Felicia Rappe Gegenwartskunst und Oper
Transcription
Felicia Rappe Gegenwartskunst und Oper
Felicia Rappe Gegenwartskunst und Oper BERLINER SCHRIFTEN ZUR KUNST herausgegeben vom KUNSTHISTORISCHEN INSTITUT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN 2016 Felicia Rappe Gegenwartskunst und Oper Beitrag zu einer Erfahrungsästhetik Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-STIFTUNG und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Umschlagabbildung: Tristan und Isolde, Opéra Bastille, Paris, 2005 Videobilder: Bill Viola, Regie: Peter Sellars © Bill Viola, Foto: Ruth Walz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl. Berlin, Freie Univ., Diss., 2013 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-6012-7 Inhaltsverzeichnis Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 1.2 1.3 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwartskunst und Oper – Problemaufriss und Hypothese Beitrag zu einer Erfahrungsästhetik – Ziel der Arbeit . . . . . . Forschungsstand, analytisches Vorgehen, Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 . . . . 9 9 24 29 . . 39 . . 39 . . . . . . . . . . 42 45 49 53 59 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 61 64 . . . . . . . 65 . . . . . . . . . . . . . . 68 82 . . . . . . . 82 . . . . . . . . . . . . . . 88 97 Erster Teil: Handlung – Bill Violas Tristan und Isolde (2005) 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 Handlung, oder: Vom ,visuellen Kommentar‘ zum Erfahrungsraum . . . . . . . . . . (Video-)Installation und Oper – eine problematische Konstellation? Einführung mit Ilya Kabakov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bill Viola, Richard Wagner und die ,großen Themen‘ – Verschärfung der Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Grundzüge der Aufführung, oder: Medienkonkurrenz in der Blackbox 2.2.2 Bill Viola und die Tücken kunsthistorischer Interpretation . . . . . . . 2.2.3 Tristan und Isolde und Bill Viola – eine risikoreiche Partnerschaft? . . . 2.2.4 Das Zusammentreffen der Künste als Potenzial – Hypothese . . . . . . Hierarchieverschiebungen – Analyse I . . . . . . . . . . . . . Erlebnisse eines „schizophrenen Betrachters“ . . . . . . . . . . . . . . Zentrale intermediale Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 „Wagner arbeitet in Realzeit“ (Bill Viola) – Zeitstrukturen bei Wagner und Viola . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 ,Videomelodie‘ im polyphonen Gefüge – ein Beschreibungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der ,Lesart‘ zum Erfahrungsraum – zwei Deutungsperspektiven 3.3.1 Die Bilder als „innere Handlung“ (Adolphe Appia)? Die Frage nach der ,Lesart‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Erfahrungsstruktur als Ort der Bedeutung – eine andere Deutungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Exkurs: Bill Violas Tristan und Isolde und Threshold (1992) . . Handlung: Mediale Struktur statt linearer Verlauf – Zwischenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexiv-produktiver Umgang mit der Produktionsbedingung ,Handlung‘ . . 4.1.1 Kein Störfaktor – die Handlung als Koordinate eines Erfahrungsraums 4.1.2 Arbeiten mit der „Nervosität“ (Gertrude Stein) – Medialität als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Körper und Präsenz(-Effekte), oder: Zur Semantisierung sinnlicher Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 . . 103 . . 103 . . 107 . . 111 6 INHALTSVERZEICHNIS 5 5.1 5.2 Fokusverschiebungen – Analyse II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Metaphysical flight“ und „facts of life“, oder: Immersion und Reflexion . . Die Träume der Anderen oder eigene Projektionen? Zwei Deutungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 In die Welt zurückkommen – die Frage nach der ‚Lesart‘ . . . . . . . . 5.2.2 Illusion und Desillusion erfahren – eine andere Deutungsperspektive 5.2.3 Exkurs: Bill Violas Tristan und Isolde und The Sleep of Reason (1988) . . . . . . 6 Handlung als intermediale Kategorie – Zusammenfassung . . . . . 125 . . . . . . . . 115 115 . 118 . 118 . 120 . 121 Zweiter Teil: Raum – Olafur Eliassons Phaedra (2007) 7 7.1 Raum, oder: Vom Bühnen- zum Erfahrungsraum . . . . . . . . . . Das Opernhaus: Flucht vor dem Museum? Einführung mit der ,Ausstellung‘ Il tempo del postino . . . . . . . . . . . . Olafur Eliasson und Hans Werner Henzes Phaedra – Hypothese . . . . . 7.2.1 Ausgangsbedingungen der Produktion von Phaedra . . . . . . . . . 7.2.2 Produktionsbedingung Raum – drei Aspekte der Raumgestaltung 7.2.3 Orchester, Bühne, Steg – drei Wahrnehmungsweisen der Sänger . . Phaedras Trugbild – die Frage nach der ,Lesart‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Spiegelung als ,innerer Dialog‘? Das Narziss-Motiv im Libretto . . . 7.3.2 Spiegelbild als Trugbild – Narziss bei Eliasson und Mussbach . . . . . . . . 133 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 136 136 139 143 146 146 149 8 8.1 8.2 Koordinatenverschiebung – Analyse I . . . . . . . . . . . . . . . . . Klang und Bild in Bewegung, oder: Eine Frage der Haltung . . . . . . . . . . „Meinen Fluchtpunkt finden“ – eine andere Deutungsperspektive . . . . . 8.2.1 Historizität der Guckkastenbühne – „The relativity of your reality“ . 8.2.2 Implikationen der Repräsentationsästhetik: Distanz und Begehren . 8.2.3 Visuell, akustisch, haptisch – für eine Vielfalt des Erkenntniszugangs 8.2.4 Die Sänger als ,semantische Indikatoren‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 155 159 160 164 171 173 9 9.1 9.2 Raum als intermediale Kategorie – Zwischenstand . . . . . . . . . . . 177 Eliassons Phaedra: Ein Kunstwerk unter den Bedingungen der Oper . . . . . . . 177 Vom Sitzplatz als Beschränkung zu (ethischen) Fragen der Positionierung . . . . 178 7.2 7.3 10 Fluchtpunktverschiebungen – Analyse II . . . . . . . . . 10.1 Ein leerer Bühnenraum – ein „minimalistisches Bühnenbild“? . . 10.1.1 Den Ort des Bildes zur Disposition stellen . . . . . . . . . . 10.1.2 „Wir sind nackt geboren“, oder: Eliassons Remagine (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 183 185 188 11 Raum: Erfahrung als Bedeutung – Zusammenfassung . . . . . . . . . . 193 12 Schlussbemerkungen – Spannungsfeld Gegenwartskunst und Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Dank Das vorliegende Buch beruht auf meiner Dissertation, die ich 2013 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht und verteidigt habe. Die Arbeit hat von verschiedensten Seiten wertvolle Unterstützung erhalten. Mein Dank gilt vor allem meinen Betreuern Prof. Dr. Klaus Krüger und Prof. Dr. Clemens Risi, die die Entstehung dieser Arbeit mit großer Anteilnahme und Unterstützung begleitet haben. Durch die konstruktiven Diskussionen mit Klaus Krüger habe ich Argumente zu schärfen und die Anschaulichkeit und Widerständigkeit der Kunstwerke gegenüber der Theorie im Blick zu behalten gelernt. Großen Gewinn habe ich auch aus den Gesprächen, den (musik-)theaterwissenschaftlichen Seminaren und Studientagen bei Clemens Risi gezogen, so dass das interdisziplinäre Thema dieser Studie Anregungen aus zwei Fachperspektiven erhalten konnte. Den Rahmen für die Bearbeitung dieses Themas bot das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte und von Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte geleitete Internationale Graduiertenkolleg „InterArt“ an der Freien Universität Berlin. Meine Mitgliedschaft im Kolleg erlaubte mir unter anderem einen Aufenthalt an der Copenhagen Doctoral School of Cultural Studies an der Universität Kopenhagen, wo ich vom Austausch mit Anne Ring Petersen sowie mit Rune Gade sehr profitiert habe. Herzlich danken möchte ich meinen akademischen Lehrern Raphael Rosenberg, Angeli Janhsen und Günter Schnitzler, die bereits während meines Studiums an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mein Interesse für die Schnittstellen zwischen bildender Kunst und Theater förderten und genau wie Arnauld Pierre am Kunsthistorischen Institut der Pariser Sorbonne die Vertiefung dieser Thematik wesentlich unterstützten. Verschiedene Personen haben auf äußerst großzügige und offene Art und Weise den Zugang zu den Kunstwerken ermöglicht, die im Zentrum dieser Arbeit stehen: Bill Viola, Kira Perov und ihre Mitarbeiter, Olafur Eliasson und seine Mitarbeiter sowie Peter Sellars. Proben- und Aufführungsbesuche und Einsicht in vielfältiges Material zu den Opernproduktionen haben mir insbesondere Viktor Schoner unter der Intendanz von Gerard Mortier an der Opéra national de Paris möglich gemacht sowie Jens Schroth unter der Intendanz von Peter Mussbach an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Ruth Walz danke ich sehr für die Bereitstellung der Fotografien beider hier besprochenen Produktionen. Nicht zu vergessen seien Wiebke Busch, Titus Engel, Jonathan Meese und Isabel Ostermann. Den Herausgebern der Berliner Schriften zur Kunst, Klaus Krüger und Gregor Stemmrich, danke ich für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität Berlin. Mein Dank gilt zudem der FAZIT-STIFTUNG, die durch ein Abschlussstipendium diese Arbeit förderte und zusätzlich einen Druckkostenzuschuss gewährte. Für die Bereitstellung von Mitteln für den Druck dieses Buchs bin ich auch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften zu Dank verpflichtet. Mein Dank gilt zudem Daniel 8 DANK Bonanati und Andreas Knop, die beim Wilhelm Fink Verlag diese Publikation betreuten, sowie Norbert Axel Richter für das Lektorat. Viele Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen sind eng mit der Entstehung dieser Arbeit verbunden. Ein besonderer Dank gilt zuallererst Johannes Wienand für seine unermüdliche und umfassende Begleitung dieses Projekts von Anfang an. Wesentlich prägten die inspirierenden und intensiven Diskussionen mit Brigitte Witzenhause und Monika Lilleike meine Zugriffsweise auf die Thematik. Matthias Dreyer danke ich für die präzise und produktive Lektüre dieser Arbeit. Ebenfalls mit großer Dankbarkeit möchte ich hier Sandra T. J. Coumans erwähnen sowie Katrin Dillkofer, Thomas Girst, Barbara Hiraoka, Siw Krüger, Felix Lichtenegger, Anna Papenburg, Verena Rodatus, Andreas Schäfer, Ursula Ströbele, Thorsten Thiel, Stéphanie Vecchione, Familie Wieber und den kostbaren Austausch mit Martina Papiro, Elke A. Werner und Mark Schachtsiek. Während der Abschlussphase meiner Dissertation konnte ich auf die unschätzbar wichtige Unterstützung von Florian Matzner, Walter Grasskamp, Matthias Mühling und Doris M. Würgert zählen. Mein ausgesprochener Dank für den Drucksatz gebührt Kai Freund. Von ganzem Herzen danke ich meiner Familie, meinem Bruder Christoph Rappe und Ulrike Rappe sowie schließlich meinen Eltern Ursula und Heinz Rappe. Sie legten den Grundstein meiner Leidenschaft für die bildende Kunst wie für die Oper. Ihnen widme ich dieses Buch. Berlin, Januar 2016 Felicia Rappe 1 Einleitung 1.1 Gegenwartskunst und Oper – Problemaufriss und Hypothese Die künstlerische Praxis, von der in diesem Buch die Rede sein soll, ist von unübersehbarer Aktualität: Eine Vielzahl bildender Künstler unternahm in den letzten Jahren aufwendige Projekte im Rahmen der Institution Oper. Neben Bill Viola und Olafur Eliasson – die exemplarisch im Zentrum dieser Untersuchung stehen – arbeiteten unter anderem Anselm Kiefer, Ilya Kabakov, Daniel Richter, Elmgreen & Dragset oder William Kentridge im Kontext von Opernproduktionen. Auch Intendanten großer Spielstätten wie Gerard Mortier an der Opéra national de Paris oder Peter Mussbach an der Berliner Staatsoper Unter den Linden erklärten die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern als programmatisch. Die Ergebnisse solcher Kooperationen sind vielfältig: Bill Viola setzte im Zuge einer Produktion von Richard Wagners Tristan und Isolde der Bühnenhandlung großformatige Videoprojektionen entgegen; Olafur Eliasson hob in seiner Arbeit zu Hans Werner Henzes Phaedra die traditionelle Hierarchie von Zuschauerraum, Bühne und Orchestergraben durch den Einsatz von Licht und Spiegeln auf; William Kentridge integrierte in einer New Yorker Produktion von Dimitri Schostakowitschs Oper Die Nase Sänger, Projektionen und gedruckte Kulissenelemente in einer monumentalen bewegten Collage, und Anselm Kiefer verlieh in Am Anfang an der Opéra Bastille dem Bühnenraum ungewohnte Ausdehnung, indem er 4.000 m2 Fläche in dessen skulpturale Gestaltung einbezog, so dass die immer wieder in der Tiefe verschwindenden Darsteller dem üblichen Bühnenausschnitt neue Raum- und Zeitdimensionen hinzufügten. Nun ist das Phänomen der Begegnung von bildender Kunst und Oper nicht neu. Seit den Anfängen der Oper um 1600 waren bildende Künstler in Produktionen dieser Kunstform involviert. Die Bandbreite ihrer Arbeiten im Bereich der Oper reicht von aufwändigen Konstruktionen barocken Maschinenzaubers über klassizistische Kulissenmalerei – hier sind etwa die berühmten Bilder Karl Friedrich Schinkels für Mozarts Zauberflöte zu nennen (erste Aufführung 1816) – bis hin zu den Objekten, die Künstler des Bauhauses Ende der 1920er Jahre in die Berliner Krolloper einbrachten.1 Derartige Kooperationen mit bildenden Künstlern liegen aufgrund der genuin plurimedialen Struktur der Oper nahe: Die Gattung Oper konstituiert sich überhaupt erst durch das Zusammenspiel von akustischen Elementen (zu denen die vom 1 Für Bühnenbild und -technik in der Zeit des Barock vgl. Brauneck 1996, S. 10–489; zu Schinkels Bühnenbildern vgl. Harten 1974 und Werner 2007; zur Krolloper vgl. die umfängliche Dokumentation bei Curjel 1975 sowie Werckmeister 1997, S. 37f. und Schachtsiek 2007, S. 64f. Eine Zusammenstellung theoretischer Texte zur Entwicklung des Bühnenraums bzw. Bühnenbilds liefern Lazarowicz/Balme 1991; für einen Überblick zur Geschichte speziell des Opernbühnenbilds vgl. auch Papiro/Schachtsiek/Werner 2007; grundlegend zum Thema Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien Pochat 1990. 10 EINLEITUNG Orchester gespielte Musik sowie das von den Darstellern singend vorgetragene Libretto gehören) mit visuellen Elementen (zu denen sowohl die kostümierten Sänger als auch alle szenischen Elemente wie beispielsweise das Bühnenbild zählen).2 Bildende Künstler erscheinen durch ihre Expertise in visuellen Verfahren für die szenische Gestaltung von Opernproduktionen geradezu prädestiniert. Doch warum beschäftigen sich bildende Künstler heute mit der Oper? Ein Zusammentreffen aktueller Kunst mit der Oper mag zunächst erstaunen, denn mit Blick auf die Entwicklungen in der bildenden Kunst seit den 1960er Jahren stehen solche Kooperationen heutzutage unter grundsätzlich gewandelten Vorzeichen. Bildende Künstler treffen im Kontext der Oper auf bestimmte Rahmenbedingungen, die bei der Produktion einzubeziehen sind: Einerseits sind dies Strukturmerkmale der Kunstform Oper, andererseits Rezeptionsbedingungen, die sich in dieser Institution im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Diesen Gegebenheiten von Opernaufführungen sind, wie einführend gezeigt werden soll, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen künstlerischer Praxis der letzten Jahrzehnte, für die ein erweiterter Kunst- und Autonomiebegriff prägend gewesen ist, diametral entgegengesetzt. Zunächst zu den Strukturmerkmalen: Innerhalb des Zuständigkeitsbereichs, für den bildende Künstler für gewöhnlich engagiert werden – die visuelle szenische Gestaltung, traditionell: das Bühnenbild3 –, sehen sie sich mit den vorgegebenen Komponenten von Handlung, Musik und Sängern konfrontiert. Dem Gros musikdramatischer Werke liegt ein durchgehender, in Akte aufgegliederter Handlungsstrang zugrunde, der in der Partitur als Text notiert ist. Diese Form stellt zumindest den dominierenden Typus musikdramatischer Kompositionen zwischen 1600 und etwa 1920 dar.4 Werke aus dieser Zeitperiode bilden den Schwerpunkt der Spielpläne und somit auch das Repertoire, für das die Opernhäuser bildende Künstler engagieren. Für diese Art musikdramatischer Werke ist ein dramaturgischer Spannungsbogen einer von Anfang bis Ende linear fortschreitenden Handlung charakteristisch, mit deren Verlauf sich wiederum die Wahrnehmung der Musik synchronisiert. Analog zu dieser Auffassung werden die Sänger hauptsächlich in ihrer Funktion als Rollenfiguren in der jeweiligen Handlung oder als virtuose Stimmträger wahrgenommen. In der Gegenwartskunst dagegen überwiegen grundsätzlich andere Produktionsbedingungen. Mit dem durchgeformten Handlungsstrang als Vorgabe eines Großteils der Opernprojekte kontrastiert eine seit den 1960er Jahren (nicht nur in der bildenden Kunst) erweiterte Auffassung von Narration. Dabei wird Narration nicht 2 3 4 Vgl. Erika Fischer-Lichtes Klassifizierung theatraler Zeichen in Semiotik des Theaters (Fischer-Lichte 1983). Bühnenbild ist als Teilbegriff der Szenographie definierbar. Letztere schließt zudem die Gestaltung der Kostüme und die Beleuchtung ein (Balme 2005, S. 322). Christopher Balme differenziert zwischen Szenographie als transhistorischem Begriff, der die „Raumgestaltung im Theater von der Antike bis zur Gegenwart“ bezeichnet, und Szenographie als historischem Begriff, womit auf den „Wandel von einem zwei- in ein dreidimensionales Raumkonzept“ im Zuge der Bestrebungen des Theaters in der Moderne verwiesen wird (ebd., beide Zitate S. 322). Spricht man im Hinblick auf Opernaufführungen von „Bild“, ist Jürgen Schläder zufolge nicht nur das „Bühnenbild“ gemeint, sondern „alle visuellen Informationen einer Opernaufführung“ (Schläder 2001, S. 184). Vgl. Schläder 2001, S. 183. GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 11 mehr durchweg als lineare, in sich geschlossene Handlungssequenz verstanden, in der Ereignisse in einer bestimmten zeitlichen Organisation aufeinanderfolgen.5 Vielmehr wird die nichtlineare, vielgestaltige Imagination des Betrachters zum Angelpunkt der Konstituierung einer ‚Geschichte‘. In den unterschiedlichen künstlerischen Medien kann sich eine solche Auffassung von Narration auf verschiedene Weise manifestieren: Im Medium der Fotografie arbeitete beispielsweise Cindy Sherman in ihren seit 1977 entstandenen Untitled Film Stills mit vermeintlichen Fragmenten einer filmischen Handlung, die den Betrachter zur Ergänzung des inszenierten Szenarios und zur Reflexion der eigenen Bilder veranlassen, die er in das Gesehene hineinprojiziert.6 Auf ganz andere Weise provozieren installative Raumensembles wie Gregor Schneiders berühmtes Haus u r (seit 1985) oder in jüngerer Zeit die von Mike Nelson labyrinthisch angelegten fiktiven Raumensembles die Betrachter dazu, sich vorzustellen, was sich hier abgespielt haben könnte.7 Da sich je nach Betrachter unterschiedliche ‚Geschichten‘ ergeben, ist die Bedeutung solcher Kunstwerke dezidiert plural. Auch die kompositorische Konzeption musikdramatischer Repertoirewerke, mit der sich bildende Künstler in Opernproduktionen konfrontiert sehen, steht im Kontrast zu aktuellen Umgangsweisen mit dem Phänomen Klang in der bildenden Kunst. Bei Klanginstallationen der Gegenwartskunst treten statt der zeitlichen Verlaufsstruktur von Musik häufig ihre räumlichen Qualitäten in den Vordergrund. Als prominentes Beispiel sind hier die seit Mitte der 1990er Jahre entstehenden Klanginstallationen von Janet Cardiff und George Bures Miller zu nennen, die etwa in The Murder of Crows (2008) die Besucher inmitten einer Vielzahl großflächig verteilter Lautsprecher die Entstehung und stetige Umformung eines Klangraums erleben lassen.8 Körper und Stimme werden zudem seit einigen Jahrzehnten in der bildenden Kunst derart eingesetzt, dass Rollenfiguren einer Opernhandlung als eine einschränkende Produktionsbedingung erscheinen müssen. So fokussierten Performancekunst oder Body Art etwa seit den 1970er Jahren auf die leibliche Präsenz der Performer, wenn die Aufmerksamkeit beispielsweise durch reale Verletzungen – wie etwa bei Chris Burden oder Marina Abramovič – oder durch Rufen bis zur Erschöpfung, wie es Jochen Gerz 1972 aufführte, nicht auf eine fiktive Person, sondern auf die Materialität von Körper und Stimme gelenkt wurde und dabei die Künstler selbst agierten.9 5 6 7 8 9 Vgl. die Definition von Narration in Kolesch 2005, S. 217. Vgl. Krüger 2007, insbes. S. 143–146, sowie den Sammelband Re-Inszenierte Fotografie (Krüger/Crasemann/Weiß 2011). Als Beispiel kann Mike Nelsons Installation Kristus Och Judas: a Structural Conceit (a Performance in Three Parts) angeführt werden, die vom 30.8.2008 bis zum 3.1.2010 im Kopenhagener Statens Museum for Kunst zu sehen war (Bjerkhof 2008, S. 114f.). Erstmals 2008 auf der Sydney Biennale zu erleben, wurde die Klanginstallation im Jahr 2009 unter anderem in Berlin von der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart erneut präsentiert (vgl. Crowston 2011). In der umfänglichen Literatur zur Performancekunst vgl. etwa das Standardwerk Goldberg 1979 oder den Reader Marranca/Dasgupta 1999 zur Annäherung von Theater und bildender Kunst seit den 1970er Jahren; zu Beziehungen der Performancekunst zum Bild bzw. Bildhaften Janecke 2004; zum Aspekt der Dauer in Performances vgl. Jooss 2004 sowie auch Lüthy 2006 und Lüthy 2009, dort zur Reflexion von Performance im Grenzbereich zwischen Theater und bildender Kunst insbes. S. 203–206. Zu Stimmlichkeit in der Gegenwartskunst vgl. bspw. Kolesch 2006. 12 EINLEITUNG Auch eine massenhafte Nutzung des menschlichen Körpers, wie sie seit Mitte der 1990er Jahre die Kunst von Vanessa Beecroft prägt, ist denkbar weit von der Konzeption eines Sängerdarstellers in der Oper entfernt, der in seiner Rolle auf die jeweilige Figur einer Textvorlage verweist.10 An diesem Punkt könnte eingewendet werden: Lassen solche Entwicklungen der bildenden Kunst in Richtung einer Annäherung an Bühnen- und Aufführungssituationen die Arbeit bildender Künstler im theatralen Rahmen nicht erst recht plausibel erscheinen – umso mehr, als im postdramatischen Theater seit den 1960er Jahren Wirkungs- und Bedeutungsmodi der Präsenz den Horizont einer Repräsentationsästhetik längst überschritten haben?11 Im Gegensatz zum Theater scheint jedoch die Oper einem solchen Performatisierungsschub trotz partieller Bestrebungen (vgl. Kapitel 4.1.3) nach wie vor Widerstand zu leisten; ein Grund dafür ist – anders als beim vergleichsweise freien Umgang mit einem Dramentext – die bei einer Opernpartitur nach wie vor eingeforderte „Werktreue“.12 Auch die üblichen Rezeptionsbedingungen, die sich in der Oper herausgebildet haben, unterscheiden sich fundamental von jenen Rahmenbedingungen der Wahrnehmung, die in der Kunst der Gegenwart anzutreffen sind. Einer Opernaufführung folgen die Besucher von einem festen Sitzplatz im Zuschauerraum aus. Die Aufführung erfolgt zudem innerhalb einer festgelegten Zeitdauer, die in der Regel durch eine oder mehrere Pausen unterbrochen wird. Auch wenn bildende Künstler für Uraufführungen engagiert werden, deren Strukturmerkmale sich von denjenigen historischer Werke unterscheiden – weil etwa in der Komposition die Idee einer Klangraumgestaltung von vornherein mitgedacht oder das Libretto als sprunghafte Szenenfolge angelegt ist –, bleiben diese Rezeptionsbedingungen meist als Vorgaben bestehen. In der Gegenwartskunst ist es demgegenüber gängige Praxis, beispielsweise in Rauminstallationen gerade die Mobilisierung des Betrachters und die freie Aufenthaltsdauer als ästhetische Strategien zu nutzen, um komplexe Modi der Zeit- und Raumerfahrung zu generieren sowie dem Betrachter seine für das Kunstwerk konstitutive Rolle zu Bewusstsein zu bringen.13 Für die jüngeren Tendenzen zu situativen Konzeptionen, in denen die Betrachter selbst eine Bühne bekommen, sind Erwin Wurms One Minute Sculptures nur ein symptomatisches Beispiel. Prozess, Ereignishaftigkeit und 10 11 12 13 Vgl. bspw. Ursprung 2004. Dazu grundlegend ist Hans-Thies Lehmanns Postdramatisches Theater (Lehmann 1999). Jürgen Schläder betont, dass „die visuelle Seite einer Schauspieluraufführung niemals eine vergleichbare ästhetische Verbindlichkeit wie im musikalischen Theater des 19. Jahrhunderts“ hatte. Er verweist auf die Gepflogenheit, im Zuge der Inszenierung einer neuen Oper auch die „Aufführungsmodalitäten“ schriftlich festzuhalten und für spätere Aufführungen verbindlich zu machen (Schläder 2001, alle Zitate S. 186). Schläder nennt exemplarisch die für den Werktreuediskurs prägende Publikation Das Operntheater von Paul Bekker aus dem Jahr 1931, in der dieser sich für eine „werktreue Nachschöpfung“ einer Opernpartitur ausspricht, um den Autorwillen zu erhalten, statt sich der Partitur in „gegenwartsnaher Neuschöpfung“ subjektiv zu nähern (zit. nach Schläder 2001, S. 187, Anm. 11). Vgl. dafür bspw. Rebentisch 2003. GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 13 relationale Ästhetik14 – Kategorien, die seit den 1990er Jahren im Kunstdiskurs allgegenwärtig sind – werfen hinsichtlich aktueller Arbeiten bildender Künstler für die Oper die Frage auf, ob die skizzierten Rahmenbedingungen der Oper nicht als Beschränkungen erscheinen müssen, die mit einer solchen künstlerischen Haltung unvereinbar sind. Aus diesem Spannungsfeld zwischen den Strukturmerkmalen und Rezeptionskonventionen der Oper einerseits, den Verfahren der Gegenwartskunst andererseits erwächst die Ausgangsfrage dieser Arbeit: Wie setzen sich die bildenden Künstler mit diesen im Opernkontext gegebenen Produktionsbedingungen auseinander? Um den spezifischen Gegenstand dieser Studie klar abzugrenzen und auf ihr zentrales Interesse hinzuführen, sei daran erinnert, dass Annäherungen und Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Oper seit einigen Jahrzehnten auf unterschiedlichsten Ebenen stattgefunden haben und demnach aus verschiedenen Perspektiven untersucht werden können. So könnte man bis zu Wolf Vostells „Mixed Media Opera“ Der Garten der Lüste zurückgehen, die er 1982 konzipierte – ein Nachklang von Bestrebungen der Neo-Avantgarden der 1960er Jahre, in Fluxus- und Happeningaktionen mit Elementen von Theater, Musik und Tanz traditionelle Kunstgattungen und institutionelle Zuschreibungen hinter sich zu lassen. Das Thema könnte auch unter dem Aspekt befragt werden, wie Regisseure und Bühnenbildner aktuelle stilistische Tendenzen der bildenden Kunst aufgegriffen haben, etwa in dem Sinne, wie Anfang der 1970er Jahre von einem Theaterkritiker diagnostiziert wurde, aktuelle Bühnenbilder kämen „durch Pop-, Op-, kinetische und Land-art-Wälder geschritten“.15 Umgekehrt kann sich das Interesse von bildenden Künstlern an der Oper auch in architektonischen oder musikalischen Zitaten im Kunstkontext zeigen, etwa wenn die stark sinnliche Wirkung von Maria Callas’ Gesangsstimme in der Videoarbeit Les larmes d’acier (1987) von Marie Jo Lafontaine eingesetzt wird oder die politisch-kritischen Bedeutungsdimensionen von William Kentridges Black Box/Chambre Noire (2006) durch die Form eines Miniaturtheaters und durch das Einspielen von Mozarts Zauberflöte nuanciert werden.16 Andere Kunstwerke wiederum nehmen dezidiert musikdramatische Stoffe zum Ausgangspunkt, so etwa die „Opernaktion“ Tristan – Schwimmen und Schweigen des Künstlers Georg Nussbaumer, der im Jahr 2006 die um das Mitbringen von Badekleidung gebetenen Besucher zu einem Parcours im Mannheimer Herschelbad einlud.17 Zudem sind Künstler, die gängigerweise der bildenden Kunst zugeordnet werden, auch an der Neuschaffung musikdramatischer Werke beteiligt. So entstand in der Zusammenarbeit des Komponisten Peter Gordon 14 15 16 17 Vgl. zu Prozessualisierungstendenzen seit den 1960er Jahren bspw. Gludovatz/Hantelmann/Lüthy 2010; zur Ereignishaftigkeit in der zeitgenössischen Kunst Hantelmann 2001a; zur relationalen Ästhetik Nicolas Bourriauds Esthétique relationnelle (Bourriaud 1998). So Horst Laube 1973 im Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute (Laube 1973, S. 142). Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Johanna Werckmeister (Werckmeister 1997, S. 64). Zu Black Box/Chambre Noire von William Kentridge vgl. bspw. Coumans 2011. Die Aktion fand am 18., 24. und 25.11.2006 im Herschelbad in Mannheim statt und war eine Produktion des Nationaltheaters Mannheim. 14 EINLEITUNG mit dem Konzeptkünstler Lawrence Weiner die Oper The Society Architect Ponders the Golden Gate Bridge – Wie sie kriegen, was sie nicht verdienen (2000), uraufgeführt im Hamburger Bahnhof in Berlin. Auch Veranstaltungsformate ,zwischen den Künsten‘ erleben seit Beginn des 21. Jahrhunderts einen Aufschwung. So lud die Berliner Staatsoper in der Reihe „Relation in Movement“ Künstler wie Jonathan Meese (2005), John Bock (2006) oder Gregor Schneider (2007) dazu ein, im sogenannten Magazin der Staatsoper, das unter anderem zur Aufbewahrung von Bühnenbildern diente, Installationen und Aktionen zu präsentieren, die sich mit der Oper auseinandersetzten. Festivals wie die Ruhrtriennale brachten in den letzten Jahren ästhetische Verfahren aus den Bereichen bildende Kunst, Tanz, Theater, Musik und Oper zusammen, ohne dass ein konventioneller institutioneller Rahmen die dort zu erlebenden Ereignisse jeweils einer bestimmten künstlerischen Gattung zugeordnet hätte.18 Auch permanente Veranstaltungsstätten geben im Zuge einer jüngst vielproklamierten „Ausweitung der Kunstzone“19 Ereignissen jenseits von traditionellen Gattungsgrenzen und institutionellen Zuständigkeitsbereichen Raum, so etwa das 2006 in Berlin eröffnete Radialsystem: Die Spielstätte profiliert sich dadurch, dass sie „aus der Begegnung von Tradition und Innovation, Alter Musik und Zeitgenössischem Tanz, Bildender Kunst und Neuen Medien neue Formate und Genres“ entwickelt.20 Christoph Schlingensief wiederum – der 2004 bei den Bayreuther Festspielen Richard Wagners Parsifal inszenierte und den zugleich die Kunstwelt ,aufnahm‘, indem ihm die Einrichtung des Deutschen Pavillons für die Biennale von Venedig 2011 übertragen wurde – hat mit seinem Projekt „Operndorf Afrika“ den Opernbegriff von ästhetischen auf soziale Aspekte ausgedehnt. Als Ziel dieser seit 2010 in Burkina Faso entstehenden „kulturellen Begegnungs- und Experimentierstätte“ wird in diesem Sinne formuliert, den „Kunstoder Opernbegriff anders zu denken: Als einen umfassenden Akt, der die Handlung in Schule, Gästehaus, Kantine, Sportplatz, Krankenstation und allen Räumen und Orten [. . . ] mit einschließt.“21 Im Gegensatz zu solchen künstlerischen Formen und Formaten der Begegnung von Gegenwartskunst und Oper konzentriert sich die vorliegende Arbeit ausschließlich auf solche Projekte, für die sich Gegenwartskünstler in den Rahmen der Institution Oper begeben. Dort gilt es nicht nur, sich mit den oben beschriebenen ästhetischen Strukturmerkmalen der Kunstform und den konventionellen Rezeptionsbedingungen auseinanderzusetzen, wie sie etwa durch die Architektur von Opernhäusern und 18 19 20 21 Bereits unter dem Gründungsintendanten Gerard Mortier (2002–2004) waren spartenübergreifende Produktionen Ziel des Festivals, das Oper, Tanz, Schauspiel, bildende Kunst, Pop- wie Konzertmusik integrierte. Nach den Intendanzen von Jürgen Flimm, Willy Decker und Heiner Goebbels fungiert seit 2015 Johan Simons als künstlerischer Leiter des Festivals. Vgl. den Sammelband Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies. Neue Perspektiven der Kunstwissenschaft (Fischer-Lichte/Hasselmann/Rautzenberg 2010). So der Wortlaut auf der Internetseite des von Jochen Sandig und Folkert Uhde gegründeten Radialsystems: http://www.radialsystem.de/rebrush/rs-radialsystem-v-einleitungstext.php (Stand: 7.3.2013). http://www.operndorf-afrika.com/index.php/das-projekt/articles/notizen-zum-projekt.html (Stand: 3.1.2016). GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 15 die Zeitstrukturen der aufgeführten Werke vorgegeben sind. Zudem begeben sich die bildenden Künstler im Zuge solcher Projekte in die diskursiven Rahmungen dieser Institution. Es sind ja nach wie vor Deutungskonventionen der Institution Oper, die den Diskurs um Arbeiten bildender Künstler im Opernkontext prägen. Insbesondere geht mit der Entwicklung der Institution Oper die Herausbildung von ausgeprägten Hierarchien zwischen den künstlerischen Arbeitsbereichen einher, die im Probenprozess einer Operninszenierung die Kooperation von Dirigent, Regisseur und Bühnenbildner, Kostümbildnern, Lichtgestaltern, Sängersolisten, Chor etc. prägen. Häufig ist von dem Regisseur oder der Regisseurin und „seinem/ihrem“ Bühnenbildner beziehungsweise „seiner/ihrer“ Bühnenbildnerin die Rede, denn diese sollen in der Lage sein, durch ihre visuellen Gestaltungsideen die Interpretation des musikdramatischen Werks durch den Regisseur zu unterstützen.22 Wenn bildende Künstler engagiert werden, um im Zuständigkeitsbereich des Bühnenbildners (und teils zugleich auch des Regisseurs23 ) zu arbeiten, verschieben sich solche Hierarchien häufig hinsichtlich der Impulsgebung und ,Gestaltungshoheit‘ zugunsten der meist prominenten Gäste der Produktion. Dabei vermeiden gerade in den letzten Jahren, die meinen Untersuchungszeitraum darstellen, (nicht nur) bildende Künstler den Begriff ,Bühnenbild‘ oder ,Bühne‘ als Beschreibung ihres Zuständigkeitsbereichs: Bill Viola wird im Programmbuch der Opéra Bastille mit „Video: Bill Viola“ aufgeführt, Olafur Eliasson im Zuge seiner Arbeit an der Berliner Staatsoper mit „Raum: Olafur Eliasson“. So sehen sich die bildenden Künstler zwar weniger einer hierarchischen Unterordnung ausgesetzt, jedoch wird auf ihre Arbeit meist eine gängige, an Opernregisseure gestellte Erwartungshaltung übertragen: das jeweilige musikdramatische Werk auf neue Art und Weise zu ,lesen‘. Die Frage nach neuen Lesarten wurde im Kontext des Regietheaters in den 1960er und 1970er Jahren akut: Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es, die in den Spielplänen der Opernhäuser sich als Repertoire etablierenden musikdramatischen Werke je neu zu interpretieren. In diese Entwicklung ordnet sich das zunehmende Engagement ,theaterexterner‘ Künstler für die Oper ein.24 22 23 24 Aufschlussreich für diesen Diskurs sind Beschreibungen des Aufgabengebiets des Bühnenbildners seitens von Berufsverbänden. Das Berufsbild wird vom Deutschen Bühnenverein in der 2011 aktualisierten Ausgabe der Broschüre Berufe am Theater wie folgt definiert: „Der Bühnenbildner muss in der Lage sein, aufgrund eines Textes und der Ideen des Regisseurs ein Bühnenbild zu entwerfen, das sich harmonisch in das gesamte Umfeld einer Inszenierung einpasst“ (Deutscher Bühnenverein 2011, S. 13). Antje von Graevenitz nennt als den ersten bildenden Künstler, der komplett Verantwortung für Regie, Bühnengestaltung und Kostüm übernahm, Achim Freyer mit seiner Arbeit für eine Produktion von Christoph Willibald Glucks Oper Iphigenie an der Bayerischen Staatsoper München im Jahr 1979 (Graevenitz 1991, S. 13). Darauf weist Johanna Werckmeister hin (Werckmeister 1997, u.a. S. 13). In den 1970er Jahren ist auch der Beginn der Tendenz anzusetzen, Filmregisseure für Operninszenierungen zu engagieren. Jürgen Otten nennt als erstes Beispiel dieses Phänomens Volker Schlöndorffs Inszenierung der Oper Katja Kabanowa von Leoš Janáček in Frankfurt am Main im Jahr 1974 (Otten 2007). Jüngere Beispiele sind Bernd Eichingers Inszenierung von Richard Wagners Parsifal im Jahr 2005 an der Berliner Staatsoper Unter den Linden oder Doris Dörries Inszenierung von Giuseppe Verdis Rigoletto im selben Jahr an der Bayerischen Staatsoper München. 16 EINLEITUNG Häufig bindet sich an das Engagement von Künstlern, die gewöhnlich nicht im Rahmen der Oper arbeiten, die Hoffnung, diese würden ein „frisches Auge“ in die jeweilige Produktion einbringen.25 Der Topos des „frischen Auges“ ist dabei weniger im Hinblick auf Anregungen für eine neue Ästhetik oder neue Erfahrungsmöglichkeiten in der Oper zu verstehen. Primär bezieht er sich auf die Erwartung, der bildende Künstler möge den Opernstoff eines Repertoirewerks ,noch einmal neu sehen‘. Mit einem derart geäußerten Anspruch werden also implizit bestimmte Deutungskonventionen der Oper an die ,theaterexternen‘ Künstler herangetragen. Es soll eine Interpretation der Partitur geliefert werden, ein „inszenierter Kommentar“26 des musikdramatischen Werks; der Blick eines bildenden Künstlers soll dabei garantieren, dass die historischen Werke auf eine ,besondere‘ Weise gelesen beziehungsweise gesehen werden.27 Als Prüfstein für die Qualität der Inszenierungen wird dabei häufig die sogenannte Werktreue ins Spiel gebracht; auch wenn im Musiktheater nicht eine Rekonstruktion des ursprünglichen Aufführungszusammenhangs von Libretto, Partitur und Bühne als ästhetisch wünschenswert gilt, so werden Inszenierungen doch anhand des Ideals beurteilt, die ,Intention‘ der Vorlage „auf einer höheren Ebene einzulösen“.28 Ein solcher Diskurs ist noch immer aktuell. Wenn es vor diesem Hintergrund in einer Rezension zu Olafur Eliassons Auseinandersetzung mit Hans Werner Henzes Phaedra an der Berliner Staatsoper heißt, das Geschehen lasse sich „bestimmt erhellender visualisieren“,29 dann ist dies nur eine exemplarische Stichprobe für den Diskurs um Arbeiten bildender Künstler für die Oper, an die eine Erwartung 25 26 27 28 29 Nach dem Grund für das Engagement von Filmregisseuren für Operninszenierungen gefragt, sagte Nike Wagner 2004 in einem Interview: „Man hofft auf das frische Auge, das frische Handwerk und eine ganz andere Perspektive“ (Bujara 2004). Stefan Jaeger begründet den Gewinn für die Oper durch die Arbeit eines bildenden Künstlers – hier Günther Uecker – wie folgt: „Götz Friedrich hatte den Wunsch, nicht mit einem der vielbeschäftigten renommierten Bühnenbildner, sondern mit einem vom Theater noch nicht ,verbrauchten‘ bildenden Künstler zusammenzuarbeiten“ (Jaeger 1983b, S. 74). Vgl. Schläder 2001, S. 193. Schläder beschreibt den „inszenierten Kommentar“ als eine Inszenierungsstrategie von Opernaufführungen, bei der die „Bildersprache in ein kontrastives und deshalb komplementäres Verhältnis zur überlieferten vokal-instrumentalen Handlung tritt“ (Schläder 2001, S. 188). Nicht nur von Seiten der Oper verfestigte sich der Topos der ,besonderen Lesart‘, auch in kunstwissenschaftlicher Literatur trifft man auf entsprechende Formulierungen. Eine solche Sichtweise findet sich beispielsweise in Dieter Honischs Monographie über den Künstler Günther Uecker, der zusammen mit Götz Friedrich 1981 an einer Produktion von Tristan und Isolde am Staatstheater Stuttgart arbeitete: „Hier war kein Bühnenbildner, sondern ein Künstler am Werk, der Wagners Musikdrama bis in den letzten Winkel ausleuchtete und klar strukturierte“ (Honisch 1983, S. 163). Weber 1994b, S. 11. So heißt es etwa über die Zusammenarbeit des Regisseurs Götz Friedrich mit Günther Uecker (vgl. vorige Anmerkung) entsprechend: „Es musste jemand gefunden werden, der nicht nur räumlich denken konnte, sondern vor allem willens war, Wagners weiten musikalischen Entwicklungen zu folgen, sich in die vielschichtigen Dimensionen der Partitur einzuleben“ (Jaeger 1983b, S. 75) Eine solche Erwartungshaltung diagnostiziert Hans-Peter Riese auch im Hinblick auf die Theater- und Opernarbeiten der Installationskünstler Ilya und Emilia Kabakov: „In der traditionellen Rollenverteilung ordnet sich der Bühnenbildner den inhaltlichen und formalen Strukturen des Stückes, für das ein Bühnenbild zu entwerfen ist, weitgehend unter, und er versucht, ihnen einen optischen Ausdruck zu geben“ (Riese 2006, S. 28). So war es in der Tageszeitung Die Welt zu lesen (Brug 2007). GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 17 des adäquaten ,Visualisierens‘ des jeweiligen musikdramatischen Werks herangetragen wird. Die Angemessenheit des Beitrags wird dabei auch an der Gewichtung der Aufführungselemente festgemacht, die sich historisch gleichwohl stets verschob; bis heute besteht der seit den 1960er Jahren anzutreffende Topos fort, dass der „visuelle Total-Anspruch“30 der bildenden Künstler die Interpretation des Stücks dominiere. Die Spannung, die in einer solchen Begegnung von bildender Kunst und Oper liegt, spitzt sich also gewissermaßen auf diskursiver Ebene zu: Erscheinen bereits die ästhetischen Rahmenbedingungen als Beschränkung, legt der gängige Diskurs nahe, dass die bildenden Künstler sich tatsächlich bebildernd oder zumindest angemessen interpretierend auf einen von Sängern aufgeführten Handlungsverlauf beziehen. Weshalb wird seitens der bildenden Künstler – abgesehen von möglichen Beweggründen wie dem eines Prestigegewinns durch den arrivierten Rahmen der Oper31 – dieser institutionelle Kontext gewählt, und das in Anbetracht der oben erwähnten zahlreichen nicht-institutionellen Veranstaltungsorte, die eine Freiheit für das Erproben neuer ästhetischer Formate versprechen? Andererseits ließe sich fragen, ob die Rahmenbedingungen der Oper tatsächlich als Beschränkung gesehen werden müssen. Legen die künstlerischen Konzeptionen möglicherweise eine andere Auffassung und eine andere Bewertung institutioneller Rahmungen nahe? Und stellt sich nicht möglicherweise die Art und Weise, wie die bildenden Künstler mit diesen Rahmenbedingungen umgehen, den gängigen Deutungsmustern und ihren impliziten Kunstbegriffen von vornherein entgegen? Institutionelle Rahmenbedingungen als Potenzial – Hypothese Für diese Fragestellung ist ein Blick auf eine parallele künstlerische Praxis hilfreich, in der Verfahrensweisen im Umgang mit institutionellen Rahmenbedingungen bereits seit Längerem erprobt wurden – und bis heute werden: Spätestens und vermehrt seit den 1960er Jahren hat sich das Verhältnis bildender Künstler zur Institution Museum fundamental verändert. Im Zuge der sogenannten „Institutionskritik“ der späten 1960er und frühen 1970er Jahren setzten sich Künstler wie Daniel Buren, Michael Asher, Hans Haacke oder Marcel Broodthaers mit den Rahmenbedingungen des Museums auseinander.32 Dabei wählten sie als Ort für ihre Kunstwerke dezidiert den institutionellen Rahmen. Zu betonen ist dieser Umstand in Anbetracht der entgegengesetzten Strategien von Künstlern der Neo-Avantgarde: Allan Kaprow oder Robert Smithson zielten etwa darauf, den als „Kulturbeschränkung“33 verschmähten 30 31 32 33 Werckmeister 1997, S. 52. Johanna Werckmeister diagnostiziert diesen Diskurs für die 1960er Jahre. Chris Townsend nennt in seinem Aufsatz „Opera and Video“ unter anderem die Wahrnehmung der Oper als „established and still, kind of, establishment art form“ als Begründung für die Attraktivität der Oper für Videokünstler (Townsend 2007, S. 2). Zur Institutionskritik ab den 1960er Jahren vgl. bspw. Raunig 2009 oder Schade/Wenk 2011, S. 143– 175. Eine Sammlung institutionskritischer Texte von Künstlerinnen und Künstlern bietet Kravagna 2001. Zur Institutionskritik der historischen Avantgarden vgl. bspw. Grasskamp 1981. Robert Smithson sprach 1972 hinsichtlich von Kunstausstellungen im Museum von „Kulturbeschränkung“ (Smithson 1972/2001, S. 17). 18 EINLEITUNG Kontext der Institution Museum zu verlassen, und bedienten sich dabei einer museumsfeindlichen Rhetorik.34 Mit Happenings beziehungsweise Kunstwerken der Land Art wurden den etablierten Traditionen alternative Formen und Orte gegenübergestellt. Die oben erwähnten Künstler der „Institutionskritik“ reflektierten neben der Verflechtung von kulturellen mit ökonomischen und politischen Aspekten insbesondere auch die institutionell gewachsenen Präsentationstraditionen und Rezeptionsbedingungen des Museums sowie die sich daran knüpfenden Kunstbegriffe. Sie wandten sich, kurz gesagt, gegen die Idee, dass der museale Kontext lediglich eine latente Rahmung sei, in die ein Kunstwerk eingesetzt wird, dessen Bedeutungsgenerierung bereits abgeschlossen ist. In der Gegenwartskunst können im Zuge ästhetischer Strategien der „Erfahrungsgestaltung“35 Tendenzen beobachtet werden, die an solche Verfahrensweisen anknüpfen, mit institutionellen Rahmenbedingungen reflexiv und ästhetisch produktiv zu arbeiten. Wie Dorothea von Hantelmann in ihrem Buch How to do things with art in exemplarischen Studien zu James Coleman, Tino Sehgal, Daniel Buren und Jeff Koons feststellt, erkennen bildende Künstler um die Wende zum 21. Jahrhundert vermehrt gerade innerhalb von Konventionen und Traditionen institutioneller Rahmungen und ihrer Repräsentationsweisen „eine künstlerische Handlungsmacht“.36 Dem Museumsbesucher, der sich in einer auf bestimmte Art und Weise angelegten Architektur bewegt oder sich auf bestimmte Ausstellungsformate einlässt, schreiben sich durch körperliche wie mentale Wahrnehmungserfahrungen bestimmte Narrationen ein; gleichzeitig konstituiert das Museumspublikum das Dispositiv durch seine Partizipation überhaupt erst.37 So kann über die (Neu-)Organisation und Transformation dieser Praktiken auch der Anspruch eingelöst werden, den Erfahrungsrahmen zu gestalten.38 Die Betrachter werden auf der Basis einer solchen künstlerischen Konzeption mitunter in komplexe Erfahrungssituationen involviert, beispielsweise in Daniel Burens Arbeit Le Musée qui n’existait pas aus dem Jahr 2002:39 Als der Künstler eingeladen wurde, im Pariser Centre Pompidou eine Retrospektive einzurichten, ließ er das Publikum nicht verschiedene chronologisch angeordnete Werkphasen abschreiten, beginnend bei den für ihn charakteristischen ,Streifen‘ bis zu seinen späteren Arbeiten, die von farbigen Glas- und Spiegelementen geprägt sind. Stattdessen gestaltete er aus dem Fundus seines Formenkanons eine Architektur aus 71 gleich großen Raummodulen. In diesem Raumgefüge wurden die Besucher zur Bewegung durch 34 35 36 37 38 39 Allan Kaprow beschreibt das Museum u.a. in „The Artist as a Man of the World“ – unter der Zwischenüberschrift „The End of the Temple“ – als einen vom Leben getrennten Bereich: „But even as art is becoming part of the world, more museums are being built to entomb it“ (Kaprow 1964/1993, S. 57). Vgl. auch Kaprows Text „Tod im Museum“ (Kaprow 1967/2001). Hantelmann 2006, S. 92. Hantelmann 2007, S. 9. Vgl. Hantelmann 2006, S. 90. Vgl. ebd. Vgl. dazu Hantelmann 2006 sowie Hantelmann 2005b; ausführlicher zu Daniel Buren Hantelmann 2007, S. 79–143. Diese Ausführungen dienen mir als Grundlage für das Verständnis dieser Arbeit von Daniel Buren. GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 19 das großflächige Ensemble animiert, statt dass ihnen nahegelegt wurde, wie gewohnt vor einzelnen, sich von der Wand eines Ausstellungsraums abhebenden Werken innezuhalten. Auch eine definierte Raumordnung mit Anfangs- und Endpunkt war nicht erkennbar. Im Gegensatz dazu veranlasste die Gestaltung der Räume eine kontinuierliche, den Blick ständig weiterleitende Bewegung, die jeder Besucher individuell gestalten musste. Damit wurde eine institutionsübliche Wahrnehmungsgewohnheit in Frage gestellt, die den Museumsbesucher im körperlichen Akt eines etappenweisen Abschreitens bedeutungsvoller Einzelwerke eine Entwicklungsgeschichte nachvollziehen und dadurch affirmieren lässt.40 Der entscheidende Punkt für die Hypothesenbildung zur Begegnung von Gegenwartskunst und Oper liegt hier in der Überlegung, ob Buren eine Werkschau im Museum mit ihren impliziten Narrationen nicht als Beschränkung des eigenen Kunstbegriffs hätte erscheinen können. Seine künstlerische Konzeption und die ihr inhärente Kritikform zeichnen sich aber gerade nicht durch Ablehnung eines traditionellen Ausstellungsformats – hier der Retrospektive – aus, wohl aber durch das Bewusstsein dafür, dass sich Grundannahmen wie etwa Fortschrittsnarrationen in Repräsentationsweisen (des Museums) verankern, die auf bestimmte Art und Weise organisiert sind; gerade dort, wo sich die Besucher in solche Strukturen begeben, wird also der Ort für deren (Um-)Gestaltung gesehen.41 Man könnte auch sagen: Gerade in den scheinbaren Beschränkungen der Institution Museum als einem „historisch-kulturell ausgebildeten Ritual“42 wird das Potenzial für eine Transformation des Dispositivs und seiner Narrationen erkannt – und damit letztlich für eine gesellschaftliche Wirksamkeit von Kunst.43 In Analogie zu einer solchen internen Umarbeitung der Institution Museum stellt sich für die Verfahrensweisen bildender Künstler im Kontext der Institution Oper die Frage, inwiefern die eingangs aufgezeigten und zunächst als Beschränkung beschriebenen Rahmenbedingungen gerade Potenziale für die Kunstproduktion darstellen können – im Rahmen der Institution zu arbeiten, muss nicht mit einer Haltung der Affirmation einhergehen, sondern kann sich als reflexiv-produktive Bezugnahme artikulieren. Es geht bei den Arbeiten der Gegenwartskünstler für die Oper ja nicht darum, in diesen Rahmen ein ‚Bühnenbild‘ einzusetzen, das insofern schon als 40 41 42 43 Vgl. dazu Hantelmanns Ausführungen zu Tony Bennetts The Birth of the Museum aus dem Jahr 1995, der das „performative Einwirken“ (Hantelmann 2006, S. 83) musealer Aspekte – wie einer bestimmten Architektur, bestimmter Formen des Ausstellens oder der Klassifizierung der Objekte – auf die Identitätsbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit untersucht. „In der Übertragung eines explikatorischen Zusammenhangs auf eine spezifische räumliche Ordnung überträgt sich auch ein mentales Prinzip in ein körperliches“, so Hantelmann (Hantelmann 2006, S. 85; zu Bennett ebd., S. 82–86 und Hantelmann 2007, S. 108–113). Ausführlich zu künstlerischen Verfahrensweisen, die über die Transformation konventioneller Repräsentationsordnungen operieren, und deren implizitem Kritikkonzept Hantelmann 2007, insbes. das Kapitel „Kritik und Konstruktion. Ein Ausblick mit Jeff Koons“, S. 193–210. Siehe dazu ausführlicher Kapitel 12 dieser Arbeit. Hantelmann 2006, S. 75. Vgl. für diese grundlegende These Hantelmann 2007, hinsichtlich Daniel Buren ebd., insbes. S. 79– 143. 20 EINLEITUNG ‚fertig‘ gedacht würde, als es einen (nämlich den visuellen) Bestandteil einer vorgängigen, seitens der Regie bereits erfolgten Interpretation darstellen würde. Es wird nicht in Bezug auf den jeweiligen Opernstoff eine ‚besondere‘ Lesart vermittelt, die sich durch die ,theaterexterne‘ Perspektive aus dem Kunstkontext ergibt; stattdessen werden die Produktionsbedingungen der Oper – die Strukturmerkmale wie Handlung, Musik und Sänger sowie die Rezeptionsbedingungen, wie sie sich in den architektonischen und zeitlichen Vorgaben manifestieren – von vornherein mitreflektiert und als ästhetisch relevant in den Blick genommen. Die visuellen Mittel des bildenden Künstlers werden dabei derart zu den Rahmenbedingungen in Relation gesetzt, dass komplexe Erfahrungssituationen entstehen. In diesen Erfahrungssituationen ist der Opernstoff nicht der thematische Bezugspunkt einer Interpretation, sondern lediglich eine Komponente neben den anderen Aufführungselementen. Diese verbinden sich zu einer ästhetischen Gesamtstruktur, in deren Wahrnehmung sich der Sinngehalt überhaupt erst erschließt. Das ,Sinnangebot‘ dieser Kunstwerke, so möchte ich behaupten, ist nicht in erster Linie in Bezug auf den jeweiligen musikdramatischen Stoff und seine Interpretation zu verstehen; die visuelle szenische Gestaltung durch die Künstler ist nicht Teil einer „Umsetzungskunst“.44 Vielmehr ist das ,Sinnangebot‘ erst in der spezifischen Erfahrungsstruktur und ihren metaphorischen Dimensionen zu erkennen. Das bedeutet nicht, dass seitens der bildenden Künstler keine genaue Auseinandersetzung mit der spezifischen musikdramatischen Vorlage stattgefunden hat. Doch steht in der jeweiligen ästhetischen Konzeption die Art und Weise im Vordergrund, wie das intermediale Gefüge der Aufführung, das auch die Architektur einbeziehen kann, in Bezug auf den Betrachter organisiert wird. Die ästhetischen Strategien beziehen dabei reflexiv die Rahmenbedingungen der Produktion und Rezeption ein und machen diese für Bedeutungsdimensionen produktiv, die jenseits der (visuellen) Deutung einer Partitur liegen. Die Analogie zwischen Museum und Oper lokalisiert sich also auf der Ebene ästhetischer Verfahren, die im weiteren Sinne als „Erfahrungsgestaltung“ (Dorothea von Hantelmann) beschrieben werden können, sowie in der Haltung, eine innerhalb von Konventionen liegende „Handlungsmacht“ (Dorothea von Hantelmann) anzuerkennen. Meine Annahme lautet, dass innerhalb der Rahmenbedingungen der Oper, die zunächst als Beschränkungen erscheinen könnten, eine je spezifisch ausgeprägte, reflexiv-produktive Art der Erfahrungsgestaltung zum Tragen kommt. Einen solchen reflexiv-produktiven Einsatz der Rahmenbedingungen der Oper werde ich im Hauptteil dieser Arbeit anhand zweier fokussierter Studien konkretisieren und diskutieren: anhand der Arbeit des Videokünstlers Bill Viola für eine Produktion von Richard Wagners Tristan und Isolde im Jahr 2005 an der Pariser Opéra Bastille sowie anhand der Arbeit des Installationskünstlers Olafur Eliasson im Rahmen der Urauf44 Als „Umsetzungskunst“ bezeichnet Juliane Rebentisch in Ästhetik der Installation Kunst, die „ihre Formseite vernachlässigt“ und ihre Bedeutung wesentlich an einem Inhalt, den sie zeigt, festmacht. Autonomie der Kunst, der das Interesse ihrer Untersuchung gilt, verbürgt sich Rebentisch zufolge stattdessen erst an einem Hin- und Herspielen zwischen Material und Bedeutung (Rebentisch 2003, S. 276f.). GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 21 führung von Hans Werner Henzes Phaedra an der Berliner Staatsoper Unter den Linden im Jahr 2007. Gängigen Deutungsdiskursen gegenüber verhalten sich die in diesen Produktionen zum Einsatz kommenden Verfahren und die Wirkungen während der Aufführung widerständig und fordern, wie noch gezeigt wird, eine ergänzende Deutungsperspektive. In den künstlerischen Konzeptionen von Viola und Eliasson werden die gewohnten institutionellen Rahmenbedingungen nicht als unabänderlich von sich gewiesen, sondern mit dem Ziel bearbeitet, die „Wirkungs- und Funktionsweisen“45 dieser Rahmungen zu verändern – etwa die Wahrnehmung des intermedialen Gefüges der Aufführungselemente oder die Wahrnehmung einer bestimmten architektonischen Raumaufteilung. In den Rahmenbedingungen wird gerade die Möglichkeit einer ästhetischen Umorganisation gesehen, oder anders gesagt: Ausgangspunkt der künstlerischen Gestaltung ist die Anerkennung der performativen Struktur von Konventionen. So wie sich in einer bestimmten Museumsarchitektur etwa Narrationen eines linearen Fortschritts der Geschichte der Kunst materialisieren und durch mentale wie körperliche Teilhabe der Besucher stets reproduzieren,46 gehen auch mit den Repräsentationsweisen der Oper bestimmte Kunstbegriffe und Zugangsweisen zur Welt einher. Diese verankern sich etwa in einer bestimmten Organisation des intermedialen Gefüges der Aufführungselemente oder in einer bestimmten Gliederung der Architektur. Wird die Historizität des spezifischen institutionellen Rahmens anerkannt, dann wird auch dessen prinzipielle Flexibilität erkennbar. Der ,Drehpunkt‘ für Umjustierungen ist dabei die Art und Weise, wie der Betrachter in die Organisation der ästhetischen Struktur des Kunstwerks eingebunden wird. Eine solche Analogie zwischen Museum und Oper herzustellen bedeutet nicht, die unterschiedlichen Traditionen der Institutionen zu ignorieren. Allein die historische Funktionsbindung bildender Künstler an das Museum sowie seine Spezifik als Ort, der „explizit dem Zu-sehen-Geben“47 dient, prägte und prägt den Bedeutungsgehalt solcher institutionskritischen Arbeiten im Museumskontext.48 Bei der Über45 46 47 48 Hantelmann 2006, S. 89 (Hervorhebung FR). Vgl. Hantelmanns Interpretation von Daniel Burens Arbeit Peinture-Sculpture im Guggenheim Museum, New York im Jahr 1971: „Über das Operieren mit jenen Konventionen, die sich in dieser Architektur materialisieren, greift Buren in ihre Wirkungs- und Funktionsweise ein. Er operiert wie ein Regisseur, der die Dramaturgie dieses Gebäudes zu transformieren, sie sogar in ihr Gegenteil zu verkehren versucht“ (ebd.). Schade/Wenk 2011, S. 144. Wenn Sigrid Schade und Silke Wenk über die Institution Museum schreiben, dass „die Aufforderung zum Hin-Sehen [. . . ] immer ein spezifisches Charakteristikum und Anspruch der Institution Kunst und ihrer besonderen Orte wie Museum oder Galerien gewesen“ sei, dann fügen sie mit Verweis auf Nic Leonhardt (Leonhardt 2007) an diesem Punkt ergänzend hinzu, dass Theater ebenfalls als eine „Bilder erzeugende und reproduzierende Institution“ gefasst werden kann (Schade/Wenk 2011, S. 145 sowie dort Anm. 8 mit Verweis auf Leonhardt 2007, S. 109). Das Theater „unterscheidet sich – zumindest bis zur Konstituierung der Performance als Kunstform – vom Museum vor allem durch den transitorischen Charakter der Bilder, die als nicht-ephemere wiederum nur etwa in Fotobänden, Zeitschriften und Videos dauerhaft dokumentiert werden und weiterleben können [...]“ (Schade/Wenk 2011, S. 145, Anm. 8). Auch auf der Ebene der Zeitlichkeit unterscheiden sich die institutionellen Rahmungen Theater und Museum: „Der museale Ausstellungsraum konstitu- 22 EINLEITUNG tragung ästhetischer Verfahren von einem Kontext in den anderen gilt es, die Spezifik der Oper hervorzuheben, so etwa ihre genuin intermediale Struktur, ihre besonderen Rahmenbedingungen und Traditionen. Im Hinblick auf das Ziel, die Opernprojekte bildender Künstler vor dem Hintergrund institutionskritischer Verfahrensweisen zu untersuchen, ist es auch zu verstehen, dass ich statt „Musiktheater“49 den Begriff „Oper“ verwende. Denn dessen Konnotationen lenken – abgesehen von ästhetischen Aspekten – die Aufmerksamkeit auch auf den institutionellen Rahmen: „Oper“ verweist nicht nur auf das musikdramatische Werk, sondern auch auf die Aufträge erteilende und Aufführungen durchführende Institution sowie auf den konkreten architektonischen Ort.50 Wenn ich meine Zugriffsweise und meine These gerade anhand der Arbeiten des Videokünstlers Bill Viola für Tristan und Isolde (2005) sowie des Installationskünstlers Olafur Eliasson für Phaedra (2007) darlegen möchte, dann nicht zuletzt aus folgendem Grund: Sie erlauben es, zwei zentrale Diskursfelder sowohl des Opern- als auch des Kunstkontextes zu beleuchten, an denen sich ein Zusammentreffen von bildender Kunst und Oper zunächst als Konflikt darstellt: Handlung und Raum. Besonders hier haben sich Rezeptions- und Deutungskonventionen eingeschrieben, und gerade hier setzt, so ließe sich behaupten, eine reflexiv-produktive Aneignung der Rahmenbedingungen der Oper durch die bildenden Künstler an. 49 50 iert sich traditionell gerade dadurch, dass er Zeitlichkeit negiert, aufhebt zugunsten einer Idee von anhaltender Dauer“ (Hantelmann/Jongbloed 2002, S. 25). Heute ist mit dem weitgefächerten Begriff „Musiktheater“ meist eine Aufführungspraxis verbunden, die sich von konventionellen Werk- und Inszenierungsformen der Oper absetzt und „von einer prinzipiellen Gleichberechtigung der unterschiedlichen an der Aufführung beteiligten Elemente [ausgeht] und Oper als intermediales Phänomen [begreift]“ (Risi/Sollich 2005, S. 212). Enger gefasst ist „Musiktheater“ seit der musikalischen Moderne gerade als „Gegenbegriff“ zur Oper zu verstehen, beispielsweise in Abgrenzung von traditionellen Formen von Narrativität und Komposition, nach 1945 insbesondere auch in Absetzung von der Oper als „Ort bürgerlicher Selbstrepräsentation und -bespiegelung“ (ebd., S. 210). Meist wird wertend ein „experimenteller Charakter“ mit dem Begriff „Musiktheater“ in Verbindung gebracht (ebd., S. 211). Zu einer weiteren, spezifischen Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit Walter Felsensteins Regiekonzeption vgl. ebd., S. 211, sowie den Sammelband Hintze/Risi/Sollich 2008. Zudem bindet sich an den Begriff „Musiktheater“ (in einer bestimmten Verwendung) die Idee von „Regietheater“, das unkonventionelle Lesarten musikdramatischer Werke anstrebt und die theatrale, szenische Seite der Aufführung aufwertet (Risi/Sollich 2005, S. 211). Entsprechend wäre hier „Musiktheater“ als Synonym für „Regietheater“ zu verstehen, das die künstlerische Leistung des Regisseurs betont – eine Konzeption, die sich etwa um 1900 mit Edward Gordon Craig bzw. Adolphe Appia durchzusetzen begann. Bis etwa in die 1970er Jahre lässt sich Risi und Sollich zufolge in diesem Sinne „Musiktheater“ als eine Tendenz der Opernpraxis beschreiben, die sich dezidiert in Abkehr vom „Mainstream“ behaupten wollte (ebd., S. 212). Vgl. auch Eckerts terminologische Bestimmungen in Von der Oper zum Musiktheater (Eckert 1995, insbes. S. 8–17). Hier übernehme ich die Differenzierung des Begriffs „Oper“ von Clemens Risi (Risi 2005, S. 229). GEGENWARTSKUNST UND OPER – PROBLEMAUFRISS UND HYPOTHESE 23 Bill Violas „Tristan und Isolde“ (Handlung), Olafur Eliassons „Phaedra“ (Raum) – zur Auswahl der Produktionen Mittels der beiden Produktionen von Viola und Eliasson soll gezeigt werden, wie sich die oben angenommene reflexive und produktive Art der Bezugnahme auf die Rahmenbedingungen der Oper jeweils artikuliert.51 Einige Momente der jeweiligen Aufführung provozierten ganz besonders die Frage nach der Angemessenheit eines Kunstbegriffs, der von der Visualisierung einer als vorgängig gedachten Interpretation des Opernstoffs durch einen Bühnenbildner ausgeht. Auf welche Art und Weise und mit welchem inhaltlichen und künstlerischen Ziel werden hier die Rahmenbedingungen der Oper bearbeitet? Die Opernprojekte von Bill Viola und Olafur Eliasson erlauben es, in exemplarischen Studien die Kategorien Handlung und Raum als Angelpunkte für die Auseinandersetzung mit dem Opernkontext zu erschließen. Bill Violas Arbeit an der Pariser Opéra Bastille ist in besonderer Weise geeignet, die reflexiv-produktive Nutzung eines durchgehenden Handlungsstrangs – hier desjenigen von Richard Wagners Tristan und Isolde – mittels intermedialer Verfahren aufzuzeigen. Violas Vorgehensweise wird als eine künstlerische Strategie beschrieben werden, die weder in einer affirmativen Herangehensweise die Opernerzählung in ständigem Bezug zu dieser ,interpretiert‘ noch aus einer Haltung der Distanz heraus substanziell in den Verlauf des vorgegebenen Spannungsbogens eingreift. Letzterer wird zwar durchaus einbezogen; durch die Art und Weise, wie Viola die Sänger als Träger einer Rolle der Opernhandlung in das Gefüge der Aufführungselemente integriert, wird aber die Wirkungsweise des intermedialen Bezugssystems verändert. Durch seine Strategien, die Videobilder zu den anderen Elementen der Aufführung in Beziehung zu setzen, verschiebt Viola das gewohnte Hierarchiegefüge der Aufführung und transformiert es mit dem Effekt einer ungewöhnlichen Gesamterfahrung. Dabei zeigt er sich durchaus interessiert an dem strukturellen Merkmal einer durchgeformten Handlung, wie sie in seinen Videoinstallationen in dieser Form gewöhnlich nicht vorkommt. Jedoch richtet sich sein Interesse dabei nicht primär auf den Charakter der Handlung als Geschichte von zwei der Liebe verfallenen Protagonisten, also nicht auf die Auffassung von Handlung als „narrative[m] Zusammenhang eines Dramas“.52 Es ist vielmehr die mediale Struktur der von Sängern aufgeführten Handlung, die hier ästhetisch bearbeitet wird, das heißt: die in der Aufführung der Handlung durch die Sänger stets oszillierenden Wahrnehmungs- und Bedeutungsmodi von Repräsentation und Präsenz. Diese verschränkt Viola auf komplexe Art und Weise mit der Wirkung der Videobilder in deren spezifischer Medialität und Materialität. Es wird zu zeigen sein, wie Viola einen Erfahrungsraum gestaltet, in dem der Betrachter vermittelt durch die mediale Struktur der Aufführung ein ,Sinnangebot‘ findet, und zwar insofern er die mediale Struktur als Metapher für die psychische Struk51 52 Für meine Analysen der ausgewählten Aufführungen von Tristan und Isolde sowie von Phaedra kann ich mich neben Videoaufzeichnungen auf mehrfache Proben- und Aufführungsbesuche an verschiedenen Präsentationsorten stützen sowie auf Interviews zurückgreifen, die ich mit den Künstlern und anderen Beteiligten der Produktionen durchgeführt habe. Vgl. die Definition von Handlung in Gronau 2005, S. 136. 24 EINLEITUNG tur seiner eigenen (Liebes-)Geschichte erfahren kann. Es wird also zu zeigen sein, dass in einer solchen Werkkonzeption ‚Sinn‘ nicht primär in einem emotionalen Nachvollziehen einer als Erzählstrang verstandenen Handlung beziehungsweise in ihrer Interpretation durch den Regisseur und durch ein ,Bühnenbild‘ angelegt ist, sondern das ,Sinnangebot‘ auf einer anderen Ebene in Erscheinung tritt. Für eine solche ästhetische Konzeption kann Bill Viola allerdings an die spezifische Werkkonzeption von Tristan und Isolde und an Richard Wagners ästhetische Verfahren anknüpfen. Olafur Eliassons Arbeit zu Hans Werner Henzes „Konzertoper“ Phaedra an der Berliner Staatsoper Unter den Linden ist insofern für eine Nuancierung des Themengebiets bedeutsam, als sie wesentliche, aber traditionell nicht thematisierte Rahmenbedingungen von Opernaufführungen zum expliziten Gehalt des Kunstwerks macht: die Konstituierung der Aufführung durch die simultane Wahrnehmung von Klang und Bild sowie die Architektur des Raums, die bestimmte Repräsentationsmodelle impliziert. Eliasson setzt sein Material – beispielsweise bühnenportalgroße Spiegel, die das Publikum und das Orchester reflektieren – in Bezug auf den konkreten architektonischen Raum so ein, dass eine Reflexion über die Historizität von Darstellungsweisen angeregt und auf semantischer Ebene (wie zu zeigen ist) die Erfahrung pluraler Sichtweisen als Metapher für eine ethische Haltung im sozialen Raum verstehbar wird. Durch die Auswahl von Bill Viola und Olafur Eliasson kann der Fokus also auf zwei unterschiedliche zentrale Aspekte der Auseinandersetzung mit der Kunstform und Institution Oper gerichtet werden. Bill Violas Arbeit erlaubt es, den Fokus insbesondere auf die ästhetische und mediale Struktur der Kunstform Oper zu legen – die Kombination heterogener visueller und akustischer Elemente, die während der Aufführung simultan wahrgenommen werden. Bei Olafur Eliasson werden zudem die institutionellen Konventionen, wie sie sich beispielsweise in eine bestimmte Raumaufteilung von Opernhäusern eingeschrieben haben, Teil des ästhetischen Konzepts. 1.2 Beitrag zu einer Erfahrungsästhetik – Ziel der Arbeit Einen wesentlichen Impuls erhält die Studie aus der Beobachtung einer Diskrepanz zwischen dem Erleben jüngster Opernprojekte bildender Künstler einerseits und dem Diskurs, der in Forschung sowie Kunst- und Theaterkritik über diese geführt wird, andererseits. In der Forschung und Kritik finden bestimmte Wirkungs- und Bedeutungsdimensionen der Aufführungen sowie deren Relevanz für zentrale Verfahren und Diskurse der Gegenwartskunst kaum Beachtung. Dies stellt den Anstoß für das Anliegen dieser Untersuchung dar, den Diskurs um Arbeiten bildender Künstler im Rahmen der Institution Oper zu differenzieren. BEITRAG ZU EINER ERFAHRUNGSÄSTHETIK – ZIEL DER ARBEIT 25 Vorschlag einer erweiterten Deutungsperspektive Wesentlich erscheint dabei für eine solche Differenzierung, ergänzende Fragen an den Untersuchungsgegenstand heranzutragen: Wurde bisher zumeist danach gefragt, welchen Vorteil das Engagement bildender Künstler für die Oper birgt, soll in der vorliegenden Studie die umgekehrte Perspektive durchgespielt werden: Auf welche Art und Weise nutzt der jeweilige bildende Künstler die Rahmenbedingungen der Oper – ihre ästhetische Struktur, ihre institutionellen Traditionen etc. – für ein bestimmtes inhaltliches ,Vermittlungsziel‘ oder für eine Erweiterung seiner Ausdrucksmittel? Einerseits folgt eine solche Wendung der Perspektive dem Interesse, künstlerische Arbeiten im Kontext der Oper an aktuelle Verfahren und Diskurse der bildenden Kunst anschlussfähig zu machen: Welchen Stellenwert haben die Opernprojekte bildender Künstler im und für den Kontext der Gegenwartskunst? Anders gefragt: Sind bildende Künstler, wenn sie für das Theater oder die Oper arbeiten, tatsächlich nur „Quereinsteiger“ in den Bereich des Bühnenbilds, wie Werner Thuswaldner 2006 im Titel seines Aufsatzes zur Geschichte des Engagements bildender Künstler bei den Salzburger Festspielen nahelegt?53 Sind Arbeiten bildender Künstler in der Oper nur „experimenteller Ausflug“ und „sporadisch gebrauchtes Stimulans“, wie es Johanna Werckmeister in ihrer Untersuchung von Arbeiten bildender Künstler an Musikdramen Richard Wagners für die 1960er bis 1980er Jahre bilanziert?54 Oder werden hier vielmehr genuin bildkünstlerische Verfahrensweisen erprobt? Zugespitzt formuliert: Könnte man diese Aufführungen nicht als Kunstwerke unter den Bedingungen der Oper betrachten? Durch eine Zugriffsweise, die von den ästhetischen Verfahren im Bereich der bildenden Kunst ausgeht, soll geprüft werden, inwiefern diese Arbeiten an zentrale Diskurse der Gegenwartskunst anschließen und für diese produktiv gemacht werden können. Doch auch für den Opernkontext ist diese Erweiterung des Fragehorizonts von Bedeutung: Wenn, wie es häufig geschieht, nach einem ,Vorteil‘ des Engagements eines aus einem anderen Kontext stammenden Künstlers für die Oper gefragt wird, geht es nicht nur darum, nach seiner ,besonderen‘ Interpretation des Opernstoffs durch das „frische Auge“ (Nike Wagner) zu fragen, sondern die Rede vom ,frischen Auge‘ könnte sich auch darauf beziehen, wie die Substanz der Repräsentationsweisen in der Institution Oper bearbeitet wird. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass manche Opernprojekte bildender Künstler durchaus ein Interesse an der ,Lesart des Opernstoffs‘ als Leitfrage einer Aufführungsanalyse rechtfertigen; es handelt sich also nicht zwangsläufig um eine simplifizierende Interpretation, wenn nach der ,Lesart der Inszenierung‘ gefragt wird. In der Tat koexistieren auch in den hier untersuchten Kunstwerken von Bill Viola und Olafur Eliasson mehrere ästhetische Konzeptionen: Verschiedene Sequenzen der Aufführungen legen unterschiedliche Zugriffsweisen nahe, die entsprechend in den Analysen Berücksichtigung finden. 53 54 Der Aufsatz trägt den Titel „Quereinsteiger als Bühnenbildner. Bildende Künstler bei den Salzburger Festspielen“ (Thuswaldner 2006, S. 156). Werckmeister 1997, S. 161 und für das zweite Zitat S. 162. 26 EINLEITUNG Immanente Entgrenzung, Kritikkonzepte und Strategien der Erfahrungsgestaltung Wie gezeigt wird, stehen die Arbeiten Violas und Eliassons keineswegs ,am Rande‘ des jeweiligen Œuvres und des bildkünstlerischen Diskurses, sondern verdienen es, innerhalb des Feldes der Kunst(geschichte) betrachtet zu werden. Dabei kann einerseits die Analyse der künstlerischen Strategien, die im spezifischen Kontext der Oper zum Einsatz kommen, aufschlussreich für die wissenschaftliche Untersuchung anderer Werke des jeweiligen Künstlers und ihrer ästhetischen Verfahren sein – bei Viola etwa im Hinblick auf eine Revision von Deutungskonventionen seiner Videoarbeiten (vgl. Kapitel 2.2.2). Andererseits geben die hier untersuchten Kunstwerke Violas und Eliassons, die dezidiert auf einen institutionellen Rahmen reagieren und diesen bearbeiten, Anlass für ein weiter reichendes Erkenntnisinteresse: Welche Handlungsmöglichkeiten hat die Kunst innerhalb gesellschaftlicher Konventionen und traditioneller Strukturen? Und mit welchen ästhetischen Verfahren können diese gestaltet, das heißt kritisch bearbeitet werden? Die Hintergrundfolie für eine solche Fragestellung bildet der ästhetische wie theoretische Diskurs um Entgrenzungstendenzen in der (Geschichte der) Kunst. Bei den historischen Avantgarden und Neo-Avantgarden bindet sich die Vorstellung von ,Entgrenzung‘ maßgeblich an eine Rhetorik der Überwindung und Distanzierung von Konventionen und traditionellen Strukturen.55 In den entsprechenden Diskursen war etwa mit der künstlerischen Kritik an den überkommenen Strukturen des Museums die Idee verbunden, die Kunst müsse außerhalb der „Grabkammern“56 , als welche Robert Smithson die Museen bezeichnete, ihren Ort finden; nur dort sei ,das Leben‘ anzutreffen, und nur dort könne die Kunst zeitgemäß auf gesellschaftsrelevante Themen reagieren. So galt es für jene Künstler, die Grenzen der Institution mit ihren verkrusteten Traditionen und Konventionen auf ein vermeintliches ,Außen‘ hin zu überwinden. ,Entgrenzung‘ kann in Bezug auf eine Kritik an der Institution jedoch auch auf andere Weise aufgefasst werden – und zwar dann, wenn anerkannt wird, dass in der Herausbildung und Fortschreibung der Konventionen und Traditionen institutioneller Rahmungen, die als Beschränkung des künstlerischen Gestaltungsspielraums empfunden werden, die Museumsbesucher eine konstitutive Rolle spielen. Sie sind es, die bestimmte Repräsentationsweisen der Institution (etwa den chronologischen Parcours einer Ausstellung) und die etwa damit verbundenen Modelle von Geschichte und Kunstgeschichte nach Art einer Fortschrittsnarration erleben. Wenn solche Repräsentationsweisen als Beschränkungen, als ,nicht mehr zeitgemäße‘ Kunstbegriffe erscheinen, dann kann genau hier angesetzt werden: bei der Erfahrung der Besucher, die an diesen Ritualen partizipieren (vgl. die obigen Ausführungen zu Dorothea von Hantelmann). Die Wechselwirkung zwischen bestimmten Repräsentationsweisen einer Institution und den Erfahrungen der Besucher, ihre Partizipation und ihre Involvierung auf der Erfahrungsebene ist der Angelpunkt für den Versuch, die ,Gren55 56 Vgl. Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (Bürger 1974). Smithson 1972/2001, S. 18.