pdf-Datei - Kai Drewes

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Drewes, Kai
Wolfenbüttel, den 30. Januar 1995
Abiturprüfung 1995
Schriftliche Arbeit im Leistungsfach Deutsch
Nr. der Prüfungsgruppe: De 201
Thema: Sachtextanalyse und Erörterung
Ruth Klüger, Frauen lesen anders
1. Beschreiben Sie den Text, indem Sie
– den Gedankengang der Autorin knapp zusammenfassen
– die Darstellungsmittel kennzeichnen und die Textsorte bestimmen.
2. Nehmen Sie zu den Thesen der Autorin Stellung, und verdeutlichen Sie
Ihren Standpunkt an Ihnen bekannten Literaturwerken.
1. Frauen finden sich vernunftwidrig mit der Dominanz von maskulinen Elementen in der
Literatur ab, meint Ruth Klüger. In ihrem Beitrag „Frauen lesen anders“ (veröffentlicht in
der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 25. November 1994) geht sie den Ursachen und Folgen
dieses Fehlverhaltens nach.
Es sei eine Tatsache, daß es für Mädchen und Jungen jeweils eine spezielle Literatur
gebe und daß Mädchen eher Bücher für Jungen läsen als umgekehrt (was einer
gesellschaftlichen Konvention entspreche). Obwohl es eine spezielle Mädchenliteratur
gebe, dominiere insgesamt „männlicher Geschmack“ (Z. 11), nicht zuletzt an
Bildungseinrichtungen. Frauen, so Klüger, akzeptieren dies und identifizieren sich mit
männlichen Helden. Überhaupt könnten literarische Frauengestalten nahezu niemals als
Vorbilder fungieren, da sie aufgrund von Negativklischees wie „verführendes Machtweib“
(Z. 14 f.) in der Mehrzahl abzulehnen seien. Da in der Literatur positive Züge vor allem an
Männern zu finden seien, nähmen sich Frauen auch vor allem bestimmte Männer zum
Vorbild. Im Gegenzug fällt es Männern natürlich schwer, sich mit Frauenliteratur
auseinanderzusetzen.
Laut Klüger überspielen Frauen ihr Unbehagen über eine solche verfehlte scheinbare
Identifikation mit männlichen Helden nur. Allzuoft würden [von] Frauen herabsetzende
und frauenfeindliche Tendenzen hingenommen. Dies sei fatal, denn eine kritische
Auseinandersetzung sei in jedem Fall besser als eine bloße Akzeptanz.
Auch Weltliteratur, die von grundlegenden menschlichen Belangen handelt, ist – glaubt
man Klüger – nicht wirklich an beide Geschlechter adressiert. Als Beispiel führt sie
Schillers Ode „An die Freude“ an, deren Sprache sogar ausschließlich an Männer gerichtet
zu sein scheine („Alle Menschen werden Brüder“ [Hervorh. d. A.] etc.). Eine solch
einseitige Intention lehne sie, die Autorin, strikt ab, und mit einer Reduktion ihrer Rolle als
Frau habe sie sich nie abfinden wollen. Doch obwohl sie auf jedes frauenfeindliche oder
antisemitische Werk kritisch und betroffen reagiere, könne sie solche Literatur nicht
unbetrachtet lassen, da „ich mir zuviel entgehen lassen“ (Z. 55 f.) würde.
Es sei schon mit einigem Aufwand verbunden, sich als belesene Frau von den Sujets
„des weißen, christlichen, männlichen Autors“ (Z. 60 f.) zu distanzieren. Auch sei das
Lesen von Büchern, die sich am realen gesellschaftlichen Stellenwert und der
Selbsteinschätzung der Frau orientierten, für Frauen viel natürlicher; dementsprechend
leichter falle es ihnen.
Schließlich resümiert Klüger, die Zielgruppe traditioneller Literatur setze sich, die
dazugehörige Wissenschaft basiere ebenfalls auf dieser Voraussetzung, aus
„geschlechtslosen idealen Leser[n]“ (Z. 63), tatsächlich aber aus Männern zusammen.
Da der vorliegende Text in Aufgabe 2. zu erörtern ist, ist die Frage von Bedeutung, mit
welchen Mitteln Ruth Klüger ihre Aussagen unterstreicht und um was für eine Art von
Text es sich dabei überhaupt handelt.
Daß es sich bei Klügers Text um keine wissenschaftliche Abhandlung handelt, wird an
mehreren Umständen deutlich. Nicht nur, daß keine Kapazität zitiert oder zumindest
angeführt wird, die sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt hat; ein streng
umrissenes ‹Problem› im wissenschaftlichen Sinn liegt Klügers Text auch gar nicht
zugrunde. Der Titel „Frauen lesen anders“ vermag daran nichts zu ändern. Die Autorin
geht von einem bestimmten Gedanken aus, und mit der Zeit kommen ihr neue
Überlegungen, einander mehr oder weniger bedingend. Trotzdem ist die Diskrepanz
zwischen Überschrift und Einleitung auf der einen und Schlußsatz auf der anderen Seite
nur scheinbar: Tatsächlich kreisen ja alle Einzelgedanken doch um das zentrale Thema
‹Frau und Literatur›. Und die Autorin bezieht einen festen Standpunkt.
Dabei verwendet sie mehrere klassische Stilmittel (was noch einmal gegen einen
wissenschaftlichen Charakter des Textes spricht). Genannt seien das POLYSYNDETON in
Z. 16 ff. (dreimaliges Verwenden von „oder“ in einem Satz), die beiden RHETORISCHEN
FRAGEN in Z. 31 ff. (die die Antwort „Nein, natürlich nicht“ verlangen) und die
HYPERBEL in Z. 60 f. (Klüger spricht hier übertrieben vom „weißen, christlichen,
männlichen Autor[]“).
Ein wesentliches Merkmal fällt dem Leser spätestens beim zweiten Lesen auf: Mal
nimmt sich der Text eher allgemein aus, mal hingegen scheint es, als schreibe Klüger für
eine bestimmte Gruppe, der sie sich verpflichtet fühlt. Letzteres wird dadurch belegt, daß
sie wiederholt von „wir“ und „uns“ redet; auch das zuweilen verwendete „ich“ gehört
hierher. In der Tat offenbart dies den zwiespältigen Charakter des Textes: Der Leser,
zumal der männliche, ist irritiert, ob er sich überhaupt angesprochen fühlen darf. Denn die
Zusammenhänge, in denen das „wir“ gewählt wird, lassen darauf schließen, daß sich die
Autorin AUSSCHLIEßLICH an Frauen wendet, auch wenn das explizit so nicht gesagt
wird. Eine andere Deutung könnte davon ausgehen, daß Klüger im Namen aller im
Umgang mit männlicher Literatur erfahrenen Frauen („wir“) an alle interessierten
Leserinnen und Leser schreibt. Immerhin ist doch zu beachten, daß in Z. 1-9, in Z. 59-62,
im Schlußsatz sowie an einigen kleineren Stellen nicht von „uns“ die Rede ist, sondern
recht allgemeine und auch neutrale Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden.
Am Ende muß sinngemäß als Resümee und Implikation des Textes eine zweigeteilte
Forderung der Autorin ergänzt werden: Frauen sollen das, was sie lesen, besser auswählen
und anhand der im Text skizzierten Kriterien messen – und die heutigen Autorinnen und
Autoren werden aufgefordert, ‹anders›, und zwar frauenfreundlicher, zu schreiben.
Es ist also gezeigt worden, daß es sich bei dem vorliegenden Text nicht um eine
wissenschaftliche Abhandlung handelt und daß auch ein eindeutig definiertes Thema nicht
vorliegt. Vielmehr läßt sich die Autorin von ihren Gedanken treiben, ohne in der
Einleitung bereits zu wissen, was sie im Schlußsatz schreiben wird. Demzufolge hat sie
natürlich größere Freiheiten, als es bei anderen Textsorten der Fall wäre. „Frauen lesen
anders“ hat keinen eigentlichen Bezugstext, ist daher ein Versuch, ein ESSAY.
2. Sicherlich ist die Frage von Belang, wie wir damit umzugehen haben, daß Frauen
traditionell in der Literatur herablassend bis feindselig behandelt werden, und ob dem
überhaupt so ist.
Zunächst einmal ist eine Einschränkung der Betrachtungsweise geboten, denn wenn hier
von Literatur (alter oder moderner) die Rede ist, bezieht sich dies ausschließlich auf die
abendländische Literatur. Selbstredend wird in anderen Kulturkreisen, zum Beispiel in
Ostasien, die Rolle der Frau – wie auch vieles andere – mit ganz anderen Augen gesehen
als im europäisch geprägten und orientierten Raum. Es ist meines Erachtens zumindest
ansatzweise vermessen, nur aufgrund unserer hiesigen Überzeugungen absolute Urteile
über andere Kulturen zu treffen, im Guten wie im Schlechten.
Konzentrieren wir uns also ganz auf die Fülle von abendländischer Literatur, um zu
differenzierten Urteilen zu gelangen. Und da zunächst etwas zur Verteidigung der
Literatur: Sie – wie ja die Sprache überhaupt – spiegelt im allgemeinen die
gesellschaftlichen Zustände nur, ist ja schlechterdings nicht ein völlig selbständig zu
betrachtendes Etwas. Zwangsläufig wirken Sprache und Literatur natürlich auch
einigermaßen konsolidierend, was die sozio-politischen Verhältnisse betrifft. In unserem
Fall also hat das Patriarchat, die Dominanz des Mannes über die Frau, recht stark auf die
Literatur gewirkt: Wo ausschließlich Männer Herrscher, Verdiener und Krieger sind,
werden sie noch am ehesten Objekte literarischer Behandlung
Wenn wir zum Beispiel Remarques „Im Westen nichts Neues“ als herausragendes
Beispiel deutscher (Anti-)Kriegsliteratur in der Schule lesen, nimmt die Rolle der Frau hier
konsequenterweise nur wenig Platz in Anspruch; das Interesse gilt Männern, die in einem
sinnlosen Krieg Männer morden, um heutigen Männern den Belli[zi]smus auszureden.
Freilich ist es ebenfalls der Betrachtung wert, sich zu vergegenwärtigen, wie auch Frauen
in einem Krieg leiden (gerade im Ersten Weltkrieg).
In der Tat lesen überdurchschnittlich viele junge Mädchen Remarques Buch und
nehmen sich den auch erst jungen Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer zum Vorbild. Ich muß
aber sagen, daß ich dies – entgegen Klüger – nicht nur nicht schlimm, sondern im
Gegenteil sogar gut finde.
Als nächstes möchte ich nicht zu unterschätzende Gegenbeispiele anführen, die zeigen
sollen, daß durchaus auch Frauen Heldenrollen in der ‹herkömmlichen› Literatur gespielt
haben. Nicht nur Hemingway hat in „Wem die Stunde schlägt“ eine Widerstandskämpferin
des Spanischen Bürgerkriegs verewigt; auch Ibsen hat in „Die Wildente“, Fontane hat in
„Effi Briest“, in „Stine“, „Irrungen, Wirrungen“ und anderen Werken differenziert
geschilderten und sehr positiv gesehenen Frauen ein Denkmal gesetzt. Neben weiteren
Beispielen sei auch an Sophokles’ Drama „Antigone“ erinnert. Antigone gerät in ein
klassisches Dilemma: Entweder sie begräbt ihren toten Bruder und handelt somit einer
Verordnung des thebanischen Königs, mithin einer weltlichen Norm zuwider, oder sie läßt
den Bruder unbestattet und verstößt gegen göttliche Gebote.
Also ist es durchaus auch vorgekommen, daß Frauen in von Männern geschriebenen
Werken der Weltliteratur wichtige Positionen einnehmen. Umgekehrt muß ja Literatur
nicht automatisch gut sein, wenn in ihr Frauen Hauptrollen spielen. So ist in Christa Wolfs
„Der geteilte Himmel“ zwar eine Frau eindeutig Protagonistin, doch kommen in dem
Roman wiederholt falsche Tatsachenbehauptungen vor, der SED-Unrechtsstaat samt
Berliner Mauer wird verteidigt.
Überhaupt darf und kann Literatur nicht ausschließlich anhand der Frage beurteilt
werden, inwieweit über Frauenschicksale berichtet wird. Gerade in Karl Mays Werken –
von Ruth Klüger als Männerliteratur abgetan – kommen grundlegende Werte zur Sprache
wie Nächstenliebe, Güte und Toleranz gegenüber anderen Ethnien und Religionen.
Es ist überhaupt die Frage – falls man gegen Ende von Klügers Essay eine implizite
Aufforderung liest –, ob sich Literatur an solchen Aufrufen, es ‹richtig› zu machen,
orientieren wird und kann.
Wie bereits gesagt, waren Frauen die längste Zeit gesellschaftlich und politisch auf eine
Außenseiterrolle verwiesen, was sich eben auch in der literarischen Behandlung von
geschichtlichen Motiven niederschlug. Und fast immer waren es ja auch Männer, die
literarisch tätig werden konnten (von einigen sehr engagierten weiblichen Beispielen
abgesehen). Mit Ruth Klüger hoffe ich, daß sich dieses Mißverhältnis auch in Zukunft
weiter ändern wird.