgendeiner Form
geordnet sind. Die dabei entstehenden biografischen
Strukturen sind veränderbar und werden anlässlich
bedeutender Lebensereignisse überarbeitet. Soziologische Biografieforschung, die weder zu (starren) Identitätsvorstellungen noch zu postmodernen Konzepten wie
jenem des „flexiblen Selbst“ tendiert, verweist stattdessen auf die Bedeutung von erzählten Biografien, die
auch als narrative Identitäten (vgl. Lucius-Hoehne/
Deppermann 2002) verstanden werden können. Mit
ihnen kann der lebensgeschichtliche Prozess des
Werdens fokussiert werden (vgl. Rosenthal 1999: 22).
Gleichzeitig nimmt ein Konzept biografischer Strukturierung Abstand von der Normativität des Identitätskonzepts, welches auf einen Soll-Zustand des
Individuums verweist (vgl. Fischer-Rosenthal 2000:
227f.).
Biografische Studien zu einzelnen Aspekten der
Globalisierung beschäftigen sich dann weniger mit der
Frage, inwieweit Biografien aufgrund von Fragmentierungen kohärent oder flexibel sind, sondern gehen
beispielsweise auf die Bedeutung von Ethnizität und
regionalen Handlungs- und Wissensstrukturen für die
Gestaltung von lebensgeschichtlichen und sozialintegrativen Prozessen ein (vgl. Apitzsch 1999). Dabei
werden auch Transformationsprozesse von Traditionalität in der globalen Peripherie untersucht (vgl. u.a.:
Bosse 1999). Biografien von MigrantInnen stellen
ohnehin ein wichtiges Thema der Biografieforschung
dar, beginnend mit der klassischen Studie über polnische
Bauern in Amerika (Thomas/Znaniencki 1958). In diesem
Kontext sind auch die durch Globalisierungstendenzen
getragenen Transmigrationen von Interesse, die durch
professions- oder karrierebedingte Wechsel zwischen
Heimatland und fremden Ländern entstehen. Analysiert
werden unter anderem Biografien und Muster der
Lebensführung von MitarbeiterInnen humanitärer
NPO's, EntwicklungshelferInnen, WissenschaftlerInnen,
oder Finanzbeschäftigen (vgl. Kreutzer/Roth 2006).
„
18
Salon – Globalisierung
Gerhard Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Soziologie und empirische Sozialforschung an der WU.
Forschungs- & Lehrschwerpunkte: Biografienforschung,
Methoden der qualitativen Sozialfoschung, Migrationssoziologie, familiensoziologische Fragestellungen sowie Arbeit
& Beruf.
Literatur
Apitzsch, Ursula (Hg.). Migration und Traditionsbildung. Opladen,
1999.
Beck, Ulrich /Vossenkuhl, Wilhelm/Rautert, Timm: Eigenes Leben.
Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München,
1995.
Bosse, Hans. Zur Interdependenz individueller und kollektiver
Sinnbildungsprozesse. Religiöse Erfahrungen jugendlicher
Bildungsmigranten aus Papua Neuguinea. In: Apitzsch, Ursula
(Hg.): a.a.O. 1999. S. 244-272.
Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main,
1966.
Fischer-Rosenthal, Wolfram. Melancholie der Identität und
dezentrierte biografische Selbstbeschreibung. Anmerkungen zu
einem langen Abschied aus der selbstverschuldeten Zentriertheit
des Subjekts. In: Hoerning, E. M. (Hg.): Biografische Sozialisation.
Stuttgart, 2000. S. 227-255.
Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas / Gmür, Wolfgang / Höfer, Renate /
Mitzscherlich, Beate / Kraus, Wolfgang / Straus, Florian. Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne.
Reinbek bei Hamburg, 1999.
Kreutzer, Florian / Roth, Silke (Hg.). Transnationale Karrieren.
Biografien, Lebensführung und Mobilität, 2006.
Lucius-Höhne, Gabriele / Deppermann, Arnulf. Rekonstruktion
narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer
Interviews. Opladen, 2002.
Preglau, Max. Postmodernisierung des Selbst? Versuch einer
theoretischen und empirischen Annäherung. In: Preglau, M./Richter
R. (Hg.): Postmodernes Österreich? Konturen des Wandels in
Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Wien, 1998. S. 353-371.
Rosenthal, Gabriele. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt
und Struktur biografischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/New
York, 1995.
Sennett, Richard. Der flexible Mensch. Berlin, 1998.
Thomas, William I./Znaniencki, Florian. The Polish Peasant in Europe
and America. New York, 1958.
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Kultur – praktisch?
Sonja Windmüller, Saskia Frank (Hg.): Normieren,
Standardisieren, Vereinheitlichen. Marburg, Hessische
Blätter für Volks- und Kulturforschung, Jonas Verlag,
2005, 194 Seiten, s/w-Abb.
Die Hessischen Blätter legen zum Phänomen der Normierung einen Konzeptband vor. „Hat sich das ursprünglich technisch-ökonomische Phänomen doch längst in
nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche ausgeweitet
– Normierung ist zu einem zentralen Kulturprinzip
avanciert“, schreiben die Herausgeberinnen in der
Einleitung.
Diesem Kulturprinzip spüren die Aufsätze des Bandes
nach. Elke Gaugele untersucht in ihrem Text zum Avatar
Körpervermessungen. Der Avatar ist eine virtuelle Puppe
mit genauen Körpermaßen. „Über einen Avatar kann
sowohl im Internet als auch in Modegeschäften Kleidung
anprobiert und konsumiert werden.“ Gaugele kommt zu
dem Schluss, dass sich darüber Körperbilder und -konstruktionen verbreiten, da in Großbritannien der NormKörper errechnet und statistisch erfasst wird.
Siegfried Becker untersucht das „Gestalten von Tieren
nach den Bedürfnissen der Menschen“ anhand der
Tierzucht. Hier werden weltweite Standards erstellt, wie
Tiere auszusehen haben. Für Legehennen gibt es etwa
nur wenige Basiszuchtbetriebe, „eine Globalisierung des
Marktes, die zu einer extremen Verengung der genetischen Potentiale geführt hat.“
Ähnlichen Globalisierungstendenzen spürt Manuel
Trummer mit seinem Aufsatz zur "McKropolisRevolution" nach. Es wird dabei untersucht, wie eine
Nobilitierung schnellen Essens bei McDonalds oder
Burger King angestrebt wird. Das liegt daran, dass es zu
einer „nahezu kultischen Verehrung einzelner Lebensmittel, vor allem des Döners gekommen“ ist. Denn „die
Perzeption der Kulturpraxis Standardisierung seitens
des Konsumenten ist im Bereich der Ernährung überwiegend ins Negative gekippt.“
Entstanden ist somit ein sehr fundierter Konzeptband,
der das Phänomen Globalisierung anhand konkreter
Beispiele untersucht.
„
rezensiert von Malte Borsdorf
Anthropologie – theoretisch?
Fernand Kreff. Grundkonzepte der Sozial- und
Kulturanthropologie in der Globalisierungsdebatte.
Berlin. Dietrich Reimer Verlag 2003 233 S., 29,90 €
Die Studie untersucht die Bedeutung der Debatte um
Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie.
Sie verfolgt dabei zwei Ebenen: Die fachinterne Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Globalisierung
hat zum einen die Entwicklung neuer Konzepte oder
Modelle zur Interpretation und Erforschung der gegenwärtigen Situation herausgefordert. Neben den Konzeptionen von Kultur und Gesellschaft wurde insbesondere
die Verortung soziokultureller Prozesse innerhalb eines
globalen sozio-ökonomischen und politischen Rahmens
zu einer der wichtigsten Problemstellungen für die
Forschung. Damit wurden aber zugleich auch bis dahin
von einem breiten Konsens getragene Grundkonzepte
des Fachs überhaupt fragwürdig. Und nicht zuletzt sah
sich die Anthropologie gezwungen, gegenüber anderen
Fächern wie etwa den cultural studies, den postcolonial
studies oder der Kultursoziologie Position zu beziehen.
Ziel ist es, den LeserInnen einen Leitfaden entlang der
Diskussionen und Neuansätze von Theorie und methodischem Zugang in die Hand zu geben: die neuen
Forschungsobjekte und -felder werden dargestellt;
Probleme und Grenzen der neuen Konzepte ausgelotet.
Die Auswahl der im Buch behandelten TheoretikerInnen
aus Sozial- und Kulturanthropologie orientiert sich
hauptsächlich daran, inwieweit diese ein ausgearbeitetes
Modell zur Analyse soziokultureller Neupositionierungen im globalen Rahmen liefern. Dabei wurde die Darstellung eines möglichst breiten Spektrums an theoretischen Denktraditionen angestrebt.
Die Präsentation der Ansätze erfolgt nicht nur im Kontext des Gesamtwerks der einzelnen AutorInnen, sondern berücksichtigt darüber hinaus den jeweiligen
Diskurszusammenhang. Besonderes Gewicht liegt daher
auf der theoriegeschichtlichen Verortung und gegenseitigen Anknüpfung bzw. Abgrenzung der besprochenen
Modelle. In den zwischengestellten Kommentaren werden die einzelnen Modellbildungen zudem im Kontext
anderer Fächer – etwa der Philosophie – beleuchtet.
Das Buch bietet somit einen Einstieg in die anhaltenden
Diskussionen um Globalisierung und führt über die
kritische Reflexion der Disziplin selbst ins Zentrum der
aktuellen sozial- und kulturanthropologischen Wissensproduktion.
„
präsentiert von Fernand Kreff
Buchrezension/-präsentation
19
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Einsame Weltmacht
Raimund Löw. Einsame Weltmacht. Die USA im
Abseits. Ecowin Verlag 2007 288 S., 23.60 EUR.
ISBN 103902404477.
Der Historiker und Journalist Raimund Löw arbeitete ab
1988 als ORF-Korrespondent in Washington und
Moskau, war danach Ressortchef Ausland-EU in der
ZiB2, und bis August 2007 Leiter des ORF-Büros in Washington. Zu seinen Interview-Partnern zählten unter
anderem Bill Clinton, George W. Bush, Arnold Schwarzenegger, Michail Gorbatschow, Tony Blair und Gerhard
Schröder. Er wurde 2007 für seine Reportagen und
Publikationen zu zeitgeschichtlichen Fragen und
Themen der internationalen Politik zum Außenpolitischen Journalisten des Jahres gewählt.
Das Buch Einsame Weltmacht beschäftigt sich hauptsächlich mit den USA nach den Anschlägen vom 11.
September 2001. Die betrachteten Themen beschränken
sich allerdings nicht auf den Terrorismus, sondern reichen von Zensur und dem USA Patriot Act, den Kriegen
in Afghanistan und dem Irak (inkl. Massenvernichtungswaffen, den erfundenen Heldengeschichten
und Ungereimtheiten bei der Vergabe von gut bezahlten
Aufträgen), über Guantánamo zu den Folterskandalen
und deren Hintergründen.
Ein Kapitel des Buches ist dem Bundesstaat Kalifornien
gewidmet, mit Schwerpunkt auf Arnold Schwarzenegger
als Gouverneur. Weitere Themen, von denen Löw
berichtet, sind etwa die wandelnde Einstellung zum
Umweltschutz, die Schere zwischen Arm und Reich, die
Thematik der illegalen Einwanderer, das Gesundheitssystem und die Todesstrafe. Auch das Thema
Religion kommt unter der Überschrift „Krieg um Gott“
nicht zu kurz.
Die Mischung von objektiver, unaufgeregter Erzählweise
und persönlichen Erfahrungsberichten macht das Buch
besonders lesenswert. So finden sich nach jedem Kapitel
Quellenangaben und auch die Auswahl der InterviewPartner ist keineswegs einseitig. Die Schilderungen vom
Dinner der White House Correspondents Association mit
Präsident Bush und den Pressekonferenzen im White
House briefing room lockern das Buch auf, und geben
dem Leser das Gefühl dabei zu sein. Auch die Berichte
über die Aufenthalte des Autors in Guantánamo und im
Pentagon sind atmosphärisch geschrieben und sehr
spannend zu lesen. Raimund Löw kann zurecht als
„Augenzeuge der Weltpolitik“ bezeichnet werden.
rezensiert von Markus Chvojka
Hinterm Zaun und davor
Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007. Dokumentation.
Sibylle Kappes. Deutschland. 2008.
Schon im Vorfeld löste der G8-Gipfel Kontroversen im
Kulturbetrieb aus. Der Abriss des unter Schutz stehenden Gebäudekomplexes „Perlenkette“ mit der Begründung, dass die PolitikerInnen dadurch eine bessere Aussicht auf die Ostsee haben würden, sorgte für Entrüstung. In Berlin entsteht derzeit ein Film mit dem
Arbeitstitel Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007, der
2008 an ausgewählten Orten zu sehen sein wird. Die
Regisseurin Sibylle Kappes sucht dafür einen künstlerischen Zugang. Gemeinsam mit VideoaktivistenInnen
und professionellen Medienschaffenden dokumentiert
sie die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung von Seattle bis Heiligendamm. Dargestellt wird die
Entscheidung, aktiv zu werden oder nicht. Dazu
sammelt der Film Informationen, die die offizielle Seite
und die Alternativen immer weiter auseinander treiben.
Denn im Diskurs über Globalisierung, so Kappes, wird
nicht versucht Probleme anzusprechen um sie zu lösen,
sondern nur, wie die Probleme der so genannten
20
Buch-/Filmrezension
„Dritten Welt“ und der Umweltverschmutzung
weggesperrt werden können. Symbolisch dafür steht der
Aufbau des Zauns um Heiligendamm, den die Bilder des
Kameramanns Peter Przyblinski dokumentieren. Ein
Zaun, der den Ort zu einer Festung werden lässt.
Die dialogischen Textpassagen des Films gliedern sich
inhaltlich in drei Abschnitte: Zum einen die philosophisch-ethische Grundlage, die von einer Auswahl altgriechischer Textzitate zur Demokratie- und Staatstheorie ausgeht. Daraufhin geht der Film anhand des
Beispiels einer Freihandelszone über zur Lebensrealität
in kapitalistischen Systemen. Daraus ergibt sich als Drittes die Beschreibung des durch den Kapitalismus ausgelösten Akts zivilen Ungehorsams, der früheren Blockaden und der aus dieser Handlung folgenden Erfahrung
von Inhaftierung und gewaltsamen Übergriffen, wie etwa in Genua 1998.
Der Film wird im Sommersemester 2008 unter anderem
am Institut für Europäische Ethnologie und im Schikane
der-Kino gezeigt werden.
rezensiert von Urs Malte Borsdorf
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Multinationale Konzerne auf
Psychiaters Couch
The Cooperation. Dokumentation. Jennifer Abbott und
Mark Achbar. Kanada. 2004. 145 Minuten.
www.thecorporation.com
Die kanadische Dokumentation The Corporation, die auf
dem Sachbuch Das Ende der Konzerne. Die selbstzerstörerische Kraft der Unternehmen von Joel Bakan
beruht, beschäftigt sich mit den Schattenseiten des
Kapitalismus. Besonders hervorzuheben ist, dass neben
AktivistInnen und GlobalisierungskritikerInnen wie
Michael Moore oder Naomi Klein auch Personen der
Geschäftsführung von z.B. Goodyear Tire und Pfizer unter
den 43 Interviewten zu finden sind. Allen SprecherInnen
wurde die Möglichkeit gegeben das Gesagte erneut
aufzunehmen, falls sie mit dem Ergebnis unzufrieden
seien, wodurch sich die Dokumentation stark von denen
Moores, die polemische Tendenzen aufweisen, abhebt.
Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass The
Corporation gratis verfügbar ist und ursprünglich als
dreiteilige Fernsehdoku ausgestrahlt wurde, also nicht
aus kommerziellen Gründen vertrieben wird.
Seit dem Ende des Bürgerkriegs in den USA 1865 gilt eine
Kapitalgesellschaft als juristische Person. Die Dokumentation wirft die Frage auf, welche Wesenszüge diese
„Person“ hat. Durch Fallbeispiele wird aufgezeigt, dass
vieles, z.B. wiederholtes Lügen, die rücksichtslose
Missachtung der Sicherheit anderer oder die Verletzung
gesetzlicher Vorschriften, auf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung hinweist (der veraltete Begriff für diese
Beschreibung lautet „Psychopath“). Da eine Aktiengesellschaft verpflichtet ist, die finanziellen Interessen
ihrer Aktionäre über alles zu stellen, scheint sie kein
Moralempfinden zu haben. Die gesetzliche (relativ
geringe) Geld-Strafe für irreführende Werbung oder
Umweltschäden zu bezahlen ist (und das ist selbstverständlich) im Budget der großen Konzerne
eingeplant. Oft wird abgewogen, ob es billiger ist sich an
ein Gesetz zu halten oder es zu brechen. Die Reporter
Jane Akre und Steve Wilson, die sich ausführlich mit
Posilac, einem Mittel der Firma Monsanto zur Steigerung
der Milchproduktion, beschäftigten, wurden beispielsweise gefeuert, weil sie sich weigerten die von FOX
vorgeschriebenen Änderungen in ihrem Beitrag zu
akzeptieren. Ein besonders plakatives Beispiel für das
reine Profitdenken der Konzerne gibt Lucy Hughes, eine
Mitarbeiterin der Mediaagentur Initiative Media. Ihrer
Meinung nach müssen Kinder schon früh auf
konsumorientiertes Verhalten konditioniert werden,
damit ihnen die unterschiedlichen Firmen später schon
vertraut sind. „You can manipulate consumers into
wanting, and therefore buying, your products. It's a
game.“ Die Frage, ob die Manipulation von Kindern
moralisch vertretbar ist, stellt sich für Hughes gar nicht.
Profitgierige Unternehmen beeinflussen neben den
Medien, unserer Gesundheit und unserer Umwelt, aber
auch die Politik. So verweist The Corporation z.B. darauf,
dass Großkonzerne einen wesentlichen Beitrag zum
Aufstieg des Faschismus in Europa leisteten. Noam
Chomsky sagt allerdings: „When you look at a corporation, just like when you look at a slave owner, you want
to distinguish between the institution and the individual.“ Besonders deutlich verkörpert das Sir Mark
Moody-Stuart, der ehemalige Vorsitzende von Royal
Dutch Shell. Als DemonstrantInnen ein Banner mit der
Aufschrift „Murderer“ auf sein Haus hängen wollen,
beginnt er eine mehrstündige Diskussion mit ihnen, um
zu beweisen, dass auch er sich Gedanken über die
Umwelt und Menschenrechte macht. Wie das damit
vereinbar ist, dass in vielen Ländern, in denen Öl
gefördert wird, Royal Dutch Shell an Umweltverschmutzung und Unruhen mitschuldig ist und wer
letztlich die Verantwortung trägt bleibt in der Dokumentation unbeantwortet. Auch wenn der Einzelne machtlos
gegenüber diesem monströsen System wirkt, soll den
Menschen aber auch Hoffnung gegeben werden, dass
Veränderungen möglich sind. Oscar Olivera, der sich
maßgeblich an Demonstrationen gegen die erzwungene
Privatisierung der Wasserversorgung beteiligte, sagt
diesbezüglich gegen Ende der Dokumentation „Unterschätze nie die Macht des Volkes! Vereint ist es
unbesiegbar!“
Fazit: Eine brisante und mit mehreren Publikumspreisen
(sowie auch dem Sundance-Filmpreis) ausgezeichnete
Dokumentation, die auch 3 Jahre nach ihrem Erscheinen
keineswegs an Aktualität verloren hat. Ein globalisierungskritisches Fundstück, das interessante Fragen
aufwirft.
rezensiert von Lydia Garnitschnig
Filmrezension
21
Betrachtungen über Selbst- und Fremdzuschreibungen
im österreichischen Fußballsport
von NIKO REINBERG
Wir und die Anderen
Mentalitätskonstrukte im Männerfußball
Mit seinen regional verschiedenen
Spielweisen und den ebenso
unterschiedlichen sportlichen Erfolgen
einzelner Nationen bietet der
Fußballsport ideale Vorrausetzungen
für die Zuschreibung von Fremdem
und Eigenem. In diesem Sinne ist der
Fußballsport an der Entstehung
bestimmter Bilder nationaler sowie
regionaler kollektiver Identitäten
beteiligt. Geht man allerdings nach
den Spielregeln, so ist das
Fußballspielen auf der ganzen Welt
gleich. Trotzdem existieren
verschiedene Stile und es treffen
Menschen unterschiedlichster
Herkunft, Sprache, sozialer Schicht
und Hautfarbe in einem Team
zusammen. Dabei werden Ansichten
über die Menschen, mit denen oder
gegen die gespielt wird, verfestigt,
neu geformt oder revidiert. Die
vorliegende Kolumne beschäftigt sich
mit eben diesen Ansichten und den
damit verbundenen Erfahrungen von
Männern, die, so wie der Autor selbst,
in kleinen Vereinen Fußball spielen.
I
„Die ausländischen Kinder turnen, uns’re
österreichischen Kinder sitzen mit´m
Fresspackl auf der Bank.“ (Zitat eines
Im Rahmen eines Forschungsprojektes interviewte ich mehrere Spieler
und Funktionäre des FC-Purkersdorf. Diese beschrieben den südländischen Spielertyp durchwegs als „temperamentvoller, technisch
besser, heißsporniger“ aber auch als „ballgierig, schwer verspielt und
eigensinnig“. Auffallend ist hier, dass positive Zuschreibungen als
Komparativ und negative Zuschreibungen als für sich stehende Eigenschaftswörter genannt wurden. Ein Fußballer, der Türken und Spieler
aus dem ehemaligen Jugoslawien als eigensinnig beschrieb, meinte,
„die lassen sich nix dreinreden, das fehlt uns manchmal“, was die
ambivalenten Interpretationsmöglichkeiten dieser Zuschreibungen
illustriert.
österreichischen Hobbyfußballers).
22
Kolumne
m Zusammenhang mit dem argentinischen Fußball beschreibt
der Sozialanthropologe Eduardo Archetti zwei große
idealtypische Richtungen des Sportes. Zum einen den englischen
Stil, der auf Attributen wie kollektive Disziplin, Mut und
Willenskraft aufbaut, zum anderen einen criollo-Stil, der das
Künstlerische und Improvisierende in den Vordergrund stellt. Der
Autor beschreibt den argentinischen Fußball als eine Mischung dieser
zwei Richtungen. Die Vermischung entstand laut Archetti durch die
Hybridität der argentinischen Gesellschaft, die aus MigrantInnen aus
Nord- und Südeuropa, indigener Bevölkerung und den Nachfahren
ehemaliger SklavInnenen aus Schwarzafrika besteht. Die zwei von
Archetti beschriebenen Richtungen sind, so meine ich, selbst auf
lokaler Ebene die Grundlage vieler Fremd- und Eigenbilder im Fußball. Auf diese Bilder wird immer wieder Bezug genommen. In Analogie zu Archetti unterscheiden viele österreichische Hobbyfußballer
zwei verschiedene Stile als entweder südländisch oder englisch.
Die Gefahr der Verallgemeinerung und Stereotypisierung im Rahmen
solcher dichotomen Zuschreibungen ist mir bewusst und ich weise an
dieser Stelle darauf hin, dass Begriffe wie südländisch, jugoslawisch,
türkisch, brasilianisch, österreichisch und englisch vor allem im
Zusammenhang mit Mentalitätskonstrukten zumeist stark reduzierte
Verallgemeinerungen und Rassismen darstellen. Trotzdem komme ich
nicht umhin, mit diesen Begriffen zu arbeiten, denn sie sind ein
essentieller Bestandteil der Diskurse um das Fußballspiel. Österreichisches wird im Fußball tendenziell als minderwertig angesehen.
Grund dafür sind wohl die schwachen Leistungen österreichischer
Vereine, mangelnde Begeisterung der Fans bzw. mangelnde Fans und
die traurigen Darbietungen der Nationalmannschaft. Südländischer
Fußball wird meist mit Ex-Jugoslawien, der Türkei, Afrika oder
Brasilien in Zusammenhang gebracht.
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
„Der Goran muss einen, wenn nicht zwei überspielen, das ist
einfach, sag ich mal, in den Jugoslawen drinnen, die sind alle
ballverliebt.“ (Zitat eines österreichischen Hobbyfußballers).
Spieler aus südlichen Ländern wurden von der Mentalität
her als verspielt und eigensinnig beschrieben.
Ausschlaggebend für die Entstehung dieser Mentalitätskonstrukte sind laut meinen Informanten persönliche
Erlebnisse aus dem Urlaub, der Jugend in Wien oder
Erfahrungen aus der unmittelbaren fußballerischen
Lebenswelt. Tendenziell wurde der südländische Fußballertyp dem österreichischen übergeordnet. Englischer
Fußball stand für England sowie Deutschland und wurde
als geradliniger, hart aber auch technisch gut beschrieben.
In Bezug auf Fremdheit wurde der englische Stil generell
vom österreichischen Fußball getrennt, aber doch als
verwandt betrachtet. In fast jedem Interview wurde ein
Zusammenhang zwischen (nationaler) Mentalität und
dem jeweiligen Stil geortet. Tatsächlich, so meine
Beobachtungen (ich arbeitete mehrere Jahre in Wiener
Parks als Jugendbetreuer bzw. Ferienanimateur, leitete
öfters Fußballturniere von Wiener Jugendeinrichtungen
und spielte eine Saison lang in einer mexikanischen
Fußballliga), bewegen sich und spielen mexikanische,
türkische oder aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende
Jugendliche und Erwachsene tendenziell anders als viele
meiner „österreichischen“ Fußballerkollegen.
Die Erklärung für dieses Faktum liegt aber weniger in
diffusen Mentalitätskonstrukten als in der Benützung verschiedenartiger Fußballplätze beim Erlernen des Fußballspiels. Während viele Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Betonplätzen, Hinterhöfen, Sandplätzen
und Sportkäfigen das Fußballer-Handwerk erlernen,
spielt eine große Anzahl von Jugendlichen, die sich selbst
als Österreicher sehen, auf weitläufigen Rasenplätzen.
Am Beton oder harten Boden muss technisch feiner
gespielt werden. Fouls und harte Attacken führen
einfach leichter zu Verletzungen. Ein Fußballrasen hingegen erlaubt eine härtere Spielweise. Viele als technisch
und kreativ geltende Spieler Österreichs, die eher mit
dem südländischen Stil verbunden werden – wie zum
Beispiel Herbert Prohaska – trainierten lange Zeit auf
kleinen Betonsportplätzen. Die ersten aus wohlhabenden
englischen Migranten geformten Fußballteams in
Argentinien spielten, wie auch kaum anders zu erwarten,
zumeist auf weitläufigen Rasenplätzen.
In der Sportberichterstattung und in Alltagsgesprächen
über Fußball wird immer wieder nach kulturellen
Differenzen geurteilt. Oft werden diese Differenzen
geradezu gesucht. Hierbei wäre es meines Erachtens aber
wichtig, Kultur – im Sinne Arjun Appadurais – nicht als
statische Substanz zu sehen, sondern als Phänomen, das
sich über die Wahrnehmung von Unterschieden in den
sozialen Kontakten der Menschen manifestiert.
Appadurai schreibt: „Culture is not useful regarded as a
substance but is better regarded as a dimension of a
phenomena, a phenomena that attends to situated and
embodied difference (Appadurai 2000: 12-13). Die von
vielen Fußballern und Fernsehkommentatoren wahrgenommene kulturelle Differenz ist nicht die Ursache einer
unüberbrückbaren Differenz zweier unabänderlicher
Kulturen, sondern vielmehr ein Merkmal verschiedener
sozialer Hintergründe und Lebenswelten, die miteinander in meist hierarchischer Verbindung stehen (vgl.
Tsing 2005, Appadurai 2000).
„Die kulturellen Differenzen zwischen einer (konstruierten)
einheimischen Bevölkerung und einer fremden Bevölkerung
werden dabei als unüberwindbar dargestellt“ (Fanizadeh 2000).
Auch im Fußball gibt es Unterschiede, sie zu negieren
wäre genauso falsch wie sie über zu bewerten. Leider ist
dies ist jedoch oft der Fall. Wallerstein und Balibar (1998)
beschreiben diese Überbewertung als „Wesen des modernen Rassismus“. Dieser moderne Rassismus ist nicht
mehr von überkommenen Biologismen, sondern von
einer kulturell definierten Form der Diskriminierung
getragen.
Auch soziale Faktoren werden von vielen Fußballern für
verschiedene Mentalitäten im Fußball verantwortlich
gemacht. So wurde die andere Art zu spielen mit Armut
in Verbindung gebracht. Ein Vereinsfunktionär des FCPurkersdorf meinte, dass das „eigene“ österreichische
Kolumne
23
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Wunderteam, das 1934 den 4. Platz bei der Weltmeisterschaft erreichte, brasilianischen Fußball spielte.
Die Menschen klammerten sich der Armut wegen an den
Sport und erhoben diesen zur Passion. Der Wiener
Fußball der Dreißiger Jahre soll tatsächlich ein technisch
versierter, verspielter Fußball gewesen sein. Hier lässt
sich der Bezug zu den Sportstätten herstellen: die
meisten Fußballer des Wunderteams erlernten ihre Kunst
unter ähnlichen Bedingungen wie viele junge
brasilianische FußballerInnen der Gegenwart. Armut
wird auch von einer Reihe aktiver Fußballer als
wesentlicher Faktor für eine bestimmte FußballerMentalität identifiziert. Das Mentalitätskonstrukt verliert
somit an Starrheit da es von sozialen und wandelbaren
Gegebenheiten abhängig gemacht wird.
Generell muss hier angefügt werden, dass sich
spielerische Eigenheiten im globalisierten Profisport in
Richtung universale, Team und Körper betonte,
gleichzeitig aber auch technisch perfekte Spielweise
auflösen.
„Wir spielen Fußball, die leben Fußball.“
(Zitat eines
Hobbyfußballers).
Interessanterweise haben meine Interviews und
Gespräche mit Fußballern ergeben, dass die meisten
– von der Art Fußball zu spielen ausgehenden – Fremdbilder positiv belastet sind. Viele „Andere“ haben also
aus unterschiedlichsten Gründen eine andere Einstellung
als „wir Österreicher“ zum Sport. Sie spielen deshalb
besser. Keiner meiner Interviewpartner verband die
Präsenz von „türkisch-stämmigen“ und aus dem
ehemaligen Jugoslawien stammenden Jugendlichen als
direktes Hindernis für – als solche bezeichnete
– „österreichische Jugendliche“, das Fußballspiel zu
erlernen und zu betreiben. Vielmehr wurde den
Österreichern eine weniger ambitionierte Einstellung
zum Sport zugeschrieben. Das eigene ist – so der Tenor
unter Hobbyfußballern – sowohl der südländischen als
auch der englischen Art zu spielen unterlegen. Die
Einstellung zum Sport sei sowohl in England als auch im
Süden eine intensivere. In England „gibt es mehr
Fußballplätze und daher auch mehr Tradition“,
Engländer, Brasilianer und auch Afrikaner würden den
„Fußball leben“ während er in Österreich, so das obige
Zitat – „lediglich gespielt würde“.
Im Fußballsport werden vorherrschende gesellschaftliche Strukturen und Bilder gespiegelt und produziert –
Fußball widerspricht diesen Bildern aber auch. Fußball
markiert Grenzen zwischen einem „Wir“ und „den
Anderen“. Österreicher sehen sich hier tendenziell als
„trendmäßig hinten nach bzw. unmotiviert“. Migranten
24
Kolumne
werden, genauso wie den Österreichern, bestimmte
Eigenschaften zugeordnet. So werden über die Art
Fußball zu spielen, eine Reihe positiver als auch
negativer Stereotypen produziert. In Österreich oft
negativ gegen sich selbst. Ich persönlich freue mich
trotzdem schon sehr auf die erste Europameisterschaft
mit österreichischer Beteiligung, auch wenn „Wir“ es
echt nicht verdient haben…
„
Niko Reinberg, wohnt in Graz, ist Kultur und
Sozialanthropologe, Erzähler, Autor, Rapid Wien Fan und
Amateurfußballer. Vor kurzem erschien sein Buch “Jenseits
von Sonnenpyramiden und Revolutionstourismus” in dem
auch über Fußball in einer indigenen Comunidad berichtet
wird.
Literatur
Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Minneapolis, 2000.
Archetti, Eduardo. Masculinities – Football, Polo and the Tango in
Argentina. Oxford, 1999.
Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel. Rasse, Klasse, Nation.
Ambivalente Identitäten. Hamburg, 1998.
Tsing Lowenhaupt, Anna. Friction- Ethnography of Global
Connection. Princeton, 2005.
Fanizadeh, Franz. Kulturalismus und die Globalisierung im Fußball.
In: Kurswechsel 1/2000.
Ein Überblick zu Geschichte, Konzepten, Methoden und Feldern
der Medienanthropologie
von PHILIPP BUDKA
Anthropologie der Medien
Ein aktuelles Forschungsgebiet
Die Anthropologie der Medien kann
zu jenen Forschungszweigen der
Kultur- und Sozialanthropologie
(KSA) gezählt werden, die im 21.
Jahrhundert massiv an Bedeutung
und Relevanz gewonnen haben.
Indikator für diesen Aufschwung ist
die steigende Zahl an fachrelevanten
Publikation, Veranstaltungen,
Organisationen, Netzwerken sowie
Studiengängen und -schwerpunkten.
Motivation für die KSA, sich nun
endlich auch an den interdisziplinär
geführten medientheoretischen
Debatten zu beteiligen, scheint die
Ignoranz anderer Disziplinen
gegenüber nicht-westlichen
Medientechnologien und -nutzungen
zu sein (vgl. Ginsburg et al.: 2002). Die
in der KSA übliche Einbeziehung
einer kulturvergleichenden
Dimension erscheint jedoch sinnvoll,
um etwa Fragen nach der Produktion
von individueller und kollektiver
Identität, der Konstruktion von
Gemeinschaften oder der
Verschiebung von Machtverhältnissen
im Kontext von Medien befriedigend
beantworten zu können. So treten
Kultur- und SozialanthropologInnen
auch verbreiteten Tendenzen
entgegen, Medien getrennt vom
soziokulturellen Leben der Menschen
zu behandeln (vgl. Askew: 2002).
bgesehen
von
einigen
Ausnahmen,
wie
die
ethnographische
Untersuchung
von
Hortense
Powdermaker zur Filmindustrie in Hollywood in den
1940er Jahren oder den zeitgleichen Filmdokumentanalysen von Margaret Mead und Gregory Bateson, wurden
Medien erst ab Ende der 1980er Jahre systematisch von einigen
Kultur- und SozialanthropologInnen untersucht (Ginsburg et al. 2002).
Da dies zumeist im Rahmen eines nicht medienspezifischen
Feldforschungkontextes geschah, schrieb Spitulnik noch 1993 „there is
yet no ‚anthropology of mass media‘“ (Spitulnik 1993: 293).
Die Gründe für das Desinteresse vieler Kultur- und SozialanthropologInnen besonders an den Massenmedien lassen sich bis in
die 1940er Jahre zurückverfolgen. Während des Zweiten Weltkrieges
wurden, etwa von den in die USA emigrierten Vertretern der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, elektronischen Massenmedien vor allem gefährliche Eigenschaften, wie die
„Totalisierung“ der Gesellschaft und die „Massifizierung“ des Individuums zugeschrieben (vgl. Dracklé 1999). Diese Annahme führte
letztlich zu einem Kulturpessimismus, der sich erst durch den
Wechsel des analytischen Fokus von der bloßen Wirkung von Medien
auf deren Rezeption abschwächte. Eine entscheidende Rolle bei
diesem Paradigmenwechsel spielten die Cultural Studies, die sich in
den frühen 1970er Jahren in Großbritannien zu etablieren begannen.
Theoretiker wie Marx, Gramsci und Althusser, die sich mit Macht,
dominanten Ideologien und Strukturen befassten, beeinflussten
Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall und David Morley und
trugen wesentlich dazu bei, dass die Menschen nicht mehr
ausschließlich als passive MedienkonsumentInnen gesehen wurden,
sondern vielmehr als aktive RezipientInnen, die die Medien und deren
Botschaften mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen und so auch
in der Lage sind „Widerstand gegen dominante Ideologien“ zu leisten
(Askew 2002, Dracklé 1999: 266). Diese optimistischere Darstellung
vom sich frei entscheidenden Medienrezipienten wurde später, vor
allem nach Einbeziehung von empirischem Forschungsmaterial,
kritisiert, da sie den tatsächlichen Machtverhältnissen zwischen
MedienproduzentInnen und -konsumentInnen zu wenig Bedeutung
beimessen würde (vgl. Rojek 2003).
Der Einfluss der „modernen“ Cultural Studies auf die KSA resultierte
in einer verstärkten Beachtung von „Populärkulturen“ und deren
Inhalten, wie eben Massenmedien, als Forschungsfelder (vgl. Dracklé
1999). Die Gründe für das steigende Interesse der KSA an Medien
können also mit einem Wechsel sowohl des theoretischen als auch des
geographischen Fokus innerhalb der Disziplin erklärt werden. Die
A
Fachgebiet – Medienanthropologie
25
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
theoretischen und methodischen Umwälzungen in den
1980er und 1990er Jahren – Stichwort „Postmodernismus“ – sowie die Verlagerung von ethnographischen
Forschungsfeldern von abgelegenen Dorfgemeinschaften
in den „Entwicklungsländern“ in die urbanen Räume der
Industriestaaten,
die
wesentlich
stärker
von
Massenmedien durchdrungen sind, trugen maßgeblich
zur Etablierung einer Medienanthropologie bei (vgl.
Ginsburg et al. 2002).
Konzepte und Methoden
Die Medienanthropologie ist einerseits eng mit anderen
wissenschaftlichen Disziplinen verwoben und übernimmt von diesen theoretische Konzepte. Andererseits
trägt die KSA selbst zum Verständnis von Medienproduktion und -nutzung bei (vgl. Rothenbuhler/Coman
2005).
Prominente theoretische Konzepte, die in der Medienanthropologie Verwendung finden jedoch nicht der KSA
entstammen, sind etwa Benedict Andersons’ Konzept der
„vorgestellten Gemeinschaft“, das das Potential von
Massenmedien zur Bildung von imaginierten Vergesellschaftungen – z.B. Nationalstaaten – aufzeigt, sowie Jürgen Habermas’ theoretischer Abriss zur
„Öffentlichkeit“ oder die Aktor-Netzwerk-Theorie,
entwickelt unter anderem von Bruno Latour und John
Law, die besonders geeignet scheint, Prozesse in technologisierten „Netzwerkgesellschaften“ zu verstehen.
Altgediente Konzepte der Kultur- und Sozialanthropologie werden wiederum nicht ausschließlich von
AnthropologInnen verwendet, auch MedienwissenschaftlerInnen greifen in ihren Versuchen Medienphänomene theoretisch und analytisch zu erfassen
immer häufiger auf diese zurück. Zu nennen wären hier
etwa die diversen Theorien zu Ritual und Ritualisierung
(z.B. Couldry 2003), Theorien zu Tausch und Handel,
theoretische Konzepte der materiellen Kultur (z.B.
Miller/ Slater 2000), zentrale Konzepte zur kulturellen,
geschlechtlichen und ethnischen Identität bzw. Identitätskonstruktion sowie Konzepte zu „Gemeinschaft“
oder alternativen Vergesellschaftungsformen (z.B. Postill
2006).
Ein prominentes Beispiel für die Verschmelzung von
medienanthropologisch-relevanten Theorien liefert
Appadurai (1996). Er verwendet sowohl Andersons
„vorgestellte Gemeinschaften“ um in seinen theoretischen Konzepten die Bedeutung von Imaginationen für
die Bildung von transnationalen Medienlandschaften
heraus zu arbeiten, als auch Habermas’ Verständnis von
Öffentlichkeit, um eine „hypothetische Arena“ (public
26
Fachgebiet – Medienanthropologie
culture) zu umreißen, die sich von Unterscheidungen in
„erste“, „zweite“ und „dritte“ Welt distanziert und eine
„kulturelle Hierarchisierung“ ablehnt (Kreff 2003: 130).
In dieser public culture spielen Massenmedien wiederum
eine bedeutende Rolle.
Wesentlichste Methode, um nun die unterschiedlichen
Medienphänomene zu erfassen, ist für die Medienanthropologie die ethnographische Feldforschung. Die
Methode passt sich dabei sowohl dem Feld als auch den
soziokulturellen Handlungsräumen der Menschen an
und kann sich also nicht allein auf Inhalte und deren
Rezeption beschränken. Sie muss auch die physischen
und sensorischen Dimensionen von Medientechnologien
mit einbeziehen, da über diese soziale Beziehungen
hergestellt werden können.
Felder
In der Analyse von neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT) wird im sozial- und
kulturanthropologischen Kontext gerne von Cyberanthropologie, Anthropologie des Cyberspace oder
Anthropologie der Cyberkultur gesprochen. Bei dem Begriff
Cyberspace handelt es sich um eine Wortschöpfung des
Science Fiction Autors William Gibson, der diesen in
seinem Buch Neuromancer 1984 prägte. Der Präfix
„cyber“ wurde Ende der 1940er Jahre erstmals vom
Mathematiker Norbert Wiener in dem Begriff cybernetics
verwendet, um Mensch-Maschine oder MenschComputer Interaktion zu beschreiben. Cybernetics leitet
sich dabei vom griechischen Wort für Steuermann
– kybernetes – ab.
Einer der ersten Kultur- und Sozialanthropologen, der
sich grundlegend mit den neuen IKT befasste, war
Escobar (1994) mit seinem Artikel Welcome to Cyberia.
Dort entwickelt er das Konzept der „Cyberkultur“, das
die strukturellen Veränderungen, die IKT sowie
Biotechnologien in den „modernen“ Gesellschaften
hervorrufen, analysieren und so zu verstehen helfen soll:
„As a new domain of anthropological practice, the study
of cyberculture is particularly concerned with the
cultural construction and reconstruction on which the
new technologies are based and which they in turn help
to shape” (Escobar 1994: 211). Für die Kultur- und
Sozialanthropologie eröffnen sich nach Escobar (1994)
hier drei potentielle Forschungsprojekte:
1) Die soziale Produktion von „virtuellen“ Technologien,
die zu einer post-körperlichen Stufe in der menschlichen
Entwicklung führen könnte.
2) Eine Cyborg Anthropologie könnte sich mittels ethnographischer Forschung den zusehends verschwimmenden Grenzen zwischen Mensch und Maschine widmen.
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
3) Und im Rahmen einer Anthropologie der Cyberkultur
könnten kulturelle Diagnosen zu den Transformationen
und Veränderungen erstellt werden, die durch die
Entwicklung neuer Technologien in den Gesellschaften
ausgelöst werden.
Mitglieder der EASA haben sich zu einem Netzwerk
zusammengeschlossen, das vor allem den Austausch von
Informationen sowie die Koordination von Lehr- und
Forschungsprojekten im Bereich der kultur- und
sozialanthropologischen Bearbeitung von Medien
fördern will (vgl. URL 1).
Die Anthropologie der Medien ist also ein lebendiger
und ständig wachsender Forschungszweig der Kulturund Sozialanthropologie, der sowohl theoretisch als auch
methodisch bestens gerüstet ist, auch zukünftig zum
Verstehen der soziokulturellen Bedeutungen und
Kontexte von Medientechnologien aktiv und kritisch
beizutragen.
„
Anm. des Autors: Dieser Artikel baut auf einem Vortrag,
den ich im März 2006 bei den „Tagen der Kultur- und
Sozialanthropologie“ in Wien gehalten habe, auf.
Diesen Überlegungen Escobars’ folgend haben sich auch
andere Kultur- und SozialanthropologInnen Gedanken
über die ethnographischen Forschungsfelder gemacht,
die im Zuge der raschen Entwicklung neuer IKT
entstehen. Etwa Hakken (1999), der in seiner Arbeit
weitere Felder identifiziert und diskutiert oder Miller
und Slater (2000), die die erste holistisch konzipierte
ethnographische Untersuchung über das Internet und
seine Anwendungen in Trinidad durchführten. Sie
kommen gegen Ende ihrer Ethnographie zu dem Schluss,
dass das Internet in Trinidad weniger als Technologie zu
verstehen ist, sondern vielmehr als materielle Kultur, da
die diversen Internettechnologien in unterschiedlichen
Formen alltäglicher Praktiken eingebettet wurden. Oder
anders formuliert: In einem Prozess der Konsumption
wurde das Internet für die NutzerInnen von einer
unpersönlichen Ware zu einer Sache mit (persönlicher)
Bedeutung, versehen mit einem bestimmten Platz in
deren Leben.
Aktivitäten
Immer mehr kultur- und sozialanthropologische
Fachkonferenzen bieten Workshops oder Tagungsschwerpunkte, die sich dem Thema Medien widmen. So
veranstaltete etwa die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde bei ihren Tagungen 2005 und 2007 in Halle gleich
mehrere medienanthropologisch relevante Workshops.
Auch bei der 2006 in Bristol abgehaltenen Konferenz der
European Association of Social Anthropologists (EASA)
wurden Arbeitsgruppen zu Medien aus kultur- und
sozialanthropologischen Perspektiven angeboten (vgl.
Postill/Bräuchler 2008).
Philipp Budka, Mag. Doktorand, Lektor und
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und
Sozialanthropologie sowie an der Fakultät für Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie, Ethnographie, Indigene Organisationen und Netzwerke,
Wissensvermittlung und -produktion, eLearning, Globalisierung und Fußballfankulturen. www.philbu.net.
Literatur
Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Cultural Dimensions of
Globalization. Minneapolis, 1996.
Askew, Kelly. Introduction. In: Askew, Kelly, Wilk, Richard (Hg.): The
Anthropology of Media. A Reader, Malden, MA, 2002. S. 1-13.
Couldry, Nick. Media rituals. A critical approach. London, 2003.
Dracklé, Dorle. Medienethnologie: Eine Option auf die Zukunft. In: Kokot,
Waltraud, Dracklé, Dorle (Hg.): Wozu Ethnologie? Berlin, 1999.
Escobar, Arturo. „Welcome to Cyberia. Notes on the Anthropology of
Cyberculture“. In Current Anthropology, 35/3, 1994. S. 211-231.
Ginsburg, Fay/Abu-Lughod, Lila/Larkin, Brian. Introduction. In: Dies. (Hg.):
Media Worlds. Anthropology on New Terrain. Berkeley, 2002. S. 1-36.
Hakken, David. Cyborgs@Cyberspace. An Ethnographer Looks to the Future.
London, 1999.
Kreff, Fernand. Grundkonzepte der Sozial- und Kulturanthropologie in
der Globalisierungsdebatte. Berlin, 2003.
Miller, Daniel/Slater, Don. The Internet. An Ethnographic Approach.
Oxford, 2000.
Postill, John. Media and Nation Building: How the Iban Became
Malaysian. Oxford, 2006.
Postill, John/Bräuchler, Birgit (Hg.). Theorising Media and Practice. Oxford,
2008.
Rojek, Chris. Stuart Hall. Cambridge, 2003.
Rothenbuler, Eric/Coman, Mihai (Hg.). Media Anthropology. Thousand
Oaks, CA, 2005.
Spitulnik, Debra. „Anthropology and Mass Media“. In Annual Review of
Anthropology 22, 1993. S. 293-315.
URL 1: www.media-anthropology.net, 12.12.2007.
Fachgebiet – Medienanthropologie
27
Indische Populärkultur im
globalen Kontext
von ELKE MADER
Mythen und Medien
„Wir sind alle ein bisschen bolly…“
In einem deutschsprachigen InternetForum, in dem sich Fans des indischen
Filmstars Shah Rukh Khan
unterhalten, drängt die
Administratorin auf das Einhalten von
Regeln der Höflichkeit sowie generell
auf gutes Benehmen. Die
TeilnehmerInnen antworten, dass sie
sich natürlich an die Regeln halten
werden – nichts Abfälliges über andere
SchauspielerInnen, nichts Bösartiges
zu den oder über die Mitglieder des
Forums, keine unangebrachten
Bemerkungen über die Ehefrau des
Stars. „Ich bin eh so lieb“, schreibt eine
Teilnehmerin „aber eben ein bisschen
Bollywood-verrückt.“ Eine andere
Person antwortet: „Ach ja, wir sind
doch alle ein bisschen bolly….“
olly-Sein ist zurzeit ein weltweites kulturelles Phänomen, das
verschiedene Dimensionen von narrativer und visueller
Kultur, von diskursiven und performativen Praktiken umfasst
und sich in mehreren Medien manifestiert. Im Umfeld des
indischen populären Kinos, seiner Filme und Stars entfaltet sich ein
komplexes Szenario von signifying practises (Hall 1997). Dazu gehört
die hindi-mania in Peru oder auch Fan-Kunst im Internet – wie etwa die
ca. 1000 Video-Clips zu Shah Rukh Khan bei MyVideo.de, die von Fans
aus dem deutschsprachigen Raum gestaltet wurden: Hier werden aus
Bildern, Filmausschnitten, Musik und Text neue Beiträge zu einer
„kosmopolitischen Populärkultur“ im Sinne von Henry Jenkins (2006)
gebastelt, betrachtet und kommentiert. Eine ähnliche kulturelle Praxis
beschäftigt sich mit der Gestaltung von Erzählungen und Gedichten
– so genannte fan fiction: Die Bastelei erstreckt sich hier unter anderem
auf die Produktion, Zirkulation und Diskussion von Texten, die sich
auf Inhalte von Filmen sowie auf Stars beziehen – „… how stories
travel,“ schreibt Salman Rushdie, „what mouths they end up in!“.
B
Intertextualität, Konvergenz und mythscapes
Diese Form der bricolage á la Lévi-Strauss ist einer von mehreren
Berührungspunkten von Mythen und Medien in diesem
Zusammenhang. Solche Verbindungen wurden in den vergangenen
Jahren im Rahmen der Medienanthropologie häufig angesprochen:
Eric Rothenbuhler und Mihai Coman argumentieren, dass Methoden
und Konzepte aus anderen Forschungsfeldern der Kultur- und
Sozialanthropologie wichtige Werkzeuge für die Analyse von
medialen Prozessen darstellen. Theoretische Modelle aus der
anthropologischen Auseinandersetzung mit Mythen, Ritualen und
Religionen sind dabei besonders relevant und können an die neuen
Forschungsgegenstände angepasst werden. Die Schnittstelle zwischen
Mythen und Medien wird dabei aus mehreren Perspektiven
untersucht, im Mittelpunkt vieler Studien stehen „… narrative
patterns and figures considered to represent modern ‚mythologies‘ in
movies, TV programs, advertising, music, sports, and other
entertainments“ (Coman und Rothenbuhler 2005: 6).
Einige Fragestellungen in diesem Zusammenhang beschäftigen sich
mit dem Naheverhältnis von Mythen und Filmen. Sie erkunden die
mythischen Topoi im Kino und setzten sich mit dem Film als
Repräsentationsform traditioneller und neuer mythischer Erzählstoffe
auseinander. Eine Reihe von Arbeiten untersucht darüber hinaus,
inwieweit Mythen eine Matrix oder Metaerzählung darstellen, welche
sowohl die narrative Struktur von Filmen als auch die Charak-
28
Fachgebiet – Medienanthropologie
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Foto: Elke Mader
terisierung der Handlungsträger prägt. Andere Studien
wiederum betrachten populäres Kino generell als
Mythen der Gegenwart und analysieren Filme oft mittels
erweiterter Methoden der anthropologischen Mythenforschung (vgl. z.B. Drummond 1996 für HollywoodBlockbuster). Die oben skizzierten kulturellen Praktiken
des „Bolly-Seins“ sprengen jedoch den Rahmen einer
Filmanalyse in Hinblick auf mythische Kodes (vgl.
Mader 2007). Aus der Perspektive der Medienforschung
handelt es sich dabei zum einen um Phänomene einer
„globalen Kultur der Medien-Konvergenz“ (vgl. Jenkins
2006), zum anderen um „performative Intertextualität“
(vgl. Petterson 2006). Der Begriff der globalen
Konvergenz von alten und neuen Medien bezieht sich in
diesem Zusammenhang auf neue Formen der Partizipation von KonsumentInnen an medialen Prozessen.
Petterson (2006) stellt aufbauend auf Bhaktin (1981) das
Dekontextualisieren und Rekontextualisieren – das
Ausbauen und neu Zusammenfügen von Inhaltselementen medialer Herkunft – in den Mittelpunkt
seiner Analysen. Er betont vor allem den Zusammenhang von Medientexten, der Kommunikation im Alltag
und sozialen Praktiken.
Shah Rukh Khan, Shreyas Talpade und Fans bei der
Premiere von Om Shanti Om in London
Eine Annäherung an diese Phänomene kann auch durch
Ansätze der Anthropologie der Mythen erfolgen und
diese auf die Untersuchung von neuen medialen Welten
anwenden. Von Bronislav Malinowski bis Joanna
Overing beschäftigt sich die sozialanthropologische
Mythenforschung im 20. Jahrhundert mit verschiedenen
Facetten der Verbindungen von Mythen (Texten) und
sozialen sowie rituellen und/oder religiösen Kontexten.
Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die „mythmakers“, die Geschichten vermitteln aber auch gestalten,
und ihre aktive Rolle bei der Interpretation, Zirkulation
und Veränderung von Mythen. Inhalte, Figuren sowie
das Wertsystem der Geschichten sind eng mit Alltagspraktiken verwoben und stellen – so Joanna Overing
– mythische Landschaften (mythscapes) dar, in denen die
mythische Welt und die Alltagswelt miteinander
verschmelzen, sie sind „landscapes of myth as situated
practises in the world.“ (Overing 2004: 71) In Hinblick
auf die flexible Konfiguration von Bedeutungen und
Praktiken rund um Bollywood kann man von einer globalen und transkulturellen mythischen Landschaft
sprechen, die Überschneidungen mit dem Konzept der
medialen Landschaften (mediascapes) von Arjun
Appadurai aufweist (vgl. Mader 2007). Dieser Raum geht
außerhalb des indischen Subkontinents teilweise Hand
in Hand mit dem ethnoscape der südasiatischen Diaspora,
reicht aber auch weit darüber hinaus. So leben etwa in
Peru oder Deutschland/Schweiz/Österreich nur wenige
MigrantInnen aus dem indischen Raum, dennoch gibt es
eine begrenzte, aber sehr ausgeprägte Bolly-Kultur.
Ethnographische Fragmente aus „Bolly-Land“
„Bollyscape“ oder „Bolly-Land“ ist auch als ein Raum zu
verstehen, den es ethnographisch zu erforschen gilt. Er
ist vielfach lokalisiert und immer auch deterritorial. Man
begegnet dort einem Geflecht aus Geschichten und
Bildern, aus mythischen Figuren und ihren Verkörperungen, den Stars, sowie Personen aus diversen
kulturellen und sozialen Kontexten, die sich in diesem
Raum bewegen – ihn durchwandern, betrachten und
mitgestalten und dabei Beziehungen zu anderen
Personen aufbauen. Manche sind neu im „Bolly-Land“
und auf der Suche nach der Basis seiner Topografie, den
Filmen. „Kann mir jemand sagen, wo ich hier indische
Filme bekomme?“ erkundigt sich der 15jährige Pablo aus
Pucallpa im peruanischen Amazonasgebiet per Internet
bei einem Fan-Club in der Hauptstadt Lima, der über
eine eigene Seite für Mitglieder aus der Provinz verfügt.
Dort, beim Club de Fans de Shahrukh Khan, gibt es ein
breites Spektrum von Aktivitäten. Einige kreisen um den
großen Star, der einen Kristallisationspunkt im mythischen Raum darstellt. „I am just an employee of the Shah
Rukh Khan myth“, sagt er über sich selbst (Chopra 2007:
155), der indische Soziologe Rajinder Kumar Dudrah
(2006) bezeichnet ihn als Bedeutungsvermittler und
„glokale Ware“. Als eine Transfiguration seiner Rollen als
Liebender, die auch mit diversen mythischen Geschichten verwoben sind, ist er für Viele eine Ikone für Liebe
und Erotik. Dieser Aspekt seiner Star-Persona bildet den
Kern für seine Repräsentation im Internet, für die
affektiven Beziehungen der Fans zu ihm und für
Diskurse über ihn. Die Gestaltung vieler Internetseiten
weltweit und die Gespräche in einigen Foren stellen eine
besondere Form der medialen Konvergenzen bzw. des
Verschmelzens von Mythen und Alltag dar: Sie reflektieren sowohl die visuelle Kultur des populären
indischen Films als auch lokale visuelle Repräsentationen, sie reden eine Sprache der Liebe, die wiederum
Fachgebiet – Medienanthropologie
29
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
mit Inhalt und Form der filmischen Erzählweisen
verbunden ist. Die Fans in Lima führen auch ein reges
Vereinsleben mit diversen Treffen und Ausflügen – z.B.
Reisen zu „Provinz-Mitgliedern“ ins Andenhochland
oder zur Aufführung einer „Danza-Hindu“ Gruppe. Im
Mai 2007 fand eine solche Veranstaltung in der Stadt
Arequipa statt, wo ebenfalls eine rege Bolly-Tanzszene
besteht. Das Vorbild für die Show in einem Kinosaal war
die Welttournee der großen Stars Bollywood Temptations
2004. Vor einer Kulisse bestehend aus einem riesigen
Stoffbild des Taj Mahal präsentierten die jungen
TänzerInnen aus der lokalen urbanen Mittelschicht
Variationen über die Choreographien von Song and
Dance-Nummern aus diversen indischen Filmen, die
entsprechenden Videoaufnahmen kann man weltweit
auf YouTube betrachten (zu Bollywood Fans in Österreich,
online und offline, vgl. Fuchs 2007).
Reisen im „Bolly-Land“ stehen auch in Zusammenhang
mit besonderen Ereignissen, dazu zählen u.a. alle
Veranstaltungen, bei denen Shah Rukh Khan persönlich
anwesend ist. In England gab es im Jahr 2007 mehrere
solcher Rituale der Begegnung, z.B. die Weltpremiere des
Films Chak de India (Indien 2007, Regie Shimit Amin). An
die 2000 Personen konnten an der Freilichtveranstaltung
im Hof des Summerset House in London teilnehmen,
neben vielen Menschen aus England (meist südasiatischer Herkunft) waren u.a. auch Gäste aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Polen angereist – ein
Fan hat eine 24stündige Busfahrt auf sich genommen um
dabei zu sein. Sie ist Mitglied eines internationalen
Internet-Forums und gekommen um SRK zu sehen, den
sie seit vielen Jahren verehrt, aber auch um ihre
FreundInnen aus dem Forum zu treffen. An die 20
Personen aus diesem Kreis (vor allem aus Deutschland)
haben sich bei der Premiere eingefunden, einige sind
schon seit mehreren Jahren Bollywood und SRK Fans,
andere erst seit kurzem. Die Reise wurde gründlich im
Internet vorbereitet, neben der Premiere war auch ein
Besuch in Southall, dem „Little India“ in der Umgebung
von London, geplant. Ein Mitglied hatte das Glück zum
roten Teppich der Presse Konferenz zu gelangen und war
verzaubert von einem Moment der Nähe und einer
Berührung von SRK. Andere mussten sich mit der
zehnminütigen Ansprache des Stars, die immer wieder
von der enthusiastisch schreienden Menge rund um sein
Podium unterbrochen wurde, zufrieden geben. In den
folgenden Tagen war dieses Ereignis ein zentrales Thema
in vielen Internet-Foren, innerhalb weniger Stunden
zirkulierten Bilder und Erlebnisberichte weltweit, und
wurden dankbar von vielen Fans (u.a. in Peru)
aufgenommen und kommentiert.
30
Fachgebiet – Medienanthropologie
Ähnliches ereignet sich im November 2007 rund um die
Premiere des neuen Films mit Shah Rukh Khan – Om
Shanti Om (Indien 2007, Regie Farah Khan): Eine Gala
Premiere mit dem Star in London ist angekündigt, die
(voraussichtlich) einzige Premiere im deutschsprachigen
Raum findet in Wien statt (allerdings ohne Stars). Und da
ich beide Ereignisse teilnehmend beobachten möchte,
und die Dokumentation der Wiener Premiere auch Teil
eines Praktikums am Institut für Kultur- und
Sozialanthropologie ist, mache ich jetzt schnell Schluss,
denn – ich bin gerade ein bisschen bolly….
„
Elke Mader ist Professorin am KSA-Institut. Arbeits- und
Forschungsschwerpunkte: Mythen, Film, (Neue) Medien,
Gender, transkulturelle Prozesse, Kultur- und
Sozialanthropologie Lateinamerikas.
Literatur
Bakhtin, Mikhail. The Dialogic Imagination: Four Essays.
Herausgegeben und übersetzt von Michael Holquist und Caryl
Emerson. Austin und London, University of Texas Press, 1981.
Chopra, Anupama. King of Bollywood: Shah Rukh Khan and the
Seductive World of Indian Cinema. New York, 2007.
Drummond, Lee. American Dreamtime. A Cultural Analysis of
Popular Movies, and their Implications for a Science of Humanity.
Maryland, 1996.
Dudrah, Rajinder. Bollywood: Sociology goes to the Movies. London/
New Delhi/Thousand Oaks, 2006.
Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline.
Filmkultur im Internet, bei Stammtischen und auf Clubbings. ZfKZeitschrift für Kulturwissenschaften 2: 69-84. Wien, 2007.
Hall, Stuart. Representation. Cultural Representations and Signifying
Practices. London, 1997.
Jenkins, Henry. Fans, bloggers, and gamers. Exploring participatory
culture. New York, 2006.
Mader, Elke. Anthropologie der Mythen. Wien, 2007.
Overing, Joanna. The Grotesque Landscape of Mythic 'Before Time';
the Folly of Sociality in 'today time': an egalitarian aesthetics of
human existence. In: Ernst Halbmayer and Elke Mader (Hg.): Kultur,
Raum, Landschaft. Zur Bedeutung des Raumes in Zeiten der
Globalität. Wien/Frankfurt, 2004.
Peterson, Mark. Performing Media. Towards an Ethnography of
Intertextuality. In: Eric Rothenbuhler und Mihai Coman (Hg.): Media
Anthropology. Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005.
Coman, Mihai/Rothenbuhler, Eric.The Promise of Media Anthropology.
In: Rothenbuhler, Eric und Mihai Coman (Hg): Media Anthropology.
Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005.
Blogger tragen zu einer Pluralisierung der Medienwelt bei und sind dabei auch
VermittlerInnen zwischen Kulturindustrie und Medien-RezipientInnen
von BERNHARD FUCHS und BIRGIT PESTAL
Online-Journalismus und
Filmkonsum
Anmerkungen zur Bollywood-Blogosphere
In der Bollywood-Fankultur spielt das
Internet als ein Tandem-Medium zum
Film eine bedeutende Rolle.
Gerade in Europa und den USA
kommt diese besonders zum Tragen,
da hier die mediale Präsenz Bollywood
nicht so ausgeprägt ist, wie am
indischen Subkontinent. Das Internet
gewinnt also an Bedeutung als ein
Ergänzungsmedium für eine
periphere Kulturindustrie. Die
Ausbreitung der Bollywood-Mediascape
(vgl. Bollyscape, Mader, Seite 29) stützt
sich ganz massiv auf neue Medien, die
besonders für nicht-indisches
Publikum eine essentielle Mittlerrolle
besitzen. In diesem Beitrag
konzentrieren wir uns auf die Weblogs
der Bollywood-Fans, die sich selbst
auch als Bollyblogger bezeichnen.
Foto: Barbara Skoda
Bollyblogger-Meeting in Wien, 2007
ollywood ist ein Begriff für den indischen Mainstream-Film in
der Sprache Hindi, die Filme werden in der Metropole
Mumbai produziert. Seit den 1970er Jahren wurde in
journalistischen Kreisen die spöttische Bezeichnung Bollywood für das Bombay-Kino verwendet, die sich aber mittlerweile
international etablierte – ganz ohne pejorativen Unterton. Auch „im
Westen“ wird die indische Kulturindustrie zunehmend als eine
ernstzunehmende Alternative für Hollywood-Produktionen betrachtet, im deutschsprachigen Raum hat die Fangemeinde eine
anzuerkennende Größe erreicht. RTL2 zeigt seit dem Jahr 2005
kontinuierlich Bollywoodfilme und entsprechende Clubbings finden
vielerorts erfolgreich statt. Indische Popkultur und das „Indiengefühl“
(Horkheimer 2007) halten Einzug in den Alltag vieler
deutschsprachiger Fans. Special Interest-Magazine (z.B. Ishq-Bollywood
& Lifestyle) bedienen bereits diesen Markt.
B
Die Rezeption indischer Filme durch ein nicht-indisches Publikum ist
noch ein relativ junges Forschungsthema. Bollyblogger nehmen in
diesem Forschungsfeld eine Sonderposition ein – sie stehen (als
virtuelle Kulturvermittler) zwischen der Hindi-Filmindustrie und
dem deutschsprachigen Publikum. Sie übersetzen, machen und
verbreiten News, sie kommentieren und kontrollieren sich gegenseitig
und thematisieren Ereignisse im Kontext der indischen Traumfabrik,
die große westliche Medien nicht registrieren. Sie sind somit Pioniere
(oder auch Opinion Leader), die auf eine alternative Popkultur zum
euro-amerikanischen Mainstream aufmerksam machen. Den Respekt
der Fan-Community, der z.B. in Fan-Foren sichtbar wird, erwirbt sich
ein Bollyblogger über seine kontinuierliche, ausführliche, vielleicht
auch witzige und subjektive Beschäftigung mit der Thematik. Die
lokale Bollywood-Print-Berichterstattung, sofern diese überhaupt
vorhanden ist, wird von Fans im Netz stark kritisiert, die Blogger
hingegen sind hoch angesehen.
Als Bloggen bezeichnet man eine Form des populären OnlineJournalismus, die seit Ende der 1990er Jahre aufgrund benutzerfreundlicher Gratis-Software zunehmend bekannt wurde. „Masken“,
vorgefertigte Templates für Homepages, ermöglichen es auch Laien
Online-Tagebücher zu verfassen, so genannte Weblogs, kurz Blogs.
Fachgebiet – Medienanthropologie
31
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Wie bei einem Tagebuch werden hier laufend Einträge weil ich die Fremdsprache so übe, aber ich mache auch
vorgenommen. Die VerfasserInnen geben ihrer Seite ein Bemerkungen in Hinglish oder Hindi, einfach weil ich
charakteristisches Layout, um auch graphisch eine eben cool sein will“, meint etwa die Bollywoodbloggerin
Identität aufzubauen, welche dem gewählten textuellen Barbara Skoda. Ihr Blog (http://babasko.blogspot.com),
Genre entspricht. Zahlreiche Extras (Bilder, Labels, den sie 2005 angelegt hat, verzeichnet heute mehr als 100
Statistiken, RSS-Feeds, etc.) lassen sich auf einem Blog LeserInnen pro Tag. Sie ist sowohl mit der deutschen als
auch mit der internationalen Bloggereinfach einbauen. Der BollywoodJeder Blogger ist
Szene vernetzt. Indische FilmplattNewsblogger Michael z.B. hat ein eher
minimalistisches Layout gewählt Niemandem verpflichtet, formen kopieren ihre Film-Reviews
nebenbei bloggt sie auch auf der
(www.bollywoodblog.de). De r Bollyauch anderen Bloggern und
indischen Webseite von AOL. Barbaras
blog von „Mariakäfer“ ist hin
gegenüber nicht. Der
Meinung ist gefragt – so wird sie z.B.
gegen sehr persönlich gestaltet
(www.mariakaefer.de). Blogs sind eine
Blogger ist die gelebte persönlich gebeten auf großen Bollybezogenen Online-Plattformen
relativ geschützte und sichere Variante
Freiheit in guten, wie in wood
Kommentare zu hinterlassen. „In
sich selbst darzustellen. Identität wird
also online konstruiert, was den schlechten Zeiten. Krisen Online-Foren ist man nur eine Stimme
unter vielen. Bloggen ist definitiv eine
Blogger vor die Aufgabe stellt (mehr
sind durchzustehen.
oder weniger bewusst), wie eine
Schweigen ist verboten. Form von Narzissmus, ich find’ das
ehrlich gesagt einfach genial, wenn
eigenständige Ein-Personen-Redaktion
(Ziffer 6 aus dem Blogger-Kodex von
Leute bei mir Kommentare hinterlassen
zu agieren. Das betrifft z.B. die SelbstBollybloggerin Maini)
oder meine Themen irgendwo wieder
zensur, das Lektorat oder die ThemenAgenda. Ein großes Plus in der Ökonomie der aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite gibt es
Aufmerksamkeit: Blogs tauchen bei Google oft in durchaus auch kontroverse Themen, wie z.B. die Sanjay
privilegierter Position bei den Suchergebnissen auf, da Dutt-Affäre [es geht um einen berühmten Schauspieler,
große Suchmaschinen ihre Ergebnisse danach filtern, wie der 2007 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, Anm.], bei
oft eine Webseite verlinkt ist. Blogger, z.B. Bollyblogger, denen ich meine Kommentare lieber in einem Forum [in
vernetzen sich stark untereinander und bilden Netz- deutscher Sprache] abgebe, weil ich hier quasi
werke, sie tragen somit zu einer Demokratisierung – geschützter bin.“
zumindest jedoch zu einer Pluralisierung – der
Galt das Internet früher eher als „abstrakte“ MännerMedienwelt bei.
domäne, ist mit dem Weblog ein neues Medium aufgetaucht, das Frauen in hohem Maße auf einer kreativen
Subjektivität, Identität und Intimität
Ebene anzusprechen scheint. Beim Bloggen ist insbeBlogger gelten als bzw. sind tatsächlich oft Insider, die sondere der spielerische Zugang und der Unterhalbrisante Inhalte schneller und würziger vermitteln, tungsaspekt für Frauen attraktiv. Tagebuchschreiben ist
übersetzen und kommentieren als Massenmedien. historisch sehr stark eine weibliche Aktivität (vgl.
Umgekehrt werden sie aber kritisiert, irrelevantes, Schönberger 2006). Das Bloggen bringt diese Tätigkeit als
selbstverliebtes Geschwätz zu veröffentlichen und eine Form der Äußerung auf eine öffentliche Bühne.
Banalitäten auf eine globale Bühne zu stellen. Das Auch die Fangemeinschaft von kommerziellen HindiIndividuelle und Persönliche steht hier aber auch klar im Filmen ist außerhalb Indiens primär weiblich (Pestal
Vordergrund, es ist sogar erwünscht konkrete Aspekte 2007: 138).
aus einem größeren Kontext herauszugreifen.
Bei der Suche nach deutschen Bollywood-Fanblogs
Blogs können ein Sprachrohr für private Ansichten finden sich viele liebevoll und aufwendig gestaltete
darstellen. Sie lassen die Grenzen von Öffentlichkeit und sowie permanent aktualisierte Blogs, die auch die
Privatsphäre verschwimmen und drängen bisweilen Persönlichkeit der AutorInnen stilvoll reflektieren (Etwa
auch Intimitäten in den Vordergrund, allerdings im 16 Bollyblogs finden sich im deutschsprachigen Internet,
Schutz einer (relativen) Anonymität. Das Phänomen lässt zehn davon werden von weiblichen Bloggern betreut).
sich als Bestandteil eines allgemeinen Wandels der Über ein gemeinsames Interesse entwickeln sich über
Zivilgesellschaft betrachten, auch im Sinne der von Blogs zudem soziale Netzwerke und Freundschaften, die
durch symbolische Handlungen bekräftigt und sichtbar
Richard Sennett beschriebenen „Tyrannei der Intimität“.
LeserInnen, die kontinuierlich einen Blog besuchen, gemacht werden. Blogger, WebseitenbetreiberInnen und
wissen, was sie dort erwartet. Erfolgreiche Blogger Fans finden in Foren zueinander und unternehmen
bleiben ihrem Schreibstil treu. „Ich blogge auf Englisch, gemeinsame Offline-Aktivitäten.
32
Fachgebiet – Medienanthropologie
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
„Signifying practices“
Die Unterscheidung von „virtuell“ und „real“ ist in
intensiven Kommunikationszusammenhängen hinfällig.
Tatsächlich erlaubt die Verbindung mit dem Internet
einer cineastischen Subkultur die Überwindung
räumlicher Barrieren bis hin zur globalen Vernetzung
(vgl. Fuchs 2007).
Es scheint ein Bedarf zu bestehen, diese virtuellen
Beziehungen in Face-to-Face Beziehungen zu transformieren. In Bezug auf Bollywood lässt sich das verdeutlichen: Das erste Paneuropäische Internationale
Bollywood Blogger Meeting (PEIBBM) fand im Frühjahr
2007 in Wien statt und führte die deutschsprachige
Blogger-Community erstmals im „realen Leben“ zusammen. Das Programm bestand aus einem gemeinsamen Brunch, einem Filmscreening mit Live-Blogging,
und der Verleihung eines online inszenierten BollywoodPublikums-Preises, dem ACEBA (Annual Central
European Bollywood Award), für den im Vorfeld rund 1000
Forumsmitglieder online über indische Stars und Filme
abstimmten. Dieses Ereignis trug wesentlich zur
Profilierung der Wiener Fan-Community bei. Das
nächste PEIBBM wird bereits in größerem Rahmen konzipiert und soll im Frühling 2008 in München stattfinden.
Blogger-Treffen dienen der Etablierung einer Gemeinschaft und auch deren Erhalt. Wichtig ist der sprachliche
Aspekt: Deutschsprachige Bollywood-Blogger bilden
eine eigene Community, die zwar sehr wohl die englischsprachigen Diskurse verfolgt und auch übersetzt, aber
umgekehrt von außen kaum rezipiert werden kann.
Andere. Online Communities lassen sich als „Easy Entry
– Easy Exit“-Gemeinschaften charakterisieren. Die
Etablierung von „Face to Face“-Beziehungen und
symbolische Interaktionen steigern hier den Grad an
Verbindlichkeit – indem sie Bindungen schaffen.
Blogger schärfen allgemein den Blick auf neue Trends
und kreieren eine alternative Medienlandschaft, die auch
von größeren Medien anerkannt und wahrgenommen
wird. Sie sind gleichzeitig KonsumentInnen und
VermittlerInnen, die Grenzen von Konsumption und
Produktion verschwimmen („Produser“). Blogs werden
auch von „großen“ Printmedien rezipiert und kopiert.
Sie umgehen also einerseits Massenmedien, sind aber
gleichzeitig aufgrund ihrer größeren Freiheit in der Lage
diese zu beeinflussen bzw. auch zu inspirieren.
„
Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am
Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.
Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer,
Migration, Medien.
Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik
studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist
derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt:
Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood.
Literatur
Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline.
Filmkultur im Internet, auf Stammtischen und bei Clubbings.
Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd.2. 2007
Horkheimer, Max. Trendreport 2007. http://www.zukunftsinstitut.de
Im Herbst 2007 wurde das Mini-Khan Projekt ins Leben
gerufen. Ziel ist die Intensivierung der BollybloggerCommunity. Es geht um eine Shah Rukh Khan Puppe,
die von Blogger zu Blogger rund um die Welt geschickt
wird, wobei jede/r sich etwas Kreatives überlegt, was er
oder sie mit der Puppe unternimmt. Das verstärkt die
wechselseitigen Blog-Besuche und Kommentare. Die
Idee entstand in einer amerikanisch-deutschen
Kooperation; das Projekt reicht also über den deutschen
Sprachraum hinaus.
Die „Erlebnisse“ der zirkulierenden Puppe des
Bollywood-Stars werden in einem Tagebuch festgehalten, und auch online dokumentiert. Es handelt sich
um eine symbolische Praxis, die dazu beiträgt soziale
Netzwerke zu intensivieren. Ganz im Stil des KulaHandels der Trobriander bringt die Cyber Community
der Bollywood-Fans ein signifikantes Objekt in Umlauf,
um die Grundlage für künftiges Handeln zu festigen.
Symbolisches Handeln macht aus Individuen, die
einander in einer Cyber-Welt begegnen, signifikante
Interview Fuchs/Pestal mit Barbara Skoda, Wien, 26.10.1007
Pestal, Birgit. Faszination Bollywood. Zahlen, Fakten und Hintergründe zum „Trend“ im deutschsprachigen Raum. Marburg, 2007
Schmidt, Jan. Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie.
Konstanz, 2006
Sennett, Richard. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die
Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 1983
Winter, Rainer. Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als
kultureller und ästhetischer Prozeß. München, 2005
Schönberger, Klaus. Weblogs: Persönliches Tagebuch, Wissensmanagement-Werkzeugund Publikationsorgan. In: Schlobinski,
Peter (Hg.): Von »hdl« bis »cul8r«.Sprache und Kommunikation in
den neuen Medien. DUDEN Thema Deutsch. Bd. 7.Mannheim et al.
2006, S. 233-248.
Maini (Bollybloggerin): http://maini.wordpress.com
Fachgebiet – Medienanthropologie
33
Kooperative Beziehungen im spielerischen virtuellen Umfeld umgehen traditionelle
Machtbeziehungen und territoriale Zugehörigkeiten - aber sie erschaffen auch neue
von BIRGIT PESTAL
World of Warcraft
Vignetten aus einem virtuellen Wunderland
Massive(ly) Multiplayer Online RolePlaying Games (MMORPGs), also
Online-Rollenspiele, sind ein
besonderes mediales und soziales
Phänomen unserer Zeit und
verzeichnen einen massiven Zuwachs
an SpielerInnen. World of Warcraft
(kurz: WOW) ist mit rund 9 Millionen
AbonentInnen (Stand vom 24.Juli
2007) das meistgespielte
Onlinerollenspiel der Welt. Ebenso
viele Forschungsfragen eröffnen sich
bei einem Rundgang durch diese
atmosphärische Spielwelt. Ein kurzer
Blick auf den Forschungsstand zeigt,
dass MUDs (Multi User Dungeons),
die Vorgänger der MMPORGs, noch
immer besser untersucht zu sein
scheinen, als diese weitaus
komplexeren Spielwelten des neuen
Jahrtausends. Dieser Artikel will ein
sehr spannendes und junges
Forschungsfeld skizzieren – ohne sich
in den faszinierenden Details dieses
phantasievollen Online-Universums
zu verlieren.
34
Fachgebiet – Medienanthropologie
er WOW verstehen will, muss es selbst spielen. Also
zunächst einmal einen Charakter erschaffen. Ihn
entwickeln, „skillen“ und „hochleveln“. Aufgaben und
Rätsel lösen. Berufe erlernen. Gildenmitglied werden.
Das Auktionshaus verwenden. Einer Schlachtgruppe beitreten.
Rufpunkte sammeln. Wahrhaft epische Rüstungsgegenstände und
Waffen erwerben. Addons (externe Applikationen) installieren. Makros
programmieren. Kommunikationskanäle benutzen. Kontakte pflegen.
Strategien besprechen. Und es geht immer so weiter.
W
Wenn das Ziel des Spiels sein soll, den gesamten Content (Spiel-Inhalt)
zu ergründen, wird dieses Unterfangen von der Hersteller-Firma
Blizzard erfolgreich sabotiert. Immer neue Gebiete und Spielvarianten
werden zu der bestehenden Welt hinzugefügt. World of Warcraft
wächst und expandiert kontinuierlich. Das letzte Addon erschien am
17. Jänner 2007. Eine buchstäblich neue Welt tat sich punkt
Mitternacht auf. Die Begeisterung unter den SpielerInnen war
grenzenlos und die Spielerweiterung in vielen Geschäften schnell
ausverkauft. Mit nahezu 3,5 Millionen verkauften Exemplaren im
ersten Monat, brach das Addon in Nordamerika und Europa sämtliche
Verkaufsrekorde für PC-Spiele. WOW ist zweifellos der Harry Potter
unter den Onlinespielen.
In diesem Spiel lassen sich mühelos Tage, Wochen und sogar Jahre
verbringen. Die Atmosphäre der virtuellen dreidimensionalen Welt
will buchstäblich eingeatmet werden. Das Online-Rollenspiel ist auf
hochspezialisierte Kampfaktionen in einem Herr der Ringe-ähnlichen
Umfeld ausgerichtet (Freigegeben ist es ab 12 Jahren). Gemeinsam
überwinden die SpielerInnen hier verschiedene Herausforderungen
oder Gegner (d.h. NPCs, also Non Player Character, das sind
vorprogrammierte Figuren, die nicht von anderen Menschen gespielt
werden). Daneben können die SpielerInnen auch in verschiedenen
Spielmodi gegeneinander antreten, z.B. in „Duellen“, in der „Arena“
oder auf „Schlachtfeldern“. Dieses Player vs. Player-spielen (PVP)
schafft für viele WOW-Gamer einen besonderen Anreiz. Ein anderer
Motivationsfaktor, der die SpielerInnen jahrelang an das Spiel bindet,
ist das Spielen in großen Stammgruppen, die in beschränkten
Bereichen der Spielwelt (Instanzen) mächtige „Endbosse“ (z.B.
Drachen) überwinden.
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Unkonventionelle soziale Vernetzung
Die Mitgliedschaft in einer „Gilde“ oder Stammgruppe,
also einer Vereinigung innerhalb des Spiels, fördert erwiesenermaßen den Spielkonsum. Laut einer Studie von
Olgierd Cypra gaben insgesamt 9226 Befragte an, Mitglied einer Gilde zu sein, dies sind 80,6% des Gesamtsamples. Außerdem zeigt die Studie: Die Anzahl der
durch das Spielen gefundenen Freundschaften erhöht
den Spielkonsum. Und: Der Spielkonsum unter den
Gildenmitgliedern fällt vor allem dann hoch aus, wenn
die dortigen Kontakte als qualitativ hochwertig (den
realweltlichen Kontakten mindestens ebenbürtig) angesehen werden. Die Anonymität ermöglicht demokratische und offene Kommunikation im Chat oder im
„Teamspeak“ (Gruppen-Online-Telefonie). Das kann z.B.
bedeuten: Ein deutscher Mathelehrer spielt inkognito mit
seinen eigenen Schülern. Oder: Ein erwachsener
Familienvater ordnet sich im Gruppenspiel einem
16jährigen unter, in manchen Fällen ohne es überhaupt
zu wissen. „Das wäre vielleicht im echten Leben auch
manchmal nicht so schlecht“, meint dazu ein 36-jähriger
Psychologe und erfahrener WOW-Spieler.
„Make Love not Warcraft“
Kurz gesagt sei es ein „Ultrawahnsinnsspiel“, so meint er
im Teamspeak während des Spielens. Besonders spannend findet er z.B. die Sachlage, dass viele Frauen männliche Avatare (Charaktere) erschaffen und umgekehrt.
„Vielleicht will man nur etwas anderes ausprobieren,
vielleicht wird aber auch irgendetwas kompensiert.“
Möglicherweise will eine Frau aber auch nicht unbedingt, dass sie im Spiel gleich als Frau identifiziert wird.
„Einmal als Frau erkannt, ist man in dem Spiel bereits
Freiwild und wird oft angeflirtet“, meint dazu die langjährige Spielerin und Stammgruppenleiterin namens
Swiby, die auch schon im wahren Leben mit dem Namen
ihres WOW-Avatars angesprochen wird. Ihr Lebenspartner und WOW-Spielgefährte Jebbie ergänzt: „Und vielleicht schaut man als Mann, wenn man schon so viele
Stunden vor dem PC verbringt, ganz einfach lieber einer
weiblichen, wohlgeformten Nachtelfe beim interagieren
zu, als z.B. einem männlichen Avatar.“ Tatsächlich ist der
Anteil weiblicher Nachtelfen bei WOW bemerkenswert
groß. Und jener der männlichen WOW-Spieler ist immer
noch signifikant. Die beiden Schweizer spielen seit der
Betaphase (2005) und organisieren heute regelmäßig
große Spielevents mit 25 bis 40 SpielerInnen. Der soziale
Aspekt ist mittlerweile für die beiden die Hauptantriebsfeder weiterzuspielen.
„In WOW ist es egal, ob jemand groß oder klein oder
dick oder dünn ist, oder Pickel hat. Wir haben ein gemeinsames Hobby und eine gleiche Wellenlänge und
darauf kommt es an. Die Menschen lernen sich ingame
[im Spiel, Anm.] kennen. Da gibt es keine Vorurteile.
Menschen, die sich im wahren Leben schwer tun
Freunde zu finden, werden hier respektiert. Bei LANParties kann man dann beobachten, wie diese Menschen
ganz normal integriert werden“, meint Swiby. In WOW
gibt es hohe moralische Werte, Ritterlichkeit und
Fairplay. Ideale also, die wir nicht immer im wahren
Leben finden. Dazu Jebbie: „WOW ist schon irgendwie
eine Metapher für unsere Welt, wenn man sich z.B. die
Mythologie anschaut. Es gibt ‚Rassen‘, die sich
bekriegen. Das ist eigentlich brutal. Aber es stört mich
sehr, wenn Außenstehende WOW mit Ego-shootern
[Schießspielen, Anm.] in einen Topf werfen und als
gewaltverherrlichend abtun.“
WOW ist tatsächlich vergleichsweise steril. Es gibt keine
kämpferischen Blutgemetzel. In China wird die Grafik
außerdem noch zusätzlich an einen gewissen kulturellen
Ländercode angepasst, da manche Grafiken als morbide
empfunden werden: Hier gibt es z.B. keine Leichen (von
besiegten Gegnern) oder Untote (Skelette) zu sehen, die
Texturen werden aufwendig verändert. Das letzte Addon
kam (u.a.) daher auch mit einem halben Jahr Verspätung
nach China. Die Spielserver sind übrigens grundsätzlich
in Sprachgebiete unterteilt, aber es ist technisch möglich
auch auf ausländischen Servern zu spielen. Ein relativ
bekanntes Phänomen sind z.B. ChinesInnen, die auf
ausländischen Servern spielen, die so genannten
Chinafarmer.
Echtes Geld wert
WOW hat China schon lange erobert. Ein besonderes
Phänomen ergibt sich aus der Sachlage, dass es
außerhalb Chinas SpielerInnen gibt, die nicht erst selbst
Fachgebiet – Medienanthropologie
35
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
einen Charakter auf Level 70 spielen wollen, sondern sich allerdings eine wichtige Rolle. Die SpielerInnen treffen
nur für das Raiden, also das Spielen in großen Highlevel- sich auch im wahren Leben und unternehmen
Schlachtgruppen interessieren. Für reales Geld wollen sie gemeinsame Offline-Aktivitäten. Im Spiel selbst wird
einen hochgelevelten Charakter unter anderem via eBay auch viel Privates ausgetauscht. Es wird über
erwerben. Dasselbe gilt auch für virtuelle Gegenstände Musikvorlieben oder Tages-Politik geplaudert. Der
Feierabend wird gemeinsam zelebriert. Und
(Items), wie z.B. Waffen. Das Geschäft
wird über eBay abgewickelt – die Items „Im wahren Leben auch Geschehnisse aus dem wahren Leben wie
bin ich nur ein z.B. Hochzeiten oder Todesfälle werden ingame
werden ingame übergeben. In China ist
eine Debatte um das so genannte farmen einfacher Geologe, reproduziert und ausgelebt. Die Kulturwissenschaftlerin und Spieltheoretikerin
(d.h. das Erwerben von virtuellem Gold
aber HIER bin ich Adamowsky meinte dazu, dass persönliche
oder Gegenständen) entstanden. Eine
FALCON,
Beziehungen im Cyberspace möglich sind, sie
unüberschaubare Zahl
(geschätzte
100.000, vgl. Geiges 2006) Jugendlicher
Verteidiger der funktionieren anders, doch das heißt nicht,
dass sie weniger intensiv sind. Man kann also
verdient so heute bereits echtes Geld.
Allianz. Jäger der durchaus den Wunsch erkennen, ein soziales
Eine ganze Berufsparte inkl. GesetzStufe 2.“
Band zu schaffen, das „sich nicht auf
gebung ist in China entstanden. Hier
(Zitat aus South Park)
territoriale Zugehörigkeiten, institutionelle
gibt es nicht nur Zensur und Versuche
den Zugang zum Spiel einzuschränken, sondern auch Beziehungen oder Machtbeziehungen gründet, sondern
offenbar eine echte Angst, dass Jugendliche vom Land, auf die Vereinigung durch gemeinsame Interessen, auf
die eigentlich die reale Ernte von den Feldern einbringen einen spielerischen Umgang, die Mitteilung des Wissens,
sollten, lieber ihre Zeit in der Online-Welt verbringen, auf einen kooperativen Lernprozess und auf offene
um für einen ungefähren Monatslohn von 800 Yuan (vgl. Prozesse der Zusammenarbeit.“
„
Geiges 2006) virtuell zu farmen. Die Abnehmer für die
gefarmten Items sind, so könnte man zumindest leicht
vermuten, vorwiegend in Europa oder den USA zuhause. Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik
Sie haben mehr Interesse am ausgereiften Gruppenspiel studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist
als am „mühsamen“ hochleveln der Spielfiguren.
derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt:
Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood.
Organisation, Dynamik und Innovation
Gilden oder Stammgruppen verhalten sich wie lernende
Organisationen. Sie betreiben Aktivität auf Dauer, haben
gemeinsame Ziele, sie interagieren arbeitsteilig, es gibt
Mitgliedschaftsregeln und Kompetenzverteilung, ein
Logo (Gildenwappen), eigene Kommunikationsnetze,
Systeme die Anreize schaffen (z.B. Ehren-Punktesysteme) und gezielte Problemlösungsprozesse bzw.
Konsensfindung. Eine lernende Organisation ist
idealerweise ein System, welches sich ständig in
Bewegung befindet. Gewisse Ereignisse werden als
Anregung aufgefasst und für Entwicklungsprozesse
genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume
an die neuen Erfordernisse anzupassen. Dem zugrunde
liegt eine offene und von Individualität geprägte
Organisation, die ein innovatives Lösen von Problemen
erlaubt und unterstützt. All das lässt sich in einer WOWStammgruppe erleben. Jede WOW-Gruppe erfindet
dabei eigene Methoden und Wege das Spiel zu meistern.
Bestimmte Gruppen sind besonders erfolgreich, wie z.B.
Nihilum, die so gut wie jeden „Endboss“ als erstes besiegt
haben. In vielen Fan-Foren wird die Frage diskutiert, ob
diese SpielerInnen überhaupt noch ein Privatleben
haben. Bei Jebbie und Swibys sehr erfolgreicher
Stammgruppe Unmatched spielen persönliche Kontakte
36
Fachgebiet – Medienanthropologie
Literatur
Adamowsky, Natascha. Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt/
New York, 2000
Cypra, Olgierd. Warum spielen Menschen in virtuellen Welten? Eine
empirische Untersuchung zu Online-Rollenspielen und ihren
Nutzern. http://www.mmorpg-research.de. Diplomarbeit. Mainz
2005
Geiges, Adrian. Goldrausch in Azeroth. In: Stern 19/2006
Götzenbrucker, Gerit. Integrationspotentiale neuer Technologie am
Beispiel von Multi User Dimensions. Eine empirische Analyse
gemeinschaftsbildender Prozesse in kollaborativen Spielewelten.
Dissertation. Wien 2001
Interview mit den WOW-Stammspielern Jebbie und Swiby in Wien
am 19.10.07. Link: http://www.unmatched-guild.com
„Make Love not Warcraft“: Unter diesem Titel kam im Oktober 2006
eine Folge der berühmten Comic-Serie „South Park“ heraus. Die
Episode karikierte, unterstützt von Blizzard, die Klischees mit denen
WOW-SpielerInnen immer wieder konfrontiert werden. Siehe hier:
http://www.youtube.com/watch?v=xAEMVwb6Y5k
In Filmen und Projekten versucht Ivo Strecker die Lebenswelt der Hamar in Äthiopien
greifbar zu machen
von IXY NOEVER und JULIA PONTILLER
Ivo Strecker im Gespräch
Ein ethnographischer Filmemacher
Ivo Strecker zeichnen besonders die
enge Verwobenheit seiner beiden
Berufe sowie seine tiefe Verbundenheit mit den Hamar in Südäthiopien
aus, zu denen er und seine Frau Jean
Lydall seit den 1970er Jahren Feldforschungsreisen unternehmen. Von
1984 bis zu seiner Pensionierung 2005
war Ivo Strecker Professor für Ethnologie am Institut für Ethnologie und
Afrikastudien der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Seine
ethnologischen Arbeiten und Filme
können wie Puzzelstücke betrachtet
werden, in denen er sich bestimmten
Themenschwerpunkten zuwendet.
Puzzelstücke, die sich wie zu einem
Bild der umfassenden Lebensweise
der Hamar zusammenfügen lassen
und die zeigen, wie sehr Ivo Strecker
während der letzten drei Jahrzehnte
mit ihrer Lebenswelt verbunden war
und ist.
Wie sind Sie zu den Hamar gekommen?
Robert Gardner (ein amerikanischer Filmemacher, der sich auf Filme
ethnographischen Inhalts spezialisierte, zu seinen bekanntesten
Werken zählen Dead Birds oder Forest of Bliss) drehte gerade seinen
Film Rivers of Sand und wir wurden von ihm aufgefordert, ihm als
anthropologische BeraterInnen zur Seite zu stehen. Während wir den
Film vorbereiteten, lernten wir die Sprache der Hamar. Wir waren tief
in ihren Alltag eingetaucht und hatten uns vom Drama des dortigen
Lebens leiten lassen. Das Tonbandgerät und die Filmkamera spielten
dabei eine große Rolle. All dies konnten wir unter der Obhut von
Baldambe verwirklichen. Er war unser Gastgeber, Freund, Lehrer und
Mentor. So wuchsen wir über die Jahre immer tiefer in die Kultur der
Hamar hinein.
Wie hat sich Ihre filmische Arbeit entwickelt?
Die Themen, die wir in den Filmen behandelten, haben sich durch
Gespräche mit unseren Hamarfreunden entwickelt. Ich beschäftige
mich in meinen Filmen mit den Themen Männerwelt, Initiation,
Symbole, rituelle Schlachtung und Weissagung während sich meine
Frau Jean Lydall mit der Beziehung zwischen den Geschlechtern und
allem, was Kinder- und Frauenwelten anbelangt, auseinandersetzt.
Sie haben den Aufsatz „Filming Dreams“ geschrieben und man hört immer
wieder Kritiken, dass Sie Träume filmen – quasi nur die schönen Seiten im
Leben der Hamar?
Die Idee zu diesem Aufsatz war, zu sagen, dass wir alle von positiven
Erfahrungen leben. Auf allerhöchster Ebene ist dies das Prinzip der
Hoffnung. Aber Hoffnungen sind immer zeit-, orts-, gesellschafts- und
kulturspezifisch. Man lebt z.B. auch von der Hoffnung, dass die Sonne
wieder scheinen wird, selbst in langen Zeiten des Hungers lebt man
bei den Hamar von dem Traum, der einmal Wirklichkeit war, dass
man wieder satt wird. Fremde Kulturen werden oft nur als
Hungerkulturen dargestellt – wie das nun auch definitiv mit Äthiopien der Fall ist; Äthiopien ist ja weltberühmt für seine Hungeropfer.
Wir haben gefilmt, wie die Leute nun nicht hungern. Den Traum, dass
das Leben möglich sein könnte als Glücksleben, den kulturspezifischen Traum, den man als Ethnograph auch herüberbringen
muss, und dann können auch die Schreckensdinge kommen. Filming
Fachgebiet – Medienanthropologie
37
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
dreams bedeutet, die Träume anderer sichtbar zu machen
und mit ihnen zusammen zu träumen.
Wie weit fühlen Sie sich in die Kultur der Hamar integriert?
Ich sehe die größte ethnographische Herausforderung
darin, dem Eigenen und dem Fremden gleichen Raum,
gleiche Ausdruckskraft, gleiche Möglichkeiten für
Enthüllung und Geheimnis zu geben, und die
Schnittpunkte zu finden, an denen sich die geistigen
Bahnen kreuzen und zum Klingen kommen. Während
der Feldforschung erfährt man aber oft auch schmerzlich, dass die eigene geistige und emotionale Bewegung
zwar auf den anderen zuführt, dann jedoch an ihm
vorbeigeht und umgekehrt, der andere sich im Begriff
wähnt, den Ethnographen zu verstehen, nur um
festzustellen, dass Verständnis eine Illusion sein kann.
In ihrem letzten Film „Bury the Spear“ geht es um
Friedensverhandlungen. Sie waren damals sehr enttäuscht,
dass der Film nicht im Fernsehen gezeigt wurde.
Der Film Bury the Spear ist zum Teil als Antwort auf den
Wunsch eines Mannes tief im südlichen Äthiopien
entstanden, der sagte: „Lasst uns hier Frieden machen.“
Eine Gruppe von EthnologInnen meinte: „Da helfen wir
mit, wenn sechs verschiedene Gruppen miteinander
verhandeln wollen.“ Eine Friedensgeschichte wurde
vorbereitet, die wir dann mit ganz einfachen Mitteln
gefilmt haben. Damals gab es in Somalia und im Sudan
Krieg, daher wollten wir der Welt zeigen, dass es auch
einen Willen zum Frieden gibt. Nachdem wir die
Geschichte verfilmt hatten vergingen mehrere Jahre,
dann erreichte uns die Nachricht von dem Alten, der es
geschafft hatte, Frieden zu stiften. Ich sollte kommen. Er
sagte nun: „Der Film soll gesehen werden auf der ganzen
Welt!“, und dann ist das der einzige Film, den das
Fernsehen nicht senden will. Er ist nämlich technisch
nicht so gut, und schon wird er nicht gezeigt, darin liegt
die große Enttäuschung.
Wie ist Ihre Idee zum South Omo Research Center entstanden?
Die Idee für ein Museum und Forschungszentrum in
Südäthiopien entstand nur langsam und speiste sich aus
verschiedenen Interessen und Visionen. Als ich an der
Uni Mainz lehrte, lud ich Baldambe ein, mir bei meinen
Seminaren zur Kultur der Hamar zur Seite zu stehen,
und eigentlich nahm die Entstehung des South Omo
Research Centers (SORC) hier ihren Anfang. Im SORC bin
ich der Moderator eines Projekts, das beim Abbau
38
Fachgebiet – Medienanthropologie
politischer Spannungen in Südäthiopien mitwirken soll.
Zu den für Entwicklungsarbeit wichtigen Wissenschaften gehört auch die Ethnologie. Dies gilt nicht
zuletzt für Äthiopien, ein Land, das gegenwärtig versucht, sich von einer langen und qualvollen Geschichte
sozialer und kultureller Ungerechtigkeit zu verabschieden. Besonders seit dem Fall des Mengisturegimes (1991) und der Einführung einer neuen Verfassung, die den einzelnen „Zonen“ Äthiopiens zumindest auf dem Papier eine gewisse Eigenständigkeit
garantiert, versucht sich Äthiopien zu einem modernen,
demokratischen und föderalen Staat zu entwickeln.
Was sind die Ziele dieses Zentrums?
Ziel und Aufgabe ist es, zur Erforschung und
Dokumentation sowie zum Erhalt des kulturellen Erbes
Äthiopiens beizutragen. Die Aufmerksamkeit galt
anfangs vor allem den alten, auf dem Gebrauch der
Schrift aufbauenden „Hochkulturen“ Nord- und
Zentraläthiopiens. Inzwischen kommen auch die
ehemals „marginalen“ oder „Randvölker“ Äthiopiens
hinzu. Hier steht das Zentrum vor der schwierigen
Aufgabe, den ethnischen Minderheiten des Landes zu
helfen, sich aus ihrer historischen Stigmatisierung zu
befreien und eigene Institutionen zur Bewahrung ihres
kulturellen Erbes zu gründen. Das South Omo Research
Center stellt einen ersten Modellversuch in diese
Richtung dar und soll sich neben der Bewahrung
kulturellen Erbes insbesondere auch der angewandten
sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung
widmen, mit dem Ziel, das Bestreben nach good
governance und Demokratisierung in der Region
tatkräftig zu unterstützen.
In Ihren Arbeiten und speziell in Zusammenhang mit den
Hamar beziehen Sie sich immer wieder auf den „woko“. Was
versteht man darunter?
Der woko ist ein Stock, der sich an einem Ende gabelt und
am anderen Ende zu einem Haken formt. Wie bei aller
Symbolik, gibt es zuerst einmal eine praktische Ordnung
der Dinge. Mit der Gabel des Stockes drückt man die
dornigen Zweige des Busches zur Seite. Diese praktische
Funktion lässt sich nun analog auch auf andere Bereiche
erweitern. Das heißt, mit der Gabel kann man auch
andere dornige Dinge wie Hunger, Krankheit, Krieg, von
sich abwehren, und mit dem Haken kann man gute
Dinge wie Bienen, Regen, Frieden heranholen. Man kann
sagen, dass jeder Mensch in sich einen woko trägt und
dass ihn erst das Leben lehrt, kunstvoll damit zu
hantieren. Denn: besteht nicht die Kunst des sozialen
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Lebens darin, immer die richtige Distanz zum „anderen“
zu gewinnen und zu halten? Kommt uns jemand zu
nahe, dann schieben wir ihn oder sie mit der Gabel
unseres unsichtbaren wokos in die richtige Distanz.
Wollen wir aber, dass uns der andere nicht entflieht,
dann drehen wir den woko um und holen ihn wieder zu
uns zurück. Auf diese Weise ist der woko ein Symbol für
das universale Problem von Nähe und Distanz, das wir
auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens antreffen und
das letztlich auch die ganze Ethnologie motiviert.
„
Julia Pontiller, 1974 in Innsbruck geb., ist diplomierte
Ethnologin und Filmcutterin, sie arbeitet als selbständige
Cutterin und freie Lektorin an den Universitäten in Wien und
Innsbruck zu visueller Anthropologie und Schnitt.
Ixy Noever, 17 .7.1969 in Wien geb., Studium: Ethnologie an
der Uni. Wien, Selbstständige Tätigkeit als Mediatorin und
Beraterin, Lehraufträge an verschiedenen Instituten österr.
Universitäten (Visuelle Anthropologie, Scheidungen im
Kulturvergleich), Filmregisseurin.
Fachgebiet – Medienanthropologie
39
Zahlen, Fakten und Hintergründe zum „Trend“
im deutschsprachigen Raum
Faszination Bollywood
Autorin: Birgit Pestal
Tectum Verlag Marburg 2007
ISBN 978-3-8288-9315-3
Bestellungen: www.tectum-verlag.de
Ziel des Buches ist es, mithilfe quantitativer Daten,
Zahlen und Hintergrundinformationen die Faszination
Bollywoods in Österreich, der Schweiz und Deutschland
zu porträtieren. Die Fragestellungen sind umfassend,
reichen vom Erforschen des Bekanntheitsgrades Bollywoods im deutschsprachigen Raum, hin zur Dokumentation der Prozesse, die zu einer verstärkten Wahrnehmung des indischen Filmgenres geführt haben. Um
die Dynamik dieses Themenfeldes besser darzustellen,
gewährt dieses Buch ebenfalls einen Einblick in die
Veränderungen der indischen Unterhaltungsindustrie
im Lichte der immer stärker voranschreitenden Globalisierungswelle gewähren.
Jede Menge statistisch ausgewertete Daten über die
Zusammensetzung und Präferenzen des deutschsprachigen Bollywoodpublikums bereichern die Lektüre
in Form von Tabellen und narrativen Beschreibungen,
die im leicht-lockeren Stil nebst einfallsreich gewählten
Überschriften, Zitaten und (vielleicht an mancher Stelle
zu vielen) Quellenangaben das Leserinteresse wecken.
So erfahren wir etwa in der detailreichen Einleitung
nicht nur von der spannenden Geschichte des indischen
Films, sondern auch von de vergleichsweise engen
Beziehungen der Bollywoodindustrie mit der Schweiz,
Deutschland und Österreich. Wussten sie z.B., dass,
obwohl Österreich in Sachen Bollywood von der Autorin
als „Entwicklungsland“ bezeichnet wird, die Tiroler
Berglandschaft anscheinend die perfekte Kulisse für den
Dreh dieser farbenprächtigen, durchaus melodramatischen, stimmungsvollen Bollywoodfilme bietet?
In den darauf folgenden Kapiteln illustriert die Autorin
mit aufschlussreichem Hintergrundmaterial, dass
Bollywood heute längst keine flüchtige Modeerscheinung mehr darstellt; so wird fast nebenbei
erwähnt, dass Bollywood weltweit auf eine Milliarde
mehr ZuseherInnen vorweisen kann als Hollywood!
Die lesenswerten Schlussbetrachtungen spannen den
resümierenden Bogen und stellen klar die Forschungserkenntnisse in den Mittelpunkt: Im deutschsprachigen
Raum ist das Potenzial Bollywoods bemerkenswert,
nicht nur hinsichtlich der Reichweiten von Filmausstrahlungen, sondern auch in Bezug auf Bollywood
als Lifestyle-Phänomen. Auf das westliche Publikum
scheinen das visuelle Arrangement, die Musik, Farbenpracht und Stimmung eine besonders starke Anziehungskraft auszuüben. Auch ist ein gewisses Konkurrenzpotenzial zwischen Bolly- und Hollywood nachvollziehbar. Es entstehen hybride Formen der indischen
Unterhaltungsindustrie, ganz im Zeichen der ökonomischen und kulturellen Globalisierungstendenzen
des 21. Jahrhunderts.
Sowohl eine Pflichtlektüre für die bereits bestehende
Bollywood-Fangemeinde, als auch für diejenigen, die
Bollywood fälschlicherweise als unbedeutenden Ableger
Hollywoods betrachtet haben, ist dieses kenntnisreiche
Buch absolut empfehlenswert.
„
rezensiert von Lisa Ringhofer
40
Buchrezension
Betrachtungen zur Struktur von Ritualen anhand ethnographischer Beispiele aus dem
Nahen Osten und der Mongolei
von GEBHARD FARTACEK und MARIA-KATHARINA LANG
Fremde Länder, fremde
Sitten?
Rituale und Tabus in Zeiten des Übergangs
„Als meine Freundin Duniya
geheiratet hat, ging ich zu ihr, um zu
gratulieren. Kaum saß ich in ihrem
neuen Wohnzimmer, da läutete es.
Eine weitere Besucherin, betrat die
Türschwelle – blieb kurz stehen – und
während sie auf eine Kristallvase am
Wohnzimmertisch blickte, rief sie voll
Bewunderung: ‚Hee, was hast du
denn da für eine schöne Schale!‘ Und
sie sagte nicht: ‚mashallah‘ [was Gott
will]. Noch im selben Moment
zerbrach die Schale – wie von selbst.“
Für viele EuropäerInnen mag diese
Begebenheit kurios klingen. Im Nahen
Osten hingegen ist sie Teil der
Alltagswelt. Sie ist eine von den
tagtäglich erzählten Geschichten zur
Wirkung des Bösen Blickes. Dieser
wird ausgelöst, wenn jemand
Bewunderung ausdrückt und
gleichzeitig vergisst bestimmter
ritualisiert Redewendungen
auszusprechen.
abus und Rituale sind Ausdruck von Glaubensgrundsätzen
und dienen zur Verhaltensorientierung. Inhaltlich gesehen
sind sie in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, dennoch lassen sich auf struktureller Ebene allgemeine Aussagen
– hinsichtlich Funktion und Aufbau – treffen. In diesem Beitrag stellen
wir drei sozialanthropologische Thesen vor, die wir mit ethnographischen Beispielen aus nicht-säkularisierten Gesellschaften belegen:
T
1. Das Ritual als „gesicherter“ Übergang in einen anderen
Lebensabschnitt: Übergangszeiten sind Zeiten der Ungewissheit, die rituell abgesichert werden (müssen).
In allen Kulturen gibt es umfangreiche Rituale, die jeweils zu Beginn
eines neuen Lebensabschnittes vollzogen werden. In der Mongolei
wird der Übergang vom Kind-sein zum Erwachsen-sein nicht durch
einen Initiationsritus im eigentlichen Sinn markiert, sondern durch
das Ereignis der Hochzeit. Dieses traditionelle mongolische
Hochzeitsritual wird heute nur noch unter den nomadisierenden
ViehzüchterInnen in vereinfachter Form praktiziert (vgl. Lang 1998).
Ist der Tag der Hochzeit festgelegt, beginnt für die Braut das
Abschiednehmen von ihrer Familie. Die Jurte für das zukünftige
Ehepaar wird neben der Jurte der Eltern des Bräutigams errichtet.
Noch vor der Hochzeit wird der Herd aufgestellt und von der
Bräutigam-Mutter mit Feuer aus ihrem Herd angezündet. Die
eigentliche Hochzeit findet daraufhin in drei Etappen statt: Zunächst
mit einem Festessen in der Jurte der Brauteltern, an dem auch der
Bräutigam mit seinen engsten Angehörigen teilnimmt. Am nächsten
Morgen wird die Braut von ihrem Bräutigam abgeholt. Hierbei kommt
es häufig zu einem symbolischen Widerstand von Freunden und
Verwandten der Braut, der vom Bräutigam und seinen Begleitern
gebrochen werden muss. Ist dies gelungen reitet das Brautpaar mit der
Gruppe von Verwandten und Gästen, die die Mitgift der Braut
transportieren, zur neuen Jurte, wo die Braut zum ersten Mal Tee
aufstellt, den Platz der Hausfrau ein die Gäste bewirtet. Schließlich
zieht sie sich zurück, um mit Hilfe von Frauen aus ihrer Familie neu
gekleidet und frisiert zu werden. Anschließend begibt sich die Braut
zu der Jurte ihrer Schwiegereltern, wobei sie auf dem Weg dorthin
zwei brennende Feuerstellen passieren muss. Dort angekommen
Region – Naher Osten/Mongolei
41
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
verbeugt sie sich vor dem Herd, den Familiengottheiten,
den Schwiegereltern sowie vor den Ehrengästen und
bringt der Schutzgottheit des Herdfeuers ein Opfer dar.
Dann trinkt das Brautpaar gegorene Stutenmilch, danach
beginnt das Festessen. Die Feuerzeremonien sind die
wichtigsten rituellen Handlungen im Lager der Familie
des Bräutigams, da sie den eigentlichen Eintritt der Braut
in den Clan des Mannes markieren. Zum einen wird ein
Fruchtbarkeitsritus vollzogen, zum anderen wird die
Frau vom Einfluss der Geister ihrer Familie gereinigt.
Traditionellerweise ist die jungvermählte Frau im ersten
Ehejahr einigen beträchtlichen Reglementierungen unterworfen. Ihre Aufnahme in die Familie stellt eine potentielle Gefahr dar. Neben den Geistern ihrer HerkunftsFamilie bringt eine Schwiegertochter auch "fremde Sitten" mit. Verhaltensregeln, wie die Gebote des Nichtanschauens, Nichtberührens und Nichtbenennens, stellen dieser Auffassung zufolge Schutzmaßnahmen für die
Familienmitglieder des Mannes dar. Die Hochzeit wird
also als Zeit des Übergangs gesehen, die mit potentiellen
Gefahren verbunden ist. Das Ritual schafft Sicherheit,
wo sonst Unsicherheit wäre und gewährleistet auf diese
Weise einen „gesicherten“ Übergang in den nächsten
Lebensabschnitt. Darüber hinaus wird beim Hochzeitsritual noch ein weiterer Aspekt deutlich: Der Übergang
zwischen nicht-verheiratet-sein zu verheiratet-sein und
der damit verbundene Austausch sozialer Kategorien.
Dazu die nächste These:
2. Das Ritual als Austausch sozialer Kategorien:
Zeitliche Begrenzungen von sozialen Kategorien
werden durch Rituale markiert, wodurch der
Wechsel von einer Kategorie zur anderen vollzogen werden kann.
Ein Ritual, das von der Westsahara bis Usbekistan und
von der Türkei bis in den Jemen, von AnhängerInnen
unterschiedlicher Religionsgemeinschaften nahezu gleichermaßen praktiziert wird, ist das Ablegen von Gelübden (vgl. Fartacek 2003: 177-186). Es ist oft üblich zu
einem lokalen Heiligtum zu pilgern, wenn das soziale
Leben aus den Bahnen gerät. Am Pilgerort tritt man dann
mit dem dort verehrten Heiligen in Kontakt und legt ein
Gelübde ab: Man bittet ihn um Hilfe bei der Problemlösung und verspricht als Gegenleistung den Vollzug
eines Opfers, welches sobald das Problem behoben ist,
erbracht werden muss. Zur Illustration dieses Vorganges
ein Fallbeispiel aus dem Ladaqiye-Gebirge in Syrien:
Ein älterer Mann litt an extremen Bauchschmerzen und
musste dringend operiert werden, wofür der Familie allerdings das notwendige Geld fehlte. In seiner Not pilgerte der Mann zu einem lokalen Heiligtum, das einem
gewissen Scheich Hassan gewidmet war, und legte dort
ein Gelübde ab: „Ich gelobe, ein Schaf zu opfern, wenn
42
Region – Naher Osten/Mongolei
Handabdrücke aus Opferblut an einem Heiligtum in
Nordsyrien
ich nur wieder gesund werde. Das Schlachtopfer soll hier
an diesem [heiligen] Ort vollzogen werden und ist dir,
Scheich Hassan, gewidmet!“ Anschließend übernachtete
der Mann am heiligen Platz, am nächsten Morgen
bemerkte er das Wunder: Über Nacht war er auf übernatürliche Weise von Scheich Hassan geheilt worden. An
seinem Bauch sah man einen frisch vernähten Schnitt die Narbe ist heute noch sichtbar. Der Mann war anfangs
von der Operation noch etwas geschwächt. Als er wieder
in den Status des Gesundseins eintrat, vollzog er das versprochene Schlachtopfer. Im Zuge dieses Rituals tauchte
er seine rechte Hand in das Blut des Tieres und drückte
sie an die Wand der Pilgerstätte, um so auf symbolische
Weise in Beziehung zum Opfertier und zum sakralen
Platz zu treten. Unter großer öffentlicher Anteilnahme
wurde das Schaf an Ort und Stelle zubereitet und verzehrt. Nur der Mann, der das Opfer darbrachte, war von
der Mahlzeit ausgeschlossen, da dies sonst als eigennützig angesehen worden wäre.
Diese Begebenheit, die sich erst vor wenigen Jahren ereignet haben soll, stellt in der Wahrnehmung vieler Menschen dieser Region keinen Einzelfall dar. Ähnliche Geschichten werden von den BewohnerInnen des LadaqiyeGebirges gerne erzählt und dienen dazu, die Kraft des sakralen Platzes bzw. des Heiligen zu unterstreichen. Hier
werden einige grundsätzliche Prinzipien des Gelübdewesens deutlich: Ein Gelübde wird in der Regel als individueller Vertrag zwischen demjenigen, der es ablegt
und dem jeweiligen Heiligen aufgefasst. In diesem Vertrag sollten möglichst alle Einzelheiten geregelt sein,
nachträgliche Änderungen sind nicht möglich. Ein Gelübde wird in der Regel konditional verstanden: Nur
wenn der Wunsch in Erfüllung geht, muss ein Opfer
dargebracht werden. Hat man ein Gelübde abgelegt,
befindet man sich bis zu dessen Einlösung in der Rolle
des Schuldners. Beim Ablegen des Gelübdes wird der
Nicht-Schuldner zum Schuldner, bei der Einlösung des
Gelübdes erfolgt die Umkehrung. Dem Ritual wird also
grundsätzlich eine Doppelfunktion zuteil: Einerseits
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
führt es den Austausch der sozialen Kategorien herbei,
andererseits werden die einzelnen sozialen Kategorien
jeweils zeitlich markiert, d.h. es wird Klarheit geschaffen,
bis zu welchem Zeitpunkt man welchen sozialen Status
innehat. Bei dem geheilten Mann, markierte das Ritual
nicht nur den Übergang von Schuldner-sein zum NichtSchuldner-sein, sondern auch den Übergang vom Kranksein zum Gesund-sein.
3. Das Ritual als Manifestation von Mythen:
Religiöse Rituale stehen in einem direkten
Zusammenhang mit Mythen und umgekehrt
– Mythen sind auf Rituale bezogen.
Dieser Aspekt wird beim religiösen Schlachtopfer
deutlich, dessen Durchführung mit einem mythologischen Ereignis begründet wird, das der Koran ebenso erwähnt wie die Bibel (Sure 37, 99-113 bzw. Gen. 22,1-19):
Abraham, „Vater aller Religionen“, hatte einst einen prophetischen, ständig wiederkehrenden Traum: Er sah sich
seinen Sohn Ismael opfern. Für Abraham gab es nur eine
Schlussfolgerung: Es musste Gottes Wille sein, dass er
seinen geliebten Sohn Ismael opfern sollte. Abraham erzählte den Traum seinem Sohn, dieser fügte sich seinem
Schicksal. Im entscheidenden Augenblick erschien der
Engel Gabriel zusammen mit einem großen Widder:
„Nimm den Widder als Ersatz und opfere ihn Gott!“ Seit
damals ist es üblich, Tiere (insbesondere Widder) stellvertretend für Menschen zu opfern.
Während in der jüdischen und christlichen Tradition
diese Bibelstelle häufig so interpretiert wird, dass Gott
Abraham auf die Probe stellen wollte, sehen viele
Menschen islamischen Glaubens darin eine mythologische Begründung für die Durchführung von Schlachtopfern. Hier dient dieses Beispiel dazu, zu zeigen, dass in
Ritualen auch Glaubensdoktrinen, Mythologien und
damit verbundene Weltbilder zum Ausdruck kommen.
Rituale sind keine Tätigkeiten oder Handlungen, die isoliert für sich betrachtet eine Bedeutung hätten. Vielmehr
erlangen sie diese erst in Beziehung mit anderen Zeichen
und Symbolen einer Kultur. Sie sind immer eingebettet in
Glaubenssysteme und Wertvorstellungen und erst als
Teil davon ergeben sie einen „Sinn“.
Fazit
Rekapitulieren wir die angesprochenen Dimensionen des
Rituals: 1. Rituale treten in Übergangszeiten auf, 2. sie
bewirken eine Änderung von Status und Rolle der
Betroffenen, und 3. sie sind mit Weltbildern verknüpft.
Übergangszeiten gelten als Zeiten der Gefahr, sie sind
mit Unsicherheiten und Tabus assoziiert. Von strukturalen Ansätzen ausgehend können sie als Grenzzonen,
als „Schwellenzustände“ zwischen unterschiedlichen
sozialen Kategorien interpretiert werden. Epistemologisch betrachtet besteht Ungewissheit darüber, welche
der jeweils angrenzenden Kategorien Gültigkeit erlangt.
Rituale geben Sicherheit, sie markieren und gewährleisten die Bewältigung von Übergängen sozialer, zeitlicher und räumlicher Kategorien.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen möchten wir
nun zum eingangs erwähnten Bösen Blick zurückkehren.
Dabei wird deutlich, dass Zeit und Ort des Unglücks
keine Zufälle sind. Das Unglück geschah aufgrund der
Nichtbeachtung eines Rituals – die Besucherin sagte
nicht ‚mashallah‘. Zeitlich und räumlich betrachtet
passierte es in Momenten des Übergangs – und zwar in
mehrerlei Hinsicht: Es findet genau zu der Zeit statt, als
Duniya heiratet, eine Übergangszeit, die im gesamten
orientalischen Raum mit dem Wirken des Bösen Blicks
verbunden wird. Und es findet genau in dem Moment
statt, in dem die Besucherin eintritt und in die soziale
Rolle des Gast-seins schlüpft. Auch räumlich gesehen
passiert das Unglück an einer Grenze, und zwar an der
Türschwelle, die als Grenzzone zwischen dem privaten
und öffentlichen Raum interpretiert werden kann. Die
„Erklärung“, dass für das Zerbrechen der Vase der „Böse
Blick“ der Besucherin verantwortlich ist, ist wiederum
Ausdruck eines bestimmten Glaubenssystems bzw.
Ausdruck eines orientalischen Weltbildes.
„
Anm. der AutorInnen: Bei diesem Beitrag handelt es sich um die
stark gekürzte Fassung eines Artikels, der im Zuge
sozialanthropologischer Projektarbeit an der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entstanden ist und
bislang nicht publiziert wurde.
Gebhard Fartacek, Mag. Dr. phil., wissenschaftlicher
Mitarbeiter und stellvertretender Direktor an der
Forschungsstelle Sozialanthropologie (ÖAW), Universitätslektor am Institut für KSA (Wien). Forschungsschwerpunkte:
Kosmologien und religiöse Glaubenssysteme im Nahen Osten
sowie lokale Strategien der Konfliktbewältigung
Maria-Katharina Lang, Mag.a phil., wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Sozialanthropologie
(ÖAW) und am Museum für Völkerkunde Wien.
Forschungsschwerpunkte: Soziokulturelle Transformationsprozesse im zentralasiatischen Raum und Kunstethnologie.
Literatur
Fartacek, Gebhard. Pilgerstätten in der syrischen Peripherie. Eine
ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und
deren Praxisrelevanz. Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse 700. Band,
Wien: ÖAW-Verlag. 2003.
Lang, Maria-Katharina. Ein Schmuckstück aus der Mongolei/Sammlung
des Museums für Völkerkunde Wien als Ausgangspunkt für die
Untersuchung soziokultureller Zusammenhänge. Diplomarbeit. Wien,
1998.
Region – Naher Osten/Mongolei
43
Zur Zeit der sassanidischen Herrschaft [225 n. Chr. - 651 n. Chr.] entstand durch den
sozialrevolutionären Mazdak eine kritische Bewegung
von THOMAS SCHMIDINGER
Der Mazdakismus im Iran
Widerstand gegen eine Theokratie
Schon vor 1500 Jahren fielen im Iran
religiöse und politische Herrschaft
zusammen. Die zarathustrische
Theokratie der Sassaniden war jedoch
genauso umstritten wie die heutige
islamisch-schiitische Theokratie. Um
das Jahr 500 wurde sie von einer
revolutionären sozialen Bewegung,
dem Mazdakismus herausgefordert.
Das Leben Mazdaks und die
Geschichte der MazdakitInnen sind
nur äußerst spärlich dokumentiert.
Wie bei anderen gescheiterten
Oppositionsbewegungen steht die
heutige Geschichtsschreibung auch
hier vor dem Problem, eigentlich nur
über Quellen der siegreichen Gegner
zu verfügen.
44
Region – Iran
ür Mazdak und seine AnhängerInnen ist die Quellenlage
besonders prekär. Das dürfte daran liegen, dass andere
religiös-politische Oppositionsbewegungen wie die christlichen Kirchen oder der Manichäismus als weit weniger
gefährlich für die Sassanidenherrschaft eingestuft wurden (Klima,
1977: 16). Die Syrische Chronik des Josua des Styliten ist die einzige
bekannte zeitgenössische Quelle; alle anderen Texte wurden viel
später verfasst. Trotzdem beschäftigten sich nicht nur frühe arabische
und persische Historiker, wie z.B. al-Tabar, mit dieser Bewegung,
sondern auch späte römische Autoren wie Prokopios von Caesarea
und Agathias.
F
Die Sassaniden und ihre Staatsreligion
Das Sassanidenreich (224 – 651) hatte in seinem überzeichneten Rückgriff auf „altiranische“ Kulturelemente den Zorastrismus zu einer
Staatskirche erhoben. Die rund 1800 Jahre vor Christi vermutlich im
heutigen Khorasan entstandene Religion mit einem starken Dualismus
zwischen Gut und Böse und ihrer Verehrung des „heiligen Feuers“,
wurde damit von einer vielfältigen und regional durchaus
unterschiedlich ausgeprägten Glaubensgemeinschaft zu einem
monopolisierten Staatskult. Dabei wurde dem guten Gott Ahura
Mazda und seinem „bösen“ Gegenspieler Ahriman mit Zervan, dem
Gott der Zeit, noch ein Schöpfergott vorgesetzt, der aus sich heraus
erst Ahura Mazda und Ahriman geboren hatte. Der Zervanismus bzw.
Zervani-sche Zorastrismus war damit zu einer streng monotheistischen Staats-religion geworden. Ähnlich wie bei seinem großen
Gegenspieler, dem christlich-orthodoxen Oströmischen Reich, befand
sich auch hier die Religion in einem sehr engen Verhältnis zur
Staatsmacht. Allerdings bedeutete im Iran bereits damals die Existenz
einer Staatsreligion nicht automatisch das generelle Verbot aller
anderen Religionen. Neben dem Zorastrismus existierte noch eine
Fülle weiterer kleinerer und größerer Religionsgemeinschaften, die
meist stark unterdrückt wurden. So lobt etwa der zarostrische Priester
Kidir die Verfolgung von Juden (yahud), Buddhisten (saman),
Hinduisten (braman), Nazarenern (nasra), Christen (kristiyan),
Täufern (makdag) und Manichäern (zandik) unter König Vahram II.
(267 – 293) (Wiesehöfer, 1993: 266). Im Gegensatz zur völligen
Verfolgung und Unterdrückung aller Nichtchristen im Oströmischen
Reich, akzeptierte jedoch auch bereits die sassanidische Staatsreligion
vielfach die Existenz anderer religiöser Überzeugungen, solange diese
die Position des Zorastrismus als Staatsreligion nicht in Frage stellten.
Nicht alle Iraner mussten Zorastrier sein, aber alle mussten
akzeptieren, dass der Zorastrismus die Religion war, die Reich und
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Gesellschaft dominierten, ein Konzept an das nach 651
das islamische „Toleranzverständnis“ mit dem Status der
Gläubigen der Buchreligionen als Dhimmis durchaus
anknüpfen konnte. In dieser vielfältigen religiösen
Landschaft wuchs jedoch die mazdakitische Bewegung
zwei Jahrhunderte nach den Massakern unter König
Vahram II. zu einer ernsthaften Gefahr für den Adel und
die Geistlichkeit heran.
Mazdak und die Mazdakitische Bewegung
In einer Phase der gesellschaftlichen und politischen
Erstarrung um 500 schrieb nun die mazdakitische
Bewegung Geschichte. Dabei gehen bis heute die
Positionen der Historiker und Iranisten über den
wirklichen Begründer der mazdakitischen Bewegung
auseinander. Der deutsche Orientalist Theodor Nöldeke,
kommentierte 1879 in seiner Übersetzung der
„Universalgeschichte“ al-Tabars: „Als Stifter des
Mazdakismus wird gewöhnlich Mazdak, Sohn des
Bamdadh angesehn, aber [...] Tabari [...] nennt als solchen
den Zaradust, Sohn des Choraran, aus Pasa, während
Mazdak nur sein Apostel beim Pöbel gewesen sei“
(Nöldeke, 1879: 456). Weitgehende Übereinstimmung
gibt es lediglich darin, dass Mazdak im weltlichen Besitz
die Wurzel allen Übels sah und dies zumindest in Teilen
der Bewegung die Idee einer frühkommunistischen
Gütergemeinschaft hervorrief. Dabei ist auch von der
Forderung nach einer „Frauengemeinschaft“ die Rede,
wobei diese – wie bereits erwähnt – nur über Quellen der
Gegner der Be-wegung überliefert ist.
Über die Biographie Mazdaks ist so wenig bekannt, dass
manche IranistInnen seine reale Existenz überhaupt in
Frage stellen und ihn eher als mystische Gründerfigur
sehen. U.U. kam es auch zu einer Vermischung ursprünglich unterschiedlicher Gruppierungen zu einer
Bewegung, die religiöse und sozialrevolutionäre Momente in sich vereinte. Unabhängig von der realen
Existenz der Gründerfigur Mazdak ist jedenfalls unumstritten, dass es eine breite religiöse und politische
Strömung unter dem Sassanidenherrscher Kavad
(488 – 496, 499 – 531) gab, die sich auf Mazdak berief.
Umstritten ist jedoch, ob der Mazdakismus eine Häresie
der Zarostrischen Staatsreligion oder des Manichäismus
– einer damals sehr starken, anwachsenden, aber auch
massiv verfolgten Religionsgemeinschaft – darstellte
oder ob es sich dabei um eine von beiden Religionen unabhängige Neugründung handelte. In der „Enzyclopedia
of Islam“ heißt es dazu: „The movement seems to have
been Zoroastrian rather than Manichaean in origin,
although it acquired gnostic features that gave it an
affinity to Manichaeism.“ (Enzyclopedia of Islam, 1991:
949). Durch die Vernichtung der mazdakitischen Schriften sind die Inhalte der mazdakitischen Lehre aus-
schließlich aus den Werken ihrer GegnerInnen und den
Folgen ihres Aufstandes zu entnehmen. In sozialer Hinsicht war wohl der Gemeinschaftsbesitz die wichtigste
sozialrevolutionäre Forderung Mazdaks, die auf
theologischem Gebiet mit mystischen Vorstellungen die
teilweise an die Gnostik der Manichäer erinnern, ergänzt
wurden.
„Mazdak lehrte, daß alle Menschen gleich geschaffen
seien und daß es ein Unrecht sei, wenn der Eine mehr
Güter und mehr Weiber habe als der Andre. Daß die Ehe
von ihm principiell aufgehoben sei, behaupten die
arabischen Quellen nicht gradezu, aber schon die
gewaltsame Wegnahme der Weiber, welche einer zu viel
habe, und die Aufhebung der Vermögens- und
Standesunterschie-de führte mit Notwendigkeit dazu:
dauerhafte Güter-gleichheit ist nur denkbar bei
Gütergemeinschaft d. h. bei Aufhebung alles persönlichen Eigentums; wer dieses zerstören will, der muss die
Erblichkeit und die damit auf's engste verbundene
Familie abschaffen“ (Nöldeke, 1879: 458). Obwohl
Mazdak vermutlich weder die „freie Liebe“ noch eine
frühe Form von Feminismus predigte, hatte die
„Frauengemeinschaft“ – so sie historisch überhaupt real
und keine Erfindung der Gegner des Mazdakismus war
– doch u.U. einen emanzipatorischen Effekt, der zum
besonderen Hass gegen den Maz-dakismus beigetragen
haben könnte. „Wem die patrilineare Abstammung sowie
die Bewahrung des Haushalts in männlicher Linie
Grundvoraussetzungen und -anliegen gesellschaftlichen
Lebens waren, dem konnten die Geltung matrilinearer
Deszendenz als Folge unsicherer Vaterschaft und die
Übertragung familiärer Erziehungsaufgaben an die
Gemeinschaft nur als ungeheuerlich erscheinen“
(Wiesenhöfer, 1993: 279-280).
Vom Mazdakismus sind auf der einen Seite gewisse
hedonistische Bestrebungen überliefert, die auf ein angenehmes Leben für alle abzielten, allerdings auch sehr
strikte ethische Gebote wie das „Verbot des Blutvergießens und des Fleischgenusses“ (Nöldeke, 1879: 460). Die
soziale Basis des Mazdakismus dürfte überwiegend aus
der armen Landbevölkerung, die sich gegen die
Oberschicht des strikten kastenartigen Systems zur Wehr
setzen wollte, bestanden haben. Allerdings wurde der
Mazdakismus auch von Teilen der Herrschenden selbst
zeitweise auch positiv aufgenommen. Schah Kavad I.
zeigte sich von der neuen religiösen Bewegung angetan,
trat ihr dennoch nicht bei. Diese freundliche Duldung
des Mazdakismus stellte wohl eine Art taktisches
Bündnis gegen den Adel und die mächtige zorastrische
Priesterschaft dar, deren Einfluß er zurückdrängen
wollte.
Region – Iran
45
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Die so in die Enge getriebenen, setzten Kavad 496 jedoch
ab und ersetzten ihn durch Zamasp, der bereits erste
Verfolgungen gegen die MazdakitInnen einleitete. Ein
Vierteljahrhundert nach Kavads Rückkehr in den
Königspalast hatten sich die MazdakitInnen wieder so
weit erholt, dass sie sich laut Timotheus, Malala und
Theophanes in den Poker um die Nachfolge Kavads einmischten und den ihnen ergebenen Prinzen Pataswarsah
auf den Thron setzen wollten. Kavad soll zum Schein auf
diesen Vorschlag eingegangen sein und sämtliche
MazdakitInnen mit Frauen und Kindern zur Übergabe
der Macht an Pataswarsah versammelt haben, um sie
dann alle niedermetzeln zu lassen. Nach dem Massaker
wurde die Habe der Getöteten durch den Staat
konfisziert. Überlebende MazdakitInnen sollten ebenso
wie ihre Lehren dem Feuer übergeben werden und ihre
Gebetsstätten wurden laut Malala den Christen zugeteilt.
(vgl. Nöldeke, 1879: 462 – 463). Ob diese Berichte
stimmen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Sicher
ist lediglich, dass entweder kurz vor oder nach der
Übernahme der Regierungsgewalt durch Xusro I. – dem
Nachfolger Kavads – im Jahr 531 eine massive Verfolgung von MazdakitInnen im ganzen Land begann, die
beinahe die vollständige Ausrottung der Gemeinschaften
zur Folge hatte.
Nach der Verfolgung
Nach der Niederschlagung des Mazdakismus als soziale
Bewegung trat ihr religiöser Charakter in den Vordergrund. In Kleingruppen überlebte die Religionsgemeinschaft vor allem an den Rändern des Sassanidenreiches. Erst die Eroberung des Sassanidischen Iran
durch Islamische Armeen brachte den MazdakitInnen
wieder etwas mehr Freiraum. Allerdings waren sie zu
diesem Zeitraum bereits so geschwächt, dass sie sich im
8. und 9. Jahrhundert in verschiedenste Kleinstsekten
spalteten. Viele ehemalige MazdakitInnen dürften auch
– so wie andere von den Sassaniden unterdrückte Minderheiten – eher dem Islam beigetreten sein, den sie
durchaus als Befreiung von der Sassanidenherrschaft
empfanden. So kamen auch mazdakitische Einflüsse in
den iranischen Islam, der auch andere synkretistische
Elemente aus vorislamischen Religionen des Iran
aufgenommen hatte.
Neo-Mazdakitische Gruppen leisteten vor allen einen
Beitrag zur Entwicklung von Kaysaniyya-Schiiten.
Otokar Klima sieht in der Sekte der Khurramiten, die
zum ersten Mal im Jahr 118 H. (736-737 n.Chr.) auftauchte ebenso einen islamisierten Nachfolger der Mazdakiten wie im Aufstand des zarathustrischen Magiers
Sunbad. In Zentralasien überlebte der Maz-dakismus bis
ins 12. Jahhundert in den Gegenden von Kish, Nakhshab
und in einigen Dörfern in der Umgebung von Buchara.
46
Region – Iran
Noch in der Ilkhanidischen Periode wurden die
Mazdakiten als eine von vierzehn zarathustrischen
Sekten aufgezählt. Im Rudbar von Qazwin, nordwestlich
von Teharan, soll mazdakitische Sekte namens Maraghiyya existiert haben, die in sieben Dörfern bis ins 20.
Jahrhundert überlebt haben soll (Enzyclopedia of Islam,
1991: 951-952).
Rezeption im Iran
Die spärliche Literatur über die Mazdakiten in Europa
kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Mazdak im
Iran selber immer erwähnt und seine Bewegung als
umstürzlerischer Referenzpunkt in der iranischen
Geschichte herangezogen wurde. Nicht nur Geschichtswerke wie Firdausis Schahname beinhalteten die MazdakitInnenaufstände seit Jahrhunderten, sondern die
MazdakitInnen wurden auch immer wieder zum
Synonym für dissidente gesellschaftliche Gruppen und
Häretiker. Je nach ideologischer Ausrichtung der
AutorInnen wird Mazdak zum subversiven Element,
zum Staatsfeind, zum Revolutionär, zum Sektenführer …
In der Spätphase der Pahlavi-Dynastie verwiesen Teile
der iranischen Linken auf Mazdak als subversives
Gegenprogramm. Während Shah Reza Pahlavi 1971 sich
selbst und 2500 Jahre iranisches Kaiserreich in Persepolis
feiern ließ, sammelten sich bereits die verarmten und
unterdrückten Massen, um acht Jahre später in einer
erfolgreichen Revolution der Monarchie ein Ende zu
bereiten. Dass diese dabei schließlich an die Macht
gekommenen neuen Herren keine Demokratie
errichteten, sondern mit der „Islamischen Republik“
wiederum ein System, in dem politische und religiöse
Herrschaft zusammenfielen, sollte vor dem Hintergrund
der iranischen Geschichte eine Warnung sein.
„
Thomas Schmidinger hat in Wien Politikwissenschaft und
Ethnologie studiert und ist derzeit Lehrbeauftragter am
Institut für Politikwissenschaft, Flüchtlingsbetreuer in
Niederösterreich, Obmann der in Kurdistan tätigen Hilfsorganisation LEEZA (Liga für Emanzi-patorische Entwicklungszusammenarbeit, vormals WADI Österreich) und
Vorstandsmitglied des Österreichisch-Irakischen Freundschaftsvereins IRAQUNA.
http://homepage.univie.ac.at/thomas.schmidinger/
Literatur
Encyclopedia of Islam, New Edition IV MAHK-MID. Leiden, 1991.
Klima, Otakar. Beiträge zur Geschichte des Mazdakismus. Prag, 1977.
Nöldeke, Theodor. Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der
Sassaniden. Aus der Arabischen Chronik des Tabari, übersetzt und
mit ausführlichen Erläuterungen und Ergänzungen versehen von
Th. Nöldeke. Leyden, 1879.
Wiesehöfer, Josef. Das antike Persien. Zürich, 1993.
Irakische Frauen als Betroffene von Gewalt:
Staat, Milizen und Familienangehörige als Täter
von INES GARNITSCHNIG
Die alltägliche Gewalt
Frauenleben im Irak
Viereinhalb Jahre sind vergangen,
seit das Ba’th-Regime im Irak gestürzt
wurde. Die Aufbruchstimmung, die
danach zu spüren war, ist angesichts
des sich ausweitenden Terrors vielfach
wieder Resignation und Angst
gewichen. Über geographische,
soziale, historische, ethnische und
religiöse Unterschiede hinweg haben
Frauen im Irak heute wie damals vor
allem eines gemeinsam: Sie leben
doppelt, dreifach, mehrfach unter
Gewaltverhältnissen. Nicht nur als
Menschen, die dem täglichen Terror
der Milizen ausgesetzt sind, nicht nur
als Angehörige einer bestimmten
sozialen Gruppe oder als Flüchtlinge,
sondern auch als Leidtragende von
gezielter Gewalt gegen Frauen – heute
nicht mehr durch den Staat, sondern
durch Milizen, Terrororganisationen
und Banden und nach wie vor vielfach
durch die eigene Familie.
it der Machtergreifung der Ba’th-Partei 1968 erlitt die
irakische Frauenpolitik einen herben Rückschlag. Kurze
Zeit danach wurden viele Frauenverbände verboten und
die ba’thistische General Federation of Iraqi Women
(GFIW) gegründet. Aber erst in den 1980ern, mit dem Einsetzen des
Iran-Irak-Kriegs, wandelte sich die Lage der Frauen drastisch. Bildungsprogramme nahmen ab, die Repression hingegen zu. Im Golfkrieg festigte die Ba’th-Partei ab 1990 ihre Machtposition durch Allianzen mit religiösen Führern und Clanchefs und nahm islamische Symbole und Denkweisen in ihre Politik auf. Während der gesamten Herrschaft der Ba’th-Partei waren Frauen als politische AktivistInnen, als
Angehörige von politischen AktivistInnen, als Mitglieder bestimmter
ethnischer Gruppen und als (angebliche) Prostituierte physischer wie
sexualisierter Gewalt durch Angehörige des Regimes ausgesetzt. Das
Ausmaß dieser sexualisierten Gewalt gegen Frauen war enorm. Der
irakische Geheimdienst hatte eigens Männer für die Vergewaltigung
von gefangenen Frauen angestellt. In jedem größeren Gefängnis befand sich neben den Folterkammern auch ein speziell ausgestatteter
Raum für Vergewaltigungen. Ebensowar es staatliche Politik der Ba’thisten, sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Mittel einzusetzen, um jemandem „das Auge zu brechen“, Familienangehörige öffentlich zu demütigen. Ein weiteres Mittel war die Erpressung von Frauen durch
heimliches Filmen, etwa in der Umkleidekabine eines noblen Bagdader
Modegeschäfts.
Gegenüber kurdischen Frauen griff die Ba’th-Partei zu besonderen
Mitteln der Repression. So wurden etwa zahlreiche Kurdinnen,
besonders Überlebende der Anfal-Kampagne, zur Zwangsprostitution
in arabische Nachbarstaaten verkauft. Ein weiteres brutales Kapitel
staatlicher Gewalt gegen Frauen im Irak ist die Verfolgung von Frauen,
denen Prostitution vorgeworfen wurde. Zwischen 1991 und 2002
wurden 1500 solcher Frauen von den Feddayin, Udai Saddam
Husseins Elitetruppe, ermordet. Viele von ihnen wurden öffentlich
enthauptet, die Köpfe wurden an den Häusern der Familien
aufgepfählt. Auch rechtlich waren Frauen unter dem Ba’th-Regime
benachteiligt. Die Spitze des Eisbergs bildete ein in den 1980ern
erlassenes Gesetz, das die „Bestrafung“ von Frauen durch männliche
Angehörige bis zum Mord legalisierte. Frauen hatten auch eine
wesentlich schwächere Position vor Gericht als Männer.
Heute ist die direkte Gewaltausübung von Seiten des Staates
weitgehend eingedämmt. In rechtlicher Hinsicht und als Teilnehmende am öffentlichen Leben sind Frauen aber nach wie vor benachteiligt. Der Beschluss 137, ein Antrag des Regierungsrats vom Jänner
2004, das Personenstandsrecht durch die islamische Rechtssprechung
der Sharia zu ersetzen, wurde durch das Engagement von zahlreichen
Einzelpersonen und über 80 Organisationen, die an den Demonstrationen teilnahmen, zu Fall gebracht (Mahmoud, Houzan 2004: 330f).
M
Region – Irak
47
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Gewalt durch islamistische Milizen,
Terrororganisationen und Banden
Bereits ab Ende der 1990er etablierten sich islamistische
Gruppen in einigen Städten im Süd- und Nordirak. Seit
dem Ende der Ba’th-Herrschaft stieg die Anzahl
islamistischer Gruppen drastisch. Frauen, die sich nicht
entsprechend der islamischen Kleiderordnung anziehen,
werden bedroht, mit Säure überschüttet oder anderweitig
tätlich angegriffen. Unter dem Ba’th-Regime war es
lebensgefährlich, sich politisch zu engagieren. Heute
treten Menschen für ihre Anliegen ein, unzählige
Zeitschriften werden publiziert und Demon-strationen
abgehalten. Aber immer noch sind besonders politisch
aktive Frauen in ständiger Lebensgefahr. Zahlreiche
Frauenrechtsaktivistinnen und Politikerinnen wurden mit
dem Tod bedroht oder ermordet, viele haben inzwischen
das Land verlassen.
Während früher viele Eltern Angst hatten, ihren Töchtern
den Besuch einer Universität zu erlauben, weil Saddam
Husseins Söhne Frauen von der Universität
verschleppten, vergewaltigten und oftmals ermordeten,
ist diese Angst nun jener vor Anschlägen, Überfällen,
Entführungen,
Vergewaltigungen
und
Morden
islamistischer oder mafiaähnlicher Gruppen gewichen.
Ein Beispiel von vielen: Im November 2006 wurden im
Bagdader Leichenschauhaus innerhalb von zehn Tagen
150 Frauenleichen eingeliefert, nach denen niemand
fragte. Viele davon waren geköpft, verstümmelt oder
zeigten Anzeichen extremer Folter (Organization of
Women’s Freedom in Iraq, 2007). Gewalt gegen Frauen
und Mädchen, vor allem Entführungen und Vergewaltigungen, werden als Mittel eingesetzt, um Familien
unter Druck zu setzen und die Gesellschaft als ganze zu
demoralisieren und zu traumatisieren. Besonders
Angehörige von Mitgliedern internationaler Organisationen, Menschenrechtsorganisationen sowie Intelektuelle
sind gefährdet. Zudem ist der Frauenhandel weit verbreitet. Seit 2003 sind 4.000 Frauen und Mädchen verschwunden, viele davon wurden vermutlich verkauft (ebd.).
Gewalt innerhalb der Verwandtschaft
Die weltweit am stärksten verbreitete Form von Gewalt
gegen Frauen ist jene, die im häuslichen Bereich von
Familie und Verwandtschaft ausgeübt wird. Diese Formen
von Gewalt werden bisher in weiten Teilen der
Gesellschaft wenig problematisiert. Entsprechend sind
hier die Dunkelziffern wohl meist erheblich höher als die
berichteten Zahlen, ein Anstieg derselben ist vor diesem
Hintergrund oft eher ein Zeichen für gestiegenes
Problembewusstsein bzw. größeres Vertrauen in staatliche
Institutionen. So ergab eine 2003 im Südirak
durchgeführte Umfrage, dass sowohl die Hälfte der
Frauen als auch der Männer es als Recht eines Mannes
48
Region – Irak
erachtete, seine Frau zu schlagen, wenn sie ihm nicht
gehorcht. Diese Auffassung wird bis heute von irakischen
Gesetzen gedeckt. Darüber hinaus gilt es als eine
Verletzung der Familienehre, sich öffentlich als Betroffene
von häuslicher Gewalt zu positionieren. Mit häuslicher
Gewalt eng verbunden sind Gewalttaten, die oft als
„traditionsbedingte Gewalt“ bezeichnet werden. Hierzu
zählen so genannte Ehrenmorde und die Verstümmelung
von Frauen. Ehemänner, Brüder, Väter und Söhne
handeln teilweise nach Beschlüssen der Familien oder
auch von Clanältesten, die meinen, eine Frau oder ein
Mädchen habe durch ein (tatsächliches oder ihr
zugeschriebenes) Verhalten die Ehre der Familie verletzt,
die durch das Verbrechen an der Frau wiederhergestellt
werden müsse. Die Organisation Kurdish Women Against
Honour Killings (KWAHK) berichtet von hunderten
Frauen, die zwischen 1991 und 1998 aus Gründen der
„Ehre“ – wegen (angeblicher) außerehelicher sexueller
Beziehungen, Verweigerung einer Zwangsheirat oder der
(geplanten) Heirat gegen den Willen der Familie –
ermordet wurden. Laut dem elften Bericht der United
Nations Assistance Mission in Iraq (UNAMI) über die
Menschenrechtssituation im Irak sind Morde aus
Gründen der „Ehre“ derzeit wieder im Steigen begriffen.
Allein die offiziellen Statistiken der kurdischen
Regionalregierung hierzu sprechen von 137 solchen
Morden im Zeitraum April bis Juni 2007 (UNAMI 2007).
Erst 2002 wurde im kurdischen Nordirak die Basis für eine
Verurteilung der Täter geschaffen: Eine Gesetzesnovelle
verhindert, dass „ehrenwerte Motive“ als mildernder
Umstand im Zusammenhang mit Verbrechen aufgrund
der „Ehre“ akzeptiert werden.
Ebenso gestiegen ist in den letzten Jahren die berichtete
Zahl der Vergewaltigungen. Die betroffenen Frauen sind
auch nach der Vergewaltigung extrem gefährdet, da sie als
„minderwertig“, als entehrt gelten und viele von ihnen
getötet oder mit ihren Vergewaltigern „versöhnt“ werden.
So
wurden
laut
Berichten
des
irakischen
Frauenministeriums in den ersten vier Monaten des
Kriegs mehr als 400 Entführungen und Vergewaltigungen
von Frauen gemeldet – mehr als die Hälfte davon wurde
danach von Familienangehörigen ermordet. Zahlreiche
Irakerinnen
nehmen
sich
aufgrund
von
Familienstreitigkeiten, Gewalt und Zwangsehen das
Leben. Erst in den letzten Jahren ist zudem durch die
Arbeit von WADI allgemein bekannt geworden, dass in
einigen Gebieten im Nordirak die Praxis der
Genitalverstümmelung (FGM) weit verbreitet ist.
Die Situation der Flüchtlinge
Vor allem wegen des sich ausweitenden Terrors, aber auch
wegen der damit zusammenhängenden schwindenden
Lebensgrundlage sind inzwischen über 2,2 Millionen
Menschen aus dem Irak geflüchtet. Etwa 1,2 Millionen
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
IrakerInnen versuchten sich seit 2003 dem Terror durch
Binnenflucht zu entziehen, die meisten davon mussten
ihre Wohnorte nach dem Bombenanschlag auf die
Moschee in Samarra im Februar 2006 verlassen. Allein die
Hälfte der Flüchtlinge außerhalb des Irak befindet sich
derzeit in Syrien. Dort sowie in Jordanien arbeiten
zahlreiche junge Mädchen aus Mangel an legalen
Beschäftigungsmöglichkeiten für irakische Flüchtlinge als
Sexarbeiterinnen. Viele Familien sehen darin ihre einzige
Chance, das Notwendigste zum Überleben zu sichern.
Unter den extrem schlechten Lebensbedingungen leiden
auch hier die Frauen doppelt: Die häusliche Gewalt nimmt
immer größere Ausmaße an.
Kein Ende in Sicht …
Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes änderten sich die
Lebenssituationen von Frauen in vielerlei Hinsicht. Ebenso haben sich die Formen von Gewalt gewandelt. Zahlreiche Frauen nahmen ihre Chance wahr, selbstbestimmter zu leben und sich am sozialen und politischen
Geschehen zu beteiligen. Dann nahmen die Anschläge
zu, der Druck auf Frauen wuchs. Sicher fühlt sich
niemand mehr. Nun, viereinhalb Jahre nach dem Sturz
Saddam Husseins, ist die Aufbruchstimmung, die unter
irakischen Frauen zu spüren war, weitgehend verschwunden. Gegen das extrem hohe und stetig steigende
Ausmaß an Gewalt haben sie kaum Chancen. Solange
Frauen und Mädchen nicht mehr Wert als Personen
zugestanden wird, werden sie immer gefährdet bzw.
Gewalt ausgesetzt sein – sei es durch FGM, islamistischen Terror, Entführungen durch Milizen, Vergewaltigungen oder sogenannte „Ehrenmorde“.
sorgen und ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu
gestalten. Es bleibt zu hoffen und vor allem daran zu
arbeiten, dass diese Möglichkeiten nicht weiter
schwinden, sondern im Gegenteil: wachsen.
„
Ines Garnitschnig ist Psychologin, in feministischen und
antirassistischen Zusammenhängen aktiv und Mitglied der
Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit
LEEZA (vormals WADI). Siehe: www.wadinet.at
Literatur
Al-Khayyat, Sana. Ehre und Schande. Frauen im Irak. München:
Kunstmann. 1991.
Houzan, Mahmoud. Partizipation durch Widerstand. Der Beschluß 137 und
die neue Frauenbewegung für Gleichberechtigung und Frieden. In:
Kreutzer/Schmidinger 2004: 330 f
Kreutzer, Mary & Schmidinger, Thomas (Hg.). Irak. Von der Republik der
Angst zur bürgerlichen Demokratie? Freiburg: ça ira. 2004
Makiya, Kanan. Republic of Fear. The Politics of Modern Iraq. Berkeley,
Los Angeles: University of California Press. 1989/1998
Internet
Iraq Decades of suffering, Now women deserve better (22.2.2005):
http://web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE140012005?open&of=ENG-IRQ
Haukari e.V. – Arbeitsgemeinschaft für internationale Zusammenarbeit:
www.haukari.de
Organization of Women’s Freedom in Iraq: http://www.equalityiniraq.com
Bericht der UNAMI – United Nations Assistance Mission in Iraq – vom 11.
10. 2007: www.uniraq.org
Women’s Commission for Refugee Women and Children:
www.womenscommission.org
Ein Hoffnungsschimmer …?
Das Leben der meisten Frauen im Irak ist derzeit äußerst
schwierig. Aber immerhin gibt es einige wenige Möglichkeiten für Frauen, Gewaltverhältnissen zu entkommen.
Erst 1998 öffnete in Suleymania das erste Frauenschutzhaus, weitere Häuser im kurdischen Autonomiegebiet
folgten. Im Jahr 2004 eröffneten schließlich Frauenschutzhäuser in Bagdad und Kirkuk. Nach wie vor gut
besucht sind auch die Frauenzentren, etwa in den
Regionen Germiyan und Hawraman, die als Kommunikationsund Ausbildungszentren fungieren. Das Radio Dengî
Nwê, das sich besonders für Frauen und Jugendliche
einsetzt, wurde vor kurzem als beliebteste Radiostation
der Region ausgezeichnet. Frauen leiden im Irak heute
sehr stark unter dem Terror und dessen Folgen. Und sie
leiden ebenso unter sozialen Strukturen, die sie Gewalt
aussetzen und ihnen Selbstbestimmung versagen.
Dennoch haben sie inzwischen mehr Möglichkeiten und
Mittel als unter dem Ba’th-Regime, an politischen
Prozessen teilzuhaben, ihre Meinung zu äußern, sich
gegen Gewalt zu wehren, für die Bestrafung der Täter zu
Region – Irak
49
Ein EU-Projekt verbindet österreichische Institute mit palästinensischen Universitäten
von GUDRUN KRONER
CASOP – Ein EU-Projekt
Geförderter Erfahrungs- und Wissensaustausch
ASOP (Capacity Building in Social Sciences for
Palestine) ist ein von der EU gefördertes TEMPUS Projekt und reiht sich in den großen Rahmen der Joint
European Projects (JEP). Das Ziel von JEP Projekten ist eine
Intensivierung der Kooperationen und der Netzwerke im
Hochschulwesen zwischen EU-Mitgliedsländern und den
verschiedenen Partnerländern. Diese Projekte unterstützen
unter anderem die Entwicklung und Überarbeitung von
Lehrplänen, Reformen der Hochschulstrukturen und einrichtungen sowie ihrer Verwaltung, die Schaffung
berufsbezogener Ausbildungslehrgänge und den Beitrag
der Hochschulbildung und -ausbildung zur Entwicklung
des Staatsbürgertums und zur Stärkung der Demokratie.
C
Struktur
Der Antragsteller und „grant holder“ von CASOP ist die
Forschungsstelle Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die Partnerinstitutionen sind die Universität Aix-en-Provence bzw.
IREMAM (Institut de Recherche et d'Etudes Méditerranéennes sur le Monde Arabe) und die Birzeit Universität
in Palästina. Eine Besonderheit dieses Projektes ergibt sich
daraus, dass die offizielle Koordination vom Partnerland
übernommen wurde. Unter Berücksichtigung der oben
genannten Ziele hat CASOP vor die Curriculumsentwicklung in Palästina aufzubauen und eine Angleichung
an den Bologna Prozess zu erreichen. Das Projekt ist aus
mehreren Bausteinen zusammengesetzt: Zwei Kurse mit
methodischem und methodologischem Inhalt werden an
der Universität Birzeit abgehalten, wobei die Vortragenden vor allem aus Frankreich und Österreich kommen.
Gleichzeitig entsteht eine Projekt-Homepage auf der man
Literatur, Videoaufnahmen der Seminare und diverse
Vorträge finden kann. Ein Ziel ist die Etablierung eines
e-learning Programms, da die Studierenden oft durch
Straßensperren und Checkpoints daran gehindert
werden, zur Universität zu gelangen. Auf der Website
wird es auch ein Forum geben, in dem sich die Studierenden untereinander, aber auch Interessierte von außerhalb, austauschen können. Des weiteren werden fünf
palästinensische Studierende für ein Semester nach Europa (Frankreich oder Österreich) eingeladen. In dieser Zeit
sollen sie die Möglichkeit haben, Kurse zu belegen, die für
den Abschluss ihres Studiums in Birzeit hilfreich sind.
Zudem wird von Seiten der ÖOG (Österreichische OrientGesellschaft Hammer-Purgstall) versucht, Geld für Stipendien zu akquirieren, damit mindestens zwei dieser
Studierenden ein Doktoratsstudium in Österreich absolvieren können. Um den Menschen dieses Sprachraum-
50
Region – Palästina
es methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften zugänglich zu machen, soll zu diesem Thema ein Buch
auf Englisch und Arabisch herausgegeben werden. Besonders die arabische Version ist wichtig, da es für viele
sozialwissenschaftliche Fachtermini keine adäquaten Übersetzungen gibt. Hauptaufgabe des Buches ist es also, Termini für diese Begriffe zu finden oder sogar zu kreieren.
Geschichte und Politik
Diesem Projekt ging bereits ein erfolgreich abgeschlossenes
TEMPUS MEDA voran, bei dem ebenfalls die ÖAW
Antragsteller war. Während dieses Projektes gab es bereits
einen Methodenkurs für DiplomandInnen der Birzeit
Universität, sowie zwei Studien über die Situation und das
Angebot an Sozialwissenschaften an den Universitäten in
Gaza und dem Westjordanland. JEP Projekte sind auf drei
Jahre beschränkt, im Fall von CASOP (das eine Laufzeit
von zwei Jahren hat) wird jedoch versucht, langfristige
Ziele zu erreichen. Dazu gehört das Vorhaben ein PhDProgramm in Sozialwissenschaften in Palästina aufzubauen, da palästinensische Studierende bisher nur im Ausland die Möglichkeit hatten, den Doktortitel zu erlangen.
Aufgrund der politischen Situation wird dies jedoch immer
schwieriger, gerade auch für Frauen die zusätzlich durch
bestimmte Gesellschaftsnormen Probleme haben einen
Auslandsaufenthalt durchzusetzen. Nur in wenigen Fällen
ist es jungen Frauen möglich, alleine, d.h. ohne ihre
Familien, im Ausland zu leben, deshalb wäre ein PhD-Programm in Palästina ein zusätzlicher Beitrag zur Fauenförderung. Für die Studierenden des Instituts der KSA
bedeutet das Programm die Möglichkeit eines Erfahrungsund Wissensaustausches mit palästinensischen KollegInnen im akademischen Rahmen, die unter besonderen
Umständen sozialwissenschaftlich arbeiten. Zusätzlich sollen aber auch die Beziehungen zwischen den Instituten,
Universitäten und Regionen verstärkt werden.
„
Gudrun Kroner ist als CASOP-Koordinatorin (für Österreich)
an der FS Sozanth, ÖAW, teilbeschäftigt.
http://ec.europa.eu/education/programmes/tempus/index_en.html
Die Lage in Gaza verschlechtert sich zunehmend, doch die BewohnerInnen und ihre
Probleme werden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen
von GUDRUN KRONER
Menschen in Gaza
Eingeschränkt durch Okkupation und Gesellschaft
Foto: Gudrun Kroner
“A lot of families prevent their
daughters in this Intifada to spend
hours at the checkpoints and to come
back to the house at midnight. Some
are even forced to stay at home. And
some of them, because of financial
problems, they prefer their sons go
to study and the girls have to stay
at home.”
Die BewohnerInnen Gazas (besonders
die Frauen) werden eingeschränkt:
Sowohl geographisch, politisch als
auch gesellschaftlich. So kam es als
Reaktion auf die Besetzung u.a. zu
einer Islamisierung der Gesellschaft,
wodurch der ohnehin schon geringe
Handlungsspielraum von Frauen
weiter verkleinert wurde.
aza zählt mit ca. 1,3 Millionen Menschen auf nur 365 km²
zu den am dichtesten besiedelten Gebieten weltweit. Über
eine Million der BewohnerInnen Gazas sind bei der
UNRWA (United Nations Relief and Work Agency for
Palestinian Refugees in the Near East) als Flüchtlinge registriert.
Während des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 kamen 200.000
Flüchtlinge aus den umliegenden Ortschaften in das damals 80.000
EinwohnerInnen zählende Gebiet (Sayigh 1979). Die Unterbringung
als auch die wirtschaftliche Versorgung für „the poorest, least skilled,
and least priviliged of all groups forced to flee Palestine” stellten
große Probleme dar (Graham-Brown 1984: 227). Die Anzahl dieser
stieg durch den Sechstagekrieg 1967 und den Golfkrieg 1990 an, aber
vor allem durch die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus.
G
Gaza wurde 1948 zunächst von Ägypten, nach dem Sechstagekrieg
von Israel okkupiert. Die erste Intifada, der Aufstand gegen die
israelische Besatzung, brach 1987 im größten Flüchtlingscamp Gazas
aus. Trotz Intifada und langen Perioden der Ausgangssperren
arbeiteten damals viele PalästinenserInnen als (schlecht bezahlte)
TagelöhnerInnen in Israel. Seit dem Beginn der zweiten Intifada
(2000) und der dadurch bedingten immer strikteren Abriegelung
Gazas kommt es zu einem permanenten Anstieg der wirtschaftlichen
Probleme und der daraus resultierenden sozialen Schwierigkeiten.
Die Arbeitslosigkeit stieg innerhalb weniger Jahre auf 65%, die
Armutsrate sogar auf über 80% (Worldbank 2002). Aufgrund der
katastrophalen wirtschaftlichen Zustände sind immer mehr
Menschen auf die Nothilfe der UNRWA, aber auch auf die
Versorgung durch die Hamas angewiesen.
Gaza - von der Welt vergessen?
Schon 1997 bemerkte Tuastad, dass Gaza in der Wissenschaft
vernachlässigt wird: Lediglich sieben von 107 Untersuchungen in
Palästina befassten sich damals mit Flüchtlingen in Gaza (Tuastad
1997). Seither hat sich diese Situation aufgrund der schwierigen
Sicherheitslage und durch die Abschottungspolitik Israels (seit
kurzem dürfen nur noch DiplomatInnen, JournalistInnen und
MitarbeiterInnen von namhaften (I)NGOs nach Gaza einreisen) noch
verschärft.
Bei politischen Verhandlungen oder internationalen Diskussionen
über Palästina wird vor allem das Westjordanland angesprochen.
Gaza wurde aufgrund seiner Hamas-Regierung zur „terra non grata“.
Bei der Unterstützung wird Gaza zwar nicht vergessen, aber
Region – Gaza
51
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
„Gaza is like a big prison“
Seit Monaten sind die Grenzübergänge immer wieder
geschlossen. Am bekanntesten ist Rafah, der Grenzübergang zu Ägypten, er bietet für die BewohnerInnen die
einzige Möglichkeit, ins Ausland zu gelangen. Die meisten Menschen, die versuchen über Rafah auszureisen,
suchen medizinische Behandlung in Ägypten. In letzter
Zeit saßen immer wieder tausende Menschen für Wochen, manchmal sogar für Monate, auf beiden Seiten der
Grenze fest. Immer häufiger werden auch die Importwege für Waren blockiert. Dies hat desaströse Auswirkungen auf die ohnehin sehr schlechte wirtschaftliche
Lage des kleinen Gebietes, da alle Rohstoffe und viele
Lebensmittel eingeführt werden müssen. Dieser Umstand erschwert die Planung für Geschäftsleute wesentlich. Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe,
fühlen sich in Gaza wie in einem Gefängnis. Frauen sind
hier doppelt betroffen: Einerseits durch die Okkupation,
andererseits durch die Gesellschaft. In der (arabischen)
Gesellschaft werden Frauen vor allem über Männer
definiert. Verheiratete Frauen sind kaum unter ihrem
eigenen Namen bekannt, sondern als Mutter ihres erstgeborenen Sohns (z.B. Umm Naseem, Umm Mohamed).
Ein weiteres Beispiel für die Dominanz der Männer ergab
sich aus einem Gespräch mit zwei Schwestern: Während
Umm Naseem meinte, sie kämen aus dem Dorf Masmia
Kbira (dem Ort von dem ihre Eltern flohen, beide Frauen
wurden bereits in Gaza geboren), widersprach Umm
Mohamed: sie stamme aus Bergera, dem Dorf ihres
Mannes.
Diese Männerdominanz zeigt sich auch in der Politik der
Hilfsorganisationen. Nur Kinder von Flüchtlingsvätern,
nicht aber jene von Flüchtlingsmüttern haben ein Anrecht auf den Flüchtlingsstatus (Gilen 1994). Ebenso wird
die palästinensische Staatsbürgerschaft über den Vater
definiert (Abdo 1999). Es gab jedoch auch eine
Veränderung in der Rolle der Frauen, dies wurde
besonders während der ersten Intifada behauptet. Zu
jener Zeit wurde – vor allem wegen der Gründung von
Frauenkomitees – von einer „Modernisierung“ der Gesellschaft gesprochen. Doch bereits während der Intifada
wurde das Konzept von „Ehre und Schande“ von
israelischer Seite für ihre Zwecke verwendet: Samira Haj
spricht über die alarmierenden Zahlen von „gefallenen“
52
Region – Gaza
Frauen, die zu Kollaborateurinnen wurden. Vorangegangen war zumeist ein sexueller Angriff von israelischen Soldaten oder Kollaborateuren, anschließend
wurde den Frauen gedroht, die sexuellen Übergriffe
öffenlich zu machen. So wurden sie zur Zusammenarbeit
mit den Israelis gezwungen, um etwa über politische
Aktivitäten der PalästinenserInnen zu berichten (Haj
1992). Sexuelle Belästigungen
durch Soldaten führten auch
zu einer Senkung des Heiratsalters, ein gegenläufiger Trend
zu anderen arabischen Ländern. Umm Hussein verheiratete ihre beiden Töchter im
Alter von 15 Jahren. Sie
„rechtfertigte“ dies folgendermaßen: „We had to marry
them off because we did not feel security and safety for our
girls, […] because the soldiers sometimes make troubles.“
Foto: Gudrun Kroner
abgedrängt: z.B. bekommt die Region nur 19%, das
Westjordanland hingegen 81% des Gesamtbudgets für
NGO-Projekte, obwohl Gaza 35 % der gesamten
palästinensischen Bevölkerung beherbergt und eine
höhere Armutsrate und Arbeitslosigkeit aufweist (Hanafi
/Tabari 2005: 343). Auch in Berichten über das Tagesgeschehen wird die Region – mit Ausnahme von Berichten über Bombenanschläge – vernachlässigt.
Nach der ersten Intifada kam es zu einer weiteren
Einschränkung im Leben der Frauen. Es wurde von
ihnen erwartet, ihren „ursprünglichen“ Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen. Trotz dieser neuen/alten
Einschränkungen mussten immer mehr Frauen neben
ihren Haushaltsverpflichtungen arbeiten, damit ihre Familien überleben konnten. Heute ist das Straßenbild Gazas von verschleierten Frauen geprägt, da ab der ersten
Intifada Männer Frauen in den Straßen dazu aufforderten, sich zu verschleiern (Hammami 1990) und
lange Gewänder zu tragen. Es wurde berichtet, dass
Männer Frauen, die sich nicht an die neuen Kleidungsvorschriften hielten, Säure auf die Beine sprühten.
Während meiner Forschung konnte ich zwar keine Frau
finden, der dies tatsächlich passierte, aber auch wenn
dies – wie öfters behauptet – nur Gerüchte waren, der
Effekt war derselbe: Frauen änderten ihr Verhalten und
ihre Kleidung nicht aufgrund ihrer Überzeugung,
sondern aus Angst.
Dennoch schufen sich viele Frauen einen – zumindest
informellen – Freiraum durch die Abwesenheit der unter
der Woche in Israel arbeitenden Männer. Wochentags
trafen sich Frauen um z.B. Stickereiarbeiten gemeinsam
zu verrichten. Seitdem ihre Männer arbeitslos sind und
oft frustriert zu Hause sitzen, fühlen sich manche Frauen
sehr eingeschränkt, so Umm Ahmed: „Before I had time
to do my work and sit with Umm Naseem and stitch or
also go to Gaza to talk with people from the women
organisations. Now he is always home, asks me where I
go, who I meet. Sometimes he is depressed because there
is nothing to do and he cannot bring us money,
sometimes he is also aggressive. I miss the old time, but
we have to deal with this situation now“. Diese Zitat
spricht ein weiteres Problem an: die häusliche Gewalt. In
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
den letzten Jahren stieg die Anzahl von gewaltsamen
Übergriffen stark, die Direktorin eines „Women's
Empowerment Project“ meint, dass bei einer
Untersuchung 65% der befragten Frauen darunter litten,
die Dunkelziffer jedoch viel höher sei. Einer der Gründe
für den Anstieg sei die ständige Anwesenheit und die
Frustration der Männer. Zusätzlich mehrten sich Fälle
von Blutrache und Ehrenmorden.
Die Verringerung der Bewegungsfreiheit im Alltag wird
jedoch nicht nur von der Familie hervorgerufen, sondern
v.a. durch israelische Checkpoints. Obwohl Männer und
Frauen darunter leiden sind Frauen doppelt betroffen,
denn wie Bornstein bemerkt: „For women, the border
was a place not of physical but of moral danger. In this
case, it was the judgement of other Palestinians that kept
women from crossing the border.“ (Bornstein 2001: 80).
Eine ehemalige Studentin bekräftigte diese Aussage:
„Now I cannot continue with the university, before I
came 3 days in one week to Gaza city to attend my
lectures. But now because the checkpoint is closed I
cannot reach the university […]. I cannot afford to rent a
room in Gaza City, also my parents would not allow me
to live there alone without relatives.“
In den letzten Monaten hat sich die Lebenssituation für
die BewohnerInnen Gazas weiter verschlechtert. Israel
hat Gaza offiziell zu einer „enemy/hostile entity“ erklärt,
es kontrolliert die Grenzen, den Luftraum, die Küstengebiete, Wasserressourcen und liefert 60 % des Stroms,
der nun nach Gutdünken der israelischen Regierung abund angestellt wird. Eine Reaktion auf diese Lebensbedingungen ist die Zuwendung zur Hamas. Viele Frauen
wurden in deren Hilfseinrichtungen aktiv, um ihre Familie finanziell zu unterstützen, aber auch junge Frauen,
die keine Arbeit finden konnten, wurden in Kleinprojekten gefördert. Der Sieg der Hamas bei den Wahlen hat
verschiedene Auswirkungen auf Frauen: Der soziale
Druck auf „angemessenes“ Verhalten und Kleidung
steigt, andererseits wurden viele Frauen in der HamasBewegung politisch aktiv. Sie agieren nun nicht mehr nur
im Haus oder als Unterstützung für ihre Männer, wie
man das von einer traditionellen, religiösen Bewegung
erwarten könnte, sondern auch im öffentlichen Leben.
Die erste gewählte Bürgermeisterin Palästinas kommt
aus den Reihen der Hamas. In den Richtlinien der Hamas
(www.hamasonline.org) wird behauptet, dass Frauen im
Befreiungskampf keine geringere Bedeutung als Männer
haben, und dass sie eine große Rolle durch die Erziehung
der neuen Generationen innehaben. Auch steht hier, dass
es wichtig ist, den Mädchen und Frauen eine Ausbildung
in Schulen und Universitäten zu ermöglichen. Dennoch
wird gleichzeitig ihre Position eingeschränkt, indem
Frauen nur als Mütter und Schwestern von Kämpfern
beschrieben werden.
Die Situation der BewohnerInnen Gazas verschlechtert
sich zusehends. Eine Besserung der Lage ist zurzeit nicht
in Sicht.
„
Gudrun Kroner studierte KSA und schloss 2006 ihre
Dissertation mit dem Thema „Jenseits von Ortsgebundenheit:
Eine komparatistische Analyse von weiblichen Flüchtlingsschicksalen in der arabisch-islamischen Welt“ ab. Derzeit ist
sie an der FS Sozanth, ÖAW durch ein Drittmittelprojekt
teilbeschäftigt. Sie ist affiliated Researcher am FMRS (Forced
Migration and Refugee Studies) an der American University
in Cairo. In den letzten Jahren führte sie zahlreiche Feldforschungen in Ägypten (zwei Jahre), Gaza (acht Monate) und
Jordanien (drei Monate) durch. Schwerpunkte: Flüchtlingsforschung, Naher Osten, NO-Afrika, Feldforschungsmethoden, Genderstudies.
Literatur
Abdo, Nahla. Gender and Politics Under the Palestinian Authority. In:
Journal of Palestine Studies Vol. 18. No. 2. Berkley, 1999. S. 38-51.
Bornstein, Avram S. Crossing the Green Line between the West Bank
and Israel. Philadelphia, 2002.
Gilen, Signe et al. FAFO Report 177: Finding Ways – Palestinian
Coping Strategies in Changing Environments. Oslo, 1994.
Graham-Brown, Sarah. Impact on the Social Structure of Palestinian
Society. In: Aruri, Naseer (Hg.): Occupation: Israel over Palestine.
London, 1984. S. 223- 254.
Hammami, Rema. Women, the Hijab and the Intifada. In: Middle
Eastern Report No. 164/165. 1990. S.24-28.
Hanafi, Sari/Tabari Linda. The Emergence of a Palestinian Globalized
Elite: Donors, International Organizations and Local NGOs.
Jerusalem, 2005.
Sayigh, Rosemary. Palestinians: From Peasants to Revolutionaries,
London, 1979.
Tuastad, Dag H. The Organisation of Camp Life: The Palestinian
Refugee Camp of Bureij, Gaza. In: Hovdenak, Are; Peterson, Jon et
al.: Constructing Order: Palestinian Adaptations to Refugee Life.
Fafo-Report 236, Oslo, 1997. S. 103-156.
Empfehlungen
Palestinian Centre for Human Rights (PCHR): www.pchrgaza.org
Haaretz daily newspaper Israel: http://www.haaretz.com
Region – Gaza
53
Ein historischer Abriss zur Entwicklung des politischen Islams in der Türkei als
Gegenideologie zum Kemalismus
von SAYA AHMAD
Nach dem Khalifat
ährend des türkischen Befreiungskriegs (1919–1922)
spielte der Islam eine wesentliche Rolle als
Mobilisierungsmittel. Nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 änderte sich die Situation jedoch
für viele gläubige Muslime radikal. Mustafa Kemal
kehrte der Religion den Rücken und führte eine
laizistisch-nationalistische Ideologie ein, die durch die
Einparteienherrschaft vertreten wurde und deren Religionspolitik jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens
tangierte. Zahlreiche Reformen wurden durchgesetzt,
die zum Teil auf eine drastische Art und Weise religiöse
Elemente der Gesellschaft entfernen sollten. Religion
musste sich auf den privaten Raum beschränken, was
einen radikalen Bruch mit den praktizierten Traditionen
des Osmanischen Reiches bedeutete. Das Säkularisierungsprogramm war jedoch nicht imstande, alle Teile der
Bevölkerung zu integrieren, der politische Islam
kristallisierte sich als Gegenideologie zum Kemalismus
heraus.
W
Die Jahre danach (1946–1980)
1946 wurde das Mehrparteiensystem eingeführt. Das
Jahr wird als großer Erfolg für den politischen Islam in
der türkischen Republik gefeiert, denn die Abschaffung
der Einparteienherrschaft ebnete den Weg für islamische
Kräfte auf die politische Bühne. Tatsache ist, dass die Religion in der Türkei nie ganz von der Bildfläche verschwand. Atatürks Ziel, Religion vom Staat zu trennen,
wurde nur teilweise erreicht. Ein großer Teil der Bevölkerung konnte für diese Denkweise nicht gewonnen werden. Dies zeigte sich in den ersten demokratischen Wahlen 1950. Die Republikanische Volkspartei (CHP) Atatürks
wurde von der Demokratischen Partei (DP), die auch
islamische Kräfte unter ihrem Dach vereinte, geschlagen.
Der Militärputsch 1960 wurde nicht zuletzt mit dem
Argument geführt, den Laizismus zu retten. Erst in den
1970erJahren erlebten islamistische oder nationalreligiöse Parteien wie die MSP oder die MHP ein Revival. Die
Dekade war geprägt von politischen Konflikten,
Terroranschläge destabilisierten die Situation im Land.
Die Gewaltwelle führte zu einem generellen Misstrauen
der Bevölkerung gegenüber der Politik und schließlich
1980 zum Militärputsch. Diesmal reagierte das Militär
gegenüber den islamistischen Kräften vergleichsweise
tolerant. Der Islam wurde bewusst eingesetzt, um linke
Kräfte zurückzudrängen. Die vorherrschende Ideologie
des dreijährigen Militärregimes zielte auf das Zusam-
54
Region – Türkei
menspiel von Nationalismus und Islam ab und fand
gewisse Resonanz in der Bevölkerung. Der Einfluss von
religiösen Orden und Bruderschaften nahm zu.
Parlamentarischer Islamismus
Als 1983 das Militär einer zivilen Regierung wich, sich
jedoch politischen Einfluss sicherte, gelang es der
ANAP-Partei mit Turgut Özal an der Spitze, die Wahlen
für sich zu entscheiden. Özal gehörte dem NayshidanyOrden an. Bis zum Beginn der 1990erJahre waren die
gemäßigten Islamisten damit mächtiger als liberale
Kräfte. Orden und Bruderschaften gründeten in diesen
Jahren Schulen, Zeitungen und führten Unternehmen.
Auch die Liberalisierung des Marktes erleichterte die
Islamisierung der Türkei. Viele soziale Leistungen
konnten vom Staat nicht finanziert werden, diese Lücke
wurde von islamischen Gruppen gefüllt. So entstand in
den 1980erJahren in den Großstädten eine neue
Generation weltlicher, religiöser Intellektueller. Anfang
der 1990erJahre kam die islamistische Refah-Partei unter
Erbakan an die Macht. Ihre Führung konnte sie bis 1998
aufrechterhalten. Schließlich spaltete sich die
Nachfolgepartei der Refah-Partei in zwei Flügel: einen
religiös-liberalen (die AKP unter Erdogan) und einen
islamistischen Flügel (die Saadet Partisi unter Erbakan).
Ausblick
In welche Richtung die Entwicklung der Parteien des
politischen Islam geht, ist in der türkischen
Öffentlichkeit heftig umstritten. Einerseits wird in der
Verfassung das Prinzip des Laizismus aufrechterhalten,
andererseits wird die Religion von der AKP-Regierung
instrumentalisiert, um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Türkei zu einen. Obwohl die AKP
ihre Wurzeln in islamistischen Strömungen hat, ist es
schwierig, sie einfach nur als islamistisch abzustempeln.
Bisher verfolgte die Regierung eher einen Europäisierungsdenn einen Islamisierungskurs.
„
Saya Ahmad, geb. in Kirkuk/Irak, lebt seit 15 Jahren in
Österreich. Aufgewachsen in Kärnten, studiert sie seit 2003
Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität
Wien und ist Mitarbeiterin der LEEZA (vormals WADI
Österreich).
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde in
voller Länge in WADI - News Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht.
Frauenrechte nur auf „women’s issues“ zu reduzieren,
ist ein Schritt in die falsche Richtung
von SOMA AHMAD
Frauenpartizipation in der Türkei
Interview mit Zeynep Alemdar
eynep Alemdar ist Assistenz-Professorin für die
Abteilung Internationale Beziehungen an der Okan
Universität in Istanbul. Ihr Schwerpunkt liegt auf den
Bereichen Zivilgesellschaft, Global Governance sowie
Frauen und Politik. Das Interview führte Soma Ahmad,
Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI
Österreich) im Oktober 2007.
Z
Wie stark ist die feministische Bewegung in der Türkei?
Frauenorganisationen haben in den letzten Jahren an
Stärke gewonnen. Einerseits liegt es an der Liberalisierung der Politik in den 1990erJahren, die feministischer Arbeit mehr Freiraum gewährt hat. Andererseits öffnete sich der Spielraum für die türkischen Frauenorganisationen nach dem EU-Gipfel in Helsinki, als
die Türkei zu einem Beitrittskandidat deklariert wurde,
da sich die Frauenorganisationen nun leichter mit ihren
(west-)europäischen PartnerInnen vernetzen konnten.
Wie hoch ist die Anzahl der Frauen im Parlament?
Heute sind 46 Frauen im Parlament (bei insgesamt 550
Abgeordneten, Anm.). Nach den Wahlen 2002 gab es nur
21 Repräsentantinnen, nach den Wahlen in diesem Jahr
(2007) hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Es ist zwar
eine große Steigerung, aber die Anzahl der Frauen im
Parlament ist immer noch sehr niedrig.
Wie beeinflusst die AKP die Frauenbewegung in der Türkei?
Die AKP (Adalet ve Kalk¦nma Partisi, die Partei für
Gerechtigkeit und Aufschwung ist eine islamischkonservativ ausgerichtete politische Partei in der Türkei,
Anm. der Red.) und ihre Vorgänger haben erfolgreich
Frauengruppen organisiert. Das Organisieren von
Frauengruppen und die Tatsache, dass sich immer mehr
Frauen am politischen Geschehen beteiligen, ist eine
positive Entwicklung. Aber die viel wichtigere Frage ist,
wie viel diese zu einer Verbesserung der Frauenrechte
beitragen. Ich persönlich habe gehört, dass eine
Parlamentarierin der AKP gefordert hat, dass Frauen nur
auf lokaler und nicht auf nationaler oder internationaler
Ebene politisch aktiv sein sollen. Ihr Verständnis von
Frauenpartizipation ist, dass sich Frauen nur zu
„Frauenthemen“ einbringen sollen, nämlich Familienangelegenheiten, Kinderbetreuung etc., aber die
„wichtigeren“ Themen sollten die Männer regeln. Wenn
man Frauenrechte aber nur auf jene Bereiche reduziert,
mit denen klassischerweise Frauen assoziiert werden,
und sie dabei gleichzeitig von anderen Aspekten des
Policy Makings ausschließt, trägt man nicht wirklich
etwas Positives zur Frauenbewegung bei.
Welche Änderung wollte die AKP zum Familienstandsrecht
durchführen?
Als sich der EU-Beitrittsprozess beschleunigt hatte, setzte
sich die EU für die Frauen in der Türkei ein. Die AKP hat
2004, trotz der Proteste der Frauenorganisationen,
vorgeschlagen, Ehebruch zu kriminalisieren. Die EU war
hilfreich, da sie die Regierung unter Druck gesetzt hat,
diesen Vorschlag zurückzuziehen. Günter Verheugen,
Erweiterungskommissar der EU, hat den türkischen
Premierminister und den Parteichef der AKP gewarnt,
dass dieses Thema die Kampagne für eine Aufnahme in
die EU unterminiere. Im September 2004 einigte sich das
türkische Parlament auf den Gesetzesentwurf für das
Strafgesetzbuch, der von Frauengruppen – auf Initiative
von Women’s Working Group on the Turkish Penal Code
– ausgearbeitet worden ist.
Was bedeutet kemalistischer Feminismus?
Der Kemalismus war die offizielle Staatsideologie in der
Türkei seit dem Unabhängigkeitskrieg. Die kemalistische
Revolution hat jeden Aspekt des osmanischen Systems
abgeschafft, um einen modernen, säkularen türkischen
Staat zu gründen. Einige FeministInnen behaupten
allerdings, dass der Kemalismus nicht alle Aspekte von
Gender umfasst.
„
Soma Ahmad ist Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI
Österreich), geboren in Kirkuk, studiert Politikwissenschaft
und Arabistik an der Universität Wien.
Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde bereits in WADINews Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht.
Region – Türkei
55
LEEZA - Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit
(vormals WADI Österreich)
von MARY KREUTZER
Feministische Projekte im
Irak und in der Türkei
Gelebte Solidarität und Demokratisierung
LEEZA (vormals WADI Österreich),
ist eine Hilfsorganisation, die
emanzipatorische und feministische
Projekte im Irak und in der Türkei
unterstützt und durch die
Zusammenarbeit mit demokratischen
ExilantInnen aus dem Nahen Osten
und der Türkei einen Beitrag zur
Demokratisierung, zur Einhaltung
von Menschenrechten und der
Gleichberechtigung der Geschlechter
in der Region leistet.
ir unterstützen v. a. Projekte mit und für Frauen im Irak,
sind aber auch in Europa für die Rechte von AsylwerberInnen und in der Informationsarbeit über den
Irak, Syrien, den Sudan und andere Staaten der Region
aktiv. Weiters versenden wir kostenlos Newsletter mit aktuellen
Informationen und Analysen zum Thema, welche per Mail bei uns
bestellt werden können. All diese Aktivitäten geschehen in aktiver
Zusammenarbeit mit den demokratischen (oft oppositionellen)
Kräften in diesen Staaten.
W
In der ostanatolischen Hauptstadt Diyarbakir unterstützen wir seit
Sommer 2007 das Frauenberatungszentrum EPI-DEM, im Nordirak
laufen zur Zeit verschiedene, von uns mitfinanzierten Projekte: Drei
Frauenzentren (in Halabja, Biyara und Kifri), der freie Radiosender
Dengi Nwe, ein frauengeleitetes Mobiles Team, und eine breit
angelegte Anti-FGM-Kampagne.
Frauenzentrum in der Osttürkei
Hauptziel dieses Projektes ist es, Frauen durch psychologische,
medizinische, juridische Hilfe, sowie durch das Angebot eines Alphabetisierungs- und Türkischsprachkurses bei den Problemen, die durch
Migration und Urbanisierung für sie entstehen, zu unterstützen.
Frauen sollen lernen über ihren Körper selbst zu bestimmen und mit
einfachen Methoden Empfängnisverhütung zu betreiben, dabei soll
geholfen werden die hohe Rate an Selbstmordversuchen unter Frauen
zu senken. Dieses Projekt sieht Alphabetisierungs- und Türkischkurse
für kurdischsprachige Frauen vor. Weiters werden in medizinischen
und juridischen Seminaren Themen wie Familienplanung, Frauengesundheit, Verhütung, Menschenrechte, und insbesondere Frauenrechte, besprochen. Da Frauen durch die Migration entwurzelt werden
und ihr soziales Netzwerk verloren haben, steht ihnen während der
gesamten Projektzeit eine Psychologin zur Verfügung.
56
Region – Türkei /Irak
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Frauenzentren im Nordirak
Im Irak ist, wie in den meisten Staaten des Nahen Ostens,
die öffentliche Sphäre weitgehend den Männern
vorbehalten, während die Frauen im Privaten oft unter
sich sind. Öffentliche Orte der Begegnung gibt es für
Frauen selten. Bildungsmöglichkeiten sind für Männer
viel leichter zugänglich als für Frauen. Genau hier sollen
die Frauenzentren, die von LEEZA unterstützt werden,
gegensteuern und einen Begegnungsraum schaffen, in
dem sich Frauen und Mädchen treffen und fortbilden
können. Gerade dort, wo der Einfluss reaktionärer
Islamisten stark ist, muss Frauen erst wieder ein Zugang
zu öffentlichem Handeln ermöglicht werden. In Halabja
und in der Region Hawraman, in der die radikalislamistische Ansar al-Islam bis 2003 ein Terrorregime
errichtet hatte, wurden nach der Vertreibung der
Islamisten drei Frauenzentren eröffnet. In Kifri wurde
2005 ein weiteres Frauenzentrum eröffnet. Dort können
Frauen ihre Erfahrungen austauschen und Freiräume
selbstbestimmt nützen. Diese Zentren sind mit Bibliothek
und Computerraum ausgestattet. Es werden verschiedenste Kurse angeboten, die vom Näh- und
Schminkkurs über Alphabetisierungskurse bis zum
Computerkurs reichen. Frauen und Mädchen bekommen
so nicht nur endlich Zugang zu Bildung, sondern können
auch selbst ihren öffentlichen Raum mitgestalten.
Frauenhäuser
Im Jänner 1999 eröffnete in Suleymaniah das erste
Frauenhaus im Nahen Osten außerhalb Israels. 2002
folgte ein weiteres in Hawler / Erbil. In diesen
Schutzhäusern finden Frauen Zuflucht, die vor Gewalt in
der Familie, „Ehrenmord“ oder Zwangsheirat bedroht
sind. Viele Frauen kommen mit selbst- oder fremdzugefügten schweren Verletzungen ins Frauenhaus und
benötigen zusätzliche medizinische Betreuung. Die
Frauen und Mädchen erhalten hier Unterkunft und Verpflegung, sowie rechtliche und psychosoziale Betreuung.
Den betroffenen Frauen wird also nicht nur Schutz vor
Gewalt geboten, vielmehr werden sie auch intensiv
betreut. Ziel ist es, ihnen wieder ein möglichst selbstbestimmtes Leben außerhalb des Frauenhauses zu
ermöglichen.
Gewalt gegen Frauen ist keineswegs ein auf den Irak, den
Nahen Osten oder die „islamische Welt“ beschränktes
Phänomen. Allerdings gibt es in den meisten Staaten des
Nahen Ostens bislang wesentlich weniger bis gar keine
Einrichtungen für Frauen, die einer unerträglichen
Situation entfliehen wollen. Unsere Frauenhäuser sollen
einen ersten kleinen Beitrag leisten, auch hier das
Bewusstsein der politisch Verantwortlichen und der
Gesellschaften zu verändern und die Notwendigkeit von
Einrichtungen für Frauen, die Unterstützung benötigen,
sichtbar zu machen.
Frauengeführte mobile Teams
Seit 2003 betreuen sechs mobile Teams Frauen und
Kinder in den Regionen Mossul, Hawler/Erbil, Kirkuk,
Suleymaniah, Halabja und Germian. Die Teams bestehen
aus einer Ärztin und einer Krankenschwester, die Gesundheitsberatung und ambulante Untersuchungen anbieten, sowie aus einer Sozialarbeiterin bzw. Psychologin, die den Frauen in rechtlichen und psychosozialen
Fragen zur Seite steht. Die Aufklärung über Frauenrechte
und die Thematisierung von Gewalt in der Familie
tragen dazu bei, die gesellschaftliche Stellung von Frauen
und Kindern zu stärken. Zusätzlich erhalten besonders
bedürftige Familien materielle Unterstützung in Form
von Lebensmitteln, Kleidung und Medizin.
Die mobilen Teams setzen sich dabei aus gebildeten
jungen Frauen der jeweiligen Region zusammen. In
multiethnischen Regionen, wie Kirkuk wird darauf
geachtet, dass auch die unterschiedlichen Sprachgruppen in einem Team gemeinsam vertreten sind, was
das Vertrauen der lokalen Bevölkerung in die mobilen
Teams stärkt.
Viele Frauen in den Dörfern haben durch die Ärztinnen
der mobilen Teams erstmals Zugang zu medizinischer
Versorgung und Beratung. Dabei werden auch Daten
über die allgemeine gesundheitliche und soziale
Situation in den Dörfern aufgenommen, um langfristige
Verbesserungen zu erreichen.
Kampagne gegen Weibliche
Genitalverstümmelung (FGM)
Diese frauengeführten mobilen Teams organisieren seit
mehreren Jahren in den verschiedenen Regionen des
Nordirak Frauenversammlungen, diskutieren über
gesundheitliche sowie gesellschaftliche Probleme und
leisten Hilfestellung. Dabei wurden die Mitarbeiterinnen
der Teams immer wieder mit der Existenz von Weiblicher
Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation) konfrontiert. Im Oktober und November 2004
wurde eine erste Erhebung in ca. 40 Dörfern der Region
Germian (im südlichen Nordirak) durchgeführt, deren
Ergebnis zeigte, dass etwa 60 Prozent der Frauen und
Mädchen unter 10 Jahren beschnitten worden waren.
Eine umfassendere Studie soll in Zukunft Daten über die
Verbreitung von FGM liefern, die für politisch
MandatsträgerInnen und NGOs zur Verfügung stehen
sollen. Im Sommer 2005 wurde ein Aufklärungsfilm
über die schädlichen Konsequenzen von FGM gedreht,
Region – Türkei /Irak
57
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
der nun von den Teams mittels mobiler Kinovorstellungen in den Dörfern und Städten der Region gezeigt wird.
Freies Radio für Frauen und Jugendliche
Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes entstand im Irak ein
Freiraum für neue Medien, der trotz des anhaltenden
Terrors und der patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen genutzt wird. Zum Beispiel von jenen Frauen
und Jugendlichen im nordirakischen Gebiet von Shara
Sur, Halabja und Hawraman, die mit dem Sender
Dengue Nwe (Neue Stimme) ein einzigartiges Projekt
umsetzten: Sie gründeten ein dezidiert parteiunabhängiges Community-Radio, das nach acht Monaten
Vorbereitungszeit und Probebetrieb im September 2005
live on air ging. Der Sender besteht aus sechs Mitarbeiterinnen und vier Mitarbeitern. Sie sind allesamt Überlebende des Giftgasangriffs Saddam Husseins auf
Halabja und teilen das Trauma von Tod und Vertreibung,
Flucht und Exil, Rückkehr und Internierung in so
genannten Collective Towns.
Thematisch umfasst das Radioprogramm gesellschaftsrelevante Aspekte wie u.a. Umgang mit Behinderungen,
Gewalt an Frauen und Jugendlichen, Gesundheit,
Sexualität und den rechtlichen Status von Frauen. Dadurch soll das Bewusstsein für Frauenrechte und das
Verständnis für die Jugend gestärkt werden. Frauen wird
ein öffentliches Forum geboten, in dem sie über ihre
Situation und Erfahrungen berichten können. Den
TeilnehmerInnen soll dabei auch die Fähigkeit zu
journalistischer Arbeit vermittelt werden. Weiters will
das Team über Gleichberechtigung von Männern und
Frauen, Hintergrundinformationen zu Ausbildungsmöglichkeiten, Musik, Mode, sowie internationale
Kultur berichten.
der – zurzeit doch sehr zahlreichen und aufwendigen – Projekte unterstützt, macht uns immer wieder zu
schaffen.
Als klassische NGO sehen wir uns nicht. Wir bieten eine
Struktur, in der sich feministische und demokratische
Personen engagieren können: Es können Projekte
konzipiert und besucht, JournalistInnen-Aufenthalte
organisiert und Kontakte mit Gleichgesinnten im Nahen
Osten und in der Türkei gepflegt und genutzt werden.
Das ist unser Beitrag zur Demokratisierung des Nahen
Ostens, gegen die Schürung von Feindbildern und für
gelebte Solidarität auf Augenhöhe.
„
Mary Kreutzer ist Mitbegründerin von LEEZA (vormals
WADI Österreich). Sie ist Politikwissenschafterin, Redakteurin der Zeitschrift der „Liga für Menschenrechte“ und Vorstandsmitglied der „Gesellschaft für kritische Antisemitismusforschung“ (www.antisemitismusforschung.net). Zuletzt
forschte sie über weibliche Genitalverstümmelung (FGM) in
Spanien für die spanische Ausgabe von „Schmerzenskinder“
(Waris Dirie/Corinna Milborn) und leitete die Recherche für
das Buch „Festung Europa“ (Corinna Milborn). Zur Zeit
schreibt sie ein Buch über Frauenhandel von Afrika nach
Europa.
Kontakt
LEEZA (vormals Wadi
Österreich)
Liga für Emanzipatorische
Entwicklungszusammenarbeit
[email protected]
www.leeza.at
Tel.: 0699-11365509
Postfach 105,
1181 Wien
Und die Finanzierung?
Für die Projekte in der Türkei und im Irak erhalten wir
ausschließlich „Ko-Finanzierungen“. Das heißt, dass ein
Teil der Gelder aus Spenden bestehen muss, um Anspruch auf öffentliche Gelder der OEZA (Österreichische
Entwicklungszusammenarbeit) geltend machen zu
können. Auch die Stadt Wien, der Weltgebetstag der
Frauen, das Land Oberösterreich und amnesty
international unterstützen unsere Projekte.
In Österreich engagieren sich die zehn LEEZAMitarbeiterInnen ehrenamtlich. Da es keine Basisfinanzierung für uns gibt, können wir auch leider kein Büro
unterhalten und müssen von zu Hause aus arbeiten.
Auch der Umstand, dass wir dringend zumindest eine
Bürokraft bräuchten, die uns bei den Abrechnung
58
Region – Türkei /Irak
Spendenkonto
LEEZA
Knt. Nr.: 6.955.355 BLZ: 32.000,
Raiffeisen Landesbank NÖ
Literaturtipps
Zeitschrift des Vereins LEEZA (wird kostenlos per Post
zugeschickt)
Mary Kreutzer, Thomas Schmidinger (Hg.), Irak. Von der
Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? ça ira
Verlag, 2004
Eine journalistische Reflexion über das Verhältnis des Helfers zum Opfer.
von MONIKA MARIA KALCISC
Der Helfer braucht das Opfer
Wer hilft wem?
s muss Anfang April gewesen sein. Anfang April vor
vier Jahren. Über der Grenze tobte ein Krieg
von dem ich nichts sah, aber vieles mitbekam. Es war ein
sonnendurchtränkter lauer Abend. Wir saßen in einem
großen Patio eines weiß gestrichenen einstöckigen
Vierkanthauses; eine kleine Gruppe von acht Leuten.
Unsere gemeinsame Sprache war Englisch. Wir lachten
über unseren Akzent. Sie redeten ein Arabisch-Englisch
und ich ein Deutsch-Englisch. Wir unterhielten uns über
unsere Studien, unsere Familien, unsere Leben in Wien
und in Bagdad. Sie waren Flüchtlinge aus dem Irak und
ich war Katastrophenhelferin aus Österreich. Wir
befanden uns im syrisch-irakischen Grenzgebiet. Es war
mein erster Einsatz, der mich lehrte, nichts zu glauben,
was ich nicht selbst gesehen habe. Das Kriegsopfer saß
vor mir und war Mensch. Kein Entmündigter. Kein
hilfloses Objekt. Das Opfer trug eine schöne Lederjacke,
die nicht zu ihm passte, fanden MedienvertreterInnen
und Hilfsorganisationen, denn Flüchtlinge sehen so
nicht aus. Seit damals weiß ich: Nicht jedes Opfer eignet
sich als Opfer. Wir suchen es uns aus.
E
Je besser sich die Betroffenengeschichten an das
schlechte Gewissen der satten Gesellschaft verkaufen
lassen, desto mehr wird darüber berichtet und
gespendet. Indien hatte nach der Tsunami-Katastrophe
das mediale Nachsehen, denn die umgekommenen
TouristInnen hatten die falsche Nationalität: Es waren
fast ausschließlich Einheimische. Als im Juni 2005 im
westafrikanischen Niger die Hirseernte wegen Dürre
ausfiel, organisierten wir vor Ort Nothilfe mit den
lokalen Caritas-Partnern. Das Geld für die
Lebensmittelversorgung der betroffenen Menschen ging
uns aus. Die Öffentlichkeit erreichten wir nicht, denn
Niger war keine News-Katastrophe. Wenn es zum
Sterben kommt auf Europas südlichem Nachbarkontinent, dann heben wir kurz ein Augenbraue hoch,
um uns enttäuscht wieder abzuwenden, denn: nichts
Neues aus Afrika. Doch dann im Juli ein Aufschrei, der
mediales Gehör fand. In einem Spital in Maradi: dürre
Babys mit aufgeblähten Bäuchen und Ärmchen, die
kleiner sind als die Infusionsnadeln, die in die
ausgezehrten Körper gestochen werden. Bändchen in
drei Farben markieren den Grad der Lebenschancen: rot
für die fast schon Toten, grün für die man noch
Hoffnung hat und weiß für die Überlebenden. Das hat
Dramatik. TV-Teams rücken heran. Auf der Suche nach
den Opfern plötzlich die Feststellung: Hier fehlen die
Toten. Nicht die stillen Tode in den Dörfern, die das
gestresste Auge des Kriegsreporters nicht erreichen,
nein, es fehlt die sichtbare Masse.
Ich finde es befremdend, wenn ich sehe, wie mit Opfern
von Katastrophen Geschäfte gemacht werden. Ich sollte
mich mittlerweile daran gewöhnt haben – an
berechnende Plus-Minus-Kalkulationen von Medien
genauso wie an das Katastrophenmanagement von
PolitikerInnen, Behörden und NGOs.
Der Wunsch zu helfen ist nicht genug. Das haben mich
Hilfsorganisationen gelehrt, die wie Heuschreckenschwärme in ein Katastrophengebiet einfallen und nach
kurzer Zeit wieder abziehen. Kein Opfer will einen
Helfer, der es gut meint, aber nicht gut kann. Der hilflose
Helfer braucht aber das Opfer, um seine Erfüllung zu
finden: Ich bin du und du bist ich. Das Opfer wird zum
Mittel, damit der Helfer zu sich findet: Dein Leid ist
mein Leid. Es wird gehandelt, ohne zu hinterfragen. Das
Opfer verliert in der Not seine letzte Würde, weil falsche
Hilfe über ihm ausgeschüttet wird. Ihm wird die
einfachste und gleichzeitig so schwere Frage nicht
gestellt: Was brauchst du? Ich tue nichts für dich,
sondern
mit
dir. Ich habe kein Mitleid, sondern Mitgefühl. Hilfreich
sein ohne paternalistisches Gehabe funktioniert. Was
daraus folgt ist der sinnvollste Moment meiner
Hilfsarbeit: Ich mache mich selbst überflüssig.
„
Monika Maria Kalcsics ist Radiojournalistin und
Katastrophenhelferin. Sie studierte Politikwissenschaft und
Spanisch in Innsbruck, Madrid und Mexico City. Seit 2000
arbeitet sie als Freie Mitarbeiterin beim ORF, im Radiosender
Österreich 1. Seit 2003 leistet sie Katastrophenhilfe für Caritas
Österreich und Caritas Internationalis.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag entstand für die Ö1 Sendung
„Diagonal“ und wurde am 18.11.2006 ausgestrahlt.
Region – Irak
59
Der Cyberspace als virtuelle Kampfzone für extreme Ideologien
von CHRISTIAN MAZAL
Hindu-Nationalismus im
Cyberspace
Virtuelle Identitäten und reale Gewalt
„The most alarming development in
Indian context has been the rise of
rabid Hindutva for the creation of a
Hindu nation“ (Radhakrishnan 2004).
Der Boom der Informations- und
Kommunikationstechnologien in
Indien bietet neue Berufsfelder, in
den Städten wächst eine gebildete
und mobile Mittelschicht heran.
Zugleich verstärkt sich der soziale
Kontrast zur Mehrheit der
Bevölkerung, die auf dem Land
oder auch in den Slums der
Metropolen lebt. Nach wie vor wird
die Gesellschaftsordnung vom
hinduistischen Kastensystem geprägt.
Die soziale Spaltung setzt sich im
eingeschränkten Zugang zum Internet
fort. „The result is continued
upper-caste dominance in the
professions, business, culture and the
world of Information Technology“
(Omvedt 2004). Im Cyberspace, also in
virtuell interaktiv und damit
sozialen Räumen, kommt es in letzter
Zeit vermehrt zu kulturellen und
religiösen Identitätskonstruktionen.
So wird einerseits der spirituelle
Hinduismus präsentiert, andererseits
aber auch die Ideologie der Hindutva,
die ich im Folgenden näher erläutern
möchte.
60
Region – Indien
ie Einheit aller Hindus in einem Hindu-Staat ist das
politische Ziel des Neo-Hinduismus. Dieses soll durch eine
neu interpretierte Gemeinsamkeit der indischen Geschichte,
Nation, Kultur und Religion verwirklicht werden. Die
Kombination aus Religion und nationalistischer Politik zeichnet sich
durch die Abgrenzung zum Islam, Christentum und politischen
Säkularismus aus. Dieser Aufbau von Feindbildern birgt sozialen und
politischen Sprengstoff und führt zu „disastrous consequences for the
secular and pluralist nature of Indian democracy, for the diversity of
Hinduism, and for minority religions“ (Radhakrishnan 2004). Das
Konzept einer politischen Hindu-Identität wurde bereits in den 1920er
Jahren von Vinayak Savarkar entwickelt, der für einen gewaltsamen
Befreiungskampf gegen die britischen Kolonialherren eintrat. Er
prägte für seine hindunationalistische Ideologie die Bezeichnung
Hindutva (Hindutum). Das Blut der eingewanderten Arya, das sich
mit der ansässigen Bevölkerung vermischte, bildet die Grundlage
dieser Identität. „For Savarkar, Hindutva, the essence of the Hindu,
comprised a common nation, a common civilization and a common
‚race‘. This idea of ‚race‘ was defined by the blood that Hindus share
and which has flowed down from the ancient Vedic fathers“
(Bhatt/Mukta 2000). Diese Vorstellungen finden sich in den religiösnationalistischen Ideologien der Gegenwart wieder und erweisen sich
als markantes Beispiel für die Erfindung einer „ursprünglichen
Tradition“ im Dienste einer Politik der Ausgrenzung.
D
Das Netzwerk
Im Jahr 1925 als patriotische Freiwilligenbewegung gegründet, besitzt
der Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS bis heute größten Einfluss als
ideologische Dachorganisation des Hindu-Nationalismus. Die
emotionale Basis für die Konstruktion der Hindu-Identität liegt in der
Personifizierung und Verehrung Indiens als Bharat Mata (Mutter
Indien). Der RSS organisiert paramilitärische Trainingslager für
männliche Hindus, „so that they would be able to fight for Hindutva“
(Bhatt/Mukta 2000). Die zweite Achse bildet der Vishva Hindu
Parishad (VHP) mit dem Ziel der Verbreitung des HinduNationalismus und des Widerstands gegen Verwestlichung,
Kommunismus und „fremde“ Religionen. „Die dem Hinduismus
zugrunde liegende ethnische, religiöse und linguistische Vielfalt wird
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
einer uniformen Einheit von Staat, Religion und Nation
geopfert, die durch die Arisierung und Sanskritisierung
ganz Indiens erreicht werden soll“ (Ceming 2004). Die
Niederlassungen des VHP in den Ländern der indischen
Diaspora bilden ein ideologisches und finanzielles
Netzwerk zwischen den EmigrantInnen und ihrer alten
Heimat. Als politischer Arm dient dabei die indische
Volkspartei Bharatiya Janata Party (BJP), die für das
traditionelle Kastensystem und gegen die staatliche
Förderung niederer Kasten und Dalits eintritt. Zum
Sangh Parivar, der Familie der Hindutva, zählen neben
vielen lokalen Vorfeldorganisationen auch die Frauenbewegung Rashtriya Sevika Samiti, der Akhil Bharatiya
Vidyarthi Parishad für StudentInnen, die Gewerkschaft
Bharatiya Mazdoor Sangh, der Bajrang Dal mit seinen
bewaffneten Jugendbanden und die Partei Shiv Sena.
Von Bal Thackeray gegründet, hat sich diese als militante
politische Kraft vor allem in Mumbai etabliert: „Die
Schlägertrupps der Shiv Sena sind nicht nur bei fast allen
blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und
Muslimen an vorderster Front, sondern sie sind auch
oftmals deren Drahtzieher“. Thackerays Vision von
Indien ist Hindustan, „ein religiös dominierter Staat, in
dem ausschließlich die Gesetze des Hinduismus
Gültigkeit haben“ (Ceming 2004).
Neo-Hinduismus online
Verbreitet wird die Ideologie der Hindutva über ein
internationales Netz neo-hinduistischer Websites. So
bietet etwa das Hindu Students Council ein Forum für
StudentInnen in den USA und wirbt über das Interesse
an Kultur und Yoga, Gesundheits- und Umweltthemen
für das rechte Hindutum. Moralische und finanzielle
Unterstützung bekommt das Netzwerk von der wachsenden Hindu-Mittelschicht inner- und außerhalb Indiens. Die Angst vor kultureller Entfremdung macht indische EmigrantInnen empfänglich für die Attraktivität
einer transnationalen Hindugemeinschaft mit ihrem
kulturellen Identifikationsmodell und kultischen
Angeboten. „The dependence on cults […] for very materialistic ends signals a frantic need to latch onto certainties in the face of the destabilizing pulls of modernization and globalization“ (Robinson 2004). Die leicht
verdauliche Kombination von Materialismus, indischer
Spiritualität und nationalem Stolz punktet durch ihre
Kompatibilität mit den ökonomischen Interessen der
Mittelklasse und scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Eine
für die global community des Internets verfasste Einführung in den Hinduismus präsentiert die Website Hindu Unity. Der Glaube an den einen Gott, der sich in der
Welt inkarniert, bildet die Basis des Hindu-Seins. Unter
den Inkarnationen wird Lord Rama zuerst genannt, er
verweist auf das mythologische Königreich Ayodhya im
Epos Ramayana. Nationalistische Gruppen setzen den
Geburtsort des Götterkönigs Ram mit der heutigen Stadt
Ayodhya im Bundesstaat Uttar Pradesh gleich. Dort
stand die 1528 angeblich auf den Trümmern eines RamTempels erbaute Babri Masjid, jene Moschee, die am 6.
Dezember 1992 von Hindu-AktivistInnen im Rahmen
einer Welle anti-muslimischer Gewalttaten zerstört
wurde. Den NationalistInnen gilt Ayodhya als „das
geistige Zentrum der Hindu-Nation und Ram ihr Führer
und Herrscher. Das ideologische Schlagwort lautet
Ramraj (Herrschaft Rams)“ (Ceming 2004). Auch im
täglichen Leben finden sich Beispiele für die Neuinterpretation alter Werte: Um dem Bedeutungsverlust des im
brahmanischen Hinduismus strikt empfohlenen
Vegetarismus entgegenzutreten, wird persönliches
Verhalten mit sozialen Phänomenen verknüpft: „Yes,
there are numerous Hindus who eat meat […]. The
suffering that such deeds bring are visible all over the
world. Immorality, cruelty, lack of ethical behavior etc are
the results of it. In these times, incest, teen pregnancy,
abortions, premarital sex, lack of respect for parents,
Gurus and Saints is rampant“ (URL 1). Hier wird ein
kulturelles Konstruktionselement der Identität in einen
völlig neuen gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang gestellt. Der Trend zu einer Dogmatisierung und Angleichung an fundamentalistische
Positionen zieht sich wie ein roter Faden durch den neohinduistischen Cyberspace.
„All You Need to Know About the
World's Oldest Faith“
Reichhaltiges Material zur religiösen und kulturellen
Identitätsfindung bietet die Website Himalayan Academy. Unter den neun Glaubenswahrheiten des Hinduismus wird auch die Gewaltfreiheit (ahimsa) genannt:
„Hindus believe that all life is sacred […] and therefore
practice ahimsa, noninjury, in thought, word and deed“
(URL 2). Ahimsa, die wesentlich zum friedlichen und
toleranten Erscheinungsbild des Hinduismus online
beitragen soll, stößt jedoch bei Hindu Unity auf klare
Grenzen, wenn es gilt, die heilige Ordnung (dharma) zu
verteidigen: „When Dharma is under attack by rogues of
uncivilized barbarians, then the concept of Ahimsa
becomes useless.“ Dem ideologischen Kampf soll keine
Glaubenswahrheit im Wege stehen. „Ahimsa only works
when dealing with civilized cultures. Unfortunately we
don't live in civilized times” (URL 3).
Militante Abgrenzung
Identitätsstiftend wirkt besonders der Kampf gegen
alles „Fremde“. Mit dem Argument, dass ihre heiligen
Zentren außerhalb Indiens liegen, wird bevorzugt
Region – Indien
61
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
MuslimInnen und ChristInnen die Identifikation mit
dem „heiligen Mutterland“ abgesprochen. Die behauptete Bedrohung der hinduistischen Mehrheit durch
privilegierte Minderheiten dient als ständige
Rechtfertigung der Mobilisierung zum kulturellen
Abwehrkampf: „Hinduism is on the attack from three
main groups and each is as dangerous as the other.
Firstly, the Christians have an upper hand on us with the
economies under their control, secondly the petro-dollars
in the hands of the Muslims and thirdly, from within us,
the Hindus who […] believe that Hinduism can survive
the onslaught in modern times“ (URL 4). Der Ton wird
noch militaristischer, etwa im Motto: „Hinduize politics
and militarize Hindus!“ oder im Aufruf: „CHOOSE
DEATH BEFORE DISHONOR! IF YOU ARE A HINDU,
THERE IS NOTHING MORE IMPORTANT IN THIS
WORLD THAN YOUR MOTHER LAND - BHARAT!
FIGHT IF YOU MUST! DIE IF YOU MUST! NO HINDU
CAN ASK FOR A BETTER DEATH THAN DEFENDING
THEIR MAATRU BHOOMI (MOTHER LAND)“ (URL 5).
Literatur
Virtueller Kampf und reale Gewalt
URL 3: http://hinduunity.org/aboutus.html
Bhatt, Chetan and Parita Mukta. Hindutva in the West. mapping the
antonomies of diaspora nationalism. In: Ethnic and Racial Studies
Vol. 23 No. 3. Routledge, London 2000. S. 407 – 441.
Ceming, Katharina. Hinduismus – Auf dem Weg vom Universalismus
zum Fundamentalismus. polylog. Forum für interkulturelle
Philosophie 5, 2004.
Omvedt, Gail. Untouchables In The World Of IT. Panos Features,
2004.www.panos.org.uk/newsfeatures/featureprinteable.
asp?id=1177 (04.05.2007)
Radhakrishnan, P.. Religion under Globalisation. In: Economic and
Political Weekly, March 27, 2004. http://www.epw.org.in
Robinson, Rowena. Virtual Warfare: The Internet as the New Site for
Global Religious Conflict. In: Asian Journal of Social Science, Vol. 32,
No. 2, 2004. S. 198 – 215.
Internet
URL 1: http://hinduunity.org/basics.html#veg
URL 2: http://www.himalayanacademy.com/basics/nineb/
URL 4: http://hinduunity.org/aboutus.html
Der Errichtung einer Hindu-Nation (Hindu Rashtra) hat
sich auch die Website Saffron Tigers verschrieben, „a
Hindu organization of Young, educated, fearless and
robust Hindu students […]. We have pledged to die for
the cause of Hindu-Rashtra and to liberate our mother
from the clutches of dirty Muslims and Indian
politicians.“ (URL 6). Die historische Mogul-Herrschaft
und die (von beiden Seiten verübten) Massenmorde bei
der Teilung der britischen Kolonie in Indien und Pakistan
(mit dem späteren Bangladesch) werden mit dem
ungelösten Konflikt um Kaschmir und den Terroranschlägen radikaler muslimischer Gruppen im heutigen
Indien verknüpft. Die Konstruktion der eigenen Identität
durch Ausgrenzung mündet im Aufruf zur Gewalt: „The
[…] degraded terrorists don't deserve a fair trial. They
need to be shot, shot on sight.“ (URL 7). So erweist sich
der Cyberspace als virtuelle Kampfzone einer Ideologie,
die sich mit ihrem religiös-nationalistischen Diskurs und
ihrer gewaltbereiten Politik gegen eigenständige
kulturelle Identitäten und das Existenzrecht ganzer
Bevölkerungsgruppen richtet.
„
Christian Mazal studierte Theologie in Wien und arbeitete
jahrelang im EZA-Bereich mit den Schwerpunkten Management, Öffentlichkeitsarbeit und Reportagefotografie. Zurzeit
betreut er am Afro-Asiatischen Institut in Wien internationale
StipendiatInnen und schreibt am Institut für Kultur- und
Sozialanthropologie seine Dissertation über die Identitätskonstruktionen der Hindutva im Cyberspace. Fotopublikation:
Nürnberg / Mazal (2003): Quellwärts. Brücken zwischen
Nord und Süd. Verlag Christian Brandstätter, Wien.
62
Region – Indien
URL 5: http://hinduunity.org/index.html
URL 6: http://www.hinduunity.org/
saffrontigers/About_Us.html
URL 7: http://www.hinduunity.org/
saffrontigers/islamq1.html
http://them.polylog.org/5/ack-de.htm (26.03.2007)
Bharatiya Janata Party BJP www.bjp.org
Bajrang Dal www.hinduunity.org/bajrangdal.html
Hindu Students Council www.hscnet.org
Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS www.rss.org
Vishva Hindu Parishad VHP www.vhp.org
Die Ikone des jungen Indiens meint, dass gewaltbereite ExtremistInnen
die eigentliche Minderheit sind
von MEHRU JAFFER
Seriously Shah Rukh
Bollywoodlegend speaks on social issues
hah Rukh is originally from Delhi and came to Mumbai nearly
two decades ago with little except passion to make it in the
world of cinema. No Godfather like figure exists in his life and
the fruit of success that he enjoys today are a result of his own
hard work. Although Shah Rukh is a Muslim he remains a living
example of the majority in India who pride themselves on being Indian
first and then Muslim, Hindu, South Indian, North Indian etc. despite
the confusion caused within the country by fanatics and fundamentalists, including radical Hindus and Muslims who in their ignorance
and arrogance are unable to celebrate the colourful contrasts that
enrich Indian society. India is perhaps unique where protected by a
secular constitution people of different ethnic and religious groups
continue to freely express themselves in a variety of different
languages, clothes and cuisine. The country remains joyously united in
all its diversity and also in its undying adoration of Shah Rukh Khan,
the Badshah of Bollywood. However the most celebrated matinee idol
and high profile Indian Muslim sees himself merely as a monkey.
S
Apart from being the darling of the
Indian film industry, Shah Rukh Khan
is of great political importance. Today
he is the most inspiring member of the
Indian Muslim community that is the
largest minority in the world at 12
percent of the total Indian population
of more than one billion. This
interview with him took place on the
sets of “Swades” in February 2004,
just before sunrise. It was on the eve
of the general election in India that
was held in four phases between April
20 and May 10 in the same year.
Therefore many questions asked of
Shah Rukh concern politics of the day.
He is a role model for all minorities as
his life is so spectacularly successful.
What do you mean by saying that you are a mere monkey?
When I was a child I once saw a monkey dance. Ever since I have
wanted to thrill people like the monkey had thrilled me with its
performance. That today I am the most famous monkey in India only
adds to the thrill. But it does not change the fact that I am a monkey. It
is just a job I do. It is not more or less important than what most other
people do for living.
Apart from being India’s most famous monkey you are also a very influential
member of the country’s large but minority Muslim community?
I am a Muslim, but first and foremost I am Indian and I am proud to
be an Indian. Very proud. Besides you can’t take my performance on
stage seriously; always remember that I am only acting. I look at films
as pure entertainment. I cannot take a film too seriously. Even in films
like Lagaan I enjoyed the cricket match but missed the social message,
if any. Perhaps I am too shallow to concentrate on social issues while
making a film.
Do you think Indian Muslims, 12 percent of India’s more than one billion
population face a crisis today?
You mention the word crisis. By mentioning it, by recognising it, by
bringing it to my notice even if the crisis did not exist, you make it
exist. If you spot the crisis don’t you also spot how secular India is, the
goodness that also exists in this country?
Region – Indien
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Muslim leaders tell us that secularism in India is on the
decline?
I am a living example that it is not. The most influential
member of the minority community, as you call me is also
a superstar in India today. This would not be possible if
only Muslims had appreciated me. Take it from there
instead of just picking on the crisis part of it.
Is everything all right then with the Muslim community?
Of course there are problems. But problems of poverty and
illiteracy are problems of the country, not just of Muslims.
I hear that Muslims are illtreated and also that Muslims
are terrorists. That is too simplistic. It is true that some
very sad things have happened to Muslims. Gujarat is very
sad. But what makes me most sad is that people died in
Gujarat. When I hear about riots and violence I don’t count
how many Muslims died before I become sad. When sad
things happen in the country I am sad and when good
things happen here, I am happy.
Why do Muslims feel that they are ill-treated and why does the
world look upon Muslims as terrorists?
What is happening in Kashmir and what happened in
Gujarat is way beyond my understanding. I don’t know
why these things happen. But I also try not to take a too
simplistic view of things and reduce it to this is right and
this is wrong. However, without getting into the
complexity of the problem I must say that what saddens
me is violence against anyone.
Whenever people are killed in the country it is shameful not just
when Muslims are killed.
I know that there is a problem – that there is a crisis – but
there is a sunshine side to it too. People from the minority
community are also doing well and dominating life in the
country. This speaks volumes for the state of the
minorities. And I do not look upon reservations that will
benefit the minorities.
What should the minorities do to improve their image?
I think it is possible to do well in this country if religion is
practiced in the private realm. We must live and work in
this country beyond religion. When we look around us we
should keep in mind that we as Indians have a problem
and the problems in this country concern not just the
minorities.
The more we keep harping upon the differences between
Hindus and Muslims the more harm we will do to each
other as Indians. During a riot it is one bloody Indian
fighting another bloody Indian.
64
Region – Indien
What is the role of politics in a communal riot?
Around the world politicians use communalism and
religion to promote their respective agendas. This is
wrong. Then, there are fanatics in every religion not only
in Islam. But to me the fanatics and extremists are the real
minority. It is not Christians, Muslims and Sikhs who are
the minority but communal, violent people. And you
should, I should and we all should point this out till this
small minority of fanatics is seen and recognised by
everyone for what they really are and exposed forever. The
majority of Indians want to live and work in a peaceful
environment and should stand up to the destructive forces
of evil.
Muslim politicians tell us that the minorities face the danger of
being sidelined in India today?
These politicians, I am sure they are very knowledgeable
and better informed than I am. And if they have taken that
stand they must be right and they must have information
that I don’t have access to.
What I would like to say to them is that I don’t like
communalism and sectarianism.
I am no politician. My life is totally apolitical. And I am
sure that when people decide to go into politics their
intentions are noble and they like to protect themselves
and their larger family of voters. Just like I need power to
run my family – to always be in control. But then if I loose
perspective and allow myself to be misled that will lead to
chaos.
What about institutions like the Minority Commission?
I know nothing about them. But if they exist there must be
a reason. If they were set up to protect the rights of the
minorities, then I hope they are doing their job.
Do you vote?
It is complicated for me to do so. My family votes. And
yes, I have voted once in my life.
Why would you take the trouble to vote, if ever you decide to do
so in the future?
That way I hope to help someone to guide the country. I
am a capitalist by nature. I believe in hard work and the
need for a strong head of state who is in control and takes
good care of the community. When I vote, I hope that the
person who gets my vote will make life easier for ordinary
people. I believe in giving power to the politician to take
care of some of my needs in public life. And this I can say
from the bottom of my heart that every politician who
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
contests elections does have the good of the community in
mind, but somewhere along the way politicians get lost
and begin to think more of themselves than of the people.
India has had more than half a century to attend to its problems.
What has the country achieved in all these decades?
Much has been achieved but the problems have also
multiplied. I personally feel that India has made progress.
Over the past two decades I have been made aware how
huge the country is and the enormity of its problems and I
think India has done very well. We are far more selfcontained than before. Japan was considered such a role
model of progress but I found its lifestyle totally virtual.
When I look around I find some virtuality here as well. But
India is far more real and we have made some real
progress. The problem of moving things at the grassroots
remains. Maybe it will take another 50 years for that to be
achieved. That is all right as I have the patience to go on
working hard and to see that too happen one day.
What bothers you most about the state of India today?
That there are no roadside toilets for women. I am a small
man with a small mind and this small problem bothers me
most about India. I feel very sad when I travel by train and
see women lined up along the railway tracks in the
morning. It hurts me. It makes me feel that my mother and
my sister are sitting there.
With your kind of wealth and influence what are you doing about
a simple problem like this one?
If there is anything I can do about it, I will. This problem
has played on my mind for a long time and as soon as I feel
ready I would like to invest in a project that will line the
country with toilets only for women, inshahallah.
What is it that gives you the most pleasure about being an Indian
today?
That I am liked wherever I go in India today. I feel so
fortunate. Although, when I travel abroad people do give
me a warm reception and sing my praises but there is
nothing to beat the warmth and ease of people and life in
India. The standard of life here is so high. And I don’t say
that because I am a rich person. I have found that even
those who are not wealthy seem to give so easily in this
country. Even those with few possessions are warm and
friendly. I like the way I am able to work in this country. I
often hear that Indians are lazy and slow. That is not true of
the people I work with or all those Indians who have made
a name in the world. I am very proud of Indians like Sabir
Bhatia, the Tatas and the Birlas. Sometimes I get the feeling
that the economy of the world is perhaps run by people of
Indian origin. That is such a great high.
You said that you are making an effort to rediscover Islam. Why
now?
Now I am a father. I have to read up on various subjects,
including religion. When my children ask me questions
about God, I have to give them an answer. But I am
happiest when my son defines God as Ganesh Allah. I
don’t want that to change. That sounds so right to me.
I tell my son, God, Allah and Bhagwan are all one. My
daughter is still too young to ask questions like these.
What role does religion play in your personal life?
I am God fearing and would not do anything to make God
unhappy. I smoke and apologise to God for the bad habit. I
believe in heaven and hell.
In this life or in the afterlife?
Here, in this life. I don’t think that the other world has
room for concepts like heaven or hell. It is all here. I can feel
it here. Up there, I imagine the world endlessly serene and
peaceful.
What is most important to you in life?
Whatever is most important to everyone else. My family is
important to me, my relationships, my job…like whatever
is important to you. What is important to me affects only
my life but what you do influences society. You can inspire
an entire generation by lifting an eyebrow. Do you see that
difference? Look, I can sit here and give you a whole spin
on how important I am. That would not be true. A pilot
does a far more amazing job; flying an aeroplane is more
important than what I do. My job is only to entertain and
in the bargain, if I am put on a pedestal and called a super
star that is not of my choosing.
Does your unreal life bother you sometimes?
No, not at all. Not when I see the benefits that I reap from
such a life. All my life I wanted to be a rock star and now
that I am one, you can’t expect me to be unhappy about it.
I always wanted to be this and now I can’t use it as an
excuse to be someone else. No, I am very happy being what
I am. And I am very thankful to my audience for helping
„
me to realise my dream.
Mehru Jaffer ist Journalistin und Autorin des Buches „The Book
of Muhammad“. Sie lebt und arbeitet in Wien.
Anm. d. Red.: „Seriously Shah Rukh“ von Mehru Jaffer erschien im April
2004 im indischen „Hardnews“ Magazin. Das Interview entstand
während der Dreharbeiten zu dem späteren Bollywood-Blockbuster
„Swades“ (Heimat).
Region – Indien
65
Subbudu, Bharatanatyam und die indische Tanzkritik –
kulturpolitische Betrachtungen.
von ERIKA NEUBER
Die Politisierung der Tanzkultur
Vom Tempel auf die Weltbühne
Foto: Christian Mazal
Bharatanatyam als heute äußerst
populärer, klassischer indischer
Tanzstil steht im Brennpunkt der
indischen Tanz- und Musikkritik.
Darüber hinaus sind bis zur
Gegenwart die Meinungen gespalten
bezüglich des gesetzlichen Verbots des
ursprünglichen Tempeltanzes im Jahr
1947, der Diskriminierung seiner
ursprünglichen Ausführenden, der
devadasis (siehe auch Seite 69 – 71),
und seiner Übernahme, Umgestaltung
und Umbenennung zu Bharatanatyam
durch Angehörige der brahmanischen
Elite Südindiens. Die hochpolitisierte
Materie umfasst Themen der
nationalen Identität, der sozialen
Klassenzugehörigkeit von
TänzerInnen und den Zugriff von
Machthabern aller Art auf das
Territorium der Künste. Berühmte
Tanzkritiker wie Subbudu
beeinflussen als scharfe Beobachter
mit ihren Statements kulturpolitische
Entscheidungen.
66
m 29.März 2007 verstarb der indische Tanz- und Musikkritiker, Padi V. Subramaniam, der unter dem Namen
Subbudu bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war.
Als Gesprächspartner indischer Staatspräsidenten, Premierminister und Kongressleader, ausgezeichnet mit hochkarätigen
Awards, geachtet und gleichzeitig gefürchtet von den VertreterInnen
der klassischen, indischen Tanz- und Musikszene, verlieh er derselben
über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg ihr besonderes Gepräge.
A
Tempeltanz und devadasis
Der ursprüngliche südindische Tempeltanz (sadir, sadirattam oder
dasi attam) war über Jahrhunderte hinweg eine rituelle Notwendigkeit. Er sollte die Gunst der jeweils verehrten Tempelgottheit erwirken
und damit Gedeihen und Fruchtbarkeit garantieren (KersenboomStory 1987: XIX, 87–164). Die speziell ausgebildeten und geweihten
devadasis (sanskr. Dienerin der Gottheit), gehörten ebenso wie die
Tanzmeister (nattuvanar) der isai-vellala-Community an. In
vergangenen Epochen stellte der Dienstbereich der devadasis mit
seinen vielfältigen Aufgaben die sichtbare Ausformung eines sozioreligiösen Konzeptes dar, das im Rahmen der Überlebensstrategien
von Gesellschaften zu begreifen ist. Die Tänzerinnen hatten mit Hilfe
ihres Tanzes und dessen ausgefeilter Gebärdensprache mit der als
gefährlich erachteten Gottheit um den lebenswichtigen Segen zu
„dealen“ (Marglin 1985: 300 ff.). Mitte des 20.Jahrhunderts wurde die
Weihe von devadasis gesetzlich untersagt. Vor allem Fremdeinflüsse
hatten eine teilweise Auflösung des traditionellen hinduistischen
Weltbildes verursacht. Die Bedeutung der Tempel war gesunken und
es erschien auch mit einem modernen Sozialgedanken nicht mehr
vereinbar zu sein, dass devadasis mit einer Gottheit vermählt wurden
und gleichzeitig seitens der Tempelbehörden dazu angehalten waren,
mit irdischen Männern Intimbeziehungen einzugehen, um so
symbolisch das Gedeihen der Gesellschaft zu sichern.
„Pioniere“, Geächtete und nationale Identität
Als „Pioniere“ des heutigen Bharatanatyam gelten vor allem der
indische Jurist E. Krishna Iyer und Smt. Rukmini Devi Arundale. Beide
stammten aus brahmanischen Familien und transferierten den Tanz
unter dem Namen Bharatanatyam auf die weltlichen Konzertbühnen.
Sie waren darauf bedacht, ihm gleichzeitig einen neuen,
angemessenen Status zu verleihen. Rukmini Devi hatte den Tanz
gegen den Willen ihrer Familie erlernt, hatte ihn mit Erfolg vor großem
Publikum präsentiert und somit „salonfähig“ gemacht. Der Tanz war
Region – Indien
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
vorerst gerettet, nachdem es so ausgesehen hatte, als
würde er mitsamt dem unrespektabel und illegitim
gewordenen
Dienstbereich
der
devadasis
in
Vergessenheit geraten. Um jeden Zusammenhang mit
den
nunmehr
sozial
geächteten,
ehemaligen
Tempeltänzerinnen und ihrer Community zu tilgen,
erachtete man es als unerlässlich, dem Tanz auch noch
eine uralte Vergangenheit und „sacred origins“
zuzuschreiben, Eigenschaften, die den reellen Gegebenheiten keinesfalls entsprachen. Die damalige Bewegung
rund um die Erneuerung und „Rettung“ des Tanzes
wurde rasch gekoppelt mit Fragen der nationalen
Identität (Bharucha 1995: 41 ff.). Der Tanz als Thema war
landesweit zum Politikum geworden, wobei selbstverständlich das Jahr 1947 als Zeitpunkt der
Unabhängigkeit, und die Betonung der Suche und
Findung der eigenen kulturellen Wurzeln in Indien
übermächtig hereinspielte. Plötzlich war der vor kurzem
in den hinduistischen Tempeln als kultische Handlung
per Gesetz verbotene Tanz zum nationalen Kulturerbe
erklärt worden, nachdem die brahmanische Elite des
Landes ihn in ihr „Ressort“ übernommen hatte! Zwei
unterschiedliche Auffassungen kennzeichnen die Sicht
der damaligen Ereignisse: die AnhängerInnen der
brahmanischen Gruppe sehen in der Übernahme des
Tanzes eindeutig einen Akt der „Rettung“ von Kulturgut,
Angehörige der ehemaligen devadasi-Community
sprechen demgegenüber aber von „Aneignung“:
„…these Brahmins are stealing our art, our livelihood!“
(Ramnarayan 1984: 28).
„Demokratisierung“ der indischen
Tanzkunst
Der Tanz hatte also Mitte des 20.Jahrhunderts sein Milieu
gewechselt. Er war den Tempel-Autoritäten und der
Devadasi-Community entglitten, und stand ab diesem
Zeitpunkt unter dem Patronat der brahmanischen Elite
Südindiens. Die im früheren Tempelgebrauch
ursprünglich erotische Komponente des Tanzes hatte
Rukmini Devi durch spirituelle Inhalte ersetzt. Seine
mythisch-philosophische Aussagekraft, sowie das
beeindruckende Vokabular seiner Ausdrucksformen
bewirkten, daß binnen kurzer Zeit Mädchen und junge
Frauen in Scharen herbeiströmten, um in den neu
entstandenen Tanzschulen am Bharatanatyam-Training
teilzunehmen. Schon bald gehörte dies zum zusätzlichen
Erziehungsprogramm für die Töchter der sozialen Elite.
Eine derartige Entwicklung hatte niemand erwartet; vor
allem nicht, dass weit über Indiens Grenzen hinaus auch
in der westlichen Welt in naher Zukunft ebenfalls Kurse
und Schulen für Bharatanatyam eingerichtet werden
sollten, wie z.B. auch in Wien seit den späten 1970er
Jahren. Jedenfalls wurden nach den 1940er Jahren die
Konzertbühnen Indiens zum umkämpften Auftrittsterritorium der engagierten Bharatanatyam-KünstlerInnen mit nunmehr als „klassisch“ bezeichneter Ausbildung: Rukmini Devi hatte als „Pionierin“ des
Bharatanatyam neue Unterrichtsmethoden und -kriterien
für den Tanz entwickelt. Im Jahr 1936 gründete sie in
Madras die Tanz-Akademie von Kalakshetra (vgl. dazu
Ramani: 2004: 7 ff.).
All dies rief die Tanzkritik auf den Plan, die lobend,
korrigierend, und schließlich wertend in das keineswegs
mehr sakrale, sondern öffentliche, kulturelle Geschehen
eingriff. Die Darbietungen, KünstlerInnen, ihre Anhängerschaft und Familien, die Tanzmeister (nattuvanar)
und ihre Schulen sowie Kalakshetra gerieten gleichzeitig immer stärker in den Sog kulturpolitischer Machtinteressen.
Singh bezeichnete den Aufstieg Subbudus als Kritiker
als den besten Beweis für die zunehmende Demokratisierung der indischen Künste: Das Publikum war
Patron geworden, die KritikerInnen übernahmen die
wichtige Rolle der Vermittlung zwischen den Massen
und den KünstlerInnen. Dabei entging Subbudu der
Gefahr, von KünstlerInnen „gekauft“ zu werden, was
immer wieder versucht wurde: Er war Beamter mit
einem fixen Einkommen und verfasste seine Kritiken aus
privater Begeisterung (Singh 2005: 23, 25, 55).
Im Jahr 1953 wurde schließlich die Sangeet Natak
Akademi in New Delhi gegründet, als Nationalakademie
für Tanz, Drama und Musik.
Lada Guruden Singh meint, dass dies auch der Zeitpunkt
war, an dem es zu einer weiteren Politisierung innerhalb
der darstellenden Künste Indiens kam, da etliche zu
Bühnenstars avancierte Bharatanatyam-KünstlerInnen
begannen, ihren persönlichen Einfluss bei amtierenden
Ministern zu benützen: einerseits um Druck auf
KritikerInnen auszuüben, andererseits um die begehrten
Awards für ihre Leistungen verliehen zu bekommen
(Singh 2005: 105, 134).
Subbudu als „larger-than-life figure“
Als Kritiker erzielte Subbudu zwischen 1960 und 1980
seine größten Erfolge. In den beiden Jahrzehnten danach
blieb er die oft heftig umstrittene, autoritäre Instanz auf
dem Gebiet der indischen Tanzkritik. Die Feierlichkeiten
zu seinem 85.Geburtstag im Jahr 2002 in Chennai und in
New Delhi bildeten den Höhepunkt seines Lebens (Singh
2005: 247 ff.). Beinahe 60 Jahre zuvor war der 1917 in
Madras geborene Subbudu nach Delhi gekommen. Er
war selbst begabter Musiker, spielte mehrere
Region – Indien
67
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Instrumente und war auch schauspielerisch tätig gewesen. Als 1954 der renommierte Schriftsteller und
Musikkritiker Kalki Krishnamurthy starb, wusste
Subbudu das verbleibende Vakuum auszufüllen. Aufsehen erregte er nicht nur durch seinen heißblütigen,
pfeffrigen Schreibstil, sondern auch durch seine bedingungslos hohen Ansprüche (Singh 2005: 23, 89, 110, 137).
Subbudu wurde bald zu einer harten, aber unparteilichen Prüfinstanz für Qualität und schuf durch seine
spannend zu lesenden, kritischen Beiträge ein breites öffentliches Interesse für Bharatanatyam. Als Kritiker hatte
er sich zu dem entwickelt, was man in Indien als „largerthan-life figure“ bezeichnet.
der Betroffenen (Singh 2005: 19). Trotzdem: Subbudu war
niemandes Gegner. Er fühlte sich aber der Aufgabe verpflichtet, die Qualität des klassischen Tanzes zu schützen
und kämpfte auch für die Rechte der KünstlerInnen
selbst (vgl. dazu Singh 2005: 119, 138, 214 ff.).
Bharatantyam – „The ultimate metaphor“
Erika Neuber ist Lektorin im Institut für Kultur- und
Sozialanthropologie, und seit 1986 Leiterin der hiesigen
Fachbereichsbibliothek. Schwerpunkte: Kunstforschung:
Orientteppich-Kunst der Türkei, indische Tanzkunst in
Südindien und Wien, sowie moderne bildende Kunst in PapuaNeuguinea.
Was ist das Besondere an Bharatanatyam? Was hatte
Subbudu bewegt, diesem Tanzstil ein Leben lang zu
dienen? Die indische Tanzkritikerin Shanta Serbjeet
Singh beschreibt den klassischen indischen Tanz als
Metapher für die Sicht der Realität im hinduistischen
Indien – „the ultimate metaphor“, wie sie sagt – als
Spiegelung des althergebrachten Konzeptes des Hinduismus von Universum und Wirklichkeit: vor allem Polaritäten, wie etwa Gut und Böse, Freude und Leid, Leben
und Tod, sowie das Männliche und das Weibliche,
werden hier als zwei Seiten ein und derselben Realität
verstanden. Raum und Zeit – und dies scheint von
zentraler Bedeutung zu sein – werden lediglich als
Konstrukte des menschlichen Geistes gesehen, die sich
immer als relativ, begrenzt und letztlich als illusorisch
erweisen (Singh, Sh.S. 2000: 3 ff). Eine außergewöhnliche
Rolle spielt bis heute die im Tanz dargestellte
Liebesbeziehung von einer Heldin (nayika) und ihrem
Helden (nayaka), die die Sehnsucht der menschlichen
Seele nach Vereinigung mit dem Transzendenten
darstellen soll. Die in Südindien seit Jahrhunderten
praktizierte Gottesmystik (bhakti) bildet die Grundlage
dieser Thematik (vgl. dazu Gaston 2005: 87 ff.).
Das Ende einer Ära?
Subbudu bezog stets politische Positionen, wenn es um
die Tanzkunst ging: In seinen Kritiken attackierte er
berühmte Tanzmeister, stellte Sekretäre von sabhas für
Unregelmäßigkeiten zur Rede und rügte Kulturorganisationen für ihr undurchschaubares Management, womit
er die Betroffenen zur öffentlichen Stellungnahme
zwang. Seine scharfen Attacken gegen alle experimentellen Tendenzen im Bereich des klassischen Tanzes und
gegen Auftretende, welche seinen Ansprüchen nicht
genügten, sorgten während Subbudus gesamter Schaffensperiode für Irritationen und Existenzängste, ja tätliche Angriffe und sogar Morddrohungen aus dem Kreis
68
Region – Indien
Der Tanzkritiker Subbudu verstarb am 29.März 2007 um
halb acht Uhr abends. Binnen weniger Stunden mailte
es die südindische Bharatanatyam-Community an TanzkollegInnen in aller Welt: Subbudu is no more, eine Ära
ist zu Ende gegangen, für diesen Mann gibt es keinen
Ersatz.
„
Literatur
Bharucha, Rustom. Chandralekha. Woman – Dance
– Resistance. New Delhi, 1995.
Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to
Theatre. New Delhi, 2005.
Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi
Tradition in South India. Delhi, 1987.
Marglin, Fédérique Appfel. Wives of the God-King. The
Rituals of the Devadasis in Puri. Delhi, Oxford, New
York, 1985.
Ramani, Shakuntala (comp. and ed.). Rukmini Devi
Arundale. Centenary Valedictory Volume. Chennai, 2004
Ramnarayan, Gowri. Rukmini Devi: Dancer and
Performer. A Profile (Part 2). Sruti. South Indian classical
music and dance monthly. July 1984
Singh, Lada Guruden. Beyond Destiny. The Life and Times
of Subbudu. Mumbai, 2005.
Singh, Shanta Serbjeet. Dance. The ultimate Metaphor for
the Indian View of Reality. In: Singh, Sh.S. (ed.): Indian
Dance. The ultimate Metaphor. Hongkong, New Delhi,
2000.
Früher waren die devadasis in ganz Indien verbreitet; heute gibt es sie
vor allem noch im Süden des Landes.
von EVELINE ROCHA TORREZ
Indische devadasis
einst und jetzt
Priesterinnen, Tänzerinnen oder Prostituierte?
Foto: Christian Mazal
Gibt man den Begriff devadasi in eine
Internet-Suchmaschine ein, so stößt
man einerseits auf Berichte von zur
Prostitution gezwungenen
Minderjährigen, andererseits aber
auch auf Websites zur indischen
Tanzkunst und zu hinduistischen
Priesterinnen. Man fragt sich zu
Recht: Was hat all das miteinander
zu tun?
as Wort devadasi bedeutet soviel wie Gottesdienerin
(Kersenboom-Story 1987: XV) und wird seit Ende des 19.
Jahrhunderts als Sammelbegriff für geweihte Frauen
(Svejda 1991: 67f) verwendet. Die Tradition, Frauen einem
bestimmten Tempel zu weihen und sie dazu symbolisch mit der
Tempelgottheit zu verheiraten, dürfte sehr weit zurückgehen. Unter
verschiedenen Bezeichnungen werden derartige Tempelfrauen bereits
ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. erwähnt (Svejda-Hirsch 1991: 34,
Shankar 1994: 17); ihre Anzahl und auch ihr Tätigkeitsbereich scheint
unterschiedlich gewesen zu sein. Glaubt man den Inschriften, so ließ
der Chola-Monarch Rajaraja im Jahr 1004 vierhundert devadasis in
den Haupttempel von Tanjore beordern (Shankar 1994: 53) und auch
200 Jahre später sollen hunderte devadasis im Tempel von Somnath in
Gujarat gelebt haben (Svejda-Hirsch 1991: 36). Offenbar gab es eine
starke Verstrickung zwischen dem Tempeldienst und den Tanzvorführungen in den königlichen Palästen: Die devadasis standen in einem Dreiecksverhältnis zwischen dem Tempel und einem reichen,
adeligen oder gar königlichen Patron, der den Tempel einschließlich
Priesterschaft und devadasis finanziell unterstützte (Svejda-Hirsch
1991: 48). Als Tempeltänzerinnen erhielten sie ein fixes Gehalt und
Ackerland von ihrem Tempel, wurden aber mitunter selbst so
wohlhabend, dass sie dem Tempel Gold, Lampen, Tiere oder ebenfalls
Land schenken konnten (Kersenboom-Story 1987: 27). Außerdem
wurden die devadasis nicht nur (ausschließlich von Männern!) in
Musik und Tanz ausgebildet und durften lesen und schreiben lernen,
sondern waren auch berechtigt, Kinder zu adoptieren, als
Haushaltsvorstand zu agieren und zu erben (Svejda 1991: 48, Shankar
1994: 57); „Privilegien“, die für viele hinduistische Frauen bis zum
heutigen Tag unvorstellbar sind.
D
Europäische Handelsreisende, Missionare und Mitglieder der
britischen Kolonialmacht konnten mit der vorgefundenen Verbindung
von Sexualität und Religion meist wenig anfangen (Jordan 2003: 160)
und berichteten entsprechend schockiert über die „TempelProstituierten“. In seinem 1792 veröffentlichten Buch schildert Abbé
Dubois u.a., dass wichtige Tempel jeweils acht bis zwölf devadasis
beschäftigten (Gaston 1996: 46), dass diese den Göttern zwei Mal
täglich mit Tanz und „obszönem“ Gesang huldigten bzw. schöne
Frauen ihren Ehemännern von den priesterlichen Brahmanen für das
Region – Indien
69
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
unsittliche Tempel-Treiben weggenommen wurden
(Shankar 1994: 54f, Gaston 1996: 38f). 1870 berichtet John
Shortt davon, dass die geweihten Mädchen als
Fünfjährige ein hartes Tanztraining begannen und bei
Erreichen
der
Pubertät
entweder
von
den
Tempelpriestern selbst oder von gut dafür zahlenden
reichen Männern defloriert wurden und fortan allen
gleich- oder höherkastigen Männern zur Verfügung
stehen mussten. Verhältnisse mit Männern aus niedrigeren Kasten oder Shudras (Unberührbaren) wurden bestraft und konnten sogar einen Ausschluss aus dem
Tempelwesen zur Folge haben (Shankar 1994: 56f, Gaston
1996: 41). In den meisten Fällen dürften sich vertraglich
geregelte, längerfristige Konkubinate entwickelt haben,
bei denen es der devadasi sehr wohl möglich war, selbst
einen möglichst reichen, mächtigen und gebildeten Liebhaber auszuwählen bzw. hohe Summen für Tanz-Auftritte
außerhalb des Tempels zu verlangen (Gaston 1996: 40ff).
Religiöser Kontext
Bei der gesamten Thematik darf nicht außer Acht
gelassen werden, was Sexualität und Religiosität im
hinduistischen Kontext bedeuten. Vor allem in Südindien
haben sich drawidische Fruchtbarkeitskulte erhalten
bzw. ab dem 5. Jahrhundert mit dem vedischen
Hinduismus vermischt. Gleichzeitig wurde auch das
tantrische Konzept der göttlichen Vereinigung von
männlicher und weiblicher Energie (shiva-shakti) in die
südindische Glaubenspraxis integriert (Vijaisri: 36ff). Vor
diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel,
dass den sakralen Prostitutierten wichtige Funktionen
zuteil wurden und sie daher einen hohen Stellenwert
genossen. Devadasis sollten den bösen Blick, schlechte
Ernten, Krankheit und Tod abwehren, das Tempelheiligtum pflegen und die höheren Mächte sowohl durch
ihre Kunst (Gesang und Tanz) als auch durch ihre
Sexualität gütig stimmen. Als Frau, die durch ihre Ehe
mit der Tempelgottheit nie Witwe werden konnte (und
dadurch niemals von der sati, der Witwenverbrennung
bedroht war), galt /gilt sie als nityasumangali, die ImmerGlückliche/Glückbringende. Devadasis wurden/werden
oft auf Hochzeiten und zu anderen Festlichkeiten
eingeladen, um den Anwesenden Glück zu bringen. In
diesen Kontext passt das Sprichwort „to see a courtesan
(or prostitute) is auspicious and the destruction of sin“
(Kersenboom-Story 1987: 47ff). Allerdings stellt sich hier
die Frage, ob die solcherart bekundete Wertschätzung
nicht einfach nur ein bequemes Instrument dafür war/ist,
um mächtigen Königen bzw. reichen hochkastigen
Männern eine gesellschaftlich akzeptierte Form der
Promiskuität mit Frauen aus niedrigeren Kasten zu
ermöglichen (Jordan 2003: 151).
70
Region – Indien
Wandel
Auch wenn der Status der devadasis in früheren
Jahrhunderten durchaus kritisch zu betrachten ist, kann
man davon ausgehen, dass sich ihre gesellschaftliche
Position in den letzten 150 Jahren enorm verschlechtert
hat und von den einst vorhandenen Privilegien kaum
mehr etwas übrig geblieben ist. Begonnen hat dieser
Wandel mit der Besetzung Indiens durch die Briten im
Jahr 1857. Die Verbreitung der christlich-viktorianischen
Ideologie führte bald zum Heranwachsen einer von
westlichem Gedankengut beeinflussten Mittel- und
Oberschicht, die das Phänomen der devadasis aus
europäischer Sicht zu betrachten begann. Gerne wurde
die Tempelprostitution von den Brahmanen als für die
„moderne“ Frau entwürdigend kritisiert und mit
fiktiven, keuschen und „reinen“ Priesterinnen früherer
Zeiten kontrastiert (Jordan 2003: 151). Es gilt mittlerweile
als gesichert, dass es derartige „hinduistische Nonnen“
niemals gegeben hat und aus der geschichtlichen Distanz
scheint auch der Anspruch der damaligen probritischen
Sozialorganisationen äußerst fragwürdig, mit einem
Verbot des devadasi-Kults den Status der Frau
verbessern zu wollen (Jordan 2003: 156). Vielmehr dürfte
es bei der groß angelegten Anti-Nautch-Kampagne (von
natch = bestimmter devadasi-Tanz) ab 1882 eher darum
gegangen zu sein, ein weibliches Privileg zu beseitigen,
dass dem hinduistischen Patriarchat schon lange ein
Dorn im Auge war. Durch gezielte Propaganda wurde
den devadasis in den folgenden Jahrzehnten die
Lebensgrundlage entzogen (Jordan 2003: 161 f). Dabei
war es der europäisierten hinduistischen Mittelschicht
ein Anliegen, im Ausland nicht mit „barbarischen“
Bräuchen in Verbindung gebracht zu werden. Immer
wieder wurden die britischen Besatzer damit bedrängt,
Anti-devadasi-Gesetze zu erlassen bzw. keine Auftritte
von devadasis im Ausland oder vor hohen
Regierungsmitgliedern zuzulassen. Zeitgleich mit der
öffentlichen Diskreditierung der Tempeltänzerinnen
entstand eine ebenfalls hochkastige revivalist-Bewegung,
die den sadir-Tanz der devadasis zur rettenswerten
klassischen Kunst stilisierte. Die Narrative von den
ehemals keuschen „Hindu-Vestalinnen“ wurde dabei
gern aufgegriffen, um den Tanz von seinem
„unwürdigen“ Umfeld zu „reinigen“, für die
brahmanische Oberschicht salonfähig zu machen
(Shankar 1994: 146, Gaston 1996 b: 42) und als neue, für
die indische Nation repräsentative Staatskunst zu
etablieren.
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Was blieb von den devadasis – Heutige
Situation
Um es mit Svejda-Hirschs treffenden Worten
auszudrücken: „Es sind einzig und allein die devadasis
selbst, die […] zugrundegerichtet wurden. Weder der
Tanz noch die Prostitution als solches wurden letztlich
angeprangert oder verboten“ (Svejda-Hirsch 1991: 53).
Tanz
Unter dem neuen Namen Bharatanatyam wurde der
sadir ab den 1930er Jahren zu der international
anerkannten indischen Tanzkunst (Gaston 1996b: 45).
Paradoxerweise hatten manche der aufstrebenden
revivalist-Künstlerinnen überhaupt keine Bedenken, bei
den geächteten devadasis Unterricht zu nehmen (wie
etwa Rukmini Devi). Als inhaltlich problematisch erwies
sich vor allem die tänzerische Darstellung von Erotik
(shringar) im Rahmen der hingebungsvollen Gottesliebe
(bhakti), die schlecht zum asketischen Bild des „neuen“
klassischen Tanzes passen wollte (Gaston 1996b: 46f).
Ohne den Tanz selbst allzu stark zu verändern, wurde
das Problem letztlich durch eine stärkere Fokussierung
auf abstraktere Inhalte und die zunehmende Sanskritisierung (Einbeziehen klassischer Sanskrit-Texte, PujaOpfer auf der Bühne, Annahme brahmanischer Lebensformen) gelöst (Shankar 1994: 146). Veränderte Auftrittsbedingungen, wie große Bühnen und neue Unterrichtsformen (bezahlter Unterricht an Tanzakademien statt
Unterweisung durch gurus aus devadasi-Familien), taten
das ihre, um den Konnex zu den devadasis und zur
Tempelprostitution vergessen zu machen.
Prostitution
Zwar verschwanden die devadasis mit dem Prevention of
Dedication Act 1947 aus den großen, prestigeträchtigen
Tempeln, am Land zeigte das Gesetz jedoch keinerlei
Wirkung. 1975 wurden in Südindien drei- bis
viertausend Mädchen der Göttin Yellamma geweiht
(Jordan 2003: 151) und 1987 berichteten die
Tageszeitungen des Bundesstaates Karnataka von der
Weihe von tausend Mädchen, die im Beisein der Polizei
erfolgte, als ob keinerlei Verbotsgesetze existierten
(Shankar 1994: 131). Auf die Weihe im Kindesalter folgt
unweigerlich eine Zukunft als Prostituierte, die nach
einer
möglichst
gut
finanziell
abgegoltenen
Entjungferung durch lokale Potentaten meist ein Leben
in einem Großstadtbordell bedeutet. Eine Ausbildung
erhalten die heutigen devadasis nicht; die meisten
können, ebenso wie ihre Eltern, weder lesen noch
schreiben. Nach einer Statistik der Indian Health
Organisation waren 1994 15% der 10 Mio. indischen
Prostituierten devadasis (Jordan 2003: 156). Gründe für
eine Weihe sind oft familiäre Probleme (Krankheiten,
unerfüllter Kinderwunsch), die mit einem „Opfer“ an die
Dorfgöttin/den Tempelgott gelöst werden sollen, aber
natürlich auch die bittere Armut und Unwissenheit, die
die Eltern oft zur leichten Beute von Kupplerinnen und
Bordellbesitzerinnen werden lässt. Tatsächlich verdienen
die jungen Frauen in den Stadtbordellen meist ein
Vielfaches von dem, was sie jemals als Landarbeiterinnen
verdienen könnten und schüren bei ihren Besuchen im
Dorf Hoffnungen auf ein besseres Leben. Mit ihrem Geld
erhalten sie neben den Kuplerinnen und Bordellbesitzerinnen jahrelang die eigene Großfamilie, die sich
trotzdem oft nicht um gealterte oder kranke devadasis
kümmert. Um die eigene Altersversorgung zu gewährleisten, kaufen oder adoptieren viele devadasis Mädchen, die in den Teufelskreis eingespannt werden (Jordan
2003: 152). Der Preis ist hoch: Ungewollte Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten und der Tod durch
eine HIV-Infektion sind übliche Schicksale. Nur selten
gelingt der Ausstieg durch Heirat oder eines der überaus
zaghaft installierten staatlichen devadasi-Rehabilitierungsprogramme. Internationale NGOs versuchen zu
helfen, doch um das Übel an der Wurzel zu packen,
müsste der Staat in den Bereichen Armutsbekämpfung
und Bildung sehr aktiv werden (URL 1–3).
„
Eveline Rocha Torrez hat die Studienrichtungen Handelswissenschaft und Wirtschaftpädagogik absolviert und studiert
derzeit KSA im 2. Abschnitt. www.bolivia.at.tf
Literatur
Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to Theatre. Manohar,
New Delhi, 1996.
Gaston, Anne-Marie. Interpreting the Erotic in Bharata Natyam. In:
Tanzkunst, Ritual und Bühne. Begegnungen zwischen Kulturen. Hrsg.:
Nürnberger, Marianne/Schmiderer, Stephanie. Frankfurt am Main, 1996.
Jordan, Kay K.. From Sacred Servant to Profane Prostitute. A History of the
Changing Legal Status of the Devadasis in India, 1857-1647. Manohar,
New Delhi, 2003.
Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi tradition in South
India. Motilal Banarsidass, New Delhi, 1987.
Shankar, Jogan. Devadasi Cult. A sociological analisis. Ashish Publishing
House, New Delhi, 1994.
Svejda-Hirsch, Lenka. Die indischen devadasis im Wandel der Zeit.
„Ehefrauen“ der Götter; Tempeltänzerinnen und Prostituierte. Peter
Lang, Bern, 1991.
Vijaisri, Priyadarshini. Recasting the Devadasi. Patterns of Sacred
Prostitution in Colonial South India. Kanishka Publishers, New
Delhi, 2004.
Internet
URL 1: http://www.worldvision.org/about_us.nsf/child/eNews_
india_051606, Stand 30.11.07
URL 2: Voykowitsch, Brigitte. http://www.nzz.ch/2005/05/30/fe/
articleCKMEA.html, Stand 30.11.07
URL 3: http://www.kindernothilfe.de/Bandhavi.html, Stand 30.11.07
Region – Indien
71
Ein Reisebericht über die Erfahrungen zweier
Indien-Aufenthalte
von KATHARINA HAMMERLE
Reisen als Kind
Kinder erleben Reisen anders als Erwachsene
„24.7.1993 Heute bin ich sehr erschöpft
von dem vielen Reisen […] Endlich waren
wir in Bombay [Mumbai, Anm. K. H.]
angelangt. Es war spät in der Nacht. Wir
waren alle schon sehr müde. Wir mußten
wieder einchecken, wegen dem nächsten
Flug nach Bombay, Geld wechseln und
noch viel mehr was halt dazu gehört […]“
(Tagebucheintrag)
as Reisen als Kind beschäftigt mich schon lange. Besonders
als ich im Sommer 2005 mit meinem Freund und unserem
damals sieben Monate alten Sohn eine Reise nach Bali
plante. Es stellten sich mehrere Fragen: Was macht das
Reisen mit einem Kind? Inwieweit prägen Reisen den Lebenslauf?
Was passiert durch das Reisen mit einem selbst? Welche Vor- und
Nachteile, welche Konsequenzen entwickeln sich daraus und was ist
dadurch anders im Alltagsleben? Ich begann intensiver als zuvor über
das Reisen nachzudenken. Die wichtigste Erfahrung war, dass die
Reisen erst zu Tage kommen, wenn man wieder „zu Hause“ ist. „Die
Reise ist erst dann wirklich abgeschlossen, wenn der einzelne die
Reise im Alltag für sich und vor anderen installiert, vorgezeigt und
erzählt hat.“ (Fendl/Löffler 1995, 55).
D
Foto: Claudia Prinz
Der Ausgangspunkt der Überlegungen für den vorliegenden Text
waren zunächst die Bilder der Erinnerung. Es war schwer, die Bilder
im Gedächtnis von denen zu trennen, die lediglich Erinnerungen an
gemachte Fotos sind (vgl. Köstlin 1995). Meiner Ansicht nach werden
sowohl im Alltag, als auch auf Reisen Bilder und Erlebnisse
gespeichert, die in Kombination mit Gerüchen, Farben, dem Klima,
mit Geräuschen etc. grundlegende Eindrücke hinterlassen. André
Gingrich verdeutlicht hier: „Dies ist nicht bloß der elementare Bereich,
in dem kulturelle Wertvorstellungen und Axiome an Angehörige der
jeweiligen Kultur häufig vermittelt werden. Bei aller Betonung der
Notwendigkeit des Erlernens lokaler Sprachen gilt auch für die
ethnologische Feldforschung: Beispielhafte, oft wortlose Erfahrung ist
eine nichtexklusive, aber unabdingbare Ebene, über die auch von
außen kommende AnthropologInnen ‚Kultur erlernen‘“ (Gingrich
1999: 200).
Die wortlose Erfahrung war das, was bei meinen mehrwöchigen
Indienreisen im Alter von zehn und elf Jahren bedeutend war. Das lag
wohl auch daran, dass man sich das Reisen als Kind nicht aussucht.
Man reist mit, ist nicht autark. Ein wesentliches Moment des modernen Reisens ist dadurch ausgehebelt: Jenes, sich in einem Land frei zu
bewegen. Die Erinnerungsbilder an Indien sind somit auch an passive
Erlebnisse gebunden: Ein Bambusgewebe, eine Theke; Barstühle,
große Chapati, eine ockerfarbene und eine grüne Soße in kleinen
weißen Schälchen vor mir unter dem Kinn. Nach zwei Metern
verschwimmt die Erinnerung an diesen Ort.
Natürlich sind die Erinnerungen an spätere Reisen präsenter. Ich
entsinne mich etwa, als Sechzehnjährige wortlos in der australischen
72
Reisebericht – Indien
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Ashram und „Adventure“
Wir wohnten gemeinsam mit einer befreundeten
Reisegruppe in einem Ashram im Süden Indiens. Ein
Ashram kann mit einem Kloster verglichen werden.
Dadurch kam die Gruppe nicht viel mit Hotel-Komplexen und anderer touristischer Infrastruktur in Berührung. Lediglich bei Kurzaufenthalten, die durch die
Flugzeiten oder Notfälle entstanden, verbrachten wir
wenige Stunden oder eine Nacht in einem Hotel. Für die
Fahrten, die wir hie und da z.B. in einen Nationalpark
unternahmen, stand uns immer derselbe Taxifahrer zur
Verfügung — was heute ein Gefühl von Kolonialismus
entstehen lässt: Ich war als europäisches Kind in Indien
und ließ mich herumchauffieren. Wir bewegten uns
kurzzeitig in quasi europäischen Kontexten innerhalb
Indiens. So erinnere ich mich etwa, dass ich Freunde
besuchte, die in einem Hotel untergekommen waren. Als
ich auf die Toilette ging, bewunderte ich das gefaltete
Dreieck am Ende der Klopapierrolle. Die Verwunderung
war sehr stark, denn es bestand ein großer Unterschied
zu den Plumpsklos ohne Klopapier, wo es stattdessen
fließendes Wasser gab. Diese Toilette unterschied sich
auch von den europäischen Aborten. Ich wurde in Indien
erstmals mit den Auswüchsen einer luxuriösen
westlichen Kultur vertraut gemacht. Zwischendurch war
es jedoch auch angenehm in einem „richtigen“ Bett zu
schlafen und Spaghetti zu essen.
Foto: Claudia Prinz
Wüste gesessen und am Rande gehört zu haben, wie gut
die Mitreisenden schon Englisch sprachen. Ich war
überwältigt von der Landschaft und der Art zu Reisen.
Kulturschock und Einsamkeit waren Gefühle, die
aufkamen. „Es gehört zum Grundbestand bürgerlicher
Reiseideologie, daß man das Fremde unverstellt in den
Blick zu nehmen habe und gewissermaßen seine
Herkunftskultur abstreifen müsse, um die Fremde
wirklich authentisch erleben und erfahren zu können“,
schreibt der empirische Kulturwissenschaftler HansJoachim Althaus. „Dieses gutgemeinte Reiseprogramm
übersieht, daß es sich um eine Fiktion handelt: Niemand
reist voraussetzungslos. Schon vor der Ankunft
existieren Bilder dessen, was einen erwartet — was man
erwartet“ (Althaus 1996: 105). Diese Bilder sind bei
Kindern anders. Sie sind von Erziehung und
Sozialisation geformt. So war in Indien die wortlose
Erfahrung als Kind oft stärker, da ich in Situationen
involviert war, die mir das Land „bescherte“: Allein und
plärrend in einem dunklen Lift stecken zu bleiben und
dann von lachenden Indern mit Brecheisenstangen
wieder befreit zu werden. Es war das Einsammeln von
Kniffen in die Wange. Blumengirlanden wurden von
StraßenverkäuferInnen um mich gehängt, bis ich die
wenige Meter entfernte Mutter erreichte, um Rupien zu
bekommen. Kinder sind anders involviert als
Jugendliche oder Erwachsene. Es waren Erlebnisse,
jedoch nicht im Sinne des heute verbrauchten Begriffes
„Adventure“.
Derlei Kontraste wurden im Ashram aufgehoben. Es war
ein einfaches Gebäude, das wir mit Matratzen und
Gittergestellen von Straßenhändlern bewohnten. Es gab
regelmäßige Essens- und Gebetszeiten, die wir nach
Möglichkeit einhielten. Während der mehrwöchigen
Aufenthalte wurden wir Kinder von meiner Mutter und
anderen GruppenleiterInnen in Einheiten der
„Erziehungsarbeit von Menschlichen Werten“ unterwiesen. So ergab sich viel Abwechslung und besondere
Reiseumstände stellten sich ein. In der Erziehungsarbeit
wurden wir etwa in die Kindermeditationen eingeführt.
Theaterstücke ließen uns im Spiel die Werte erspüren, die
uns vermittelt werden sollten. Erlebnisse wie Elefantenritte etc. konnten nachgespielt werden. Hier war auch die
Verbindung zur Umwelt in Indien gegeben. Besonders
stark waren die Empfindungen in den Gesangsrunden,
die regelmäßig vor Sonnenauf- und Sonnenuntergang im
Ashram stattfanden. Hunderte Menschen aus dem Inund Ausland sangen Mantras und musizierten. Der
Ashram mutierte zu einem großen „Klanghaus“. Dies
scheinen verbindende, transkulturelle Erfahrungen zu
sein, die gemeinsam in einem Tun eingebettet sind (vgl.
Wenter 1996).
Weitere Erlebnisse waren, von bettelnden Kindern
umgeben zu sein oder die eigene Schwester fast durch
die Türe des fahrenden Taxis zu verlieren. Affen, die
Mangos aus den Zimmern stahlen, oder ein indisches
Kind, dessen Schlangenbiss durch einen Schnelltransport
mit unserem Buggy nicht tödlich endete, waren
Impressionen anderer Qualität, als ich es von Strandurlauben kannte. Nicht zuletzt beeinflussten die Düfte
von Blumengirlanden, Räucherstäbchen und exotischen
Reisebericht – Indien
73
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Foto: Privatfoto K. Hammerle
Speisen in Kombination mit Farben von Saris und Waren,
die an Märkten oder Straßenecken verkauft wurden,
meinen Eindruck vom „typisch Indischen“. Dadurch
dass wir in einem Ashram lebten, nahm ich an
Aktivitäten der südindischen Bevölkerung teil — und
nicht an solchen, die für ErlebnisurlauberInnen inszeniert werden.
Was macht das Reisen mit einem selbst?
Das Reisen verändert den Blick auf den europäischen
Alltag, gibt zu denken und bereichert. Wenn ich in Wien
unterwegs bin, erscheint manches vertraut. Die
Erlebnisse aus Indien schalten sich oft in die
Wahrnehmung und wirken wie ein Filter, der manches
relativiert und die Distanz zu Menschen anderer
Kulturen aufhebt. „Beim Zusammentreffen mit
Fremdem und Vertrautem scheint sich letztlich oft das
Vertraute durchzusetzen“, schreibt Ulf Hannerz
(Hannerz 2007: 106). Doch die Reisen verändern den
Blick sowohl auf Fremdes als auch auf Vertrautes. Die
Sicht auf die eigenen „Mitbürger“ ist anders geworden.
Das Reisen und die dabei gemachten Erfahrungen sind
ein Zwischenort, in dem ein Rückzug in Form von
Erinnerungen möglich ist. Im weiteren Lebenslauf
entsteht also durch die Reisen eine Distanz zur
europäischen Kultur.
Aus einem Interview mit Ferdinand Gundolf, dem Leiter
der damaligen Reisegruppe, und den Mitreisenden
Marie Luise Prantner und Magdalena Hammerle gehen
in Bezug auf das Reisen als Kind folgende Punkte hervor:
Laut Prantner wird die Anpassungsfähigkeit des Kindes
gefördert, Vorurteile und Generalisierungen gegenüber
anderen Kulturen passieren nicht so schnell. Magdalena
Hammerle sagte: „Wenn du in Indien warst, bist du für
den Rest deines Lebens geimpft.“ Auf genaueres
Nachfragen erklärte sie sinngemäß: Wenn du als Kind
mit Armut, anderen Hygienepraktiken, einer anderen
74
Reisebericht – Indien
Art menschlicher Bedürfnisse konfrontiert wirst, gehst
du auch anders mit deiner Umgebung um. Nicht zuletzt
steht für sie das Wissen um das Wesen im Menschen im
Vordergrund und dessen Erkundung im Reisen.
Vertrauen ist für sie ein Resultat des Reisens.
Meines ist Beweglichkeit und Flexibilität im Leben.
In diesen Erlebnissen und ihren Konsequenzen sehe ich
auch meine Verbindung zur Kultur- und Sozialanthropologie und ihren Inhalten, die dazu beitragen, sich
allgemein und vielseitig mit jeglicher Umgebung
auseinander zu setzen.
„
Katharina Hammerle studiert seit 2003 am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie. Ein Sohn. Interessensschwerpunkte im Bereich der Ethnomedizin, Generationen und Gebiete des osteuropäischen Raumes. Radioprojekt „Ethnowelle“.
Literatur
Althaus, Hans-Joachim. Auslandsleute. Westdeutsche Reiseerzählungen über Ostdeutschland. Tübingen, TVV-Verlag, 1996.
Fendl, Elisabeth/Löffler, Klara. Die Reise im Zeitalter ihrer technischen
Reproduzierbarkeit: zum Beispiel Diaabend. In: Cantauw-Groschek,
Christiane (Hg.): Arbeit - Freizeit - Reisen. Die feinen Unterschiede
im Alltag. Münster/New York, Waxmann, 1996, 55-68.
Gingrich, André. Erkundungen. Themen der Ethnologischen
Forschung. Wien, Köln, Weimar, Böhlau, 1999.
Hannerz, Ulf. Das Lokale und das Globale: Kontinuität und Wandel.
In: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Ethnizität und Migration.
Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin, Reimer, 2007,
95-113.
Köstlin, Konrad. Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur
Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. In:
Brunold Biegler, Ursula/Bausinger, Hermann (Hg.): Hören - Sagen Lesen - Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen
Kultur. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a., Lang, 1995, 395-410.
Wenter, Gerlinde. ,fahren und er-fahren'. Pädagogische und
Anthropologische Überlegungen zum Reisen. Innsbruck, 1996.
(Univ. Diplomarbeit)
Weiterführende Literatur
Punnamparambil, Asok (Hg.). Im Schatten des Taj Mahal.
Zeitgenössiche Erzählungen und Lyrik aus indischen
Regionalsprachen. Bad Honnef, Horlemann, 2006.
Ein anthropologischer Ausflug in die Welt von
Words, Sounds and Power
von WERNER ZIPS
Nyahbinghi
Eine elementare Erfahrung von Rastafari
Foto: Werner Zips
Über die Herkunft des Begriffes
Nyahbinghi existiert eine Vielzahl von
Theorien. Rastafari übersetzen den
Terminus mit Tod den schwarzen und
weißen Unterdrückern und beziehen
sich auf den Befreiungskampf von
Haile Selassie I. gegen die
Besatzungsarmee Mussolins in
Äthiopien ab dem Jahr 1935.
Nyahbinghi betrachten sie als
Speerspitze der antikolonialen
Befreiung. Nyahbinghi werden aber
auch die Versammlungen von
Rastafari genannt, die üblicherweise
zwischen drei Tagen und drei Wochen
dauern. Nyahbinghi chants besitzen
einige Ähnlichkeit mit den Hymnen
afrikanisch-christlicher
Glaubensgemeinschaften und gelten
als wichtigste Inspiration, sowohl
musikalisch als auch textlich für Rasta
Reggae.
s darf bezweifelt werden, dass sich selbst der inspirierteste,
gehirnentzündete Ethno-Fantast jemals eine Konstruktion
von Vorstellungen erträumen hätte können, die so
merkwürdig und mächtig ist, wie jene von Rastafari – so etwa
beginnt das Kapitel über die Brotherhood of Rastafari in Reggae
Bloodlines, dem ersten Buchklassiker über die aus Jamaica
stammende Musik und Kultur. Die Erinnerung an den Satz schießt mir
durch den Kopf, als ich mich bei meinem ersten Nyahbinghi wieder
finde, am erst fünften Tag meiner ersten Jamaika Reise. Angesichts
dessen, was sich vor meinen Augen und in meiner structure (Körper)
bei diesem Ereignis abspielt, nimmt sich das Zitat geradezu wie eine
maßlose Untertreibung aus. Words können nur unvollkommen
beschreiben, welche Energien (Fire) durch die Sounds and Power bei
einem physischen Nyahbinghi frei gemacht werden. Selbst der
heißeste Sizzla oder Capleton chant wirkt dagegen wie ein Streichholz
neben einem ausbrechenden Vulkan. Auch heute noch, beinahe ein
Vierteljahrhundert danach, fallen mir nur Superlative ein, um mein
damaliges Empfinden zu beschreiben: es war das faszinierendste,
mitreißendste, intensivste, aber auch bedrohlichste Erlebnis von
kultureller Praxis, das ich bisher haben durfte – trust me!
E
Zu einem Binghi kann man nicht einfach hingehen, wie zu einem
Reggae Konzert. Dazu bedarf es einer ausdrücklichen und formellen
Einladung des Nyahbinghi Hauses oder wenigstens des jeweiligen
veranstaltenden Elders und seiner Idren. Ich hatte nur die vage Info
eines Korallenschnitzers in Montego Bay.
Doch Jah schickte mir einen kleinen Dread mit mächtigen locks unter
einer abgetragenen Tam als conductor meines Minibuses. Many are
called, but chosen are few – ich musste ihn einfach fragen, ob er
irgendetwas von einem Binghi wusste. Schließlich war ich hier, um
eine Forschung über Rasta zu machen. Einen 500 Meter Sprint später,
auf den Fersen des kleinen Dread hinter einem abfahrenden Taxi
hinterher, finde ich mich mit vier Dreadlocks Rastafari eingepfercht in
einem alten Cortina. Mit den Worten: „De I ah trod to the Binghi? Tek
dis yah man deh!“ hatte mich der conductor einfach ins Taxi gesetzt.
Aus der Perspektive der Vier im Cortina schien Jah schlicht jemanden
zur Begleichung der Taxi Rechnung geschickt zu haben.
Die legendenumwobenen Bergketten des Inselinneren haben schon
den Maroons in ihrem Kampf gegen die Sklavenhalter Unterschlupf
geboten. Eine kleine rot/gold/grüne Flagge am Wegrand ist das erste
Zeichen für Eingeweihte, dass wir auf dem richtigen Weg zum
Wiener Institut – Feldforschung
75
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Nyahbinghi ground sind. „Willst du da wirklich hin?“,
fragt mich einer der Vier im Taxi. „You are going to a
battlefield!“ Nicht gerade ermutigend.
Schließlich bleibt das Taxi mit jaulendem Motor und
rauchender Kupplung im Lehmboden hängen. „Babylon
cyaan move forward again!“, lautet der trockene
Kommentar eines der Mitfahrenden. Ich bezahle wie
prophezeit die Rechnung und bekomme zum Dank zwei
große Taschen in die Hand gedrückt. Der dumpfe Klang
von Trommeln weist uns den Weg zum Nyahbinghi.
Steven Spielberg hätte sich keine bessere Kulisse für
einen Rasta-Film aussuchen können: Regenwald ringsum, aufsteigender Dampf von der dichten tropischen
Vegetation im Dämmerlicht der untergehenden Sonne,
Klangfetzen von Nyahbinghi-Kriegsliedern. Plötzlich
steht er vor uns, wie aus dem Boden ge-wachsen.
Barfüßig, dreadlocks bis über die Hüfte, nur mit einer
roten Short bekleidet, eine Kalebasse auf dem Kopf:
„Hotter Hot!“ schreit er zur Begrüßung. „Redder Red!“
erwidern meine Begleiter offensichtlich adäquat im Vorbeigehen. Gemeint ist der apokalyptische Endkampf,
dem nach dem Untergang Satans und der Mächte des
Bösen im kosmischen Feuer des Armageddon die
Vollendung des Gottesreiches folgt.
Dazu sollen mir die passenden Bilder sogleich nachgeliefert werden. Wir erreichen den Ort der Groun(d)ation.
Mein Blick fällt auf ein gemaltes Bild neben dem Eingang, das einen Reiter mit fliegenden dreadlocks hoch zu
(Kampf)Ross darstellt, der eine Lanze durch die Brust
des Papstes bohrt, der wie ein Drache Babylon in seinen
Fängen hält. Darunter die Losung: „Kill the pope!“ Über
dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift: „Nyahbinghi
means death to all black and white downpressors.“ „Rastafari!“, rufen meine Begleiter der königlichen Versammlung entgegen. „Selassie I! Fire bun!“, kommt es machtvoll zurück. Rund zweihundert Dreadlocks Rastafari,
mehrheitlich Männer und Angehörige des Nyahbinghi
Ordens, sind zur Feier des 92. Geburtstages von Haile
Selassie zusammengekommen. Jetzt sind alle Augen auf
uns gerichtet, genau genommen auf mich. Mit den beiden Taschen in der Hand wirke ich auf den (wichtigen)
ersten Blick wie ein geladener Gast und nicht wie ein
ungebetener Besuch. Trotzdem schlägt mir unverhohlenes Misstrauen entgegen. Ein freundliches Willkommen
sieht anders aus. Nie zuvor haben mir Blicke allein meine
Hautfarbe und Herkunft spürbarer vermittelt. Als ob es
die Szenerie nicht ohnehin schon ausreichend in sich
hätte. Eine Gruppe brethren mit dreads wie ich sie nie zuvor gesehen habe umringt eine Feuerstelle. Zwei Männer
werfen einen ganzen Baumstamm in die meterhohen
Flammen. „Fire!“ kommt es wie aus einem Munde. „Bun
de wicked!" "Die Gottlosen mögen verbrennen!“
76
Wiener Institut – Feldforschung
Mittlerweile haben mir meine Taxi brethren ihre Taschen
abgenommen und mich einfach stehen gelassen. Mit
ziemlich weichen Knien begebe ich mich zu einer
Gruppe Elders. Zu einer Begrüßung komme ich gar
nicht. Schon prasselt ein Stakkato an Fragen auf mich ein.
Woher kommst du? Warum kommst du? Was suchst du
hier? Are you a Babylon spy? CIA? Ein Spiel von
Herausforderungen und Druck, das so gar nicht wie ein
Spiel wirkt. Am Anfang weiß ich nicht genau, wie mir
geschieht, aber mit Fortdauer der challenges erwacht mein
Widerstandsgeist und ich beginne, den pressure des
Fragen-Bombardements aus zu halten. So laut und
energisch wie möglich erkläre ich meine Positionen zu
Apartheid in Südafrika, zur Verschleppung aus Afrika,
zur Versklavung im Namen des Kreuzes, zu US
polit(r)ic(k)s und britischem (Neo)Kolonialismus.
Es ist eine Art Feuerprobe. A check, if you can take the
heat. Nur wenn du die Hitze wie Daniel in the Lion's Den
weg steckst – „cast in the fire, never get burn“ – darfst du
bleiben. Grounding heißt dieser Prozess, den jeder
Mensch durchlaufen muss, der an einem Binghi teilnehmen will. Eine Form von „Erdung“ im Rasta Bewusstsein. Wer dieses Verfahren einmal erfolgreich bestanden
hat, fürchtet sich vor keiner Prüfung mehr. Wer hingegen
bei der kollektiven Konfrontation mit „Words, Sounds,
and Power“ durchfällt, gilt als „burned out of the
Nyahbinghi“. Das passiert auch Dreads, die mit ihren
deutschen oder italienischen Negril-Liebhaberinnen und
aufgesetztem Rasta chat bei einem Binghi antanzen, als
wäre es eine beach party in Rick's Cafe. So schnell können
sie gar nicht an ihrem Spliff ziehen, dass sie sich schon
mit Schimpf und Schande (Blood and Fire) davongejagt
auf ihrer Leih-Honda samt Sozia wiederfinden, um heim
nach Negril (Babylon fe true) zu düsen.
Rasta ist keine Religion, die einen Aufnahmeritus vorschreibt, den eine bestimmte Autorität zu vollziehen hat.
Wer Rasta fühlt, denkt und handelt, ist Teil von I and I
– Ich und Ich – Jah Rastafari. Jah manifestiert sich in
jedem Ich, das diese Manifestation sucht und zulässt.
Also kann es keinen Unterschied zwischen dem eigenen
Ich und dem der Anderen geben. Alle übrigen Fürwörter
sind für jene da, die nicht den spirit of Jah in sich tragen.
Sie sind Babylon und haben bei einem Binghi nichts
verloren. Die kollektive Aufnahme bei einem Binghi, der
kommunikative Prozess, grounded zu werden, bedeutet
die Anerkennung einer Gemeinsamkeit. Kein Rasta wird
den Tag, den Ort und die Umstände seines/ihres Groundings vergessen. Nyahbinghi heißt spirituelle Kriegsführung gegen Babylon, ein Synonym für Ungerechtigkeit. Bei dieser philosophischen und kulturellen Praxis
würde jeder Fremdkörper die vibrations stören und
schwächen. Vibrations, die den Untergang Babylons,
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
jener Mächte, die seit alten Zeiten mit Unterdrückung
und Aus-beutung herrschen, beschwören. „To chant
down Babylon“, erst nach einem Binghi weiß man, was
diese Formel wirklich meint.
Endlich scheine ich bestanden zu haben. Einer der Elders
beendet das Rasta Verhör mit einer Art Willkommensgruß: „Du kommst am richtigen Tag. Heute ist der
23. Juli, der 92. Geburtstag seiner Imperialen Majestät
Haile Selassie I. Er muss dich eingeladen haben. Sonst
wärst du niemals bis hierher gekommen. Vielleicht bist
du einer der 144.000 Auserwählten
für den Berge Zion, die das
Armageddon überleben werden.
Rasta no partial. Hautfarbe und
Herkunft haben damit nichts zu
tun, nur dein Bewusstsein und dein
Herz zählen am Judgement Day,
dem Tag des jüngsten Gerichtes.
Und glaube mir, längst nicht alle,
die du hier mit ihrem dreadlocks
Stolz siehst, werden dann noch
dabei sein.“ „True, true, Bongo“,
bestärkt ihn einer der Elders, und
reicht mir ein Büschel der
berühmten trockenen Pflanzen:
„Das ist King's Bread, die Nahrung
der Könige, it's good for your nerves“, lacht er. „It give the I the right
Iditation fi chant down Babylon
with I and I. Es macht Deinen
Körper zum Tempel für Rastafari.
Andere
errichten
prunkvolle
Gebäude mit dem Schweiß und Blut der sufferers und
nennen diese Gotteshäuser. Aber damit lästern sie Jah,
denn Rastafari ist immer auf der Seite der Leidenden und
Unterdrückten.“
Jetzt bin ich nicht mehr am Wort. Alle, die mich vorher
„interviewt“ haben, erteilen mir jetzt Geschichtsunterricht nach dem Rasta-Lehrplan. Zwanzig, dreißig
brethren beteiligen sich daran, mir stellvertretend für alle
Weißen, eine Lektion zu geben, die mit Columbus, dem
verdammten, aufgeblasenen Lügner beginnt. Nicht, dass ich
die Klage über die unmögliche Entdeckung der längst
besiedelten „neuen“ Welt nicht schon bei Burning Spear
gehört hätte, aber dieses kollektive Lehrstück von
gerechtem Zorn schlägt doch alles mir bisher Bekannte
und sogar Vorstellbare. Angeheizt vom Feuerwerk der
Nyahbinghi Trommeln in der anbrechenden Dunkelheit
und untermalt vom stundenlangen chant „fire, fire, fire
bun!“, schleudern mir immer neue Nyahbinghi warriors
ihre Verbitterung über die Verschleppung aus Afrika, die
anhaltende Gefangenschaft in Babylon, die ungerechte
Verteilung des Wohlstands in der Welt, die Fremdbeherrschung der Massen durch eine kleine Minderheit
und vor allem die doppelten Standards bei der Einhaltung von Menschenrechten und dem Gerede von der
Demokratie ins Gesicht:
„Europa hat im Auftrag Roms die Kinder Afrikas
gestohlen und sie in Amerika zu Sklaven gemacht. Die
Reinkarnation des Satans, der Papst in Rom, segnete all
die Piraten und Sklavenschiffe, um an Afrikas Gold
heranzukommen und es in den Vatikan verschleppen zu
können. Und die Queen, die königliche Hure Babylons, war seine
Sekretärin. Bis heute dauert die
Knechtschaft Afrikas und seiner
versklavten Söhne und Töchter an.
Commonwealth – gemeinsamer
Wohlstand – nennen sie das. Was für
eine Lüge. That's why I and I say:
Nyahbinghi! Death to all black and
white
downpressors!“
Ohne
Unterbrechung setzt ein Binghi-Idren
fort, dessen dreadlocks wie eine
Fußmatte zu einem dicken Haarteppich verfilzt sind, der ihm bis
weit unter das Gesäß reicht: „Ihr
redet immer über Demokratie, die
ihr über die ganze Welt verbreiten
wollt, solange ihr eure Lakaien als
Herrscher einsetzen könnt. Volksherrschaft soll das sein, wenn du
einmal alle vier, fünf Jahre zwischen
zwei Diktatoren und ihren Parteigängern wählen kannst? Ich sage dir: Herrschaft über
das Volk ist es. Das nennen wir Dämonkratie, satanische
Herrschaft der Reichen und Mächtigen. Wir Nyahbinghi
predigen die Theokratie, die einzige wahre Herrschaft
des Volkes über sich selbst. Denn Jah ist in allen von uns
gleichermaßen.“
Langsam pendelt sich mein Adrenalin Spiegel auf sein
normales Binghi Niveau ein und ich kann das tun, wozu
ich hier bin: sehen, fühlen, erleben. Im Tabernakel, einer
nach alle Seiten offenen Rundhütte mit einem Altar in
der Mitte, auf dem Bilder von Haile Selassie stehen,
umkreisen tanzende brethren die royal drummers. Ihre
Hymnen preisen His Imperial Majesty und beschwören
den Fall Babylons mit Formeln, die heute jeder Reggae
Fan kennt: „Fire pon Rome! Fire fi di pope!“ Ein hagerer
Elder stampft mit spindeldürren Beinen, die zur Hälfte
aus einer rot gold grünen Robe herausstehen, auf den
Boden, als gelte es, das Böse hier und jetzt zu zertrampeln. Seinen Stock lässt er im Takt Löcher ins
malträtierte Gras bohren. Bei jedem symbolischen Stich
Wiener Institut – Feldforschung
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
ins Herz des Drachens beutelt er seine angegraute
dreadlocks Löwenmähne. Seine bambusdicken, fast weißen Bart-dreadlocks reichen bis zum rot/schwarz/grünen
Gürtel, der ihn als Marcus Garvey Anhänger ausweist.
Chalices aus Kokosnüssen kreisen unentwegt zwischen
den Tanzenden. Eine Gruppe Empresses and Princesses
bildet die Queen Omega Congregation auf einer Seite des
Tabernakels. Sie geben der Versammlung Würde, ohne
auch nur einen Hauch Abstriche von der Militancy der
brethren zu machen.
Nyahbinghi ist wahrhaftig dreadful – mit der gleichen
Bedeutungsvielfalt, die schon in Dread oder dreadlocks
steckt. Viele Jahre später sollte es Mutabaruka, mittlerweile einer der (wort)führenden Elders in Rastafari
folgendermaßen auf den Punkt bringen (in seinem Vortrag „Rasta from Experience“ bei der Karibiktagung im
Jahr 2001 an der Universität Wien):
„Viele Leute haben Angst, sich auf das Nyahbinghi
einzulassen, weil sie realisieren, wenn sie in die Erfahrung von Nyahbinghi hineingehen, dann lassen sie sich
auf einen Orden ein, einen Afrikanischen Orden, der
zum Ziel hat, alle europäischen Kolonialisten aus Afrika
zu verjagen. [..] All diese (wissenschaftlichen, Anm. d.
Red.) Studien und die ganzen Berichte werden dich
niemals lehren und verstehen lassen können, wer Ich bin.
Du musst Ich selbst erfahren. Das ist der größte Lehrer,
die Erfahrung von Ich ist der größte Lehrer. Die
Wissenschaftler können nur zu Papier bringen, was sie
glauben, dass Ich bin. […] Im Ich und Ich ist eine Universalität, die transzendental ist, sobald wir mit der eigenen
Erfahrung beginnen, anstatt darüber zu lesen. […] Du
kannst mich töten, du kannst Muta töten, du kannst Tom
und John töten, aber du kannst nicht Ich töten. Weil das
Ich transzendiert. Ich ist nicht, was du glaubst, was Ich
sein sollte. Ich bin, was Ich ist. Das Ich muss Ich eben so
nehmen, wie Ich bin.“
Nyahbinghi, verstanden als spiritueller Kampf gegen die
Unterdrückung von Menschen durch Menschen, gehört
zum Kern der Rasta Erfahrung. Einer Erfahrung, die nur
im Ich und nicht durch Zuhören und Nachbeten zu
machen ist.
In diesem Sinn lässt die Rastafari Philosophie
Universalität zu. Niemand muss in Jamaica geboren oder
Nachkomme von versklavten AfrikanerInnen sein, um
für sich (im Ich und Ich) die Ungerechtigkeit jeder
illegitimen Herrschaft von Menschen über Menschen
erfahren zu können. Darin liegt der universelle Ansatz
von Rastafari, der es erlaubt jegliche Grenzen der
Hautfarbe, Nation, Sprache, Geschlecht, Alter, Schicht
usw. zu überwinden, obwohl der Ausgangspunkt von
78
Wiener Institut – Feldforschung
Rastafari als soziale Bewegung in Afrika und der
Afrikanischen Diaspora (vor allem Jamaika) liegt. Wenn
das Ich bei einem Binghi mit den oben zitierten Words,
Sounds, and Power konfrontiert wird, gibt es nur zwei
Möglichkeiten: entweder die vibes treffen dich persönlich, dann wirst du von ihnen (spirituell) verbrannt und
kannst es unmöglich aushalten, bei dem Binghi zu
bleiben, oder das Ich spürt die positive vibration des
Befreiungskampfes, aus dem die Worte kommen.
Diese Botschaft habe ich auf dem Weg der Erfahrung von
Ich und Ich schon von vielen Rastafari mit immer neuen
Worten gehört, aber die Power der Worte kann nur die
eigene Erfahrung vermitteln: who feels it, knows it. Dann
erst können sich scheinbare Widersprüche auflösen, die
im ersten Augenblick wie jenes Rätsel klingen mögen,
das mir einer der Elders, Jah T, bei meinem ersten Binghi
mit auf den weiteren Weg in Rastafari gab: „Du willst
wissen, was Nyahbinghi eigentlich ist? Nyahbinghi ist
ein alter Orden, den Seine Königliche Majestät, Haile
Selassie, im Jahr 1936 als Kriegs-Orden gegen Mussolinis
Truppen in Äthiopien verwendet hat. Nyahbinghi steht
seit dem Anbeginn der Zeiten für: Tod den Schwarzen
und Weißen Unterdrückern! Dafür schlagen wir die
Nyahbinghi Trommeln. Denn diese Trommeln können
töten. Damit töten wir die Unterdrücker. Nyahbinghi ist
Krieg, aber die Waffe ist die Liebe. Denn nur die Liebe
kann das Böse besiegen. Hass erzeugt nur immer neuen
Hass. Rastafari! Peace and Love!“
„
Werner Zips, geboren 1958 in Wien, ist außerordentlicher
Professor am Institut für Ethnologie, Kultur- und
Sozialanthropolgie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Rechtsanthropologie, Historische Anthropologie,
Afrika, Afrikanische Diaspora, Visuelle Anthropologie.
Anm. d Red: Dieser Artikel gibt Auszüge aus einem
Artikel von Werner Zips in "Riddim" 04/04 wieder.
Den gesamten Text gibt es unter:
http://www.riddim.de/feature.php?id=176
Literatur
Davis, Stephen und Simon, Peter. Brotherhood of Rastafari. Anchor
Press/Doubleday. Wien,1977.
Barretts, Leonard . The Rastafarians. Boston, 1977.
Zips, Werner. Rastafari. Eine Kulturrevolution in der Afrikanischen
Diaspora. In: Kremser, Manfred (Hg.): Ay BoBo. Afro-karibische
Religionen. Teil 3: Rastafari. Wien, 1990.
Zips, Werner. Rastafari - eine universelle Philosophie im 3.
Jahrtausend. Wien, 2007.
Siehe auch: Dokumentationen von Werner Zips: "Rastafari - Tod den
Schwarzen und Weißen Unterdrückern" und
"Mutabaruka - Rückkehr ins Mutterland"
Interview with Bambi Schieffelin, professor of anthropology
at New York University
von STEFANIE SEITELBERGER und SONJA HOFMAIR
Different languages,
different cultures
Approaching anthropology through linguistics
In Austria linguistic anthropology is not a well-known subject. We only get
to know it in the context of the four field approach. You are one of the leading
experts in linguistic anthropology – so could you summarize how you would
define linguistic anthropology?
Professor Bambi Schieffelin is an
expert on linguistic anthropology – a
field of research that is hardly
established in Europe. During her stay
in Vienna this summer 2007 we took
the opportunity to talk to her about
linguistic anthropology and language
socialization. She also gave us
interesting insights into her current
research on missionization and
language change in Papua New
Guinea.
The Interview took place in context of
the International Guest Lecture Series
“Engaging With Linguistic
Anthropology Today” of the ÖAW
(Österreichische Akademie der
Wissenschaften).
Linguistic anthropology is the study of language in context and
focuses on how members of communities all over the world use
language to accomplish many different things in social life. Speech
practices and the ways in which people think about and use them are
rich resources not only for speakers, but also for researchers.
Linguistic anthropologists can’t easily imagine doing anthropology
without looking at the ways in which language constructs realities.
Linguistic anthropologists investigate language and speech practices
with the same systematicity as social and cultural anthropologists
investigate other symbolic systems, such as religion, social
organisation, kinship, etc. Linguistic and cultural practices and
ideologies are viewed as interrelated.
How important is linguistic anthropology in context of the four field
approach?
All four fields are important to understanding how we are human
– we are biological, we are social, we have a past as evidenced in the
archaeological record, but we also use language and talk to create and
sustain our social worlds. We talk about all these things too, we talk
about our biology, we talk about our past, we talk about our social
lives, and we talk about language.
To what extent is it important to you that linguistic anthropology will also be
established in Europe?
Europe is well known for being multilingual and valuing linguistic
diversity. Linguistic anthropology would complement perspectives
from social anthropology for understanding the dynamics of a broad
range of cultural and historical processes taking place across Europe
today. It would also enrich the training of social anthropologists in
Europe whether they are working in urban, rural, traditional or
diaspora communities around the world. The founders of linguistic
Wiener Institut
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Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
anthropology, Franz Boas and Edward Sapir, both came
to the United States from Germany and were multilingual. It is ironic that linguistic anthropology is part of
anthropology in the United States because the prevailing
ideology is that everyone should speak English, the
„English-only-movement“ which is a limited view of
communication, identity and society.
What are your main interests in linguistic anthropology?
I started studying language socialisation: The ways in
which children are socialised to use language and
socialised through the use of language. Elinor Ochs and I
developed that research program together over many
years and it is now established as an important field
within linguistic anthropology. I am also interested in
language and change: the ways in which both social and
linguistic change are part of every society, whether such
changes and transformations are due to larger types of
changes like missionization and colonialization or
change that takes place across the life cycle of persons.
People are always learning languages and losing
languages, and languages themselves are involved in
how people construct and communicate their identities.
And how did you get to anthropology and particularly to
linguistic anthropology?
In high school I was very interested in languages and was
able to study French and Spanish. My undergraduate
study started with comparative literature but then I
discovered anthropology. By the time I started graduate
school, I knew I wanted to do linguistic anthropology. It
allowed me to combine my interest in language and
culture, focusing on real peoples’ lives.
You already told us what you are interested in the context of
linguistic anthropology – but what was the most important
thing for you?
I think my most important contributions have been based
on my work in Bosavi, Papua New Guinea, initially
looking at the ways in which children acquire the
linguistic and cultural practices of their community. It
was the first ethnographic investigation of a nonwritten
language, one that had a very different structure than
English or other European languages. The research
challenged many expectations that people had not only
about how children learn but also what they learn. My
second project investigating the introduction of literacy
in this society builds on the earlier research.
80
Wiener Institut
You prepared a Bosavi-English dictionary – can you tell us a
little bit about that?
The Bosavi-English-Tok Pisin dictionary that I put
together was a long term project, done collaboratively
with Steven Feld, my research partner, and several local
consultants. When I asked people, „What would you like
me to give back to you?“, they said they wanted a
dictionary. First we were doing it just in the Bosavi
language because the people said this would be helpful.
In the 1990s people said it would be helpful to have an
English part as well, because they were beginning to
imagine a future where their children could go to school.
We added the English to the Bosavi and Tok Pisin, so it
was in three languages. It was our gift to the community
– the Australian National University published it, and we
gave it to the communities as a gift.
How long did it take you to finish it?
I started working on it in the 1970s and we presented it to
the community in 1998. It took a long time but we
learned a lot doing the dictionary. We used it to
document the sources of new words that came into the
language, for example, how do people acquired words
for introduced things such as „lamp“ or „fishhook“,
things, they did have before. We also tracked the new
concepts as well as those that were lost. So the dictionary
also traces Bosavi people’s contact with others’ ideas,
people and things.
About your field research: We saw that you carried out research
in Papua-New Guinea and especially with the Kaluli.
The Kaluli are one of the four groups that call themselves
Bosavi people. There are approximately 2000 Bosavi
people. There are four dialects of the Bosavi language,
Kaluli is one of them. But for the dictionary, because of
the way that people identified themselves, we called it
Bosavi.
And why did you choose the Bosavi?
I went there first in 1967 because I had married an
anthropologist who was doing his fieldwork there and so
I spent the first 14 months of our marriage on that trip
with him. I did a lot of photography during the first trip,
and also worked on learning the language. When I
started my own PhD study, I decided to go back, which I
did, several times. I had already made many efforts in
learning the language – and it was not an easy language
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
and there were a lot of interesting research questions.
Bosavi people were very welcoming and they were really
wonderful people to interact with. 1998 was my last trip,
when I went there to bring the dictionary.
but they could not run the school or clinic themselves.
Could you tell us something about your new book project „New
Words, New Worlds“?
I think I was one of the first scholars to give talks in
linguistic anthropology. Most people were not familiar
with it – but I think most people now know more about
this part of anthropology. Professor Gingrich is very
supportive of linguistic anthropology. I think there is
more interest, which is good.
I have another book that was published by Oxford
University Press in September, so I want to say a little bit
about that one first: It is called „Consequences of contact:
Language ideologies and sociocultural transformations
in Pacific societies“. It’s an edited collection that deals
with the impact of colonization and missionization on
language and culture. I am very excited about it because
it is the first volume to explore different outcomes of
contact.
My new book project examines the ways in which
missionization has reorganised and transformed the
ways in which the Bosavi people think about language,
think about themselves, think about the place where they
live. It also addresses the role of translation in social and
linguistic change. It’s about the ways in which Bosavi
people tried to understand Christianity from its
introduction in the early 1970s through the 1990s.
How did the missionaries change things and how did you
perceive the whole community?
There where many traditional practices that people
simply stopped, for example performing major
ceremonies that took place around marriage.
Missionaries also changed living arrangements. People
lived in communal long houses, and the missionaries
thought this was primitive and encouraged people to live
in single family houses. They wanted people to stay in
the village and go to church several times a week. They
discouraged hunting in the bush, and long stays at
garden houses. The missionaries wanted to domesticate
the Bosavi people according to their own ideas of
domestication. They thought the Bosavi people lived in
the Stone Age and they wanted to bring them into a
western, Christian world.
You have been visiting Vienna in 2001 – how did you
experience Vienna and the institute?
We are now at the seminar of Professor Gingrich about
linguistic anthropology. What do you think about the
presentations?
Well, I am very impressed with the seriousness of the
students. They did the work and engaged with the ideas.
It is a really exiting and good form of cross-disciplinary
contact. It is also intercultural, as well as crosslinguistic. I
have learned a great deal. For me learning is always an
exchange: If I don’t have students I can learn from,
teaching is boring. That’s why many of us do this.
Leaning from students helps to keep you excited, it’s 50
percent of the game. People in the seminar really did a
great job, took it very seriously, and worked very hard. I
hope this is seminar will be repeated again.
Thank you very much for your time and the interview.
Thank you and good luck with your own research.
„
Wiener Institut
81
Do you know how they feel today about the missionaries?
The missionaries left in 1990. They had introduced an
elementary school, medical clinic, and a store, in addition
to Bible study. But the missionaries didn’t teach people
how to do anything for themselves, so when they left
people were frustrated. They had a glimpse of change,
Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit visuellen Codes, Zeichensystemen und
unterschiedlichen Sinngebungen – ein kontroversieller Beitrag
von CHRISTIAN F. FEEST
Museum für
Völkerkunde Neu
Benin am Beginn, Fortsetzung folgt
Foto: Christian Feest
Mit der Sonderausstellung Benin:
Könige und Rituale. Höfische Kunst aus
Nigeria hat das wegen einer
überfälligen Generalsanierung seit
März 2004 geschlossene Museum für
Völkerkunde Wien am Heldenplatz
wieder ein nach außen hin sichtbares
Lebenszeichen von sich gegeben. Die
von Dr. Barbara Plankensteiner
kuratierte Ausstellung kann ohne
Übertreibung als die größte Schau zur
Kunst, Kultur und Geschichte Benins
bezeichnet werden, die jemals aus den
in aller Welt verstreuten Bronzen und
Elfenbeinarbeiten zusammengetragen
wurde.
Reichsapfel, Königtum Benin,
Nigeria, 16./17. Jh.
Museum für Völkerkunde Wien
(Slg. W.D. Webster)
82
Wiener Institut – Völkerkunde Museum
ie Diaspora dieser Gegenstände, die zugleich den Weltruhm
Benins begründete, erfolgte 1897, als im Rahmen einer
militärischen Strafexpedition der Briten, mit der die Tötung
einer britischen Delegation gesühnt werden sollte, der
Königspalast von Benin geplündert und die Kriegsbeute als
Reparation nach England gebracht wurde. Andere Teile des
Palastinventars, das teils dynastischen und rituellen Zwecken gedient
hatte, teils bereits als „historisches Archiv“ abgelegt worden war,
gelangten über Händler an der Küste Nigerias auf den europäischen
Kunstmarkt. So tragisch diese Episode der Kolonialgeschichte aus
heutiger Sicht ist, steht sie doch zugleich am Beginn höchster
Wertschätzung für afrikanische Kunst im Westen und dient als
Illustration für die wechselnden und widersprüchlichen Sinnzuschreibungen, die „leblosen“ Objekten eine wechselvolle Lebensgeschichte bescheren. Auch wenn die metallenen Platten, Köpfe und
Figuren von, in einer langen Tradition ihres Metiers stehenden
Meistern geschaffen worden waren, war in Benin ihr ästhetischer
Gehalt nur ein untrennbarer Teil kultureller Praktiken zur
Glorifizierung der Herrschaft der Könige. In ihrer Fülle spiegeln die
Werke auch den Reichtum wider, den Benin aus seiner strategischen
Stellung im Handel bezogen hatte – ein Beispiel dafür, wie rasch aus
Gewinnern des Kulturkontakts Verlierer werden konnten.
D
In Europa spielte bei der „Entdeckung“ der Benin-Kunst der aus
Österreich stammende Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde,
Felix von Luschan, eine wichtige Rolle, der für sein Museum eine
bedeutende Sammlung zusammentrug. In Wien gelang es dem
Direktor der anthropologisch-ethnographischen Abteilung des
Naturhistorischen Museums (dem Vorläufer des Museums für
Völkerkunde), Franz Heger, einen Mäzen dazu zu bewegen, ebenfalls
eine große Benin-Sammlung für das Museum zu kaufen. Während in
den ethnologischen Museen die Transformation von Kultgegenständen in Kunstwerke im Gange war, wurde in der britischen
Kolonie Nigeria das Königtum Benin als Mittel der indirekten
Herrschaft wieder errichtet, dessen Repräsentanten bis heute den
Verlust von 1897 nicht verschmerzt haben. Gegen Ende der
Kolonialzeit begannen nigerianische Museen mit dem Rückkauf von
Benin-Werken (damals noch relativ preisgünstig) – nicht für die
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Foto: Christian Feest
Könige von Benin, sondern als Teil des historischen Erbes
der Kolonie. Mit der Unabhängigkeit Nigerias begannen
die Forderungen des Nationalstaats nach Rückstellung
des „nationalen Erbes“ (unterstützt durch Resolutionen
der UNESCO, teilweise unter Leitung eines nigerianischen Generalsekretärs). Heute stehen sich die
Forderungen des Königshauses und jene Nigerias, mit
jeweils anderer Zielsetzung bezüglich einer weiteren
Verwendung, gegenüber und stoßen gemeinsam auf die
Ablehnung der westlichen Museen.
Gedenkkopf eines Königs, Königtum Benin,
Nigeria, 19. Jh.
Museum für Völkerkunde Wien (Slg. W.D.
Webster)
Bei aller Sympathie für beide Forderungen muss man
jedoch die von der Geschichte geschaffenen Tatsachen
anerkennen, die trotz aller damit verbundenen Schmerzen letztlich nicht umkehrbar sind. Ebenso wenig wie die
Erfindung der Atombombe, lässt sich die Eroberung
Amerikas rückgängig machen, und wenn die Kriegsbeute von 1897 zurück nach Afrika ginge, müssten wohl
auch die Schweden die im Dreißigjährigen Krieg aus der
Prager Burg verschleppten Kunstschätze reumütig
zurückgeben.
Die Anerkennung historischer Fakten bedeutet aber noch
nicht, dass man nicht nach Wegen suchen sollte, um mit
den bis in die Gegenwart wirkenden Folgen angemessen
umzugehen. In dieser Hinsicht stellt die Wiener
Ausstellung auch ein wichtiges Signal dar, da an ihrer
Vorbereitung alle an dem historischen Geschehen
Beteiligten mitgewirkt haben: das British Museum als
Institution der ehemaligen Kolonialherren, der Nationalstaat Nigeria, und die königliche Familie von Benin
haben Leihgaben beigesteuert; Vertreter Benins und
Nigerias wirkten bei einem Symposium im Anschluss an
die Eröffnung mit und setzten damit einen wichtigen
Schritt der Vertrauensbildung, die für die Anerkennung
der gemeinsamen Verantwortung für die Werke Benins
notwendig ist. So kann möglicherweise ein Prozess in
Gang gesetzt werden, an dessen Ende gemeinsam
entwickelte Alternativen zu dem entweder/oder von
Rückstellung und ihrer Verweigerung stehen könnten.
Immerhin nahmen die Vertreter Benins lobend zur
Kenntnis, dass die Schätze aus ihrem Königspalast vor
allem auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung als
Ritualgegenstände und nicht nur als Kunstwerke gezeigt
wurden. Denn ungeachtet der Empfindungen der jeweiligen Betrachter, ist es auch eine historische Tatsache,
dass diese Dinge nicht nur entweder Ritualgegenstände,
nationales Erbe oder Werke der Weltkunst sind, sondern
all dies zur gleichen Zeit. Globale Koexistenz funktioniert nur auf dem wechselseitigen Respekt vor den
unterschiedlichen Sinngebungen, die man Dingen und
Handlungen zuschreibt.
Und damit sind wir schon beim Thema „Fortsetzung
folgt“. Der baulichen Sanierung des Corps de Logis der
Neuen Burg folgt nun die inhaltliche Sanierung des
Museums für Völkerkunde. Die Benin-Ausstellung war
nur ein Vorschuss auf ein Programm kleinerer und
größerer Sonderausstellungen und schließlich auf die
Neugestaltung der Schausammlung, an der seit der
Schließung des Museums gearbeitet wird und die ab
2008 verwirklicht werden soll. Seit Gründung des
Museums im Jahr 1928 hat sich die Welt rasant verändert.
Mobilität und Kommunikation hat die Welt deutlich
kleiner werden lassen, auf den Inseln der Südsee oder
Karibik, von denen man früher in Anfällen von
Zivilisationsflucht nur träumen konnte, fliegt man heute
auf Urlaub. Die großen Migrationsströme der letzten
Jahrzehnte haben die Grenzen zwischen „uns“ und „den
Anderen“ mitten in die eigene Gesellschaft verlegt.
Niemals war es wichtige, die Gründe für die kulturelle
Vielfalt der Menschheit und ihre Bedeutung für das
Überleben der Welt zu verstehen. Museen als Sammlungen von Dokumenten dieser kulturellen Vielfalt sind
Orte der Bewahrung notwendigerweise der Vergangenheit verpflichtet, sie richten sich aber an ein Publikum
der Gegenwart, für das die Vergangenheit (auch die
Wiener Institut – Völkerkunde Museum
83
Die Maske – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie
Neben dem weiterhin wichtigen Ziel der Erklärung des
Lokalen muss in ethnologischen Museen unserer Zeit
verstärkt der Kulturvergleich treten, die Auslotung der
Bandbreite der kulturellen Artikulation des Menschen
– die Vielfalt in der Einheit – deren Untersuchung einen
wichtigen Traditionsstrang unserer Wissenschaft
darstellt. Ethnologische Museen sollten sich aber auch
der Möglichkeiten und Beschränkungen bewusst sein,
die aus der Materialität ihrer Bestände, ihrer Entfremdung aus sinnstiftenden Lebenszusammenhängen, und
(siehe Benin) ihrer Veränderung durch Einbettung in
unsere eigene Kultur entstehen und – anstatt sie zu
kaschieren – selbst zum Thema der Betrachtung zu machen. Aus historischen Gründen haben die ethnologischen Museen ein wenig den Anschluss an die
Entwicklungen des eigenen Fachs verloren. Aber sie
haben auch die Chance, ihre allzu selten als Quelle der
Erkenntnis genutzten Bestände für
die Weiterentwicklung einer etwas allzu mentalistisch
und präsentistisch gewordenen akademischen Disziplin
einzubringen. „Museum neu“ bedeutet also auch einen
größeren Stellenwert für die Forschung, ohne die es
niemals spannende Ausstellungen geben wird.
Demnächst in diesem Museum …
„
Christian Feest ist Direktor des Museums für Völkerkunde
Wien und unterrichtet Kultur- und Sozialanthropologie an
der Universität Wien.
84
Wiener Institut – Völkerkunde Museum
Foto: Christian Feest
eigene) oft unverständlicher und „fremder“ ist als die
Lebensentwürfe anderer Kulturen. Zugleich müssen sie
dem Betrachter die Geschichtlichkeit des Dargestellten
deutlich machen, Kultur als anhaltenden Prozess und
nicht als statisches Produkt zeigen. Sie müssen den Blick
für die Tatsache öffnen, dass menschliche Gesellschaften
auf Dauer niemals Inselcharakter hatten, sondern stets
im Austausch mit ihren Nachbarn standen.
Reliefplatte: Portugiese mit fünf Manillas
Königtum Benin, Nigeria, 16./17. Jh.
Museum für Völkerkunde Wien (Slg. A.
Maschmann)
Die Institutsgruppe der Kultur-und Sozialanthropologie und die darin aktive und neu
gewählte Studienvertretung stellen sich vor
von der IG-KSA
Studentisches Engagement –
IG und STV: Was ist das?
ei den Hochschülerschaftswahlen 2007 (22. - 24. Mai)
wurde die neue Studienvertretung Kultur- und
Sozialanthropologie gewählt. Seit Anfang Juli arbeitet
die STV also in neuer Besetzung: Eine Gelegenheit sie
gemeinsam mit der Institutsgruppe vorzustellen.
B
Die Studienvertretung (STV)
Die STV der Kultur- und Sozialanthropologie ist die
Interessenvertretung der Studierenden. Als solche
beeinflusst sie die Institutspolitik u.a. durch die
Teilnahme von Vertreter/innen in Gremien wie den
Arbeitsgruppen für Curricula oder der Studienkonferenz (Stukon). Die Studienvertreter/innen sind
gleichzeitig auch Mitglieder der Institutsgruppe (IG). In
diesem Rahmen organisieren sie die Inskriptionsberatung, die Erstsemestrigentutorien und die während
der Semester stattfindenden Journaldienste (Studienberatungen). Darüber hinaus leistet die STV finanzielle
Unterstützung bei verschiedenen Projekten (wie etwa
das Radioprojekt „Ethnowelle“ oder die Zeitschrift „Die
Maske“) und organisiert Seminare, Veranstaltungen und
Hörerinnen- und Hörerversammlungen.
Die neue Studienvertretung KSA sind Verena
Rechberger (Vorsitzende), Sandra Martinz (1.Stellvertreterin), Christiane Dajeng (2.Stellvertreterin),
Valerie Linner, Florian Hahn
bietet die IG auch einen guten Rahmen für
bildungspolitische, aber auch außeruniversitäre Belange.
Die IG verändert sich ständig, abhängig davon, wer
gerade aktiv in, um und an ihr mitarbeitet. Mach dir also
am besten selbst ein Bild von der IG und deiner STV und
komm zu einem der wöchentlichen IG-Plena (jeden
Donnerstag um 20:00 Uhr im STV-Kammerl, Zimmer C
419, NIG 4. Stock).
„
Aus aktuellem Anlass:
Wir möchten einen „Studienleitfaden
für das neue Bachelorstudium“
entwerfen. Dafür würden wir uns
besonders über die Mitarbeit von
Erstsemestrigen freuen, da u. a. eure
Fragen Ausgangspunkt für diesen
Leitfaden sein sollen. Wer Erfahrungen
im studienrechlichen und/oder redaktionellen Bereich sammeln möchte,
melde sich bitte unter:
[email protected].
Die Institutsgruppe (IG)
Linksammlung
Wie vielen der Basisgruppen (bagru) und Institutsgruppen (IG) ist es der Institutsgruppe Kultur- und
Sozialanthropologie wichtig, unabhängig zu sein und
eigene Standpunkte zu formulieren. In der IG-KSA
werden Begriffe wie „unabhängig“, „links“, „undogmatisch?“, „emanzipatorisch“, „basisdemokratisch„
immer wieder explizit diskutiert oder sind zumindest oft
implizit der Ausgangspunkt für das tägliche Engagement am und übers Institut hinaus. Durch ihre
wöchentlichen Plena unterstützt die IG die Studienvertretung, einerseits bei der Entscheidungsfindung im
Rahmen der studentischen Vertretung am Institut und
andererseits bei der Durchführung von diversen
Projekten. Neben studiumsergänzenden Aktivitäten
STV-Homepage:
http://www.univie.ac.at/stv-ksa/
Ethnomitschriften:
http://www.ethnomitschriften.at/
Studierendenforum:
http://www.univie.ac.at/stv-ksa/forum/
Kontakt: [email protected]
Wiener Institut
85
Von der Mathematik zur KSA
SPL-Support am Institut
von EVELINE ROCHA-TORREZ
Renate Fiala – Ein Porträt
er in Wien Kulturund Sozialanthropologie studiert, kommt sehr
schnell mit Renate Fiala in
Kontakt. Sie betreut u.a.
das von ihr selbst programmierte Victoria-Anmeldesystem und ist somit auch
die erste Anlaufstelle für
Kummer und Frust derer,
die keinen Platz in der
gewünschten LV erhalten
haben. Renate Fiala steht
aber auch denjenigen
StudentInnen mit Rat und Tat zur Seite, die sich bei
Anträgen und Bestätigungen verschiedenster Art an sie
wenden. Was allerdings die wenigsten vermuten, ist,
dass sich hinter der ganzen Energie und Lebensfreude
eine Mathematikerin, Programmiererin und Ethnologin
verbirgt …
W
Fragt sich nur: Wie kommt eine Mathematikerin ans
Institut für KSA? „Schuld sind die Sami!“ Zumindest im
Fall von Renate Fiala, die sich nach frustrierenden
Erfahrungen als Mathematik-Lehrerin an einer Maturaschule für den einzigen Erasmus-Studienplatz im
Diplomstudium Mathematik beworben und diesen auch
bekommen hat. So kam es, dass sie ein Jahr im
schwedischen Luleå verbrachte, das nur 80 km südlich
des Polarkreises liegt. Wie vielen AustauschstudentInnen ist ihr das Zurückkommen sehr schwer
gefallen, doch Renate Fiala wollte ihr MathematikStudium beenden, was ihr in Schweden nicht möglich
gewesen wäre.
Angeregt durch ihre Erfahrungen mit den Sami wollte
sie sich nun auch in Wien intensiver mit deren Kultur
und Lebensweise beschäftigen und beschloss deshalb
kurzerhand, zusätzlich zur Mathematik, die Fächerkombination Skandinavistik und Ethnologie zu belegen.
Nach acht Semestern KSA hätte eigentlich nur mehr die
Diplomarbeit für den Abschluss gefehlt, doch es kam
wieder einmal anders als geplant: Nachdem sie ihr
Organisationstalent bei der EASA-Konferenz unter
Beweis gestellt hatte, folgten gleich weitere universitäre
Projekte, in die sie vor allem auch ihre langjährige
Erfahrung mit Datenbanken einbringen konnte. Seit
2004 ist Renate Fiala nun Angestellte an der KSA – ein
86
Wiener Institut
Job, der ihr sichtlich viel Freude bereitet. Deshalb hat sie
es mit der Diplomarbeit auch nicht so eilig. Die könnte
sie zwar gut über den Bereich der Organisationsentwicklung schreiben, den sie ja am Institut selbst aktiv
mitgestaltet, aber „wenn, dann muss die Diplomarbeit
schon zu den Sami sein!“. Das Programmieren der ersten
Ausgabe von Victoria hat über ein Jahr in Anspruch
genommen und die Umstellung auf das Bakkalaureat
bringt natürlich seit Monaten jede Menge Arbeit, die
noch lange nicht zu Ende ist. Die Lehrenden müssen
auch organisatorisch versorgt werden; ein Bereich, den
sich Renate Fiala mit dem Sekretariat und einer
Studienassistentin teilt.
Fragt man Renate Fiala danach, was ihr den Kontakt mit
den Studierenden am meisten vergällt, dann kommt die
Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Dass sie nicht
lesen können!“ Naja, lesen können sie zwar, aber sie
tun´s wohl sehr oft nicht. Da hilft es auch nicht, wenn
man die Dinge auf die Homepage stellt, auf Infoblätter
schreibt … Was Frau Fiala auch stört, sind StudentInnen,
die nur so lange auf Biegen und Brechen ein Seminar
besuchen wollen, solange sie glauben, dass es eine
Pflicht-LV sei. Leute, die nicht einmal einen Blick ins
Vorlesungsverzeichnis riskieren, bevor sie fragen
kommen, sind auch eine Herausforderung der eigenen
Geduld. Diese hat Renate Fiala zwar im Übermaß, aber
wenn sich Leute absolut nur die Rosinen rauspicken
wollen und so tun, als würde die Welt zusammenbrechen, wenn sie nicht ihre Lieblings-LV bekommen,
dann kann auch sie einmal grantig werden. Dafür freut
sich Renate Fiala aber auch sehr, wenn sie helfen kann
und StudentInnen voller Begeisterung sind, weil sie
doch noch einen der gewünschten Plätze bekommen
haben. Auch Kleinigkeiten, die zeigen, dass die
StudentInnen mitdenken, wenn sie nicht das halbe
Institut mit ihren Anfragen beschäftigen, sondern nur
diejenigen, welche die Angelegenheit wirklich betrifft,
freuen sie.
Bleibt nur zu hoffen, dass Renate Fiala noch lange am
Wiener KSA-Institut bleibt. Denn: Lust hätte sie schon,
wieder zu den Sami zu gehen. Allerdings: „Wenn ich das
mach, dann bleib ich dort. So ein hin und her wär nichts
für mich …“
„
textfeld ermöglicht es jungen ForscherInnen von der Seminararbeit bis zur Dissertation ihre
Arbeiten publik zu machen.
von THOMAS MÜLLER
Von der Schublade
ins Internet
er Verein textfeld (vormals mnemopol) setzt sich für
mehr Online-Publikationen an österreichischen
Universitäten ein und beginnt bei den ForscherInnen
von morgen: bei den Studierenden.
Es war im Frühjahr 2001, als vier Studierende der
Universität Wien eine Idee hatten: Uni-Arbeiten sind zu
schade, um nach deren Abgabe in diversen Schubladen
zu verschwinden; Immerhin werden jedes Semester
unzählige Arbeitsstunden ins Recherchieren und
Schreiben investiert. Vielmehr sollte das relativ neue
Medium Internet dazu benutzt werden, um diese Texte
einfach und kostengünstig zu veröffentlichen, ohne die
Hindernisse des Print-Publikationssystems.
D
Aufbau
Im Herbst 2001 ging schließlich die Webpräsenz
mnemopol.net online, die Vorgängerin von textfeld.ac.at.
Dem nicht-kommerziellen Grundgedanken entsprechend, sollten Publikation und Download für die BenutzerInnen kostenlos sein. Methode der Wahl war eine
Online-Datenbank mit kopiergeschützten PDF-Dateien.
Dank der Kooperationen mit der Bundes-ÖH,
science.orf.at und derStandard.at/wissenschaft erfuhren nun
immer mehr Studierende von dem Projekt und steuerten
ihre Seminar- und Diplomarbeiten bei.
So erfreulich diese Entwicklungen waren, so wenig
passierte auf der materiellen Seite. Ein weiterer Ausbau
war aber ohne finanzielle Unterstützung nicht zu
machen. Auch das Zeitbudget der ehrenamtlichen
MitarbeiterInnen war begrenzt, schließlich musste das
Studium vorangetrieben und finanziert werden. So
fristete die Website noch einige Jahre ihr Dasein auf
Sparflamme. Umso überraschender kam es dann, als im
November 2006 die Fördergelder für den Relaunch vom
damaligen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und
Kultur (BMBWK) genehmigt wurden. Jetzt waren die
finanziellen Mittel da, um die Website technisch auf den
neuesten Stand zu bringen und sie auch bekannter zu
machen. Das damals dreiköpfige Team erstellte das
Konzept während für die Ausführung ein
Datenbankprofi und eine Grafikerin unter Vertrag
genommen wurden. Nach Monaten der Entwicklungs-
arbeit (neben Studium oder eigentlichem Broterwerb)
konnte die neue Website im Sommer 2007 der
Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie bekam auch einen
neuen handlicheren Namen verpasst: textfeld.
Das Prinzip des kostenlosen PDF-Archivs wurde
weitergeführt, aber im Gegensatz zu mnemopol.net sind
auf textfeld.ac.at nun alle Fachrichtungen und alle
Universitäten Österreichs in der Datenbank vertreten.
Verbessert wurden zudem die Möglichkeiten zur
Selbstpräsentation, Vernetzung mit den UserInnen und
Verlinkung mit anderen Texten auf der Plattform. Seit
September erscheinen wieder neue Rezensionen von
Bakkalaureats- und Diplomarbeiten in einem eigenen
Channel auf derStandard.at. Auch die UserInnen sind
hierbei involviert und sind eingeladen (für ein Honorar
von 40 Euro) Rezensionen zu verfassen. So ist das
öffentliche Augenmerk für die Arbeiten auf textfeld.ac.at
weiterhin gesichert.
Zukunft
Das langfristige Ziel ist die stärkere Etablierung von
Online-Publikationen im universitären Betrieb. Der
angelsächsische Raum lebt bereits vor, wie eine Welt
ohne überteuerte Journals und langsame Verlagsabläufe
aussehen kann. In Österreich kommt erst langsam
Bewegung in die alten Publikationsstrukturen.
textfeld konzentriert sich dabei vorerst auf junge
ForscherInnen. Geplant ist die Zusammenarbeit mit
SeminarleiterInnen und Studierenden, um gemeinsam
inhaltliche Schwerpunkte auf der Seite zu setzen (so
genannte „Themencluster“). Ein erster Versuch wird mit
dem Thema „Netzwerke“ und dem Fach Publizistikund Kommunikationswissenschaft Ende 2007 gestartet.
Aber auch gegenüber einer Zusammenarbeit mit der
Kultur- und Sozialanthropologie ist der Verein
aufgeschlossen, denn an interessanten Texten dürfte es
hier nicht mangeln.
„
Thomas Müller ist Absolvent der Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft (Universität Wien) und seit
2001 Mitarbeiter beim Verein textfeld.
http://www.textfeld.ac.at
Wiener Institut
87
Das Institut der Europäischen Ethnologie in Wien
bietet eines der kreativsten Fächer
von MALTE BORSDORF
Das Studium der Volkskunde
as ist Europäische Ethnologie? Eine Kulturwissenschaft des Alltags, die Kultur in ihrem
weitesten Sinne auffasst; als das was Menschen in und
mit ihren Alltagen tun. Somit können Mixer ebenso
Untersuchungsgegenstand sein wie das Reisen in
Mitfahrgelegenheiten, Einweihungsfeten oder der
Schnellimbiss. In diesem Fachverständnis einer Kulturund Sozialwissenschaft des Alltags, entwickelte sich die
Europäische Ethnologie aus der Volkskunde, die sich
„vormodernen Kulturen“ verpflichtet sah und im 19.
Jahrhundert erstarkte.
W
Das Wiener Institut wurde nach der Berufung Konrad
Köstlins am 1. Januar 2000 von Institut für Volkskunde in
Institut für Europäische Ethnologie umbenannt. Doch die
Studienrichtung heißt nach wie vor Volkskunde. Bislang
gliedert sie sich in zwei Studienabschnitte. Der erste
dient dem Grundstudium, während der zweite
Abschnitt mit einer Diplomarbeit abgeschlossen wird.
Ab dem Wintersemester 2008/2009 ist auch hier eine
Umstellung auf den Bakkelaureats- und Masterstudienplan geplant.
Nach Informationen von Konrad Köstlin kommt das
Institut derzeit auf etwa 500 Studierende, einschließlich
der rund 100 DiplomandInnen und DissertantInnen.
Regelmäßig sieht man davon ungefähr 120 Studierende.
Dadurch ist das Institut vergleichsweise klein und die
StudentInnen werden sehr gut betreut. Es findet eine
rege Zusammenarbeit zwischen dem Institut und den
StudienrichtungsvertreterInnen statt, was sich nicht nur
bei den Institutsfesten zeigt. Diese Zusammenarbeit und
Förderungen der StudentInnen wird z. B. beim Kauf von
Diktiergeräten für die Feldforschung deutlich oder
dadurch, dass das Institut für die Ideen der
Studierenden offen ist. So wird derzeit beispielsweise
eine studentische Veranstaltungsreihe mit Filmabenden
und Lesungen entwickelt.
Der Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre
wird durch die regelmäßig stattfindenden Studienprojekte gestärkt. Unter der Leitung einer oder eines
Lehrenden wird ein mehrere Semester dauerndes
Forschungsprojekt durchgeführt. Um zwei Beispiele zu
88
Vernetzung – Deutschsprachige Institute
nennen: Das von Elisabeth Timm geleitete
Studienprojekt „Das Herz“ mündete in der Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Kalenders, während
das Projekt „Leben und Überleben im Konzentrationslager Dachau“ von Michaela Haibl derzeit mit der
Ausstellung „Zeit. Raum. Beziehung.“ in der Gedenkstätte Dachau und einer Publikation abgeschlossen wird.
Auch andere Lehrveranstaltungen sind sehr praxisnah.
So etwa das von Klara Löffler geleitete Seminar „Die
Tücke des Objekts“ das sich zum Ziel setzt, einen
Aufsatz zur Methodik der Objektanalyse zu schreiben
und zu veröffentlichen.
Vom 7. bis 10. Juni 2007 wurde das jährlich stattfindende
Studierendentreffen der Deutschen Gesellschaft für
Volkskunde in Wien ausgerichtet. Rund 160 TeilnehmerInnen aus Deutschland, der Schweiz und
Österreich debattierten am Institut und im Österreichischen Museum für Volkskunde über die Zukunft des
Fachs und feierten ein ausgelassenes Fest im
Gartenbaukino. Ergebnis des Studierendentreffens war
u. a. die Vernetzung der StudentInnen auf einer WikiInternetseite. Außerdem wird momentan eine Publikation erstellt, die die weiteren Ergebnissen des
Studierendentreffens vorstellt.
Kurzum: ein abwechslungsreiches Studium in einem
schönen Altbau zwischen Burggarten und Albertina. „
Urs Malte Borsdorf studierte Europäische Ethnologie in
Innsbruck. Derzeit Magisterstudium am Institut für
Europäische Ethnologie in Wien. Veröffentlichungen in
Anthologien, Literatur- und Fachzeitschriften (bricolage,
Schreibkraft, Podium u. a.).
Internet
Institut für Europäische Ethnologie: http://euroethnologie.univie.ac.at
Studierenden-Wiki: http://www.ku-wi.net
Österreichisches Museum für Volkskunde:
http://www.volkskundemuseum.at
Deutsche Gesellschaft für Volkskunde: http://www.d-g-v.org/
Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen
von der ETHNOLOGIK-REDAKTION
Ethnologik – München
„Fremdes macht Sinn! – In unserem unermüdlichen
Versuch fremde Lebensentwürfe zu verstehen, stoßen
wir Ethnologen bisweilen an ernst zu nehmende Grenzen. Das im Feld Beobachtete kann schließlich nur mit
den eigenen Kategorien erfasst, geordnet und beschrieben werden. Aber diese Erkenntnis ist nicht das Ende der
Ethnologie. Im Gegenteil! – Sie gehört zu ihren großartigsten Leistungen!“ (Ethnologik 2007a: 3).
Und gerade deshalb macht es Sinn, sich mit fremden
Perspektiven auseinanderzusetzen. Nicht um zu werten,
nicht um zu entwickeln, sondern um das eigene Denken
zu bereichern und das volle Potential des "Menschseins"
in einer gemeinsam bewohnten Welt sichtbar zu machen.
Wir wollen ethnologische Themen daher nicht nur
innerhalb unseres eigenen Faches diskutieren, sondern
möglichst auch einer breiteren Öffentlichkeit nahe
bringen.
Mit diesem Vorsatz machte sich unsere Redaktion im
Herbst 2005 an eine Neuauflage der schon lange existierenden Institutszeitschrift. Das Leitthema der ersten Ausgabe im Frühjahr 2006 „going public“ war somit schnell
gefunden. Es folgten die Themen „flower power“ (Ethnologie ein Orchideenfach?), „Macht“ und „Integration“.
Auf insgesamt sechzig Seiten bemühen wir uns seither
um eine bunte Mischung aus theoretischen und journalistischen Artikeln, Feldforschungsberichten, Bildern,
Interviews, Satire und vielem mehr. Dabei ist uns die
„Lesbarkeit“ der Zeitung wichtig - keine trockene
Textwüste, sondern abwechslungsreiche Unterhaltung!
So hoffen wir einen kleinen Einblick in die Vielfalt
ethnologischer Themen zu ermöglichen. Darüber hinaus
legen wir Wert auf interdisziplinäres Arbeiten, denn der
sprichwörtliche „Blick über den eigenen Tellerrand“ ist
bei uns Programm.
Mit der Rubrik „Normal in München“, die etwa ein
Drittel der Zeitschrift umfasst, greifen wir konkrete
Themen im Münchener Alltag heraus und recherchieren
diese vor Ort mittels Feldforschung und Interviews. „Es
ist der Versuch, einen kleinen Einblick in die
Lebenswelten einzelner Münchener Mitmenschen zu
erlangen“ (Ethnologik 2006a: 38). So recherchierten wir
beispielsweise für die Herbstausgabe 2006 als
teilnehmende Beobachter in einem integrierten
Wohnheim für geistig Behinderte und Studenten und in
unserer aktuellen Ausgabe widmen wir uns der Frage
nach der Integration muslimischer Mitbürger in
München.
Die Ethnologik erscheint halbjährig mit einer Auflage
von derzeit neunhundert Stück und ist auch im Internet
unter www.ethnologik.de und im NIG Facultas verfügbar.
Bestellbar ist die Zeitschrift über folgende Adresse:
Redaktion Ethnologik, Institut für Ethnologie und
Afrikanistik der Universität München, Oettingenstraße
67, 80538 München. Artikel können gerne per e-mail an
ethnologik@gmx eingeschickt werden.
„
Mit besten Grüßen nach Wien,
die Ethnologik-Redaktion
Vernetzung – Zeitschriftenporträts
89
Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen
von der CARGO-REDAKTION
Die Cargo – Halle
ibt es eine Plattform, auf der Theorien, Perspektiven,
Denkansätze und Debatten der Ethnologie
unabhängig und frei diskutiert werden können? Ja: die
Cargo – Zeitschrift für Ethnologie! Erstmals erschien die
Zeitschrift im Jahre 1980. Seither sind durch wechselnde
Redaktionen in unterschiedlichen Universitätsstädten 26
Ausgaben entstanden. 2003 schlief das Projekt ein, doch
im April 2006 wurde durch einen Appell aus Göttingen,
das studentische Zeitschriftenprojekt nicht aufzugeben,
die Cargo offiziell aus ihrem Schlummerzustand geholt.
So kam es, dass sich schließlich eine kleine Gruppe von
Hallenser StudentInnen der Cargo angenommen hat und
im Frühjahr 2007 mit Hilfe aus Göttingen die 27.
Ausgabe herausgab.
G
Vor der anstehenden Neuauflage galt es einige Fragen zu
klären. So stand zu Beginn nicht fest, ob die Cargo
weiterhin Cargo heißen würde. Sollte man wirklich
einen Namen wählen, der an einen Tropenhelm tragenden Ethnologen denken lässt? Ja, auf jeden Fall, denn
was ist interessanter, als eine stereotype Vorstellung mit
offenen und breit gefächerten Inhalten zu füllen?
Ohne lang zu überlegen, übernahmen die „neuen
Cargoten“ die Prämissen der Vergangenheit. So liest
man in der Ausgabe 22: „ohne Hierarchien, offen für alle
(bei uns dürfen sogar Profis schreiben), ohne Zensur,
aber mit Anspruch“. Des Weiteren wurde eine Sache nie
angezweifelt: Die Cargo ist und bleibt in erster Linie eine
Zeitschrift von StudentInnen für StudentInnen. So setzt
sich die Redaktion derzeit aus angehenden EthnologenInnen der Universitäten Halle, Leipzig und Göttingen zusammen. Wenn es nach den HerausgeberInnen
ginge, könnte es eine Ausbreitung von Hamburg bis
nach München geben. Ein Netzwerk zu schaffen ist eine
der Intentionen der Cargo-RedakteurInnen.
Gegenwärtig arbeiten neun EthnologiestudentInnen
daran, dass es im kommenden Frühjahr 2008 die
Ausgabe 28. geben wird. In Gedanken ist man auch
schon bei Nummer 29., 30. und Folgenden. (Da hat das
LangzeitstudentInnendasein doch gleich einen Anreiz
mehr…) Ziel ist es, jedes Jahr eine bis zwei Cargos mit
einer Auflagenstärke von 500 Stück und wechselnden
Themenschwerpunkten zu drucken. Diese sind dann für
drei Euro auf dem Völkerkundemarkt (bei euren
Fachschaften oder im Internet) natürlich auch für NichtEthnologInnen zu erwerben. Die Inhalte der Cargo
beziehen sich auf vielfältige Fragestellungen rund um
90
Vernetzung – Zeitschriftenporträts
die
Ethnologie,
aber
auch
artverwandter
Fachrichtungen. Aktualität wird groß geschrieben, sei es
die derzeitige MigrantInnendebatte in Deutschland, die
Umstellung des Studiums auf BA/MA-Abschlüsse, oder
die Perspektiven der Ethnologie als gesellschaftlich
relevantes Fach.
Falls jetzt noch Fragen auf eurer Seele brennen, schaut
auf der Homepage unter www.cargo-zeitschrift.de vorbei.
Dort erfahrt ihr unter anderem auch, wie und wo die
Cargo käuflich zu erwerben ist und an wen ihr euch
wenden müsst, um ins Cargo-Boot einzusteigen.
Vergesst eines nicht: Die Cargo will Platz zum
Ausprobieren bieten, sowie die Möglichkeit, sich neben
der Uni im journalistischen beziehungsweise wissenschaftsjournalistischen Schreiben und in redaktioneller
Arbeit zu versuchen. Jeder kann sich angesprochen
fühlen, mitzumachen und los zu schreiben. Also: Nur
Mut und ran an die Füllfederhalter oder Notebooks! „
Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen
von der AG MEDIEN
CLTR – Zürich
rgendwann, irgendwo, irgendwie, geisterte der Gedanke, ethnologischen Themen auch mal ausserhalb der
Hörsäle in unterschiedlichen Formen Präsenz zu
verschaffen, durch die Köpfe einiger Züricher Ethnostudis. Das Frühjahrssemester 07 näherte sich schon
langsam dem Ende, als an einem warmen Sommerabend
bei kühlem Bier ganz offiziell die AG Medien gegründet
wurde. Ah ja, AG von wegen Arbeitsgruppe, nix mit
Aktien … um auch gleich die ersten Missverständnisse
aus dem Weg zu räumen. Von Radioprogrammen war da
die Rede, und von Homepages, Blogs, Zeitschriften,
Fotoausstellungen, Podcasts und Filmfestivals. An Ideen,
was so eine AG Medien alles auf die Beine stellen könnte,
mangelte es jedenfalls nicht.
I
Nach einem langen und ziemlich tiefen Sommerschlaf
wurde der harte Kern der AG denn auch sofort wieder
aktiv und langsam aber sicher wurde auch klar, dass als
erster Schritt eine Zeitschrift ins Leben gerufen werden
sollte. Als nächstes galt es natürlich einen passenden
Namen für unser Heft zu finden. Nach einem längeren
Aushandlungsprozess stand fest: CLTR heisst die erste
Zürcher Ethno-Zeitschrift.
CLTR ist eine Anspielung an die Begriffe culture/cultura
aus dem Wortschatz verschiedenster Sprachen und an
das täglich benutzte „Ctrl“ der Computertastatur: CLTR
steht für den Umgang mit ethnologisch relevanten
Themen in einem neuen Jahrtausend, für eine kritische
Betrachtung aktueller Themen in der Welt: Weit weg von
Zürich, gleich um die Ecke oder in sozialen Hyperspaces,
wie dem Internet.
Zukunft ein Mal pro Semester erscheinen. Weitere Infos
findet ihr auch im virtuellen Zuhause unseres
Fachvereins: www.fvez.ch oder direkt per Mail an:
[email protected].
Ganz im Sinne der Globalisierung streben wir auch eine
Vernetzung mit anderen Zeitschriften im Deutschsprachigen Raum an. Wer also Lust verspürt die Computertastatur auch mal außerhalb von Seminararbeiten zu
quälen, soll sich doch bei uns melden!
Wie der Name AG Medien vermuten lässt, haben wir
natürlich unsere übrigen Ideen nicht verworfen; Ziel ist
es, ethnologische Themen nicht nur via Printmedien zu
verbreiten, sondern auf das gesamte Spektrum medialer
Ausdrucksmöglichkeiten zurückzugreifen. Fotoausstellungen, Filmfestivals, Podcasts und ähnliches stehen
somit weiterhin zur Diskussion und sollen Studierenden
eine Möglichkeit bieten, sich in Medienaktivitäten zu
üben. Also, was auch immer ihr macht, kontaktiert uns!
Nicht nur Schreiberlinge, auch FotografInnen, FilmemacherInnen, ComiczeichnerInnen und KünstlerInnen aller
Art sind willkommen!
„
www.fvez.ch
[email protected]
Unterdessen hat der Kaffee an den Redaktionssitzungen
das frühsommerabendliche Bier ersetzt, es wurden
Druckkosten verglichen und Autor (-en und -innen) gesucht und gefunden. Diese widmen sich in der erste
Ausgabe dem, was Wikipedia als den „archimedischen
Anker“ unseres Faches beschreibt: dem Fremden. Einem
Begriff, der der Ethnologie seit längerem suspekt zu sein
scheint, aber nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Interviews, Reportagen, Analysen, Buchrezensionen
aber auch künstlerische Beiträge werden aus den
unterschiedlichsten Perspektiven heraus Blicke auf den
„archimedischen Anker“ werfen.
Mehr soll jetzt aber noch nicht verraten werden; ab Mitte
Februar des kommenden Jahres wird CLTR schliesslich
an der Uni Zürich käuflich erwerbbar sein und in
Vernetzung – Zeitschriftenporträts
91
Ein kurzer Abriss zum Projekt Maske
von der MASKE-REDAKTION
Die Maske –
The story continues…
Es läuft! Und zwar gut!
Mit der Zeit kristallisierte sich vor allem eines heraus:
Die MASKE herauszugeben – das ist ein Fulltimejob. Die
Doppelbelastung durch Studium und redaktionelle Arbeit ist nur dann zu schaffen, wenn es engagierte MitarbeiterInnen gibt, die die Zeitschrift als ihr eigenes Projekt
anerkennen. Im vergangenen Semester gab es eine starke
Teamumstrukturierung – die Köpfe hinter der MASKE
verändern sich also, aber die MASKE bleibt. Wir haben
Verstärkung im Kernteam (Wilhelm Binder, Birgit Pestal,
Ursula Probst), beim Layout (Mathias Wittau), beim
Lektorat (Malte Borsdorf, Martina Leovac, Lisa Ringhofer) und bei Fragen der professionellen Buchhaltung
und des Web-Auftrittes erhalten. Aus dem Kernteam der
ersten Ausgabe ist nur die Gründerin der Zeitschrift,
Norma Deseke, erhalten geblieben, die das Projekt heute
engagiert am Leben erhält und den Überblick bewahrt.
Anthropologische Themen sind durch die Arbeit an der
MASKE für uns praktisch, anschaulich und überaus
brisant geworden. Wir stellen interessante Kontakte her,
diskutieren Beiträge, Konzeptionen, anthropologische
Theorien und Erklärungsmodelle und – wir geraten unter verschiedenste Arten von Druck, der mit redaktioneller Arbeit ganz natürlich einhergeht. Unweigerlich
kommen wir dabei auch mal in Verlegenheit, begehen
den einen oder anderen Fauxpas und lernen dazu. Die
Auswahl an Fehlern scheint groß genug zu sein, wir
versuchen also jeden nur einmal zu machen. Zudem
scheint es notwendig, formale Prozedere zu entwickeln,
die einheitlich sind, sowie Transparenz für die AutorInnen zu schaffen. Beim Lektorieren geben wir uns
größte Mühe auch versteckte Ethnozentrismen aufzudecken. Und da auch StudentInnen für uns schreiben,
geraten wir unter anderem in die brenzlige Situation,
unsere eigenen KollegInnen zu kritisieren. Die Maske
wird zunehmend ein diskursives Projekt.
wollen wir evtl. auch StudentInnen anderer Fakultäten
ermöglichen – wobei der Nutzen für das Projekt im Vordergrund steht. Wir brauchen z.B. rechtliche Beratung,
jemanden der unsere PR und Werbung übernimmt und
Aushilfe bei Verkauf und Anzeigen. Unser Lektorat kann
noch Verstärkung gebrauchen. Auch Illustrationen sind
immer gefragt. Wenn wir dafür Zeit hätten, würden wir
auch gerne einen Weblog betreuen, der zu aktuellen
Geschehnissen am Institut, bzw. in der Anthropologie
allgemein, Stellung nimmt. Anthropologie kann für
StudentInnen durch Mitarbeit bei der MASKE praktisch
und realitätsnah werden, das ist zumindest unsere
Erfahrung. Unterstützen kann man uns natürlich auch
ganz einfach, indem man die MASKE im Freundeskreis
weiterreicht und ins Gespräch bringt. Wir sind ein NoBudget Projekt – dementsprechend freuen wir uns auch
über stille TeilnehmerInnen, die uns, bzw. den
Kulturverein Pangea mit Spenden unterstützen wollen.
Die Nachfrage für die erste Ausgabe ist immer noch
vorhanden – wir planen daher einen Nachdruck
– abhängig von den Geldmitteln die uns nach dem
Verkauf von Ausgabe Nr.2 zur Verfügung stehen
werden. Wenn alles gut geht, ist auch die dritte Ausgabe
der MASKE finanziert – an dieser Stelle wollen wir uns
beim Institut und insbesondere bei Thomas Fillitz für die
moralische als auch finanzielle Unterstützung bedanken.
Für 2008 planen wir eine klarer strukturierte Arbeitsverteilung, eine konkretere Konzeption sowie auch den
Relaunch unserer Webseite. Gute Ideen sowie MitarbeiterInnen, die diese auch verwirklichen wollen, sind
gefragt und mehr Vernetzung wird angestrebt. Unser
Anspruch auf Qualität ist hoch und wir nehmen uns vor,
ein Medium für originelle Beiträge zu sein, die
wissenschaftlich und dennoch flott zu lesen sind. Wir
hoffen, das ist uns auch mit dieser Ausgabe gelungen! „
Die MASKE-Redaktion
Für das nächste Semester streben wir auch etwas an, das
wir derzeit das „MASKE- Individualpraktikum“ nennen.
Wir stellen uns vor, dass es künftig möglich sein wird,
bei uns mitzuarbeiten und dafür auch ein Praktikumszeugnis ausgestellt zu bekommen. Diese Möglichkeit
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Vernetzung
www.diemaske.at
Kulturverein Pangea
Gussenbauerg.1/10, 1070 Wien
Spenden-Knt..Nr.: 03010 923 890
BLZ 14000 BAWAG