Der Froschkönig - Deutung - Durchblick

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Der Froschkönig - Deutung - Durchblick
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Durchblick 6+ – Der Froschkönig – Franziska Buch – Deutschland 2008 – 59 min.
2.5 Themen und Deutungsversuche
Der Abschied von der Kindheit – eine notwendige Entwicklungsaufgabe
Die Königstochter verlässt das Königsschloss, geht hinaus in den Wald, den Ort des Unbe­
kannten und Geheimnisvollen. Sie spürt, dass die wohlbehütete Kindheit vorbei ist. Eine in­
nere Stimme flüstert ihr zu, dass sie erwachsen werden muss. Sie setzt sich an den Rand ei­
nes tiefen Brunnens und spielt mit einer goldenen Kugel, die dann in die Tiefe des Wassers
fällt. In der Verfilmung des Märchens fällt die Kugel beim Spiel mit den Schwestern in einen
Teich. Die verstorbene Mutter hat die goldene Kugel ihrer Tochter als Geschenk vermacht,
sie soll sie behüten und von Irrwegen abhalten.
Mit der goldenen Kugel ist die Kindheit in das Wasser gefallen – ein deutliches Zeichen da­
für, dass ihre Kindheit zu Ende ist, und dass es Zeit wird, endlich erwachsen zu werden, den
Verlust der Kindheit zu betrauern, sich von der königlichen Familie zu verabschieden und
sich auf den Weg ins Lebens hinaus zu machen.
Die Königstochter am Brunnen bzw. Teich weint aber nicht aus Schmerz und Trauer über
den Abschied, sondern aus Hilflosigkeit und Verzagtheit, das schöne Spielzeug verloren zu
haben. Wer aber taucht aus dem Wasser auf? Ein Frosch, ein Frosch-Mann, der ihr die gol­
dene Kugel zurückbringt und sich ihr als Helfer andient. In ihrer jeweiligen Verzweiflung
schließen die beiden dann leichtfertig einen seltsamen (Beziehungs-)Vertrag.
Was ersehnt sich die Königstochter?
Die Königstochter wuchs ohne Mutter auf, sie ist gestorben und über sie darf im Palast nicht
geredet werden. In dieser Familie ist die Mutter fast vergessen und das mütterliche Prinzip
wird verdrängt. Der Königsvater gibt in diesem Haus den Ton an und er ist geprägt von Prin­
zipien und Normen. Er hat klare Vorstellungen, wie der Lebensentwurf seiner Tochter aus­
sieht, und er will, dass sie sich jetzt endlich einen Prinzen erwählt.
Die Königstochter selbst möchte die Welt draußen kennen lernen und eigene Erfahrungen
machen, anstatt ständig unter der Obhut des Königsvater zu stehen. Dieser Frosch aber
kann wirklich nicht die Lösung sein, um zu einer Frau zu reifen.
Wer ist dieser Frosch-Mann?
Der Frosch-Mann selbst erscheint als ein angeberischer, von sich selbst überzeugter, eher
noch unreifer Kerl, der einer Frau nur dann beisteht, wenn sie ihm seine Wünsche erfüllt.
Aus welcher Familie mag er wohl stammen? Eigentlich ist er ja ein Königssohn, der bald für
sein Land die Verantwortung übernehmen soll. Er hat wohl keinen Vater gehabt, der ihm ein
gutes männliches Vorbild war, und vielleicht eine Mutter, die den Sohn vollends als Mann-Er­
satz an sich gebunden hat. Er scheint in einem negativen Mutter-Komplex verhaftet zu sein.
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Die Mutter hat ihn zum Frosch gemacht, d.h. ihn in ein Lebensmodell gebannt, aus dem er
selbst schwerlich entfliehen kann.
Ist der Frosch-Mann „der Richtige“ für die Königstochter?
Wenn Söhne den Vater ersetzen müssen, gelingt es ihnen besonders schwer, sich von der
Mutter abzulösen und aus der Familie auszubrechen, denn Liebesentzug, Verwünschung,
Fluch und Strafe vonseiten der Mutter führen schnell zu Schuldgefühlen und Selbstentwer­
tung des Heranwachsenden. Dem Frosch-Mann fehlte der Vater, der ihn hätte unterstützen
können, sich aus der starken Abhängigkeit der mütterlichen Erwartungen zu lösen.
„Wenn die Auseinandersetzung mit dem Vater gelingt und damit die Idealisierung des Vaters
aufhört, könne der Sohn, vom Vater geachtet, seinen Weg weitergehen. Tiefenpsychologisch
gesehen muss allerdings auch eine Ablösung von der Mutter und dann auch vom Mutter­
komplex stattfinden, sonst würde der Mutterkomplex mit all seinen impliziten Erwartungen
auf die Freundin und auf die Partnerin übertragen“ (Kast 2005, S. 19).
Eltern (ge)brauchen Kinder oft als „kleine Helfer“,
„die einfühlsam auf deren Verlassenheit eingehen, sich den Kopf darüber zerbrechen, wie
man die hilflose Mutter unterstützen und den traurigen Vater aufheitern kann. Der FroschMann war so ein kleiner Prinz und Helfer für seine Mutter, der sehr gut gelernt hat, sich ein­
zufühlen“ (Jellouschek 2006, S. 38).
Wie aber können die Prinzen und Prinzessinnen, d.h. die Söhne und Töchter, das eigene
Selbst erkennen und finden? Wie können sie es lernen, Kontakt zu ihren Gefühlen zu be­
kommen? Dies geht nur über die Spiegelung in einem anderen Menschen.
„Was heißt hier Liebe“
Jeder Beziehung geht eine erste Begegnung voraus. Wer aber ist sich hier begegnet? Es
sind zwei junge Menschen, die noch stark gegenüber ihren Eltern verhaftet sind. Die Königs­
tochter trägt ein normativ väterlich geprägtes Bild in sich und der Frosch-Mann ist immer
noch vom Bann des mütterlichen Fluchs gezeichnet. Im Grund genommen begegnen sich
zwei Bilder, mit denen die beiden jungen Erwachsenen jeweils die andere Person durch Pro­
jektion einrahmen.
Sucht der Frosch-Mann als Sohn einer übermächtigen Mutter wirklich eine Partnerin? Er
sucht in der Königstochter doch eher das, was ihm im positiven Sinn gefehlt hat, nämlich Ge­
borgenheit und Vertrauen, und im Stillen hofft er doch, dass er nicht schon wieder in eine
mütterlich-symbiotische Abhängigkeit gerät.
Die Königstochter (eine typische Vater-Tochter) sucht einen Mann, in dessen starke Arme
sie fallen kann und von dem sie getragen, verehrt, getröstet wird.
Die beiden haben aber eine gemeinsame Aufgabe, nämlich die (innere und äußere) Ablö­
sung von der Frosch-Mutter sowie vom Vater-König voranzutreiben.
Ablösung passiert jedoch nicht durch die Erlösung vonseiten eines Anderen. Ablösung geht
nicht ohne Schmerz und Leiden – der Eiserne Heinrich mit den Banden um sein Herz ist im­
mer gegenwärtig. Das Auftreten der Frosch-Gestalt wird in der Verfilmung wiederholt beglei­
tet vom Eisernen Heinrich, der sich seine Eisenbänder schmiedet oder heimlich den Frosch
und die Königstochter beobachtet, als wäre er um etwas in großer Sorge.
Im verliebten Zustand wird der Andere idealisiert, doch dies trübt oftmals den Blick. Die Kö­
nigstochter lässt sich vom Frosch-Mann helfen, trösten, bewundern (das hat er schon bei
seiner Mutter immer machen müssen), aber sie muss sich von ihm auch anmachen lassen –
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und es ekelt ihr vor ihm. Er will mit ihr im Bett schlafen, er will Sex, doch unter der „eroti­
schen Wende“ im Alter des Heranwachsens hat sie sich etwas anders vorgestellt. Wollen die
beiden wirklich jeweils den anderen zum Partner, zur Partnerin, oder wollen sie im Grunde
genommen nur irgendetwas, was ihnen allem Anschein nach (noch) fehlt?
Die Würde des anderen zu erkennen und zu achten, das würde den Kern einer tragfähigen
Beziehung ausmachen. Liebe heißt für die Königstochter sowie für den Frosch-Mann: „Ich
liebe Dich, weil ich dich brauche“ (Jellouschek 2006)
Im „Hohelied der Liebe“ heißt es: „Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hau­
ses, nur verachten würde man ihn.“
Liebe ist nicht der Tausch von Leistung und Gegenleistung. Liebe ist ohne Vorbehalt, Liebe
verlangt nichts, Liebe tauscht nicht Gefühle für Hilfe, Liebe ist kein Geschäftsvorgang im Sin­
ne von „Ich brauche deine Liebe, damit ich leben kann und erlöst werde.“
Der Blick in den Spiegel und die Tränen der Erkenntnis
Die beiden müssen, um die Liebe als ein „gleichwürdiges Paar“ zu finden, ihre eigenen Er­
wartungen und Vorstellungen sowie die von Mutter- und Vaterimago geprägten Komplexe
auflösen, um dadurch erst einmal mit sich ins Reine zu kommen.
Die Königstochter kann und will dem Frosch-Mann nicht geben, was er sich von ihr erwartet.
Der Frosch-Mann wiederum ist nicht der starke Mann, den sie sich erträumt. Er stellt für sie
keine fürsorgliche, einfühlsame und fördernde „Vater-Figur“ dar, sondern er ist (wie der eige­
ne Vater) nur auf seine Prinzipien und Normen fixiert. Weder der Vater noch der FroschMann hören ihr richtig zu. Da fühlt die Königstochter einen Kloß im Hals, in ihr sitzt ein
Frosch. Irgendetwas ist noch nicht in ihrem Bewusstsein. Erfahrungsgemäss hilft dann der
Körper nach, er somatisiert und mit dem Schmerz und Unwohlsein kommt sie an ihre wahren
Gefühle. Ekel, Abwehr, Abneigung kehren sich bei ihr um in Wut und Hass, Abscheu und Ag­
gression – das sind hässliche und gefährliche Gefühle, aber sie befreien die Königstochter
aus ihrer inneren „Vater-Haft“. Sie ist jetzt nicht mehr länger das brave Mädchen. Sie denkt
an sich und nicht mehr daran, anderen lieb Kind und wohlgefällig zu sein. Sie sagt endlich
„Nein“. Sie kann den Frosch-Mann nicht anfassen und erfassen, und dennoch nimmt sie ihn
in die Hand, klatscht ihn an die Wand, und ihre Missbefindlichkeit beginnt sich aufzulösen.
Mit diesem Wurf hat die Königstochter nicht nur sich, sondern auch dem Frosch-Mann einen
Gefallen getan. Er hatte sich in der Königstochter getäuscht, und ent-täuscht kann er sich
nun von seinem mütterlichen Bann lösen, den Fluch ablegen und sich auf seine Aufgabe und
Verantwortung als Königssohn und männlicher Partner der Königstochter besinnen.
Der Zauber ist gebrochen. Durch den Wurf an die Wand wird der Frosch-Mann zum Königs­
sohn, denn auch ihm wird jetzt bewusst, was ihn die ganze Zeit in Schach gehalten hat. Ein
solcher Prozess ist schmerzhaft und bedingt Tränen der Erkenntnis.
Das Väterliche ist an die Wand gefahren
Mit ihrem wütenden Wurf an die Wand zerstörte die Königstochter das „schöne Bild“, das
man sich von ihr gemacht und das der Vater wie einen Umhang über sie geworfen hatte. Sie
rebellierte gegen die väterliche Autorität und Instanz. Sein Einfluss ist nun zerbrochen. Sie
lässt sich nicht mehr verletzen, sondern verletzt andere. Sie ist nicht mehr länger das brave
Mädchen, sie denkt endlich an sich und nicht mehr nur daran, anderen lieb Kind zu sein. Der
Vater hat ihr nichts mehr zu sagen.
Königstochter und Königssohn haben sich gleichzeitig verwandelt, jetzt können sie ihr MannSein und Frau-Sein neu entdecken und erkennen. Sie werden erwachsen. Ihre Beziehung
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beginnt von Neuem, auf einer anderen, höheren Ebene, mit neuem Bewusstsein. Ihr persön­
licher Gewinn ist Autonomie und Reife.
Selbstständigwerden heißt auch: Treue zu sich selbst
Anstehende Entwicklungsaufgaben können Beziehungspartner einander nicht abnehmen,
sie müssen die Aufgaben schon selbst lösen. Königstochter und Königssohn lernen sich
jetzt, aus der Symbiose getrennt, als eigenständige Personen kennen und verstehen. Dabei
kann es helfen
„Klartext zu reden, all die Lebenslügen und falschen Erwartungen und eingefahrenen Rollen­
spiele in einem tapferen Kraftakt hinter sich zu lassen, und in aller Konsequenz, Härte und
Aufrichtigkeit einen neuen Anfang zu setzen. Und dabei vielleicht erstaunt festzustellen, wie
viel Kraft der Beziehung plötzlich zuwächst und wie viel verschüttete Zuneigung, Liebe, Zärt­
lichkeit in dem erkalteten, glanzlos gewordenen Miteinander verborgen ist“ (Feldmann 2009,
S. 84).
Die Entwicklungsaufgabe des Selbstständigwerdens bedeutet immer auch, die Treue zu sich
selbst zu entwickeln und zu bewahren. Das neue, gewandelte Paar verlässt nun das väterli­
che Schloss (in dem der Individuationsprozess stattgefunden hat, aber auch stattfinden
musste), um ins Reich des Königssohnes zu fahren sowie dort gemeinsam Aufgaben und
Verantwortung zu übernehmen.
Das Bild der Treue zu sich selbst und zum Partner verkörpert der Eiserne Heinrich. Der
Schmerz über den Fluch des jungen Herrn hat sich beklemmend über die Brust seines Die­
ners gelegt, und nun, nachdem das verhärtete, gegen Gefühle gepanzerte Herz des FroschMannes sich erweicht und erweitert hat, springen die Eisenteile auseinander, und eine neue
Lebendigkeit kann von einem Besitz ergreifen.
„Damit wird der tiefste Sinn der leidvollen Geschichte dieser Beziehung deutlich: die gebun­
denen Herzen zu einer reifen Liebe zu entbinden“ (Jellouschek 2006, S. 99).
Das junge Paar fährt von dannen. Die beiden möchten die Welt kennen lernen und mehr
vom Leben wissen. Die tiefere Botschaft der goldenen Kugel ist demnach, einfach der Stim­
me des Herzens zu folgen.
Paarbeziehung und Familie haben mit Gemeinschaft zu tun
Die zukünftigen Aufgaben der Königstochter und des Königssohnes als Paar bestehen fortan
in Folgendem:
„Wir gehen eine Verpflichtung im Verhältnis zu den anderen ein. Wir benötigen den Willen,
auch für die weniger lustbetonten Aspekte einer Familie die Verantwortung zu übernehmen,
und die Erkenntnis, dass wir uns nun in einem Verhältnis zueinander befinden“ (Juul 2008,
S. 118).
Dies aber schließt nicht aus, dass es in der Paarbeziehung bzw. in der Familie auch zu Kon­
flikten, Problemen und Krisen kommt, doch zu deren Bewältigung haben Königssohn und
Königstochter bereits eine wichtige Erfahrung gemacht, nämlich „wer wir sind – und wer wir
gemeinsam sind“.
Dr. Jürgen Barthelmes
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Literatur
Feldmann, Christian (2009): Der Froschkönig. Wer mag schon einen Frosch küssen? In:
Feldmann, Christian: Von Aschenputtel bis Rotkäppchen. Das Märchen-Entwirrbuch. Güters­
loh, S. 67–106
Jellouschek, Hans (2006): Ich liebe Dich, weil ich dich brauche. Der Froschkönig. Stuttgart
Juul, Jesper (2008): Was Familien trägt. Werte in Erziehung und Partnerschaft. Weinheim
und Basel
Kast, Verena (2005): Vater-Töchter, Mütter-Söhne. Wege zur eigenen Identität aus Vaterund Mutterkomplexen. Stuttgart
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