Rhetorik des Abstimmungsplakats

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Rhetorik des Abstimmungsplakats
Rhetorik des Abstimmungsplakats
Zum Stil von Text- und Bildplakaten (pathos)
Judith Arnold, Zürich, den 31.05.2007
Die Topik ist Bestandteil der Argumentation (vgl. Arnold 2007f), doch sie hat in ihrem jeweiligen thematischen Bezug auch eine klar emotionalisierende Komponente. Sie bildet somit
gewissermassen die Scharnierstelle zwischen der Argumentations- und der Affektenlehre. Im
Gegensatz zu Aristoteles mass Cicero (und später auch Quintilian) den loci communes grosses Gewicht für die Persuasion bei und erkannte darin die Wirkkraft der Rede, die sie in Verbindung mit der rhetorischen Ausschmückung entfaltet (vgl. Bornscheuer 1976: 64ff.). Denn
Persuasion (von lat. persuadere) beinhaltet nicht nur das Überzeugen mit sachlogischen
Mitteln, sondern auch das Überreden durch emotionale Beeinflussung. Aristoteles hebt zwar
die sachlogische Dimension der Rede hervor, seine Rhetorik basiert aber gleichermassen
auf der Argumentationslehre und der Affektenlehre. Schliesslich lassen wir uns nicht nur
durch Argumente, sondern auch durch Gefühle leiten, weshalb sich ein Redner sowohl sachlogischer als auch emotionalisierender Überzeugungsmittel bedient.
Die Rhetorik von Aristoteles unterscheidet drei Überzeugungsmittel (pisteis): logos bezieht
sich auf den Sachaspekt, pathos auf den Höreraspekt und ethos auf den Redner selbst (vgl.
Ottmers 1996: 119; Arnold 2007c: 7ff.). Entsprechend beinhaltet jede Rede sowohl eine
sachliche Darstellung, eine Selbstoffenbarung und einen Appell (vgl. das Organonmodell von
Bühler 1934: 28; auch Nöth 1975: 42ff.). Die Appellfunktion ist bei Werbetexten wie dem Abstimmungsplakat sogar dominant (vgl. Nöth 1975: 44; Arnold 2007b: 6ff.), weshalb sich die
Frage stellt, mit welchen Stilmitteln die Abstimmungsplakate eine emotionale Beeinflussung
des Publikums intendieren. Während die sachlogische Argumentation (logos) von Abstimmungsplakaten bereits ausführlich dargelegt wurde (vgl. Arnold 2007d/e/f), wird nun der Fokus auf die Affektenlehre gerichtet. Diese umfasst sowohl die Emotionalisierung des Publikums (pathos) als auch die Selbstdarstellung des Redners (ethos) (vgl. Ottmers ebd.). Allerdings sind die Grenzen der affektischen Überzeugungsmittel in der Rede fliessend, weshalb
eine Trennung der Ausdrucksformen von pathos und ethos nur bedingt möglich ist. Beides
ist letztlich eine Frage des Stils, was uns zurück zur Hauptthese führt (vgl. Arnold 2007c: 23):
Die Hauptthese lautet, dass das Abstimmungsplakat als verschriftlichte Form der politischen
Beratungsrede gelten kann. Die Unterhypothesen lauten, dass das Abstimmungsplakat zwar
eine reduzierte Form des genus deliberativum darstellt, dass es aber im Aufbau (1), in der
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Argumentation (2) und im Stil (3) seine ursprüngliche Funktion und Struktur erhalten hat.
Falls die Hauptthese zutrifft, so sollte auch der Stil (3) von Text- und Bildplakaten eine Entsprechung zur deliberativen Redegattung aufweisen. Im Folgenden wird nun diese dritte Unterhypothese geprüft. Zuerst wird die Affektenlehre nach Aristoteles zusammengefasst, dann
wird in Anlehnung an Barthes (1964a: 44) die Figurenlehre der klassischen Rhetorik entfaltet
und abschliessend auf die Abstimmungsplakate angewandt. Dies erfolgt vorwiegend nach
Barthes (1964a), Lausberg (1963) und Ottmers (1996).
1 Zur Affektenlehre
Will man ein Publikum von seinem Standpunkt überzeugen, so muss die Rede auf die Rezipienten angepasst werden. Dazu gehört, dass der Redner sein Publikum in die richtige
Stimmung versetzt, damit es geneigt ist, seiner Beratung zu folgen (vgl. Aristoteles II.1.2.).
Dies gelingt am besten, wenn der Redner selbst in einer bestimmten Verfassung erscheint:
"(2) Da aber das Objekt der Rede das Urteil ist (…), muss man notwendigerweise nicht nur auf die
Argumentation sein Augenmerk richten, auf dass sie Beweis- und Überzeugungskraft besitze, sondern
auch sich selbst und den Urteilenden in eine bestimmte Verfassung setzen. (3) Denn im Hinblick auf
die Glaubwürdigkeit macht es viel aus (...), dass der Redner in einer bestimmten Verfassung erscheine und dass die Zuhörer annehmen, er selbst sei in einer bestimmten Weise gegen sie disponiert, und
schliesslich, ob auch diese sich in einer bestimmten Disposition befinden. (4) (…) denn ein und dasselbe erscheint nicht in gleicher Weise den Liebenden und den Hassenden bzw. den Zornigen und
denen in sanfter Gemütslage, sondern die Ansichten sind entweder ganz und gar oder hinsichtlich
ihrer Gewichtigkeit verschieden." (Aristoteles II.1.2–4)
Mehr noch als Aristoteles hat später Quintilian auf die Kunst der Affekterregung gesetzt:
"Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich, wenigstens nach
meinem Empfinden, sich selbst der Erregung hinzugeben" (Quintilian VI.2.26, zit. in Ottmers
1996: 126). Die intendierte Fremdaffektion setzt demnach eine Selbstaffektion voraus, wobei
der Redner die Affekte, die er beim Hörer hervorrufen will, selbst empfinden soll (vgl. Ottmers 1996: 126). Zentral für das aktuelle Forschungsinteresse ist die Technik, die dabei zur
Anwendung kommt, denn sie ist mit der Bildlichkeit verbunden und gibt Antwort auf die Frage, inwiefern sich Topoi auf Abstimmungsplakaten visualisieren lassen. Nach Quintilian ist
die emotionale Beeinflussung des Rezipienten nur dann effektiv, wenn sich der Redner
selbst in die entsprechende Gemütsverfassung versetzt. Und das gelingt mit der "Vergegenwärtigung von den gewünschten Gefühlen – vergleichbar den Phantasiebildern (visiones),
die Abwesendes so vergegenwärtigen, als würde es unmittelbar und plastisch vor Augen
stehen" (Ottmers 1996: 126; Hervorheb. i.O.). Gemeint ist hier nicht ein malerischer, sondern
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ein psychologischer Bildbegriff, den bereits Aristoteles mit phantasía bezeichnet hat. Damit
meinte er innere Vorstellungen der Seele, die als Bilder erscheinen, denn er glaubte, dass
die Seele nie ohne Bilder denkt (vgl. HWR 11). Die Selbstvergegenwärtigung mag auf inneren Bildern beruhen, sie muss aber in der Rede sprachlich umgesetzt werden, damit sie
auch den Zuhörern einen möglichst plastischen Eindruck vermitteln kann (vgl. Ottmers 1996:
126). "Quintilian nennt hier die illustratio (Ins-Licht-Rücken) beziehungsweise die evidentia
(Anschaulichkeit), also energetische Darstellungsverfahren, die durch Wirklichkeitssimulation
ihre psychagogische Wirkung entfalten." (Ottmers ebd.; auch HWR 11). Aristoteles wiederum
nennt die Metapher: "Es ist nämlich das Bild (…) eine Metapher, die sich nur durch die Art
der Aufstellung davon unterscheidet" (Aristoteles III.10.3). Daher eignet sich die Metapher
besonders gut, um einen Sachverhalt wirkungsvoll vor Augen zu führen (vgl. Aristoteles
III.11). Dasselbe gilt auch für Gleichnisse (vgl. Aristoteles III.11.11) und Sprichwörter (vgl.
Aristoteles III.4.; III.11.14). Die Anschaulichkeit aber, die in der Rede über Stilfiguren und
Tropen erzeugt wird, lässt sich in Druckmedien direkt zur Darstellung bringen, was die Funktion des Bildes auf Abstimmungsplakaten weiter erhellt. Nicht zuletzt redet auch Kamps
(1999: 67) beim politischen Plakat von "Emotionalisierung durch Illustration".
Abstimmungs-Nr. 209-210 Datum: 28.2.1965
Abb. 1
Analyse: Nach einer Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, der viele Gastarbeiter in die Schweiz führte, zeichneten sich Mitte der 60er Jahre negative
Begleiterscheinungen ab. Diese waren geprägt von
Ressourcenknappheit und wachsenden sozialen
Spannungen. Die Gastarbeiter, die wesentlich zum
Aufschwung in der Schweiz beigetragen haben, wurden zunehmend ein Angriffsziel gesellschaftlicher
Feindseligkeit und politischer Polemik (vgl. Meylan/
Maillard/Schenk 1979: 126ff.)
Das Plakat ist ein gutes Beispiel für die Affektenlehre
nach Aristoteles, wonach die Emotionalisierung des
Publikums durch den Ausdruck der entsprechenden
Gemütsverfassung erreicht werden soll. In Abwesenheit eines Redners stellen die dargestellten Figuren eine Emotion zur Schau, die vom Rezipienten
übernommen werden soll. Es handelt sich um
"Angst", die hier geschürt wird: Angst vor "Inflation"
und "Spekulation", wobei die "Überfremdung" als
Ursache erscheint. Da die Angst vor den Folgen
einer Überfremdung dominiert, handelt es sich hier
zugleich um ein treffendes Beispiel für den
Sondertopos der Xenophobie.
Grafik: Heiri Steiner (Art. Inst. Orell Füssli AG)
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 79
Sammlungen: MfGZ 7-665; SNB o.S.
Titel: Bundesbeschluss über die Bekämpfung der
Teuerung durch Massnahmen auf dem Gebiete des
Geld- und Kapitalmarktes und des Kreditwesens;
Bundesbeschluss über die Bekämpfung der Teuerung durch Massnahmen auf dem Gebiete der Bauwirtschaft; Resultat: beides angenommen
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Aristoteles führt in seiner Affektenlehre aus, wie unterschiedliche Emotionen hervorgerufen
und wieder besänftigt werden. Wichtig ist, dass der Redner dabei in dreifacher Hinsicht eine
Unterscheidung trifft: Man muss die verschiedenen Gemütsverfassungen kennen und man
muss wissen, wem gegenüber man diese Gemütsverfassung hegt und weshalb. "Ich meine
z.B. beim Zorn ist zu unterscheiden, in welcher Verfassung sich die Zornigen befinden, gegenüber wem man gewöhnlich zürnt und über welche Dinge." (Aristoteles II.1.9) Anschliessend beschreibt Aristoteles verschiedene Affekte und wie sie hervorgerufen und durch ihr
Gegenteil besänftigt werden können wie Zorn und Sanftmut, Zuneigung und Feindseligkeit,
Furcht und Mut (vgl. Aristoteles II.2). Schliesslich fügt er eine Typologie verschiedener Charaktere hinzu, da beispielsweise die Jugend auf andere Weise zu gewinnen sei als das Alter.
Entsprechend sind Gegenstand und Ausschmückung der Rede auf die Charaktere des Zielpublikums auszurichten (Aristoteles II.12–17; vgl. auch Arnold 2005: 83). Nach Aristoteles
steht zudem die Affekterregung in einer gewissen Ausschliesslichkeit zur Argumentation:
"Wo man aber die Emotion erregen will, trage man keine Enthymeme vor; dies vertreibt nämlich entweder den Affekt, oder das Enthymem wird vergeblich vorgetragen sein; denn gleichzeitige Bewertungen vertreiben einander und sie vernichten sich entweder oder machen sich gegenseitig wirkungslos.
Auch wenn man seiner Rede einen ethischen Anstrich gibt, darf man nicht gleichzeitig nach einem
Enthymem suchen; denn die Beweisführung besitzt weder ethische Gesinnung noch sittlichen Vorsatz" (Aristoteles III.17.8; vgl. auch Stölzgen 2001: 4)
Wie allerdings Karsten Stölzgen (2001) festhält, handelt es sich bei der Affekterzeugung um
ein evaluatives Verfahren: Der Rezipient prüft die vorgebrachten Gründe des Redners, die in
der Folge Emotionen für oder gegen einen Dritten erzeugen. "Dieses rationale Element des
Pathos geht auch aus der Affekttrias hervor, laut der Pathos die kognitive Einschätzung von
Pathosgehalt, Pathosobjekt und Sachverhalt zugrunde liegt." Demnach ist eine Meinungsbildung des Pathosträgers für Affekte im aristotelischen Sinn konstitutiv (vgl. ebd. S. 5). Für die
grundsätzliche Rationalität ist dabei unerheblich, ob die affekterzeugende Meinungsbildung
prüfend bewusst oder routiniert unbewusst abläuft (vgl. ebd. S. 6):
"Ein Pathostopos, der vom Hörer bewusst oder unbewusst als geltend anerkannt wird, hat somit die
Funktion einer Auslegungshilfe vom Gesagten, wobei seine Geltung (für den Sprecher wie den Hörer)
eine sachgerechte Verständigung und eine der Sache angemessene affektive Reaktion erst ermöglicht. Diese ist so vernünftig, wie die in der Rede vermittelten Annahmen, Meinungen und Bewertungen es sind. Mehr noch: Es ist vernünftig, affektiv betroffen zu sein." (Wörner 1981: 78; zit. in Stölzgen
2001: 5)
Auch wenn eine politische Beratungsrede emotionalisiert ist, zielt sie doch auf die Zustimmung für einen politischen Entscheid ab und hat auf der Makro-Ebene eine argumentative
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Struktur. Zwar mögen sich emotionalisierende Komponenten schlecht mit sachlogischen
Argumenten vertragen, doch es stellt sich nicht grundsätzlich die Frage, ob argumentiert
oder emotionalisiert wird. Denn es sind immer beide Verfahren vorhanden, auch wenn jeweils der Überzeugungs- oder der Überredungsaspekt überwiegen mag. Schliesslich sei in
Zusammenhang mit der Topik daran erinnert, dass die politische Argumentation komplex ist
(vgl. Klein 2000) und zahlreiche normative Bezüge aufweist. Überall dort, wo eine Bewertung
vorgenommen wird – sei es die Bewertung der aktuellen Situation, die Bezugsgrösse für den
Handlungsvorsatz oder die Bewertung der erwarteten Folgen – sind normative und damit
auch emotionalisierende Aspekte involviert (vgl. Arnold 2007f: 7; Arnold 2007e: 17).
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
K4/A5
⎯→
Folgenbewertung
K5
Handlungsaufforderung
Von zentraler Bedeutung für die Bewertung sind die eigenen Erfahrungen, die einerseits
durch die Lebenswelt geprägt und andererseits über die Kultur, Sozialisation und Bildung
befördert sind (vgl. Bornscheuer 1976: 104f., 129ff., 136ff.; Knoblauch 2000: 657). So ist
gerade das Problembewusstsein stark von der eigenen lebensweltlichen Situierung abhängig. Und da sich die Folgen von politischen Entscheiden auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich auswirken, werden auch diese Folgen ganz unterschiedlich
bewertet (vgl. Arnold 2007e: 16). Schliesslich sind die Zielvorgaben von Abstimmungsvorlagen oft von ideologischen Sondertopoi geprägt. Die allgemeinen Topoi müssen dabei als
Vermittlungsinstanz gesehen werden, um die unterschiedlichen gesellschaftlichen Perspektiven auf einen Minimalkonsens zurückzuführen (vgl. Bornscheuer 1976: 68).
Im Gegensatz zu Aristoteles waren für Cicero die Topoi wie auch die rhetorischen Figuren
Überzeugungsmittel seiner "Überwältigungsrhetorik" (Bornscheuer 1976: 78, 90). Nach Ciceros Idealkonzept beruht die Allgemeingültigkeit der Topik "nicht auf einer abstrakten Denkform, sondern auf der unmittelbaren Lebensbedeutsamkeit der Topoi. Diese bedürfen dabei
"keiner sachlogischen Detailargumentation, sondern dienen der amplifikatorischen 'Exegese'" (Bornscheuer 1976: 80). An die Stelle der abstrakten aristotelischen Problemtopoi setzt
Cicero "die pragmatische Allgemeingültigkeit der Gemeinplatz-Topik, die nicht so sehr Anhaltspunkte für eine rational-sachliche Argumentation als vielmehr Impulse für eine psycha-
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gogische, pathoserregende Einflussnahme auf die sittlich-emotionale Willensbildung des
Publikums liefert" (Bornscheuer 1976: 79f.). Dabei sind die Topoi auch bei Cicero nicht losgelöst von der Argumentation, sondern haben wie die Figuren eine verstärkende Funktion:
"Amplifikation bedeutet gleichzeitige Steigerung des Bedeutungsgehalts und des sprachlichstilistischen Reichtums." (Bornscheuer 1976: 74; Hervorheb. i.O.)
Grundsätzlich kann eine Verschiebung in der Gewichtung von logos, pathos und ethos in der
Rhetorik von Aristoteles und Cicero konstatiert werden: "Die durch Aristoteles bestimmte
rhetorische Grundaufgabe der problem- und sachorientierten Überzeugung wird zu einer
Randfunktion in dem ciceronianischen Leistungskanon." (Bornscheuer 1976: 84) Bornscheuer geht noch weiter und sieht in Ciceros "Überwältigungsrhetorik" ein Anzeichen für ein neues imperiales Zeitalter. So entspringt Ciceros Forderung nach einer allgemeinverständlichen
öffentlichen Rede "nicht einem Interesse an demokratischer Sachargumentation und politischer Aufklärung, sondern einem gesteigerten Drang nach öffentlicher Geltung und politischem Führungsanspruch." (Bornscheuer 1976: 90). Statt der rationalen Meinungsbildung
wird das Sprach- und Redevermögen zu einer menschlichen Fähigkeit erhoben, die für die
gesellschaftliche Gesittung konstitutiv ist. "Oberste Aufgabe der Rhetorik ist die Auslegung
sämtlicher politisch-rechtlich-sittlichen Verhaltensnormen" (Bornscheuer 1976: 84), wobei
nach Bornscheuer die Pathos- und Witzanalyse bei Cicero zu einer erheblichen psychologischen Vertiefung der Rhetorik und Stillehre geführt hat (vgl. ebd.).
Quintilian greift später die rhetorische Umgewichtung nach Cicero auf und fasst die sprachästhetischen Gedanken zusammen unter den Begriffen inlustratio, evidentia und energeia
(vgl. Bornscheuer 1976: 82). Wichtig ist dabei die Nachahmung, wobei der Gedanke und die
Worte durch den Sachverhalt selbst motiviert sind: "Die 'Naturkraft', die idealiter die Selbsterzeugung der Worte durch die Sache und insbesondere des stilistischen Schmuckes durch
die Bedeutsamkeit des Gedankens zu bewirken scheint, ist real betrachtet die Kunstfertigkeit
des geübten Redners." (Bornscheuer 1997: 82; vgl. Quintilian Inst. or. VIII.3.2)
Während also Aristoteles die rationale Entscheidungsfindung betont (logos), konzentriert sich
die römische Rhetorik von Cicero und Quintilian auf das pathos und ethos. Entsprechend
werden die Ausführungen zur Stillehre den römischen Erweiterungen der Rhetorik folgen.
Abschliessend kann festgehalten werden, dass die Affektenlehre auf drei Überzeugungsmitteln beruht: den Topoi, der Selbst- und Fremdaffektion sowie den rhetorischen Stilfiguren.
Während die Topik im Übergang von der Argumentations- zur Affektenlehre bereits dargelegt
wurde (vgl. Arnold 2007f), werden die Formen der Selbst- und Fremdaffektion zum rhetorischen ethos ausgeführt. Die folgenden Erläuterungen konzentrieren sich auf das pathos,
also auf die rhetorischen Figuren und Tropen und ihre visuellen Entsprechungen.
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2 Zur Figurenlehre
Nachdem die Affektenlehre in Anschluss an die Topik erläutert wurde, stellt sich also die
Frage nach den sprachlich-stilistischen Ausdrucksformen. Entscheidend für die rhetorische
Wirkkraft sind die Figuren und Tropen. Diese befinden sich nach der semiotischen Rhetorik
von Barthes und Eco auf der Ebene der Konnotation:
Tabelle 1: Dimensionen des Plakats in Anlehnung an Barthes (1964a) und Eco (1972)
Zeichensystem
Analyse-Ebenen
Semiotische
Dimension
Analyse-Kategorien
Methode
Semantische
Dimension
Struktur
1. denotierte
Sprachbotschaft
Denotation
Aussagen und ihre
Anordnung (ordo)
rhetorische
Textanalyse
Aussage und Struktur
des Textes
Kohäsion
syntagmatisch
2. konnotierte
Sprachbotschaft
Konnotation
Rhetorik des Textes
(logos, pathos, ethos)
rhetorische
Textinterpretation
Bestimmung und
Interpretation von
verbalen Figuren,
Tropen, Schlussregeln
(politische Semantik)
Kohärenz
enthymematisch
3. denotierte
Bildbotschaft
Denotation
Bildelemente und
Bildaufbau (ordo)
Bildbeschreibung
Beschreibung der
Bildelemente und
ihrer Anordnung
Kohäsion
räumlich
Konnotation
Rhetorik des Bildes
(logos, pathos, ethos)
rhetorische
Bildinterpretation
Bestimmung und
Interpretation von
visualisierten Figuren,
Tropen, Schlussregeln
(politische Bildsymbolik)
Kohärenz
enthymematisch
Sprache
(verbales Register)
Bild
(visuelles Register)
4. konnotierte
Bildbotschaft
Nach Barthes haben die konnotativen Zeichenträger von Plakatbildern rhetorische Ausdrucksformen. Er nennt sie Konnotatoren und ihre Gesamtheit eine Rhetorik. "Die Rhetorik
erscheint somit als die signifikante Seite der Ideologie" (Barthes 1990: 44). Entsprechend ist
nicht nur der Text, sondern auch die Bildsymbolik der Plakate von rhetorischen Figuren geprägt: "Diese Rhetorik wird man nur auf der Grundlage eines recht breiten Inventars erstellen
können, aber es lässt sich jetzt schon absehen, dass man darin einige der in der Antike und
in der Klassik erkannten Figuren wieder finden wird." In der Folge zählt Barthes einige rhetorische Stilfiguren auf wie die Metonymie, das Asyndeton, die Metabole und die Parataxe.
In Anschluss an Barthes haben verschiedene Forscher versucht, die Rhetorik von (Bild-)
Plakaten darzulegen. Zu nennen sind insbesondere Bonsiepe (1965), Eco (1972), Ehmer
(1971a/b), Nöth (1975) und aktueller Gaede (1981), Förster (1982), Spillner (1982), Stöckel
(1998) sowie Geiger und Henn-Memmesheimer (1998) (vgl. Arnold 2007c: 15ff.).
Gemäss Ueding und Steinbrink (1994: 167f.) hat die semiotische Rhetorik in der Tradition
von Barthes (1964a) und Eco (1972) den Ehrgeiz, "über den Zeichencharakter der rhetorischen Figuren zu einem eindeutigeren und schlüssigeren Ordnungssystem zu gelangen". Oft
erschöpfen sich diese Arbeiten jedoch in der Inventarisierung von Figuren und ihren visuell/verbalen Bezügen und lassen darob ihre rhetorische Funktion ausser Acht. Die Kategori-
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sierungen laufen also Gefahr, zu blossen Artefakten zu erstarren, die zwar eine Ordnung
entwerfen, aber über die Bedeutung des Geordneten keine weiteren Aussagen machen können. Es ist daher zentral, die Stilfiguren nicht als Kern der rhetorischen Textanalysen zu betrachten, sondern lediglich als ein Bestandteil von persuasiven Texten, die überreden und
überzeugen wollen. Entsprechend ist es die Funktion von Stilfiguren, eine Argumentation zu
führen oder zu verstärken (vgl. Ottmers 1996: 157, 184, 192). Gerade die Tropen und Argumentationsfiguren sind aber nicht immer trennscharf von der Argumentation zu unterscheiden, sondern können in diese übergehen oder sie auch ersetzen (vgl. Ottmers 1996: 182f.).
Rhetorische Stilfiguren dürfen jedenfalls nicht zum blossen Redeschmuck reduziert werden,
sondern sind in der globalen Redeabsicht des Überredens und Überzeugens zu sehen. Nach
Ottmers (1996) dienen die Amplifikationsfiguren der Verstärkung einer Argumentation, während die Argumentationsfiguren selbst argumentative Mikrostrategien bilden und "teils implizit, teils explizit, auch semantische Tiefenstrukturen" regeln und "Teile von Argumentationsstrukturen und Redetaktiken" sind (Ottmers 1996: 157). Hinzu kommen die Substitutionsfiguren, die sowohl eine formal unterstützende, als auch eine argumentative Funktion haben
können. Die folgende Aufstellung führt einige der wichtigsten rhetorischen Figuren auf:
Tabelle 2: Übersichtsdarstellung der Stilfiguren und Tropen
Amplifikationsfiguren
Substitutionsfiguren
Argumentationsfiguren
Wiederholungsfiguren
Geminatio, Diakope, Kyklos,
Epanode, Anadiplose, Gradatio,
Antiklimax, Anapher, Epipher,
Symploke, Polyptoton,
Figura etymologica,
Paronomasie, Synonym,
Tautologie, Pleonasmus,
Diaphora, Alliteration
Sprungtropen
Metapher, Metaphernfeld,
Allegorie, Ironie
Kommunikative und
appellative Figuren
Rogatio, Subiectio, Aporie,
Correctio, Concessio,
Obsecratio, Permissio,
Exclamatio, Sermocinatio
Kürzungsfiguren
Ellipse, Zeugma
Grenzverschiebungstropen
Metonymie, Synekdoche,
Antonomasie, Appellativum,
Synonym, Onomatopoeia,
Hyperbel, Litotes,
Emphase, Periphrase,
Euphemismus, Aischrologie,
Epitheton, Preziösität,
Neologismus, Archaismus
Positionsfiguren
Hyperbaton, Anastrophe,
Hypallage, Hysteron proteron,
Parallelismus, Chiasmus
Semantische Figuren
Praeparatio, Definitio,
Antizipation, Concessio,
Konsens, Correctio,
Dilemma, Paralipse, Aposiopese,
Apostrophe, Licentia,
Enumeratio, Descriptio,
Distributio, Polysyndeton,
Asyndeton, Similitudo,
Exemplum, Sententia,
Allusio, Significatio,
Parenthese, Exkurs, Klimax,
Antiklimax, Antithese, Regressio,
Subiectio, Oxymoron,
Contradictio in adiectio,
Paradoxon, Antimetabole,
Antithetischer Parallelismus
Personale Figuren
Obiurgatio, Iracundia, Exsecratio,
Laesio, Illusio
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Zu bemerken ist, dass es schon in der Antike keine einheitliche Figurenlehre gab (vgl. Ottmers 1996: 155) und bis heute Uneinigkeit in der Systematik herrscht (vgl. Arnold 2007c: 9;
Arnold 2005: 37ff. Anh.). Eine weitere Vereinfachung nimmt Bonsiepe (1966) vor, der die
rhetorischen Figuren in zwei Kategorien einteilt: in eine syntaktische und eine semantische:
"Eine syntaktische Figur liegt vor, wenn mit der Zeichengestalt operiert wird. Eine semantische Figur liegt vor, wenn mit dem Relatum operiert wird." (Mit Relatum meint Bonsiepe den
aussersprachlichen Referenten, vgl. ebd. S. 23). Zu den syntaktischen Figuren gehören also
u.a. die Wort- und Satzfiguren, die auf der Textoberflächenstruktur zu beobachten sind, und
zu den semantischen Figuren all jene Stilmittel, die auf der Texttiefenstruktur zu verorten
sind. Diese Zweiteilung der Figuren folgt der Zweiteilung des Zeichens in Zeichengestalt
(Signifikat) und Zeichenbedeutung (Signifikant) nach de Saussure (1967: 78) und kommt
darüber hinaus auch der textlinguistischen Zweiteilung nach der Oberflächen- und Tiefenstruktur von Texten entgegen (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 1996: 248ff.):
Tabelle 3: Textexterne und textinterne Kriterien zur Klassifikation von (politischen) Textsorten
Textexterne Kriterien:
Kommunikationssituation: politisches System
Textfunktion: Information, Artikulation, Appell
Kommunikationsmedium: Plakat, Inserat etc.
Textinterne Kriterien:
Textoberflächenstruktur (Kohäsion): graphische Merkmale, Satzbaumuster, Wortwahl etc.
Texttiefenstruktur (Kohärenz): Thema, Themenverlauf,
Textstrukturmuster etc.
Da die Substitutionsfiguren zwar auf der Ebene der Texttiefenstruktur zu untersuchen sind,
aber beide Funktionen annehmen können – sowohl eine formal unterstützende als auch eine
argumentative – wird hier die Dreiteilung nach Ottmers beibehalten. Schliesslich sind auch
die Grenzen zwischen syntaktischen und semantischen Figuren fliessend.
Interessant wird sein, die rhetorischen Stilfiguren und Tropen in den Abstimmungsplakaten
zu erkennen. Als politische Textsorte ist ein moderater Einsatz dieser Stilmittel zu erwarten,
denn bereits Aristoteles rät, sich nicht in kunstreichen Ausschmückungen zu verlieren:
"Der Stil der Rede, die einer Volksversammlung angemessen ist, gleicht der Perspektive in der Malerei. Je grösser die Menge der Zuhörer ist, desto entfernter liegt der Punkt des Betrachters. Deshalb ist
Genauigkeit in Details überflüssig, ja sogar abträglich für beide Seiten (…). Wenn es auf die Darbietung ankommt, zählt sprachliche Genauigkeit am wenigsten; und das ist immer dann der Fall, wenn
alles an der Stimme, und zwar an einer lauten Stimme, liegt." (Arist. III.12.5; Andersen 2001: 30f.)
Anders verhält es sich jedoch mit der geschriebenen Rede, worunter nach unserer These
auch das Abstimmungsplakat zu zählen ist. Demnach besitzt "der Stil der schriftlichen Darstellung die höchste Form der artistischen Ausbildung" (Aristoteles II.12.2.).
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Wie bereits hergeleitet wurde, bezieht sich die semiotische Rhetorik nach Barthes auf eine
beliebige Objektsprache (vgl. Arnold 2007c: 14f.; 2007f: 23ff.). Denn die Rhetorik ist die signifikante Seite einer Ideologie, die sich auf der Ebene eines sekundären semiologischen
Systems manifestiert. Welche primären Zeichencodes zugrunde liegen ist dabei unerheblich.
Denn sobald die Zeichen mit der gleichen Bedeutungsfunktion versehen sind und nach Barthes einen Mythos bilden, können sie – ob Schrift oder Bild – in der semiotischen Analyse
auf die gleiche Weise behandelt werden (vgl. Barthes 1992: 94). In der Analyse tritt die Objektsprache in den Hintergrund und der Gesamtterminus bzw. das globale Zeichen wird relevant. Aus dieser Perspektive verbinden sich Zeichen verschiedener Objektsprachen zu einer
Aussage, weshalb sich auch die Bilder und Worte auf Abstimmungsplakaten zu einer globalen Aussage verknüpfen lassen. Und diese Verbindung folgt nach unserer These der Struktur
eines Enthymems (vgl. Arnold 2007c: 25). Denn das Abstimmungsplakat ist eine deliberative
Textsorte und versucht, das Stimmvolk im Vorfeld von Volksabstimmungen zu mobilisieren
und von seiner Parole zu überzeugen. Entsprechend sollte das Abstimmungsplakat in Bild
und Text von einer argumentativen Struktur durchzogen sein, die gemäss der politischen
Kommunikationsforschung (vgl. Klein 2000) dem komplexen topischen Muster der pragmatischen Argumentation folgt (vgl. Arnold 2007e: 14ff.). Gemäss unserer Ausgangsthese sollte
die Rhetorizität des Abstimmungsplakats auf allen Ebenen zu beobachten sein: im Aufbau, in
der Argumentationsstruktur und im Stil. Während der rhetorische Aufbau bereits untersucht
wurde (vgl. Arnold 2007d) und auch die Schlussregeln und klassischen Topoi nachgewiesen
werden konnten (vgl. Arnold 2007e; 2007f), sollen nun die Stilfiguren und Tropen in Abstimmungsplakaten einer Analyse unterzogen werden. Diese sollten gemäss der semiotischen
Rhetorik von Barthes und Eco sowohl im Text als auch im Bild der Plakate zu finden sein.
Bereits Josef Klein (1994: 10) entwirft ein Modell, wonach die Schlussregeln und Figuren in
unterschiedlichen semiotischen Zeichensystemen eine Entsprechung finden. Während er der
Topik eine argumentative Funktion beimisst, weist er den Stilfiguren mehrheitlich eine suggestive Funktion zu. Zudem deckt die Sprache nach Klein (ebd.) das ganze rhetorische
Spektrum ab, während das Bild in seinen Artikulationsmöglichkeiten eingeschränkter ist und
sich der Ton bei den audiovisuellen Medien weitgehend auf die Suggestion beschränkt. Inwiefern sich diese Unterscheidungen im Rahmen einer empirischen Wirkungsforschung bestätigen lässt, wäre eine interessante Forschungsfrage, die hier aber nicht weiter verfolgt werden kann. Stattdessen wird die Inhaltsanalyse weitergeführt und der Versuch unternommen,
die Amplifikations-, Substitutions- und Argumentationsfiguren im Bild und Text von Abstimmungsplakaten nachzuweisen. Dabei werden die Figuren in ihrer persuasiven Funktion analysiert und im Kontext der pragmatischen Argumentation betrachtet. Dies erfolgt nach der
Ansicht von Cicero und Quintilian, wonach die Worte aus der Sache folgen und die Form mit
dem Inhalt untrennbar verbunden ist (vgl. Ottmers 1996: 14f., 145f.).
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3 Figuren und Tropen in Abstimmungsplakaten
3.1 Amplifikationsfiguren in Abstimmungsplakaten
Amplifikationsfiguren dienen der Verstärkung einer Argumentation und gehören nach Bonsiepe (1966) primär zu den syntaktischen Figuren. Eine "syntaktische Figur liegt vor, wenn
mit der Zeichengestalt operiert wird" (S. 26). Daher lassen sich syntaktische Figuren auf der
Textoberflächenstruktur beobachten. Man unterscheidet Wort- und Satzfiguren, die auf dem
Prinzip der Wiederholung, der Kürzung oder Positionsverschiebung beruhen (vgl. ebd.; auch
Ottmers 1996: 159ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 299ff.; Plett 2000: 138ff.; Plett 2001: 35ff.).
Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um syntaktische Figuren, die teils im Text, teils
im Bild oder auf beiden Ebenen vorhanden sind oder sich nach Bonsiepe (1966: 23ff.) zu
einer Text und Bild übergreifenden Figur ergänzen (vgl. auch Arnold 2007c: 17).
Abstimmungs-Nr. 150
Datum: 29. Jan. 1950
Abb. 2
Repetitio: Wiederholung von Worten, Wortgruppen
oder Sätzen (vgl. Ottmers 1996: 159ff.).
Hier wird das gleiche Bildelement – ein Haus –
fünfmal wiederholt, wobei der Anschnitt auf der
rechten Seite eine Weiterführung der Häuserreihe
andeutet. Die syntaktische Figur der Wiederholung
ist zwar rein formal, sie kann aber wie hier eine
metaphorische Dimension annehmen. Das wiederholte Bildelement wird somit zu einer Metapher für
"immer mehr Häuser", "noch mehr Häuser" oder
einfach "Wachstum im Wohnungsbau".
Weil sie Mietzinserhöhungen verhindert und den
Wohnungsbau fördert, so die Argumentation in Text
und Bild, ist die Wohnbauvorlage anzunehmen
(Konklusion). Die Grundstruktur entspricht erneut
der pragmatischen Argumentation, wonach zu begrüssen ist, was wünschbare Folgen zeitigt. Da
auch bei den weiteren Plakatbeispielen die pragmatische Argumentation zugrunde liegen dürfte und
die Figuren argumentative Funktionen annehmen
können, werden im Folgenden die Text- und Bildanteile nach der argumentativen Struktur analysiert.
Typisch für die Parole ist die Ellipse, die Auslassung von Worten zu einer prägnanten Verkürzung.
Grafik: Genossenschaftsdruckerei Basel
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 104 (fr)
Sammlungen: MfGZ 35-215; SfG 4208; SNB o.S.
Titel: Bundesbeschluss betreffend die Verlängerung
der Geltungsdauer und die Abänderung des Bundesbeschlusses über Massnahmen zur Förderung
der Wohnbautätigkeit
Resultat: abgelehnt
11
Abstimmungs-Nr. 364
Datum: 1. April 1990
Abb. 3
Diakope: Ein Wort oder eine Wortgruppe wird wiederholt, wobei (im Gegensatz zur Geminatio) ein
kurzer Einschub die Aufeinanderfolge unterbricht
(vgl. Ottmers 1996: 159).
Die Diakope "RECHT AUF RECHT" hat einen
inhaltlichen Bezug zu den Ebenen der Rechtspflege vom Bezirksgericht über das Obergericht zum
Bundesgericht. Diese Abstufung von der einen
Ebene zur nächst höheren Ebene wird mit einer
Treppe visualisiert und kann als Klimax gelten.
Wenn Recht auf Recht zu folgen hat, wird damit
suggeriert, dass auf jeder Rechstufe die gleichen
Rechte zu gelten haben. "Ein Recht auf Recht zu
haben" lässt sich paraphrasieren mit ein "Anrecht
(oder Anspruch) auf die Anrufung des Rechts zu
haben", und zwar unabhängig auf welcher Ebene.
Die synonyme Formulierung zeigt, dass die syntaktische Wortwiederholung semantisch eine Bedeutungsdifferenz aufweist, weshalb es sich hier
auch um eine Diaphora handelt, der Gebrauch ein
und desselben Wortes mit unterschiedlicher Bedeutung. Die Rogatio "Bundesgericht nur für Wenige?" beinhaltet schliesslich den Topos der
Gleichheit bzw. Gerechtigkeit, wonach alle vor
dem Recht gleich sind und daher auch Anrecht auf
gleiche Behandlung haben sollten.
Grafik: unbekannt
Titel: Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege, Änderung vom 23. Juni 1989
Quellen: n.n.
Sammlungen: Sozarch_F_Pe-0354
Resultat: abgelehnt
Das Bundesgesetz zur Änderung der Organisation der Bundesrechtspflege wird zur Ablehnung empfohlen, weil es eine Ungleichbehandlung in der Rechtspflege auf der Ebene des
Bundesgerichts zur Folge hätte, was dem Gleichheitstopos entgegensteht (Rogatio). Die
Diakope verbunden mit der Klimax veranschaulicht: was auf tieferer Stufe Gültigkeit hat, soll
auch auf höherer Stufe gelten.
Topos
A1
≠ Topos aus
der Gleichheit
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
12
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 159
Datum: 30. März 1952
Abb. 4
Anapher: Zwei oder mehr Satzeinheiten beginnen mit dem gleichen Wort oder derselben
Wortgruppe (vgl. Ottmers 1996: 160).
Die Anapher befindet sich im Text:
"Gute Saat, gute Ernte, gute Versorgung"
Gleichzeitig bildet diese dreifache Anapher eine
Sententia: Hierbei handelt es sich um einen
Sinn- oder Denkspruch in knapper Form, der
einer verkürzten Argumentation gleichkommt
(vgl. Ottmers 1996: 51).
Die "Saat" ist dabei sowohl im Text explizit als
auch im Bild (redundant) dargestellt.
Die Argumentation kann auf das wiederholte
Wort zurückgeführt werden: Die Vorlage ist gut
(pragmatisches Argument), denn sie bringt gute
Saat, gute Ernte und gute Versorgung (Begründungszusammenhang), daher ist das Landwirtschaftsgesetz anzunehmen (Konklusion).
Durch die gelbe Farbe der Parole ("Landwirtschaftsgesetz JA") wird zudem ein Bezug zur
Saat hergestellt.
Grafik: W. Günthardt (Foto Heiniger, Gebr. Fretz AG) Titel: Bundesgesetz über die Förderung der
Landwirtschaft und die Erhaltung des BauernQuellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 87
standes (Landwirtschaftsgesetz)
Sammlungen: MfGZ 13-629; SfG 9921; SNB o.Sign.
Resultat: angenommen
Die Sententia "Gute Saat, gute Ernte, gute Versorgung" stellt einen zeitlich-kausalen Bezug
dar: Ist die Saat gut, wird auch die Ernte gut und somit die Versorgung. Garant für die gute
Saat, die am Anfang der Kausalkette steht, wäre das Landwirtschaftsgesetz. Und weil die
prognostizierten Folgen positiv bewertet werden, wird die Vorlage zur Annahme empfohlen.
Topos
A1
gute Versorgung
Ursache/
Wirkung
gute Versorgung
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
13
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 321-322
Datum: 23.9.1984
Abb. 5
Paronomasie: Klangähnliche aber unterschiedliche
Wörter werden miteinander verbunden (vgl. Ottmers 1996: 161).
Die Sententia "Ohne Strom kein Lohn! " ist eine
Paronomasie. Gleichzeitig beinhaltet diese Figur
eine "wenn/dann"-Beziehung, sprich: Kausalität.
Wenn zuwenig Strom vorhanden ist, führt das zu
einer Drosselung der Produktivität und zu Arbeitsplatzverlusten. Wer also seinen Arbeitsplatz behalten und seinen Lohn erhalten will, sollte die Atomund Energieinitiative ablehnen.
Die Sententia "Ohne Strom kein Lohn!" impliziert
also den Topos aus der Kausalität. Im Gegensatz
zur Paronomasie ist die Sententia eine Argumentationsfigur und kann selbstständig argumentieren.
Die Argumentation fällt allerdings verkürzt aus und
kann Sachverhalte stark simplifizieren (vgl. Ottmers 1996: 192).
Was die Farbgebung betrifft, so weist der schwarze Untergrund auf einen Zustand ohne Strom hin.
Denn wenn das elektrische Licht ausgeht, wird es
dunkel. Damit dieser Zustand nicht eintritt, suggieriert die gelbe Farbe auf der unteren Plakathälfte,
wird das Vorlagenpaket zur Ablehnung empfohlen.
Grafik: unbekannt
Titel: Eidg. Volksinitiative 'für eine Zukunft ohne
weitere Atomkraftwerke' und Eidg. Volksinitiative
'für eine sichere, sparsame und umweltgerechte
Energieversorgung'
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 43-802
Resultat: abgelehnt
Die Sententia "Ohne Strom kein Lohn!" bestreitet die Argumentation mit dem Topos aus der
Kausalität, wobei der antithetische Bildaufbau in der Farbgebung ("hell/dunkel") die die kausale Beziehung ("wenn/dann") bewertend unterstützt ("gut/schlecht").
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
14
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 184
Datum: 26. Jan. 1958
Abb. 6
Isomorphie: "Wiederholung von ähnlich klingenden
Worten oder eines Wortteils in einer Wortfolge (z.B.
Worte mit gleicher Endung)" (Bonsiepe 1966: 28).
"Ohne Monopöler ist dem Schweizer wöhler" ist eine
Isomorphie im Endreim, wobei der Neologismus
"Monopöler" an den Wortklang des flektierten Adjektivs angeglichen wurde.
Der Text ist zugleich in Form eines Kreuzes angeordnet, das eine Aufzählung (Enumeratio) der unerwünschten Begleiterscheinungen von monopolistischen Zuständen streicht.
Die Enumeratio kann als eine Liste von Argumenten
gelesen werden, die gegen monopolistische Verhältnisse sprechen. Um diese möglichen Schäden abzuwenden - so der pragmatische Begründungszusammenhang in Gestalt der Isomorphie - ist die Vorlage "gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Macht"
anzunehmen (Konklusion).
Grafik: Gebr. Maurer, Zürich
Titel: Eidg. Volksinitiative 'gegen den Missbrauch
wirtschaftlicher Macht'
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 77
Sammlungen: MfGZ 13-676; SfG 8058
Resultat: abgelehnt
Die Sententia "ohne Monopöler ist dem Schweizer wöhler" bewertet die prognostizierten Folgen der Gesetzesvorlage positiv. Gleichzeitig suggeriert die Enumeratio von Missbräuchen
die mit dem Rotstift gestrichen werden, dass diese Zustände zurzeit herrschen und in Zukunft beseitigt werden sollen. Den zukünftigen positiven Folgen bei Annahme der Vorlage
geht also implizit eine Gegenwartskritik voraus.
Topos
A1
ohne Monopöler
ist dem Schweizer
wöhler
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
15
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 358
Datum: 26. Nov. 1989
Abb. 7
Alliteration: Eine Alliteration liegt vor, wenn dieselben Silben in mehreren Wörtern wiederholt
werden (vgl. Ottmers 1996: 162).
Die Sententia "Tempo tötet!" zeichnet sich durch
die Wiederholung des Konsonanten "t" aus,
wobei er zweimal im Anlaut, einmal im Inlaut und
einmal im Auslaut erscheint. Dadurch, dass es
sich beim "t" um einen Plosiv handelt, wird das
Stakkato zusätzlich betont. Dem Inhalt angemessen gibt die Alliteration der Aussage den
nötigen Nachdruck und eine gewisse Härte.
Die Sententia birgt darüber hinaus den Topos
aus der Kausalität. Wird zu schnell gefahren,
führt das zu Unfällen mit Todesfolgen. Dies wird
mit einer Fotografie belegt (vgl. EvidenzCharakter bei Barthes 1964: 46f.; Klein 1994:
13; Arnold 2007e: 8f.). Denn die Fotografie dokumentiert durch das analoge Bildgebungsverfahren, was sich zugetragen hat, und wird
damit zu einem Indiz, das die Argumentation
stützt.
Die rote Farbe kann im aktuellen Kontext eine
Anspielung (Allusio) auf Blut sein, das metonymisch für Körperverletzung und Tod steht.
Grafik: unbekannt
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'pro Tempo
130/100'’
Quellen: n.n.
Sammlungen: Sozarch_F_Pe-0086
Resultat: abgelehnt
Die Sententia "Tempo tötet!" bestreitet die Argumentation mit dem Topos aus der Kausalität.
Darin wird sie unterstützt durch die Farbe, die die Aussage betont (Emphase) und durch die
Fotografie, die als Indiz die Aussage stützt (Topos aus dem ausserrhetorischen Beweis).
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
≠ Leben
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
16
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 220
Datum: 7. Juni 1970
Abb. 8
Ellipse: Die Auslassung ist eine Kürzungsfigur
(vgl. Ottmers 1996: 163).
Typisch für nahezu alle Plakate ist die verkürzte
Parole, die kaum je in ganzen Sätzen formuliert
wird. Stattdessen gibt die charakteristische Verkürzung der Parole eine gewisse Nachdrücklichkeit. Ellipsen können daher auch als Betonung
(Emphase) gelten. Schliesslich erinnert eine
elliptische Satzbildung auch an die gesprochene
Sprache, die sich durch eine ökonomische Ausdrucksweise auszeichnet und Satzelemente, die
sich durch den Kontext (oder das zuvor Gesagte) erschliessen lassen, weglässt. Durch eine
elliptische Satzbildung wird somit auch Unmittelbarkeit demonstriert, was die Rhetorizität des
Plakats hervorhebt. Auslassungen können aber
auch pragmatische Gründe haben, z.B. wenn
etwas ohne gesellschaftliche Sanktionen nicht
ausgesprochen werden soll oder darf oder um
eine Argumentation als selbstverständlich und
daher überflüssig auszuweisen. Die Auslassungen in der Argumentation "…damit Ihnen nicht
erst nachher ein Licht aufgeht…" lassen offen,
welche negativen Folgen bei einer Annahme der
Überfremdungsinitiative zu erwarten wären.
Grafik: C.J. Bucher, Luzern
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'gegen die
Überfremdung' (Schwarzenbachinitiative)
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 13-418
Resultat: abgelehnt
Die elliptische Begründung "…damit Ihnen nicht erst nachher ein Licht aufgeht…" impliziert
negative Folgen bei Annahme der Vorlage, ohne dass diese näher benannt werden.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
17
K4/A5
⎯→
Folgenbewertung
K5
Handlungsaufforderung
nicht eidg.
Datum: 16. Juni 1946
Abb. 9
Parallelismus: Zwei oder mehr Sätze oder Teilsätze
sind parallel gebaut (vgl. Ottmers 1996: 165).
Im Text befindet sich ein Parallelismus in der Sententia "gleiche Pflichten gleiche Rechte", die den Topos
aus der Gleichheit bzw. Gerechtigkeit impliziert: Wer
gleiche Pflichten hat (Situationsdarstellung und
-bewertung) soll auch gleiche Pflichten haben (Handlungsvorsatz).
Der Parallelismus findet sich aber auch wiederholt im
Bild wieder: Die Frauen sind sich und den Männern
ähnlich und unterscheiden sich nur durch die Farbe:
die Männer sind schwarz und die Frauen weiss gezeichnet. Im Profil ist aber eine Gleichheit erkennbar.
Die Frauen- und Männerreihen, die hintereinander
marschieren, bilden einen Parallelismus, der (auch
farblich) dem Parallelismus der Sententia entspricht.
Das Plakat zur Einführung des Frauenstimmrechts
auf Bundesebene ist vorwiegend in den Farben Rot
und Weiss gehalten, was auf der konnotativen Ebene
auf die eidgenössische Ebene der Abstimmung hinweist. Allerdings schliessen die Nationalfarben nur die
Frauen mit ein, was suggeriert, dass die Männer das
Stimmrecht bereits haben und jetzt die Frauen "an der
Reihe sind".
Grafik: Hans Erni (Wassermann AG, Basel)
Titel: Frauenstimmrecht
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 22
Stirnimann/Thalmann 2001: 85
Resultat: abgelehnt
Sammlungen: MfGZ 7-857
Die Argumentation wird von der Argumentationsfigur der Sententia getragen (Topos aus der
Gleichheit) und formal von der Amplifikationsfigur des Parallelismus im Text und Bild verstärkt. Der Topos aus der Gleichheit findet also in der Figur des Parallelismus eine formale
Entsprechung, die sich sowohl im Text als auch im Bild manifestiert.
Topos
↓
Topos aus der
Gleichheit
↓
SR1
A1
⎯→
Situationsdarstellung
SR2
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
Ursache/
Wirkung
↓
↓
SR3
SR4
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
Grund/
Folge
Topos
⎯→
prognostizierte
Folgen
18
↓
SR5
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 156
Datum: 15. April 1951
Abb. 10
Antithetischer Parallelismus: Wortgruppen oder
(Teil-)Sätze, deren Elemente parallel geordnet,
aber semantisch gegensätzlich sind.
Der antithetische Parallelismus ist wie der einfache Parallelismus auf der Textoberflächenstruktur feststellbar und gehört nach Bonsiepe
(1966: 26) zu den syntaktischen Figuren. Nach
Ottmers (1996: 195) steht beim antithetischen
Parallelismus jedoch nicht die formal unterstützende, sondern die argumentative Funktion im
Vordergrund, weshalb er ihn zu den semantischen Figuren zählt.
In diesem Plakat wird eine Initiative antithetisch
mit dem Gegenvorschlag verglichen, wobei die
graphisch-syntaktische Gliederung nicht ganz
dem semantischen Parallelismus entspricht.
Die Gegensatzpaare lauten wie folgt:
Zwang – Freier Zahlungsverkehr
Schwundgeld – Gesunde Währung
Chaos – Ordnung im Geldwesen
Die (Anti-)Werte sind zudem in Form eines
Asyndetons gegliedert und werden jeweils global durch eine graphisch dominante Parole
zusammengefasst.
Grafik: Paul Beer (Orell Füssli AG, Zürich)
Titel: Bundesbeschluss über die Volksinitiative
'zur Sicherstellung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung (Freigeldinitiative)'
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 13-386
Resultat: abgelehnt
Die Pro- bzw. Contra-Argumente sowie die Parole sind gegensätzlich (antithetisch), die Argumentationsstruktur ist jedoch bei der Initiative und beim Gegenvorschlag gleich (parallel):
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
19
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 133
Datum: 1. Dez. 1940
Abb. 11
Chiasmus: Zwei Sätze oder Teilsätze sind einander entgegengesetzt.
Hier befindet sich der Chiasmus im Text:
"Wir wollen nicht die Verstaatlichung des Menschen, sondern die Vermenschlichung des
Staates."
Der Chiasmus gehört zu den Positionsfiguren,
da hier einzelne Satzelemente in der Position
verschoben werden. Nach Bonsiepe (1966: 26)
handelt es sich hierbei um eine syntaktische
Figur, die auf der Textoberflächenstruktur operiert. Wie die Repetitionsfigur in Abb. 2 kann
auch der Chiasmus bedeutungstragend sein. Im
konkreten Beispiel bedeutet die überkreuzte
Wortstellung, dass hier etwas verkehrt ist, nämlich dass die Vorlage im Widerspruch zu einer
anerkannten Norm steht. Die Form folgt also
dem Inhalt und verstärkt die Aussage, wie es
die Aufgabe einer Amplifikationsfigur ist.
Auch syntaktische Figuren operieren nicht nur
auf der Textoberfläche, sondern sind mit dem
Inhalt eng verbunden und können ebenfalls
bedeutungstragend werden.
Grafik: J. Morier (City Druck AG, Zürich)
Titel: Bundesgesetz über die Abänderung der
Art. 103 und 104 des Bundesgesetzes vom 12.
April 1907 betreffend die Militärorganisation
(Einführung des obligatorischen militärischen
Vorunterrichts)
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 40
Sammlungen: SNB o.Sign.
Resultat: abgelehnt
Die Folge der Vorlage wird im Gegensatz zur Norm gesehen, wie sie Pestalozzi (Topos aus
der Autorität) aufgestellt hat (vgl. Arnold 2007e: 37).
Norm/Wert
A1
Norm/Wert
Zielsetzung
Ursache/
Wirkung
Norm/Wert
≠ Zielsetzung
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
prognostizierte
Folgen
20
K4/A5
⎯→
Folgenbewertung
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 277
Datum: 04. Dez.1977
Abb. 12
Chiasmus: Satzglieder sind einander entgegenbzw. überkreuzgestellt (vgl. Ottmers 1996: 165).
Hier befindet sich der Chiasmus im Text:
"Alle für jeden! Aber auch jeder für alle!"
Es handelt sich um eine leichte Abwandlung der
geläufigen Sententia zu Solidarität und Gruppenzusammenhalt: "Alle für einer, einer für alle".
Im Bild ist zudem ein Parallelismus.
Parallelismus: Zwei Satzglieder oder mehr sind
parallel gebaut (vgl. Ottmers ebd.).
Die wiederholende Reihe von Igeln stellt metaphorisch die Armee dar. Das Ausscheren eines Soldaten (bzw. Igels) bedeutet demnach eine Lücke in
der Wehrhaftigkeit. Die Auslassung (Ellipse) steht
für die Sicherheitslücke und kann nur als Unterbrechung der Reihe sichtbar werden.
Die Argumentation lautet, dass jeder für den Einzelnen einzustehen hat, weil andernfalls die
Wehrhaftigkeit des ganzen Militärs leidet.
Der zivile Ersatzdienst ist daher abzulehnen.
Grafik: (Karl Schwegler AG, Zürich)
Titel: Bundesbeschluss über die Einführung eines
zivilen Ersatzdienstes
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 32-92, SfG 29243, SNB P
2992
Resultat: abgelehnt
Die Folgen der Einführung eines zivilen Ersatzdienstes werden negativ bewertet, da Lücken
in der Wehrhaftigkeit befürchtet werden. Dies wäre unvereinbar mit dem Grundsatz "Alle für
einen, einer für alle", weshalb die Abstimmungsvorlage zur Ablehnung empfohlen wird.
Topos
A1
≠ Alle für einen,
einer für alle
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
21
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 292
Datum: 03. Dez. 1978 Abb. 13
Typogramm: Der Referent von verbalen Zeichen wird
durch die typografische Gestalt dieser Zeichen selbst
illustriert (vgl. Bonsiepe 1966: 39).
"GEGEN KURZSICHTIGE LEHRLINGSPOLITIK" ist
typografisch in der Form eines Sehtests gestaltet.
Die Parole lautet:
"nein zum 'neuen' Berufsbildungsgesetz"
Die Anführungszeichen können als Ironiesignale gelesen werden, die das Neue an diesem Gesetz in
Zweifel ziehen.
Grafik: unbekannt
Titel: Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG)
Quellen: n.n.
Resultat: angenommen
Sammlungen: MfGZ 31-626
Das Plakat sagt nichts über die aktuelle Situation, ihre Bewertung und den Handlungsbedarf
aus. Es wird nur deutlich, dass die Lehrlingspolitik kurzsichtig ist und es ihr an Nachhaltigkeit
fehlt. Die Ablehnung der Vorlage erfolgt also implizit aufgrund der negativ bewerteten Folgen, ohne dass diese näher benannt werden.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
≠ Nachhaltigkeit
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
22
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
3.2 Substitutionsfiguren in Abstimmungsplakaten
Abstimmungsplakate wollen überzeugen und setzen dazu rhetorische Stilmittel ein wie die
Tropen (vgl. Ottmers 1996: 166ff.). Tropen sind Substitutionsfiguren, bei denen das Gesagte
(verbum improprium) mit dem damit Gemeinten (verbum proprium) nicht identisch ist, aber in
einer Ähnlichkeitsbeziehung steht. Auf Ähnlichkeit beruhen die Metapher, die Metonymie und
die Synekdoche. Möglich ist zudem eine Beziehung, die auf Unähnlichkeit beruht wie bei der
Ironie. Die (Un-)Ähnlichkeit lässt sich über eine Vergleichsebene (tertium comparationis) bestimmen, indem die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen dem Gesagten und dem
Gemeinten eruiert werden. Durch Merkmalsübertragung werden die negativen oder positiven
Konnotationen des Tropus auf das damit Gemeinte übertragen. Metaphern eignen sich daher für die pragmatische Argumentation, die auf der Bewertung von Folgen oder deren Ursachen beruht (vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca 2004: 376f.). Darüber hinaus ermöglicht die
Vergleichsebene der Tropen auch ihren Einsatz für Analogieschlüsse (vgl. Spillner 1982: 99).
Abstimmungs-Nr. 135
Datum: 25. Jan. 1942
Abb. 14
Metapher: Eine Metapher ist eine Substitutionsfigur, wobei das Gesagte mit dem Gemeinten in
einer Ähnlichkeitsbeziehung steht und beides aus
ontologisch unterschiedlichen Bereichen stammt.
Der Begriff "Krieg" wird in Bild und Text mit dem
Begriff "Brand" ersetzt. Auf der Vergleichsebene
lassen sich Gemeinsamkeiten eruieren wie "tödliche Gefahr", "blinde Zerstörung", "unkontrollierbare Bedrohung". Zwischen den Begriffen "Krieg"
und "Brand" gibt es somit zahlreiche gemeinsame
semantische Felder. Dabei kann angenommen
werden, dass der "Brand" als primäre Erfahrung
des Menschen die Metaphern für Krieg motiviert
hat. Auffällig ist das Kreuz in mitten der Schweiz,
das in alle vier Himmelsrichtungen weist. Einerseits kann dies als Verweis auf die kriegführenden Nachbarländer begriffen werden. Andererseits ist auch ein weiterer Bezug zu "Brand" und
"Kreuz" denkbar, da das Hakenkreuz des Faschismus – auch Sonnenrad genannt – "die Welt
in Brand gesetzt" hat. Schliesslich kann das verlängerte Kreuz als "Fadenkreuz" begriffen werden, das die Schweiz "ins Visier" nimmt.
Grafik: Noël Fontanet (Atar SA, Genève)
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 31; Stirnimann/Thalmann 2001: 139
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'für die Wahl
des Bundesrates durch das Volk und die Erhöhung der Mitgliederzahl'
Sammlungen: MfGZ 12-954; SfG 29143; SNB o.S. Resultat: abgelehnt
23
Abstimmungs-Nr. 86
Datum: 30. Jan. 1921
Abb. 15
Metapher: Die Metapher ist hier im Bild: Die Initianten der Volksinitiative werden als Sympathisanten
der "Bolschewiken" dargestellt, die als "rote Ratten"
an den Wurzeln einer "Eiche" nagen. Im aktuellen
Zusammenhang ist mit der Eiche wohl das Militär
als Grundfeste der Schweiz gemeint.
Indem die Metapher die Bolschewiken mit "roten
Ratten" gleichsetzt, werden durch Merkmalsübertragung auch die (unerwünschten) Eigenschaften
der Metapher auf das damit Bezeichnete übertragen
wie "Ungeziefer", "Schädling" und "Träger von
Krankheitserregern"; dazu gehören auch zugeschriebene negative Charaktereigenschaften und
Verhaltensweisen wie die "Verschlagenheit" oder
das mutwillige "Unterhöhlen".
Die Invasion der "roten Ratten" verweist auf die
negativen Folgen bei Annahme der Vorlage, weshalb sie gemäss dem pragmatischen Argument
abzulehnen sei (zur Ratte als politische Metapher
vgl. Rigotti 1994: 153ff.; zu den Metaphern des
Marxismus vgl. S. 200ff., zu den Metaphern des
Faschismus vgl. S. 204ff.; zur Metapherntheorie vgl.
Richards 1996; auch Black 1996).
Grafik: Hans Beat Wieland (Gebr. Fretz AG, ZH)
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'für die Aufhebung der Militärjustiz'
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 36
Sammlungen: MfGZ 36-110; SfG 7663; SNB o.S. Resultat: abgelehnt
Die Volksinitiative wird zur Ablehnung empfohlen vor dem Hintergrund eines Antikommunismus in der Schweiz, der in der Folge der russischen Oktoberrevolution 1917 eine "bolschewistische Bedrohung" heraufbeschwor. Dabei wird die Vorlage weniger abgelehnt wegen den
befürchteten negativen Folgen, denn aufgrund der politischen Kraft, die dahinter vermutet
wird. Initiativen von linker Seite werden mit Misstrauen bedacht und als unvereinbar mit
"Ordnung und Vaterland" gesehen. Befürchtet wird eine rote Unterwanderung des Landes,
wobei die linke Bewegung als eine Horde roter Ratten denunziert wird.
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Topos
Antikommunismus
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
24
K4/A5
⎯→
Folgenbewertung
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 132
Datum: 3. Dez. 1939
Abb. 16
Metapher: Ein abstrakter Begriff wird durch einen
konkreten Begriff ersetzt. Im aktuellen Fall wird
die Metapher zum besseren Verständnis mit einer
sprachlichen Botschaft "verankert" (vgl. Barthes
1990: 34f.), indem der Steinblock mit "1 Milliarde"
angeschrieben wird.
Eine Milliarde Franken wird als Steinblock visualisiert und knüpft damit an die körperliche Erfahrung einer physischen Last an (zu den Metaphern
und ihrer körperliche Grunderfahrung vgl. Lakoff/
Johnson 1998).
Die tragenden Figuren können als Schweizer oder
als Schweizer Volk interpretiert werden. Damit
stehen einige Repräsentanten für alle ihrer Art
(pars pro toto), was rhetorisch als Metonymie
(genauer: Synekdoche) bezeichnet wird.
Die Milliarde, die zur Sanierung der Beamtenpensionskasse aufgewendet werden soll, würde auf
das Volk "abgewälzt", das daran schwer zu tragen
hätte. Dieser Argumentation liegt implizit der Gerechtigkeitstopos zugrunde.
Die Parole ist zudem in Form einer Rogatio formuliert, und auf die Empfehlung folgt als Antwort
ein Ausrufezeichen (Exclamatio).
Grafik: Otto Baumberger (Gebr. Fretz AG, ZH)
Titel: Bundesgesetz über die Änderung des
Dienstverhältnisses und der Versicherung des
Bundespersonals
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 122
Sammlungen: MfGZ 50-210, SfG 35996; SNB o.S.
Resultat: abgelehnt
Die Parole ("FÜR DIE PENSIONEN DES BUNDESPERSONALS AM 3. DEZEMBER? /
NEIN!") wird als rhetorische Frage formuliert und sogleich beantwortet. Die Hervorhebung
"FÜR DIE PENSIONEN DES BUNDESPERSONALS" suggeriert zudem, dass der Nutzen
nur wenigen (Privilegierten) zugute kommt, aber alle (einfachen Leute) daran schwer zu tragen hätten. Die zugemutete Bürde wird damit implizit als ungerecht dargestellt und die Gesetzesvorlage zur Ablehnung empfohlen.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
≠ Topos aus
der Gleichheit
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
25
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 319
Datum: 20. Mai 1984
Abb. 17
Allegorie: Eine Allegorie liegt vor, wenn unterschiedliche Metaphern gemeinsam ein Bild fügen
(vgl. Ottmers 1996: 173f.).
Die Verbundenen Augen bedeuten "Unvoreingenommenheit", die Waage "Gerechtigkeit" und das
Schwert "Urteilsfähigkeit“ (bzw. Unterscheidungsfähigkeit). Alle Attribute gemeinsam bilden in der
Figur eines klassischen Standbildes die Allegorie
der "Justitia".
Die Fotografie ist zunächst ein Kunstzitat und zeigt
das Standbild auf dem "Gerechtigkeitsbrunnen" in
Bern. Gemeinsam mit dem Kotext hebt die Justitia
den Aspekt der Gerechtigkeit hervor, der bereits in
der Sententia enthalten ist: "Höchste Zeit für Steuergerechtigkeit". Die Allegorie hat hier also weniger eine argumentative als eine verstärkende
Funktion.
Sowohl der Text als auch das (Stand-)Bild verweisen jedoch auf den Topos aus der Gleichheit bzw.
Gerechtigkeit.
Grafik: unbekannt
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'gegen den
Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht'
Quellen: n.n.
Sammlungen: Sozarch_F_Pb-0002-54
Resultat: abgelehnt
Der Argumentation liegt der Topos aus der Gleichheit bzw. Gerechtigkeit zugrunde. Dieser
ist implizit im Text und im (Stand-)Bild präsent. Die Allegorie der Justitia hat illustrative und
primär verstärkende Funktion (Amplifikation). Die Wendung "Höchste Zeit" weist auf eine
Gegenwartskritik hin, weshalb hier weniger die Folgen als die aktuellen Missstände angesprochen sind, die einen Handlungsbedarf nahe legen.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos aus
der Gleichheit
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
26
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 149
Datum: 11. Dez. 1949
Abb. 18
Ironie: Bei der Ironie stehen das Gesagte und das
damit Gemeinte in einer Beziehung der Unähnlichkeit bzw. des Gegensatzes (vgl. Ottmers 1996:
177ff.). Charakteristisch sind die Ironiesignale, die
dem Adressaten zu verstehen geben, dass es sich
um Ironie handelt und das Gesagte nicht so gemeint ist. Dazu gehören u.a. Partikelhäufungen,
Übertreibungen sowie Tonlage, Mimik und Gestik.
Auch die Interpunktion kann als Ironiesignal eingesetzt werden.
Bei diesem Plakat besteht ein Gegensatz der
sprachlichen und der bildlichen Botschaft (vgl.
"visuell/verbale Negation" bei Bonsiepe 1966: 34).
Der Text verkündet "Die Aktion des 'guten Willens'...in Aktion...", wobei die Interpunktion darauf
hindeutet, dass sich das Gemeinte vom Gesagten
unterscheidet. Deutlich wird der Gegensatz aber
im Bild, welches "die Aktion des guten Willens" als
eine "Fesselung und Knebelung" "des Schweizers"
durch "den Beamten" zeigt. Dadurch erfährt der
Begriff "Aktion" in der Wiederholung eine abweichende Bedeutung, was rhetorisch als Diaphora
bezeichnet wird (vgl. Ottmers 1996: 162). Die Ironie gehört typischerweise zu jenen Fällen, wo die
Sprach- und die Bildbotschaft zueinander komplementär sind (vgl. auch Barthes 1990: 36).
Grafik: Hugo Laubi
Titel: Bundesgesetz betreffend Abänderung des
Bundesgesetzes vom 30. Juni 1927 über das
Dienstverhältnis der Bundesbeamten
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 123
Sammlungen: MfGZ 13-437; SfG 35878
Resultat: angenommen
Das Plakat zeigt im Gegensatz zu den euphemistischen Argumenten der Befürworter im Bild
die negativen Folgen einer Gesetzesvorlage. Die Folge des Beamtengesetzes wäre demnach eine Repression des (kleinen) Schweizers. Der dargestellte Zwang kann sich allerdings
auch auf die Art und Weise beziehen, wie die Vorlage dem Volk unterbreitet wird. Demnach
könnte sich der (kleine) Schweizer nicht frei entscheiden, sondern würde von der Obrigkeit
zu einem Entscheid genötigt. Der Topos, der diesem Argument zugrunde liegt, ist gemäss
Meylan, Maillard und Schenk (1979) ein "Antibeamten-Reflex" (S. 125).
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Topos
Antibeamtenreflex
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
27
K4/A5
⎯→
Folgenbewertung
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 97
Datum: 3. Jun. 1923
Abb. 19
Metonymie: Eine Metonymie ist ein Tropus, bei dem
das Gesagte und das eigentlich Gemeinte in einer
Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen und aus
dem gleichen ontologischen Bereich stammen.
Der Spezialfall der Synekdoche ersetzt das Ganze
durch einen Teil (pars pro toto) oder einen Teil
durch das Ganze (totum pro parte). Auf Abstimmungsplakaten wird oft ein Mensch für alle Menschen gesetzt. Auch Repräsentanten von Nationalitäten, Berufsständen oder sozialen Klassen kommen häufig pars pro toto vor. Eine Gruppe von
Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlecht
steht prototypisch für "die Familie" (vgl. Arnold
2007a: 24f.). Eco (1972: 273f.) redet in diesem
Zusammenhang von einer Antonomasie. Dies
scheint mir allerdings nicht korrekt zu sein, da bei
der Antonomasie ein Eigenname gegen eine Umschreibung ausgetauscht wird (vgl. Lausberg 1963:
56; auch Ottmers 1996: 176).
Hier wird eine "Schweizer Familie" prototypisch für
"unser Volk" dargestellt. Was aus dem Untergrund
hervordrängt, ist eine Personifikation für "Alkoholismus", der das Familienleben bedroht.
Grafik: Emile Cardinaux (Wolfensberger AG, ZH) Titel: Bundesbeschluss betreffend die Revision der
Art. 31 und 32bis (Alkoholwesen) der BundesverQuellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 151 (fr)
fassung
Sammlungen: MfGZ 13-323; SfG 3401
Resultat: abgelehnt
Auf dem Plakat sehen wir die "Schweizer Familie", die prototypisch für "unser Volk" steht.
Diese Familie ist durch die "Schnapsgefahr" bedroht, die als Personifikation – einer Unterform der Metapher – visualisiert wird (vgl. auch Lakoff/Johnson 1998: 44f.). Auf dem französischen Original lautet die sprachliche Botschaft: "LE DANGER DU SCHNAPS RENAÎT!),
was das Aufbrechen der Figur aus dem Untergrund erklärt. Die "Wiederauferstehung" rekurriert auf den Absinth, der 1908 verboten wurde (Nr. 68). Im Wesentlichen zeigt das Plakat mit
der "SCHNAPSGEFAHR" den Handlungsbedarf für eine Revision des Alkoholgesetzes auf.
Topos
A1
Volkswohl und
Altersversicherung
Ursache/
Wirkung
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
28
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 128
Datum: 27. Nov. 1938
Abb. 20
Metonymie: Bei der Metonymie stehen das Gesagte
und das eigentlich Gemeinte in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander und stammen aus dem gleichen ontologischen Bereich. So kann ein Erzeuger
für das Produkt stehen ("Goethe lesen"), ein Objekt
für den Benutzer ("die Bahn streikt"), eine Institution
für die Entscheidungsträger ("der Bund hat beschlossen"), ein Ort für eine Institution ("das Weisse
Haus") oder für ein Ereignis ("Waterloo") (vgl. Ottmers 1996: 174ff.; Lakoff/Johnson 1998: 47ff.).
Auf dem Plakat steht das Bundeshaus metonymisch
für "das Parlament". Die überdimensionierte Figur
mit Mütze steht prototypisch für "den Schweizer",
womit pars pro toto alle Schweizer gemeint sind.
Das Öffnen der Bundeskuppel und der Einblick des
Schweizers visualisiert die sprachliche Botschaft,
wonach die Vorlage "KONTROLLE UND MITSPRACHE DES VOLKES" gewährleisten soll. Das Bild
kann als Visualisierung von "Öffentlichkeit" bzw.
"Transparenz" gelesen werden, die als abstrakte
Grösse in der visuellen Übersetzung eine Konkretisierung erfährt. Da Transparenz positiv konnotiert
ist, speist sich die Argumentation aus dem pragmatischen Argument, wonach die erwarteten Folgen bei
Annahme der Vorlage positiv zu bewerten sind.
Grafik: Noël Fontanet (ATAR SA, Genève)
Titel: Bundesbeschluss betreffend die Übergangsordnung des Finanzhaushaltes
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 61
Sammlungen: MfGZ 13-428; SNB o.S.
Resultat: angenommen
Die Finanzvorlage verspricht vermehrte Kontrolle und Mitsprache des Volkes (Argument),
was vor dem Hintergrund des schweizerischen Demokratieverständnisses (SR) positiv bewertet wird. Entsprechend wird die Vorlage zur Annahme empfohlen (Konklusion).
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Transparenz und
Mitbestimmung
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
29
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 214
Datum: 2. Juli 1967
Abb. 21
Antonomasie: Ein Eigenname wird umschrieben
durch eine typisierende Beifügung (Epitheton)
oder durch eine Umschreibung (Periphrase) (vgl.
Ottmers 1996: 176).
Die "Sozialistische Boden-Initiative" ist eine Umformulierung des Vorlagentitels. Bemerkenswert
ist die Beifügung "sozialistisch". Diese Beifügung
wird im sozialistischen Lager positiv konnotiert und
im gegnerischen Lager negativ. Indem das Plakat
mit "Sozialistische Boden-Initiative" auf den politischen Gegner verweist, wird die Vorlage also im
eigenen politischen Lager negativ bewertet (vgl.
die Bedeutungskonkurrenz bei Klein 1989: 24;
Arnold 2007f: 11f.). Dies geht auch aus der Ellipse
"Verstaatlichung des Bodens der falsche Weg"
hervor. "Verstaatlichung" ist zudem ein Stigmawort
und entstammt dem Vokabular des Klassenkampfs (vgl. Arnold 2007f: 18f., 22ff.).
Die Farbe Rot dient einerseits der Hervorhebung
der wichtigsten Aussagen (Emphase), andererseits ist sie auch die Symbolfarbe des sozialdemokratischen Lagers und dient der Bezeichnung
einer gegnerischen politischen Vorlage, die eo
ipso abzulehnen ist.
Grafik: Conzett + Huber, Zürich
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'gegen die
Bodenspekulation'
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 147
Sammlungen: MfGZ 12-916; SfG 7690; SLB o.S.
Resultat: abgelehnt
Die Vorlage wird durch die mehrfache Bezeichnung des gegnerischen politischen Lagers
stigmatisiert: durch das Stigmawort "Verstaatlichung", durch die negativ konnotierte Beifügung "sozialistisch" und durch die Hervorhebung mit der gegnerischen Symbolfarbe. Die
überdimensionierte Hand im Bild scheint eine Remetapher für die "öffentliche Hand" zu sein,
die im Begriff ist, den Boden an sich zu reissen (zur Remetapher vgl. Bonsiepe 1966: 37).
Die Argumentation wird hier weniger entfaltet, als durch die negative Bewertung der gegnerischen Ideologie gesteuert. Eine Begründung, weshalb die Initiative "der falsche Weg" ist,
wird nicht gegeben.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Antisozialismus
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
30
K4/A5
⎯→
Folgenbewertung
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 102
Datum: 5. Dez. 1926
Abb. 22
Appellativum: Ein Eigenname wird durch den Eigennamen einer historischen oder mythologischen
Person ersetzt, die ähnliche Eigenschaften mit der
damit bezeichneten Person besitzt (vgl. Ottmers
1996: 176).
Hier wird eine gesetzliche Regelung zur Sicherung
der Getreideversorgung als Staatseingriff negativ
konnotiert durch das Appellativum "Brotvogt" und
durch das Schimpfwort "Brotmonopol".
Dem Kompositum "Brotvogt" liegt der Mythos des
Wilhelm Tell zugrunde, genauer: sein Widersacher. Der Vogt wird als dominante Figur mit Gesslerhut dargestellt. Dieser verwaltet das Brot, das
für die "kleinen" Bürger "unerschwinglich" scheint.
Der Höhenunterschied, der hier physisch dargestellt ist, dient als Metapher für die hohen Preise
(zu den Metaphern und ihren physischen Erfahrungen vgl. Lakoff/Johnson 1998).
Der "Brotvogt" bezeichnet keine reale Person,
sondern steht metonymisch für die Obrigkeit, die in
der Schweiz wenig Vertrauen geniesst und traditionell im Mythos des Willhelm Tell Ausdruck findet.
Eine staatliche Regelung scheint hier per se den
schweizerischen Grundwerten zu widersprechen.
Grafik: Emile Cardinaux
Titel: Bundesbeschluss über die Aufnahme eines
neuen Artikels 23bis in die Bundesverfassung
betreffend die Getreideversorgung des Landes
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 85
Sammlungen: MfGZ 21-939
Resultat: abgelehnt
Eine staatliche Regelung zur Sicherung der Brotversorgung wird im Widerspruch zu den
schweizerischen Werten dargestellt, indem die Obrigkeit metonymisch als "Brotvogt" stigmatisiert wird. Darüber hinaus wird mit den Höhenunterschieden angedeutet, dass mit der Vorlage die Brotpreise ins Unerschwingliche steigen würden, weshalb sie zur Ablehnung empfohlen wird. Während sich der Text auf die negative Bewertung konzentriert, wird die Argumentation durch das Bild geführt (Topos aus Ursache und Wirkung). Darüber hinaus wird
das Appellativum durch das Bild illustriert und verstärkt.
Topos
A1
≠ Mythos
Willhelm Tell
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
31
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 264
Datum: 5. Dez. 1976
Abb. 23
Hyperbel: Eine Hyperbel ist eine bewusste
Übertreibung in Anzahl, Grösse, Gewicht oder
Intensität (vgl. Ottmers 1996: 180).
Die Figur stellt zugleich eine Uhr und einen
Arbeiter dar, der sechs Arme hat und mit
Massstab, Meissel Hammer und Schraubenschlüssel geschäftig ist. Diese Figur kann als
visuelle Hyperbel begriffen werden und zwar
sowohl in der Anzahl Arme als auch in der
Intensität des Arbeitstempos, das durch die
Arme symbolisiert wird.
Das Bild illustriert und verstärkt den Text und
wird gleichzeitig durch ihn erläutert: "IMMER
VERÜCKTERES ARBEITSTHEMPO" (zur
Verankerung der Bildbotschaft durch den Text
vgl. Barthes 1964: 44f.).
Grafik: Cedips, Lausanne
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'für die
Einführung der 40-Stunden-Woche'
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 31-670
Resultat: abgelehnt
Im Text und Bild wird die Beschleunigung der Produktionsprozesse und das damit erhöhte
Arbeitstempo als Missstand zur Darstellung gebracht und ein Handlungsbedarf aufgezeigt.
Die Vorlage für eine 40-Stunden-Woche soll die Arbeitsbedingungen normalisieren, weshalb
sie zur Annahme empfohlen wird. Die Hyperbel dient der Illustration und Verstärkung.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
32
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 379
Datum: 17. Mai 1992
Abb. 24
Archaismus: Ein Archaismus ist ein veralteter
Ausdruck und eigentlich ein rhetorischer Fehler
(vgl. Ottmers 1996: 182). In der Argumentation
kann er jedoch gezielt zur Persuasion eingesetzt
werden.
Im vorliegenden Beispiel liegt nicht direkt ein veralteter Ausdruck vor, sondern ein Bezug auf die
"Eiszeit". Die Zeichnung ist ein (Bild-)Zitat auf die
vorgeschichtliche Höhlenmalerei und ihre Praxis
der Jagd und Kriegsführung. Im Kontext der Armeereform und der Einführung eines Zivildienstes
wird damit bedeutet, dass die herrschenden Zustände veraltet sind und eine Erneuerung aufdrängen: "ENDE DER EISZEIT" lautet der Leitspruch
(Sententia), "JA ZUM ZIVILDIENST" die Parole.
Indem der Entwicklungsstand der Armee durch
eine Höhlenmalerei symbolisiert wird, kann man
hier von einem visuellen Archaismus reden.
Grafik: unbekannt
Titel: Bundesbeschluss über die Einführung eines
Zivildienstes für Dienstverweigerer
Quellen: n.n.
Sammlungen: Sozarch_F_Pc-0127
Resultat: angenommen
Der Handlungsvorsatz, einen Zivildienst für Dienstverweigerer einzuführen, wird begründet
mit einer dringend anstehenden Erneuerungsreform der Armee. Der Topos der Veraltung
wird durch den visuellen Archaismus getragen, dem somit argumentative Funktion zukommt.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Reform
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
33
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 143
Datum: 6. Juli 1947
Abb. 25
Rogatio: Die rhetorische Frage erwartet keine
Antwort, sondern impliziert sie, oder der Redner
antwortet selbst (vgl. Ottmers 1996: 184).
Im vorliegenden Beispiel wird die rhetorische Frage in Form eines Asyndetons mit der Parole beantwortet.
Asyndeton: Das Asyndeton ist eine Aufzählung,
wobei die einzelnen Elemente ohne Konjunktionen
aufeinander folgen (vgl. Ottmers 1996: 191).
Eine Aufzählung (Enumeratio) liegt vor, wenn Einzelelemente, die in einem Zusammenhang stehen,
aneinandergereiht werden (vgl. Ottmers 1996:
189f.).
Der Gegensatz zwischen den Schimpfwörtern
(Aischrologie) und der Parole kann als Antithese
begriffen werden. Eine Antithese liegt vor, wenn
Wörter, Wortgruppen, (Teil-)Sätze oder ganze
Textabschnitte einander semantisch konträr gegenüber gestellt sind (vgl. Ottmers 1996: 194). Die
Antithese liegt hier zwischen den Begriffen
"Zwang", "Bureaukratie", "Diktatur" im Gegensatz
zum "freien Schweizer".
Grafik: unbekannt
Titel: Bundesbeschluss über eine Revision der
Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 13-593
Resultat: angenommen
Das Argument ("Wirtschaftsartikel verteuern die Lebenshaltung") wird verstärkt durch eine
Aufzählung (Enumeratio) weiterer negativer Folgen wie die "Zwangswirtschaft", "Bürokratie"
und "Verbandsdiktatur". Diese Schimpfwörter (Aischrologie) sind ohne Konjunktion aufgelistet (Asyndeton) und bilden eine rhetorische Frage (Rogatio), die mit einem grossen Fragezeichen zusammengefasst wird. Die Parole ("Der freie Schweizer stimmt Nein") fällt Im Kontrast dazu aus (Antithese). Während die Antithese argumentative Funktion hat, dienen die
übrigen Figuren der Verstärkung (Amplifikation).
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
≠ Freiheit
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
34
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 213
Datum: 16. Okt. 1966
Abb. 26
Correctio: Eine Correctio liegt vor, wenn eine
Selbstkorrektur vorgenommen wird, jedoch
nur um zurück zur eigenen Argumentation zu
lenken und diese zu stärken. Die Correctio
dient somit der punktuellen Steigerung des
Ausdrucks (vgl. Ottmers 1996: 184).
Im vorliegenden Beispiel wird eine Correctio
graphisch vorgenommen, indem ein Wort
("soll") gestrichen und durch ein anderes Wort
("wird") ersetzt wird. Aus der Aussage:
"wer gerne etwas trinkt soll gerne etwas zahlen" wird die Aussage "wer gerne etwas trinkt
wird gerne etwas zahlen". Der Ausgang der
Abstimmung wird vorweggenommen und der
Imperativ durch Eigenmotivation ersetzt. Damit wird an das Ethos der Konsumenten appelliert, mit einer kleinen Steuer zur Bekämpfung des Alkoholismus beizutragen.
Die abgebildete Zehnermünze setzt in der JaParole "das Pünktchen aufs i" und kann als
eine Verkleinerungsform (Minutio) gelten. Die
erhobene Steuer wird damit untertrieben, um
sie annehmbarer zu machen.
Die Wiederholung (Repetitio) von "gerne" soll
die Akzeptanz zusätzlich verstärken.
Grafik: Atelier Justesen (Foto Rotar, Zürich)
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'zur Bekämpfung des Alkoholismus'
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 155
Sammlungen: MfGZ 12-994
Resultat: abgelehnt
Die Stilfiguren der Correctio, Minutio und Repetitio dienen der Verstärkung der Argumentation. Diese wird weniger über die Sache, als über das persönliche Ethos der Stimmbürger
und Konsumenten geführt, die aufgerufen werden, zur Bekämpfung des Alkoholismus eine
Preiserhöhung auf Alkohol in Kauf zu nehmen.
Topos
A1
Bekämpfung des
Alkoholismus
Ursache/
Wirkung
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
35
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 150
Datum: 11. Dez. 1949
Abb. 27
Concessio: Die Concessio ist ein partielles Zugeständnis, das anschliessend ganz oder teilweise
widerrufen oder durch noch triftigere Argumente
überboten wird.
Im vorliegenden Beispiel kann der erste Satz als
Zugeständnis und der zweite Satz als Gegenargument interpretiert werden. Beide Sätze zusammen bilden die Stilfigur der Correctio.
"Den Bundesbeamten gehört der volle Teuerungsausgleich" (Zugeständnis)
"aber darüber hinaus wollen sie 40 Millionen jährlich mehr, die Du, Steuerschaf, zu bezahlen hast."
(Gegenargument)
Das "Steuerschaf" ist zudem eine Aischrologie, ein
Schimpfwort das absichtlich brüskieren will, um
eine (Gegen-)Reaktion zu provozieren. Wer also
kein (dummes, folgsames) Schaf sein will, hat die
Vorlage abzulehnen.
Die Parole "BEAMTENGESETZ NEIN" ist wie
üblich als Ellipse formuliert.
Grafik: Jean Frey AG, Zürich
Titel: Bundesgesetz betreffend Abänderung des
Bundesgesetzes vom 30. Juni 1927 über das
Dienstverhältnis der Bundesbeamten
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 24-607
Resultat: angenommen
Die Argumentation wird im Wesentlichen durch das Gegenargument in der Correctio getragen, während die Stilfiguren eine verstärkende Funktion haben (Amplifikation). Implizit kann
der Topos aus der Gleichheit bzw. Gerechtigkeit darin erkannt werden. Demnach steht den
Beamten wie allen anderen der volle Teuerungsausgleich zu, aber nicht mehr. Die Annahme
der Vorlage würde aber bedeuten, dass die anderen für die Beamten zu zahlen hätten, weshalb sie zur Ablehnung empfohlen wird.
Topos
A1
Topos aus der
Gleichheit
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
36
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 268
Datum: 12. Juni 1977
Abb. 28
Definitio: Die rhetorische Definition erläutert Begriffe, die für die Argumentation zentral sind (vgl.
Ottmers 1996: 186).
Im vorliegenden Fall könnte es sich auch um eine
Descriptio oder eine Distributio handeln.
Die Descriptio ist eine Beschreibung eines Gegenstandes oder Sachverhalts durch Aufzählung
von Details (vgl. Ottmers 1996: 190).
Eine Distributio ist ein Überbegriff, der durch seine
Unterbegriffe erläutert wird.
Hier wird das Kompositum "Mehrwertsteuer" nach
seinen Einzelwörtern ausgelegt und interpretiert.
Demnach bedeutet die "Mehrwertsteuer" "Mehr
Steuern" und "Mehr Preise". Mit der Neuordnung
der Umsatzsteuer müsste man "3500 Millionen /
Mehr zahlen", was von der Partei der Arbeit abgelehnt wird.
Interessant ist die Auslassung (Ellipse) der Komponente "wert" in der Auslegung des Begriffs
"Mehrwertsteuer". Damit soll der Begriff wohl als
Euphemismus entlarvt werden.
Ein Euphemismus ist eine Beschönigung eines
(gesellschaftlich tabuisierten) Sachverhalts (vgl.
Ottmers 1996: 182).
Grafik: CS-Siebdruck AG, Uster
Titel: Bundesbeschluss über die Neuordnung der
Umsatzsteuer und der direkten Bundessteuer
Quellen: n.n.
Resultat: abgelehnt
Sammlungen: MfGZ 26-72
Die Auslegung des Begriffs "Mehrwertsteuer" soll veranschaulichen, was damit wirklich gemeint ist. In der Auslegung enthalten ist der Topos der Kausalität, wonach die Mehrwertsteuer mehr Steuern bedeutet. Die Definitio (bzw. Descriptio, Distributio) hat somit eine argumentative Funktion, während die übrigen Stilfiguren der Verstärkung dienen.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
37
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 163
Datum: 5. Okt. 1952
Abb. 29
Allusio: Eine Anspielung besagt mehr, als sie explizit zu erkennen gibt. Sie kann beispielsweise auf
einen anderen Text anspielen, so dass in der Verfremdung das Original erkennbar bleibt (vgl. Ottmers 1996: 192).
Im vorliegenden Beispiel handelt es sich um eine
Anspielung an das Volksmärchen "Münchhausen",
der auf einer Kanonenkugel geritten ist.
Gleichzeitig handelt es sich um eine Ironie oder
Illusio, eine ironisch-scherzhafte Verspottung (vgl.
Ottmers 1996: 197).
Der Gesetzesentwurf zur Besteuerung des Tabaks
zur Mitfinanzierung der AHV wird als lächerlich
zurückgewiesen. Das impliziert auch, dass sich
lächerlich macht, wer diese Vorlage annimmt.
Damit wird das Ethos der Befürworter und der
politischen Gegner untergraben, denen es anscheinend an Einsicht mangelt.
Grafik: Rolf Gfeller (J.C. Müller AG, Zürich)
Titel: Bundesgesetz betreffend die Abänderung
von Bestimmungen über die fiskalische Belastung
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 108
des Tabaks im Bundesgesetz über die Alters- und
Sammlungen: MfGZ 13-250; SfG 35883; SNBo.S. Hinterlassenenversicherung
Resultat: angenommen
Die Argumentation wird hier weniger über die Folgenabschätzung als über die mangelnde
Einsicht geführt, die den Befürwortern unterstellt wird. Die Vorlage wird als lächerlich (Illusio)
zurückgewiesen, wobei der Stilfigur im Bild argumentative Funktion zukommt.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
Grund/
Folge
≠ Einsicht
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
38
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
3.3 Argumentationsfiguren in Abstimmungsplakaten
Abstimmungs-Nr. 93
Datum: 3. Dez. 1922
Abb. 30
Gradatio (oder Klimax): Das zuerst Genannte wird
durch das jeweils Folgende überboten. Diese Figur
gilt aufgrund der repetitio als Wiederholungsfigur,
trägt aber stark argumentative Züge, weshalb sie
auch als Argumentationsfigur gelten kann (vgl. Ottmers 1996: 160, 194)
Die Gradatio lässt sich sowohl im Text als auch im
Bild erkennen. Mit den Jahren sinkt der Mindestansatz für die Vermögensabgabe. Diese wird metaphorisch als Spinne dargestellt, die zuerst über den vermögenden Bürger, dann über den einfachen Bürger
und schliesslich über den Arbeiter herfällt.
Diese Steigerung in der Jahreszahl und der Grösse
der Spinne (Gradatio oder Klimax) beinhaltet auch
eine Verkleinerung (Antiklimax) im Status des Bürgers
und der Vermögensgrenze, die schrittweise nach
unten angepasst wird.
Da es sich um eine einmalige Steuerabgabe handelt,
könnte die Argumentation wie folgt lauten: Wenn jetzt
schon die reichen Leute zur Kasse gebeten werden,
so werden in ein paar Jahren auch die einfachen Bürger und Arbeiter eine Vermögensabgabe leisten müssen. Diese Argumentation wird begründet mit einem
französischen Sprichwort (Sententia).
Grafik: Jules Courvoisier (Atar SA, Genève)
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'für die Einmalige
Vermögensabgabe'
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 57
Sammlungen: MfGZ 17-640
Resultat: abgelehnt
Der französische Gemeinplatz "l'appétit vient en mangeant" (der Appetit kommt beim Essen)
besagt im vorliegenden Kontext, dass eine Erhebung von Steuern auf grossen Vermögen
noch mehr Steuererhebungen anregen würde, die in der Folge auch vor den mittleren und
kleineren Vermögen nicht halt machen.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
l’appétit vient en
mangeant
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
39
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 118
Datum: 11. März 1934 Abb. 31
Antithese: Gegensätzliche Wörter, Wortgruppen
oder (Teil-)Sätze oder ganze Textpassagen werden einander entgegengesetzt.
Auf Abstimmungsplakaten wird die Antithese oft
in einem geteilten Bildraum dargestellt. Diese
antithetische Gegenüberstellung beinhaltet meistens eine Bewertung ("schlecht/gut"); sie kann
aber auch als zeitliche und/oder kausale Gegenüberstellung ("vorher/nachher") interpretiert werden, indem ein negativer Ist-Zustand mit einem
positiven Soll-Zustand kontrastiert wird.
Der antithetische Bildaufbau wird hier durch eine
Diagonale geleistet, die oben links eine chaotisch demonstrierende Menschenmenge zeigt
und unten rechts eine geordnete Volksversammlung. Die Antithese als zeitliche Abfolge zeigt
also einen Fortschritt bei Annahme der Vorlage.
Die Antithese befindet sich auch im Text:
"GEGEN STRASSENGEWALT"
"FÜR DEMOKRATISCHE ORDNUNG"
Letztlich liegt ein pragmatisches Argument
zugrunde, wonach sich die chaotischen Verhältnisse bei Annahme der Vorlage zum Besseren
wenden würden.
Grafik: Emil Cardinaux (Wolfsberg, Zürich)
Titel: Bundesgesetz über den Schutz der öffentlichen Ordnung ("Lex Häberlin II")
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 48 (fr);
Stirnimann/Thalmann 2001: 131
Resultat: abgelehnt
Sammlungen: MfGZ 35-47; SfG 7297
Situationsdarstellung und -bewertung kommen sowohl bei der Ausgangslage als auch bei
der prognostizierten Zukunft im Bild zum Ausdruck. Dabei werden der Ist-Zustand und der
zukünftige Soll-Zustand in einem antithetischen Bildaufbau einander entgegengesetzt. Die
antithetischen Topoi, die zur negativen Ist-Bewertung und zur positiven Soll-Bewertung hinzugezogen werden, sind demgegenüber im Text formuliert: "GEGEN STRASSENGEWALT"
einerseits und "FÜR DEMOKRATISCHE ORDNUNG" andererseits.
Topos
A1
gegen
Strassengewalt
Ursache/
Wirkung
für demokratische Ordnung
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
40
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 319
Datum: 20. Mail 1984
Abb. 32
Eine Antithese kann Bild und Text übergreifend
sein. Mit Bonsiepe (1966) würde man hier von
einer visuell/verbalen Antithese sprechen.
Aus dem undurchsichtigen Nebel im Bild steigen
die Worte "Für saubere Banken. Klar."
Ist der Schriftzug unten noch von Dunst durchzogen, klären sich die Konturen oben sichtlich. Die
Begriffe "sauber" und "klar" werden also mit der
"Undurchsichtigkeit" des Nebels im Bild antithetisch kontrastiert.
Die Antithese kann entweder zeitlich-kausal ("vorher/nachher") oder bewertend ("schlecht/gut")
interpretiert werden. Der impliziten Argumentation
zufolge würde die Banken-Initiative Klarheit in die
herrschende Intransparenz bringen.
Grafik: Bernhard Schlup (Graph. Betriebe Coop)
Titel: Eidgenössische Volksinitiative 'gegen den
Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht'
Quellen: Rotzler/Schärer/Wobmann 1990: 129
Sammlungen: MfGZ 43-766
Resultat: abgelehnt
Die Banken-Initiative bringt Klarheit in die undurchsichtigen Verhältnisse und wird daher zur
Annahme empfohlen. Die Argumentation wird von der visuell/verbalen Antithese getragen.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Transparenz
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
41
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 151
Datum: 04. Juni 1950
Abb. 33
Oxymoron: Verbindung zweier antithetischer Begriffe
(vgl. Ottmers 1996: 194).
Im folgenden Beispiel befindet sich das Oxymoron
im Bild, das die "sozialen Stände" des vermögenden
Bürgertums und der Arbeiter metonymisch als Beine
darstellt. Nach Bonsiepe (1966: 37f.) handelt es sich
um eine "Remetapher": Der "soziale Stand" wird auf
seine wörtliche Bedeutung zurückgeführt. Die Bekleidung gibt zusätzlich Aufschluss: Nadelstreifenanzug, Lackschuhe und Frack für den Bürger, Arbeiterhose und -schuhe für den Arbeiter. Der Gegensatz
dieser sozialen Stände kann als Antithese begriffen
werden. Durch die Verschmelzung dieser Gegensätze in ein und derselben Figur handelt es sich um die
Spezialform des Oxymorons.
Die Figur selbst kann metonymisch für die Finanzreform des Volkes gelten. Und wie der Text besagt,
steht die Finanzreform nur auf einem Bein, auf dem
Arbeiterstand. Der Bürgerstand lässt sich mittragen,
wie das angewinkelte Bein zeigt. Der Argumentation
liegt somit der Topos des Vergleichs zugrunde (auch
Gerechtigkeitstopos genannt): Die Finanzreform
steht nur auf einem Bein (Argument als rhetorische
Frage), und eine Finanzreform, die nur auf einem
Bein steht, ist ungerecht (Schlussregel), weshalb sie
abzulehnen ist (Konklusion).
Grafik: René Gilsi (Wolfensberger AG, Zürich)
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 62
Titel: Bundesbeschluss über die verfassungsmässige Neuordnung des Finanzhaushaltes des Bundes
Sammlungen: MfGZ 13-561; SfG 9395; SNBo.S. Resultat: abgelehnt
Das Oxymoron zeigt in der Figur die Gegensätze des Arbeiter- und des Bürgerstandes, die
als Vergleichsgrösse für den Gleichheits- bzw. Gerechtigkeitstopos herangezogen werden.
Die Antithese der Figur ist also argumentativ mit dem Gleichheitstopos verbunden und zeigt
die Unvereinbarkeit der Gegensätze mit dem Anspruch auf Gleichheit.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
Topos
≠ Topos aus
der Gleichheit
Grund/
Folge
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
⎯→
Handlungsvorsatz
K3/A4
⎯→
K4/A5
⎯→
prognostizierte Folgenbewertung
Folgen
42
K5
Handlungsaufforderung
Abstimmungs-Nr. 257
Datum: 13. Juni 1976
Abb. 34
Paradoxon: Das Paradoxon verbindet gegensätzliche Wörter oder Wortgruppen, die vordergründig einen Widerspruch bilden, aber auf einer
höheren Ebene einen Sinn ergeben (vgl. Ottmers 1996: 195).
Im vorliegenden Beispiel sitzt ein Elefant in einem Schneckenhaus. Diese Verbindung ist aufgrund der Grössenverhältnisse unmöglich. Diese
fehlende Verhältnismässigkeit im Bild wird vom
Text aufgenommen. Demnach soll das Raumplanungsgesetz "Zweckentfremdung und Abbruch von Wohnraum" verhindern, da dies zu
Knappheit an Wohnraum führt. Das Paradoxon
im Bild erhält somit eine weitere Bedeutungsdimension, da der Wohnraum für viele Leute so
eng wird wie für einen Elefanten ein Schneckenhaus. In dieser zweiten Lesart wird das Paradoxon zu einem Vergleich (Similitudo). Ein Vergleich illustriert einen Begriff oder Gedanken
innerhalb einer Argumentationsführung durch
einen anderen, ähnlichen Begriff oder Gedanken
(vgl. Ottmers 1996: 191f.).
Grafik: Edwin Vogt Partner, Waldenburg
Titel: Bundesgesetz über die Raumplanung
Quellen: n.n.
Resultat: abgelehnt
Sammlungen: MfGZ 29-817
Das Raumplanungsgesetz wird zur Annahme empfohlen, weil es die Zweckentfremdung und
den Abbruch von Wohnraum verhindert und damit der Knappheit an Wohnraum entgegenwirkt. Das Paradoxon im Bild findet im Text ("Zweckentfremdung…") eine vergleichbare Entsprechung (Similitudo) und illustriert den Handlungsbedarf.
Topos
A1
Ursache/
Wirkung
mehr
Wohnraum
Grund/
Folge
Topos
↓
↓
↓
↓
↓
SR1
SR2
SR3
SR4
SR5
⎯→
Situationsdarstellung
K1/A2
⎯→
Situationsbewertung
K2/A3
K3/A4
⎯→
Handlungsvorsatz
⎯→
prognostizierte
Folgen
43
K4/A5
Folgenbewertung
⎯→
K5
Handlungsaufforderung
nicht eidg. (Basel)
Datum: 15. Mai 1927
Abb. 35
Illusio: Die Illusio ist eine ironische Verspottung,
die aus einer Position der Überlegenheit oder
Überheblichkeit geführt wird (vgl. Ottmers 1996:
197). Die Illusio gehört zu den personalen Figuren,
die sich nicht auf die Sache, sondern auf den Opponenten beziehen. Da sie eine Verletzung der
Person bedeuten, stehen die personalen Figuren
dem Ethos des Redners entgegen, der sich nach
aristotelischem Verständnis durch Einsicht, Tugend und Wohlwollen auszeichnen sollte.
Opfer im vorliegenden Beispiel ist der "Frauenstimmrechtsgegner", der als "Spiessbürger" verspottet wird. Er wird unvorteilhaft dargestellt und
mit einer Aussage charakterisiert, die schon typographisch von seiner Rückständigkeit zeugt. Was
die veraltete Schrift betrifft könnte man hier auch
von einem Archaismus reden (vgl. Ottmers 1996:
182). Durch die Verspottung wird der Opponent
nicht nur der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern
auch ethisch in Zweifel gezogen, da es ihm an
Einsicht, Tugend und/oder Wohlwollen mangelt.
Wer sich also nicht ebenfalls der Verspottung
preisgeben will, sollte die Vorlage annehmen, so
die Argumentation.
Grafik: Wilhelm Wenk (Wassermann AG, BS)
Titel: Kantonale Abstimmung zur Einführung des
Frauenstimmrechts
Quellen: Stirnimann/Thalmann 2001: 79
Sammlungen: MfGZ 39-693
Resultat: abgelehnt
Wie es den personalen Figuren entspricht, argumentieren sie nicht über die Sache, sondern
über die Person. Die Struktur folgt daher auch nicht der pragmatischen Argumentation, sondern der Struktur der Personalisierung (vgl. Arnold 2007e: 45).
Grund/
Folge
Norm/Wert
Ethos
A1
↓
↓
SR1
SR2
⎯→
Personendarstellung
K1/A2
⎯→
Personenbewertung
44
K2
Handlungsaufforderung
4 Zusammenfassung
Die Analyse der Fallbeispiele zeigt, dass die Stilfiguren eng mit der Argumentation verbunden sind. Sie sind nicht bloss schmückendes Beiwerk, sondern die Worte folgen der Sache.
Selbst die syntaktischen Wort- und Satzfiguren (Bonsiepe 1966: 26), die vermeintlich nur auf
der Textoberflächenstruktur operieren, können bedeutungstragend sein. So steht die Repetitio für "Vermehrung" (Abb. 2), die Diakope (Abb. 3) und der Parallelismus (Abb. 9) für
"Gleichheit" und der Chiasmus für eine "verkehrte Welt" (Abb. 11). Auch graphische Merkmale des Bildes wie Linien, Formen und Farben (vgl. Barthes 1990: 37) können in der
Gebrauchsgraphik eine symbolische Funktion annehmen. Helle Farbe kann für Licht und
Dunkle Farbe für Dunkelheit stehen (Abb. 5); die Farbe Rot kann Blut (Abb. 7), die Nationalfarbe der Schweiz (Abb. 9, 12, 22) oder die Symbolfarbe der Linken (Abb. 15, 21) bedeuten.
Ein geteilter Bildraum kann einen Gegensatz bilden und einen zeitlich-kausalen oder bewertenden Bezug herstellen (Abb. 5, 7, 31); und Linien überkreuzt können eine Negation zum
Ausdruck bringen (Abb. 6, 26). Bedeutungstragend ist aber nicht nur, was im Plakat vorhanden ist, sondern auch, was fehlt. So können fehlende Elemente die Parole prägnant verkürzen, die Selbstverständlichkeit einer Argumentation betonen (Abb. 8), als Ironiesignale dienen (Abb. 18) oder eine Lücke zur Darstellung bringen (Abb. 12).
Alle Figuren, auch die syntaktischen, können also mehr oder weniger bedeutungstragend
sein und eine metaphorische Dimension annehmen. Dies gilt aber im Besonderen für die
Substitutionsfiguren, die zahlreiche semantische Felder aktivieren (Abb. 14) und über die
Merkmale auch Wertungen übertragen (Abb. 15). Besonders produktiv ist die Metapher mit
ihren Unterformen, wenn es darum geht, einen abstrakten Sachverhalt zu konkretisieren und
nicht nur verbal, sondern auch visuell vor Augen zu führen (Abb. 14, 19, 20). Häufig findet im
Bild eine Rückführung der Metapher auf ihre wörtliche Bedeutung statt (Abb. 33). Darüber
hinaus greift die Metapher oft auf körperliche Erfahrung zurück (Abb. 16). Die Metonymie
und Synekdoche helfen zudem, die semiotischen Unterschiede von Sprache und Bild zu
überbrücken, indem sie einen Teil für das Ganze darstellen und dem stets konkreten Bild
eine allgemeine Dimension verleihen. So wird eine Figur zum Repräsentanten einer Gruppe
und die Aussage des Bildes generalisiert (Abb. 9, 16, 18, 19, 20, 21 22, 23, 30, 31, 33, 35).
Von einer Generalisierung ausgenommen sind nur reale oder fiktive Personen, die in ihrer
Individualität oder Symbolizität erkennbar sind (Abb. 11, 17, 29). Darüber hinaus eignen sich
die Tropen vortrefflich für alle Spielarten der Ironie, vom Witz bis zur Verspottung (Abb. 18,
29, 35). Schliesslich sind die Argumentationsfiguren selbstredend eng mit der Argumentation
verknüpft und können diese nicht nur unterstützen, sondern massgeblich selber führen. Ob
sich die Figuren dabei verbal oder visuell manifestieren, ist unerheblich.
45
5 Anhang: Figurenlehre
Im Folgenden werden einige Stilfiguren und Tropen vorgestellt, die in der politischen Rede
gebräuchlich sind. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Vielmehr wird ein
Überblick geschaffen, der den verschiedenen Ausprägungen sprachlicher Stilmittel Rechnung trägt. In der Struktur und Terminologie folge ich den Ausführungen von Ottmers (1996:
158–198), der sich an Lausberg (1963) orientiert (für eine Gegenüberstellung der Begriffe in
Deutsch, Griechisch und Latein vgl. Ueding/Steinbrink 1994: 336–339). Dem Begriff folgt
jeweils eine definitorische Umschreibung und wo sinnvoll auch ein Beispiel. Konsultiert wurden neben Ottmers (ebd.) und Lausberg (ebd.) auch Ueding und Steinbrink (1994), Plett
(2001) sowie Kolmer und Rob-Santer (2002).
Nach den Erläuterungen der Amplifikationsfiguren folgen die Substitutionsfiguren (Tropen)
und abschliessend die Argumentationsfiguren.
5.1 Amplifikationsfiguren
Amplifikationsfiguren dienen der Ausschmückung. Dabei beruht die Steigerung des Ausdrucks in einer Abweichung vom normalen Sprachgebrauch. Es lassen sich drei Untergruppen unterscheiden: die Wiederholungsfiguren, die Kürzungsfiguren und die Positionsfiguren.
Die Wiederholungsfiguren (repetitio) greifen dieselben (oder zumindest ähnliche) Wörter,
Wortgruppen oder Satzelemente wieder auf. Die Kürzungsfiguren (detractio) verkürzen einen
Text durch Auslassung von Satzelementen. Die Positionsfiguren (transmutatio) beruhen auf
einer Abweichung in der Ordnung des Satzbaus (vgl. Ottmers 1996: 158–165; Ueding/Steinbrink 1994: 299–308; Plett 2001: 35–55, 72–74).
5.1.1 Wiederholungsfiguren (repetitio, conduplicatio)
Geminatio (iteratio)
Verdoppelung eines Wortes oder einer Wortgruppe in unmittelbarer Folge (vgl. Ottmers 1996: 159; Lausberg
1963: 82ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 302; Plett 2001: 42; Kolmer/Rob-Santer 2002: 65).
Beispiel: Hört, hört!
Diakope (seperatio)
Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe, unterbrochen durch einen kurzen Einschub (vgl. Ottmers
1996: 159; Plett 2001: 42f.).
Beispiel: Das hast du gut, wirklich gut hingekriegt.
46
Kyklos (redditio, inclusio)
Der Anfang eines Satzes oder Teilsatzes wird am Ende wiederholt (vgl. Ottmers 1996: 159f.; Lausberg 1963: 87f.;
Ueding/Steinbrink 1994: 303; Plett 2001: 43f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 67).
Beispiele: Keine Ahnung hast du, wirklich keine Ahnung.
Epanode (reversio)
Ein Teilsatz wird in umgekehrter Reihenfolge wiederholt (vgl. Ottmers 1996: 160; Kolmer/Rob-Santer 2002: 68).
Beispiel: Ich finde, du bist gemein, gemein bist du.
Anadiplose (reduplicatio)
Ein Wort oder eine Wortgruppe am Ende eines Satzes wird am Anfang des darauf folgenden Satzes wiederholt
(vgl. Ottmers 1996: 160; Lausberg 1963: 84f.; Ueding/Steinbrink 1994: 302; Plett 2001: 43; Kolmer/Rob-Santer
2002: 67f.).
Beispiel: Sie lieben leuchtende Farben. Farben können sich aber leicht auswaschen.
Gradatio (climax, connexio)
Das zuerst Genannte wird durch das jeweils Folgende überboten (vgl. Ottmers 1996: 160; Lausberg 1963: 85ff.;
Ueding/Steinbrink 1994: 302; Plett 2001: 43).
Beispiel: Gut, super gut, alles super gut!
Antiklimax
Umkehrung der Klimax (vgl. Ottmers 1996: 160; Kolmer/Rob-Santer 2002: 83f.).
Beispiel: Vom Regen in die Traufe.
Anapher (relatio)
Zwei oder mehr aufeinander folgende (Teil-)Sätze beginnen mit demselben Wort oder derselben Wortgruppe (vgl.
Ottmers 1996: 160; Lausberg 1963: 88f.; Ueding/Steinbrink 1994: 303; Plett 2001: 44; Kolmer/Rob-Santer 2002:
65f.). Beispiel: Nichts kann mich davon abbringen, nichts kann mich mehr aufhalten.
Epipher (conversio)
Zwei oder mehr aufeinander folgende (Teil-)Sätze enden mit demselben Wort oder derselben Wortgruppe (vgl.
Ottmers 1996: 160; Lausberg 1963: 89f.; Ueding/Steinbrink 1994: 303; Plett 2001: 44f.; Kolmer/Rob-Santer 2002:
66). Beispiel: Ende gut, alles gut.
Symploke (complexio, concursio)
Kombination von Anapher und Epipher:
Zwei oder mehr aufeinander folgende (Teil-)Sätze beginnen mit demselben Wort oder derselben Wortgruppe und
enden analog mit einem anderen Wort oder einer anderen Wortgruppe (vgl. Ottmers 1996: 160; Lausberg 1963:
90; Ueding/Steinbrink 1994: 303; Plett 2001: 45; Kolmer/Rob-Santer 2002: 66).
Beispiel: Er hat es weit gebracht, er hat es bis zum Major gebracht.
Polyptoton (traductio, metabole)
Ein Wort wird in anderer grammatikalischer Form, meist in anderer Flexionsform, wiederholt (vgl. Ottmers 1996:
160f.; Lausberg 1963: 92f.; Ueding/Steinbrink 1994: 303; Plett 2001: 47; Kolmer/Rob-Santer 2002: 61).
Beispiel: das Buch der Bücher
47
Figura etymologica
Ein Wortstamm wird in einer anderen Wortform wiederholt (vgl. Ottmers 1996: 161; Lausberg 1963: 92; Ueding/
Steinbrink 1994: 304; Plett 2001: 47; Kolmer/Rob-Santer 2002: 62).
Beispiel: Jeder soll sein Leben leben, wie es ihm passt.
Paronomasie (annominatio, adnominatio)
Verknüpfung semantisch unterschiedlicher, aber klangähnlicher Wörter (vgl. Ottmers 1996: 161; Lausberg 1963:
91f.; Ueding/Steinbrink 1994: 304; Plett 2001: 47f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 62f.).
Beispiel: Träume sind Schäume.
Synonym
Wiederholung einer gleichen oder ähnlichen Wortbedeutung bei Verwendung unterschiedlicher Wörter (vgl. Ottmers 1996: 161; Lausberg 1963: 64, 93f., 97f.; Ueding/Steinbrink 1994: 288, 303f.; Plett 2001: 46; Kolmer/RobSanter 2002: 80f.).
Beispiel: Sie verfolgten, hetzten, jagten ihn, bis er zusammenbrach.
Tautologie
Überflüssige Hinzufügung synonymer Wörter ohne semantische Erweiterung (vgl. Ottmers 1996: 161; Plett 2001:
45; Kolmer/Rob-Santer 2002: 79).
Beispiel: Ich persönlich unterstütze das voll und ganz.
Pleonasmus
Störende Wiederholung semantischer Merkmale durch überflüssige Hinzufügung (vgl. Ottmers 1996: 161f.; Plett
2001: 45; Kolmer/Rob-Santer 2002: 79).
Beispiel: weisser Schimmel
Diaphora
Ein Wort wird in einer anderen Bedeutung wiederholt. Verändert sich die Bedeutung innerhalb eines monologischen Beitrags, so handelt es sich um eine Antistasis, im Dialog um eine Anaklasis (vgl. Ottmers 1996: 162;
Lausberg 1963: 115; Plett 2001: 46f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 63f.).
Beispiel: Nicht hartes Brot, sondern kein Brot zu haben ist hart.
Alliteration
Wiederholung eines einzelnen Lautes (vgl. Ottmers 1996: 162; Lausberg 1963: 116, 151f.; Plett 2001: 50f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 54, 56).
Beispiel: Veni vidi vici.
5.1.2 Kürzungsfiguren (detractio)
Ellipse (eclipsis, defectio, omissio)
Auslassung eines Wortes oder einer Wortgruppe (vgl. Ottmers 1996: 163; Lausberg 1963: 104; Ueding/Steinbrink
1994: 305; Plett 2001: 72f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 75f.).
Beispiel: Genverbotsinitiative NEIN!
48
Zeugma (adiunctio)
Auslassung von Satzelementen zwecks Verkürzung, wobei syntaktische oder semantische Fehler entstehen (vgl.
Ottmers 1996: 163f.; Lausberg 1963: 104ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 305f.; Plett 2001: 73f.; Kolmer/ Rob-Santer
2002: 76f.). Beispiel: Die Sportgruppe ist im Hotel angekommen, und ihre Trainer mittlerweile auch.
5.1.3 Positionsfiguren (transmutatio)
Hyperbaton (traiectio, transgressio)
Zwei syntaktisch zusammengehörige Einheiten werden durch ein nicht dazugehöriges Element getrennt (vgl.
Ottmers 1996: 164; Lausberg 1963: 110; Ueding/Steinbrink 1994: 307; Kolmer/Rob-Santer 2002: 73ff.).
Beispiel: Mach dir heute einen Plan, damit du die Zeit gut einteilen kannst, und die darauf folgenden Tage auch.
Anastrophe (inversio, reversio)
Umstellung der üblichen Satzstellung (vgl. Ottmers 1996: 164; Lausberg 1963: 109; Ueding/Steinbrink 1994: 306;
Plett 2001: 36).
Beispiel: Heimtückisch hat er den Mord geplant und durchgeführt.
Hypallage (Enallage)
Falsches grammatisches Verhältnis zwischen einem Beiwort und seinem Beziehungswort. Zumeist wird ein Adjektiv auf ein anderes Substantiv bezogen (vgl. Ottmers 1996: 164f.; Lausberg 1963: 103; Ueding/Steinbrink
1994: 306; Plett 2001: 36f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 77f.).
Beispiel: eine heisse Tasse Tee
Hysteron proteron
Verkehrung der zeitlichen oder logischen Reihenfolge (vgl. Ottmers 1996: 165; Lausberg 1963: 137f.; Ueding/Steinbrink 1994: 306f.; Plett 2001: 37; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 78).
Beispiele: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Rettet die ungeborenen Kinder. Totgesagte leben länger.
Parallelismus
Zwei oder mehr Sätze oder Teilsätze sind parallel gebaut. Ist die Silbenzahl der Wörter und die Länge der Satzeinheiten identisch, handelt es sich um ein Isokolon, sind sie nur annähernd gleich, um ein Parison (vgl. Ottmers
1996: 165; Lausberg 1963 vgl. Isocolon S. 111ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 307f.; Plett 2001: 38f.; Kolmer/RobSanter 2002: 69f.).
Beispiel: Wir weiten und engen, wir kürzen und längen.
Chiasmus
Bei zwei Sätzen oder Teilsätzen sind die Satzglieder einander entgegengesetzt (vgl. Ottmers 1996: 165f.; Lausberg 1963: 128–131; Ueding/Steinbrink 1994: 308; Plett 2001: 39; Kolmer/Rob-Santer 2002: 70).
Beispiel: Der Einsatz war gross, klein war der Gewinn.
Liegen die gleichen Wörter in umgekehrter Reihenfolge vor, so handelt es sich um eine Epanode.
Beispiel: Alle für einen, einer für alle.
49
5.2 Substitutionsfiguren (Tropen)
Allen Substitutionsfiguren gemeinsam ist, dass etwas an die Stelle von etwas anderem gesetzt wird (Substitution). Dabei kann ein Wort (Substituendum) durch ein anderes Wort oder
durch eine Wortgruppe (Substituens) ersetzt werden. Das Prinzip der Substitution, das auch
die Semiotik dem Zeichenprozess zugrunde legt (aliquid stat pro aliquo), ist zentral für die
konstruktivistische Metapherntheorie von Lakoff und Johnson (1998), die von der Sprache
annehmen, dass sie durch Metaphern strukturiert sei, die auf Primärerfahrungen mit der
physischen und kulturellen Umwelt beruhen.
Unterschieden werden die Substitutionsfiguren nach der Beziehung von ersetztem und ersetzendem Begriff. Während bei den so genannten "Sprungtropen" (Metapher, Ironie etc.)
das Gesagte (verbum improprium) und das eigentlich Gemeinte (verbum proprium) aus unterschiedlichen ontologischen Bereichen entstammen, besteht bei den so genannten
"Grenzverschiebungstropen" (Metonymie, Synekdoche etc.) eine verwandtschaftliche Beziehung ihrer Herkunftsbereiche (zu den Sprung- und Grenzverschiebungstropen vgl. Lausberg
1963: 65f., 68–80, 138–143; Plett 2001: 90 sowie die Übersichtsdarstellung bei Kolmer/RobSanter 2002: 126.). Die Beziehung zwischen Gesagtem und eigentlich Gemeintem beruht
zudem auf Ähnlichkeit (ausser bei der Ironie, wo gerade die Unähnlichkeit entscheidend ist),
die über eine Vergleichsebene (tertium comparationis) vom Redner konstruiert und vom Hörer rekonstruiert wird. Die Ähnlichkeit (similitudo) kann auf gemeinsamen semantischen
Merkmalen beruhen (wie beim Synonym) oder auf klanglicher Ähnlichkeit (wie bei der Onomatopoeia). Die Funktion der Substitutionsfiguren ist zudem vielfältig. Metaphern können
konventionelle Denk- und Sprachmuster überschreiten und so neue Phänomene erst fassbar
machen (Katachrese) oder bekannte in einem neuen Licht erscheinen lassen. Sie können
komplexe Sachverhalte vereinfachen und abstrakte konkretisieren. Nebst spielerischer Variation und Veranschaulichung können Metaphern auch Mittel der Bewertung sein, indem sie
einen Sachverhalt mit einem anderen positiv oder negativ konnotierten Sachverhalt in eine
Ähnlichkeitsbeziehung setzen. Die Ironie schliesslich kann sich zwischen Sprachwitz, wohlwollender Kritik und Herablassung bewegen. Der Übergang zwischen Stilfiguren und Tropen
ist zudem fliessend: So können Tropen steigernde Funktion haben wie die Amplifikationsfiguren (Hyperbel, Litotes, Emphase) oder wie semantische Figuren zur Umschreibung eingesetzt werden (Periphrase, Euphemismus etc.) (vgl. Ottmers 1996: 166–182; Lausberg 1963:
65–80, 138–143; Ueding/Steinbrink 1994: 287–299; Plett 2001: 89–123; Kolmer/Rob-Santer
2002: 115–119, 125–146).
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5.2.1 Sprungtropen
Metapher
Substitution eines Begriffs durch andere Begriffe, wobei das Gesagte mit dem tatsächlich Gemeinten in einer
Beziehung der Ähnlichkeit steht (tertium comparationis). Häufig handelt es sich um die Substitution von Unbelebtem durch Belebtes (und umgekehrt) wie z.B. bei der Personifikation. Ebenso häufig ist die Substitution von Abstraktem durch Konkretes (und umgekehrt). In jedem Fall aber entstammen das Gesagte und das Gemeinte aus
ontologisch unterschiedlichen Bereichen (vgl. Ottmers 1996: 168ff.; Lausberg 1963: 79f.; Ueding/Steinbrink 1994:
295f.; Plett 2001: 100ff.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 135–139). In der Antike betrachtete man die Metapher als
verkürzten Vergleich. Anstatt das eine mit dem anderen zu vergleichen, tritt es gleich an dessen Stelle (vgl. Kolmer/Rob-Santer 2002: 136). Gegenwärtige Metapherntheorien gehen jedoch von einer Interaktionsbeziehung
aus, wobei das Gesagte und das Gemeinte nicht nur über gemeinsame semantische Merkmale vergleichbar sind,
sondern diese auch gegenseitig übertragen und damit eine Vergleichsebene erst hervorbringen (vgl. Black 1954:
55–79; Richards 1936: 31–52).
Beispiel: Richard ist ein Löwe.
Metaphernfeld (continua metaphora)
Eine Metapher kann sich über längere Texteinheiten ausdehnen oder auch einen ganzen Text durchziehen und
prägen. Wird dabei wiederholt auf ein und dieselbe Metapher Bezug genommen, spricht man von einem Metaphernfeld (vgl. Ottmers 1996: 173; Ueding/Steinbrink 1994: 296f.).
Beispiel: Wirtschaftskapitäne haben es nicht einfach. Wenn Sturm aufkommt, stehen sie allein auf der Brücke und
müssen zusehen, wie sie wieder auf Kurs kommen.
Allegorie
Eine Allegorie liegt vor, wenn unterschiedliche Metaphern gemeinsam ein Bild fügen (vgl. Ottmers 1996: 173f.;
Lausberg 1963: 80, 140f.; Plett 2001: 112ff.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 139ff.).
Beispiel: Verbundene Augen bedeuten 'Unvoreingenommenheit', die Waage 'Gerechtigkeit', das Schwert 'Urteilsfähigkeit'; als Attribute eines klassischen Standbildes stellen diese Metaphern die Justitia dar.
Ironie (illusio, irrisio, (dis)simulatio)
Substitution eines Begriffs durch andere Begriffe, wobei das Gesagte mit dem tatsächlich Gemeinten in einer
Beziehung der Unähnlichkeit steht; d.h. es wird etwas vorgespielt, das im vorliegenden Fall gar nicht existiert
(simulatio), während das Offensichtliche gerade verborgen wird (dissimulatio). Dabei wird nonverbal durch Mimik
und Gestik, paraverbal über die Prosodie oder verbal durch das Hinzufügen eigentlich redundanter Partikel dem
Adressaten bedeutet, dass das Gesagte nicht so gemeint ist (Ironiesignale). Die Ironie kann sich auf einzelne
Aussagen beschränken oder ganze Texte durchziehen. Zudem kann sie in unterschiedlicher Qualität auftreten:
neben einer unterhaltsamen Form (Asteïsmus) als wohlwollende Kritik (Charientismus), höhnische Blossstellung
(Diasyrmus), Verächtlichkeit (Mycterismus) oder Bitterkeit (Sarkasmus). Die Grenzen sind dabei fliessend (vgl.
Ottmers 1996: 177ff.; Lausberg 1963: 80, 141ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 298f., 316; Plett 2001: 116ff.; Kolmer/
Rob-Santer 2002: 143ff.).
Beispiel: Du bist vielleicht ein Held! (als Beispiel für Charientismus)
51
5.2.2 Grenzverschiebungstropen
Metonymie (denominatio, transmutatio)
Substitution eines Begriffs durch andere Begriffe, wobei das Gesagte und das tatsächlich Gemeinte aus dem
gleichen ontologischen Bereich stammen. Das Verhältnis der Ähnlichkeit liegt also in der Nachbarschaft der Begriffe begründet. So wird etwa die Wirkung anstelle der Ursache gesetzt, die Folge anstelle des Grundes, der
Raum für den Inhalt und Symbole für den damit bedeuteten Sachverhalt (vgl. Ottmers 1996: 174f.; Lausberg
1963: 77ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 294; Plett 2001: 98f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 134f.).
Beispiele: Er liest Goethe. Die kleine Kammer hat entschieden. Sie haben das Kriegsbeil ausgegraben.
Synekdoche (intellectio, conceptio, comprehensio)
Die Synekdoche ist eine spezielle Form der Metonymie, wobei das ontologische Ähnlichkeitsverhältnis von Gesagtem und Gemeintem nicht nur qualitativer, sondern auch quantitativer Art ist, indem ein Teil für das Ganze
gesetzt wird (pars pro toto) oder das Ganze für einen Teil (totum pro parte), die Art für die Gattung oder die Einzahl für die Mehrzahl (und umgekehrt) (vgl. Ottmers 1996: 175f.; Lausberg 1963: 70ff.; Ueding/Steinbrink 1994:
289f.; Plett 2001: 92; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 130f.).
Beispiele: Skinheads; Waldsterben
Antonomasie (pronominatio)
Ein Eigenname wird umschrieben, und zwar durch eine typisierende Beifügung (epitheton) oder durch eine Umschreibung (periphrasis) (vgl. Ottmers 1996: 176; Lausberg 1963: 56, 73f.; Ueding/Steinbrink 1994: 290; Plett
2001: 93; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 132f.).
Beispiele: der blutige Anfänger (epitheton); der Allmächtige; der Leibhaftige (periphrasis)
Appellativum
Ein Eigenname wird durch den Eigennamen einer historischen oder mythologischen Person ersetzt, die ähnliche
Eigenschaften mit der damit bezeichneten Person besitzt (vgl. Ottmers 1996: 176; Lausberg 1963: 56; Ueding/
Steinbrink 1994: 290 zur Antonomasie; vgl. auch Plett 2001: 93ff.).
Beispiel: Der Mäzen des FC Basels zieht sich zurück.
Synonym
Ein Wort wird durch ein gleichbedeutendes ersetzt zum Zweck der Variation (vgl. Ottmers 1996: 167; Lausberg
1963: 64, 93f.; Ueding/Steinbrink 1994: 288; Plett 2001: 48f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 80f.).
Beispiel: Werk oder Publikation als Variation für Buch
Onomatopoeia
Lautmalerei ersetzt Worte durch Laute, die dem sinnlichen Eindruck des Gemeinten ähnlich sind (vgl. Ottmers
1996: 179f.; Lausberg 1963: 151f.; Ueding/Steinbrink 1994: 288; Kolmer/Rob-Santer 2002: 59f.).
Beispiel: Es klingelt in der Staatskasse.
Hyperbel (superlatio)
Bewusste Übertreibung (amplificatio) in Anzahl, Grösse, Gewicht oder Intensität (vgl. Ottmers 1996: 180; Lausberg 1963: 76f., 139f.; Ueding/Steinbrink 1994: 271f., 293f.; Plett 2001: 96ff.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 128ff.).
Beispiel: Ich habe dir schon tausendmal gesagt (…) Möglich ist auch die Untertreibung:
Beispiel: Könnte ich noch ein klitzekleines Stück Kuchen haben? (minutio)
52
Litotes (exadversio)
Scheinbare Untertreibung, tatsächlich aber eine Steigerung durch Verneinung des Gegenteils (vgl. Ottmers 1996:
180f.; Lausberg 1963: 76; Ueding/Steinbrink 1994: 289; Plett 2001: 96; Kolmer/Rob-Santer 2002: 133f.).
Beispiel: Das war nicht schlecht!
Emphase
Emphase meint generell die Betonung eines Ausdrucks (z.B. durch Verdoppelung, Steigerung etc.) und ist heute
gebräuchlich für implizite Formen der Betonung (vgl. Ottmers 1996: 181; Lausberg 1963: 74ff., 138f.; Ueding/
Steinbrink 1994: 292f.; Plett 2001: 95; Kolmer/Rob-Santer 2002: 131f.).
Beispiele: Was für ein Tag!
Periphrase (circumlocutio, circumscriptio)
Ersetzung eines Wortes durch eine Wortgruppe (Umschreibung) (vgl. Ottmers 1996: 181; Lausberg 1963: 69f.,
139; Ueding/Steinbrink 1994: 288f.; Plett 2001: 68f., 91; Kolmer/Rob-Santer 2002: 126f.).
Beispiel: der Ritter von der traurigen Gestalt
Euphemismus
Beschönigung eines (gesellschaftlich tabuisierten) Sachverhalts (vgl. Ottmers 1996: 182; Lausberg 1963: 66;
Plett 2001: 91, 120; Kolmer/Rob-Santer 2002: 127f.).
Beispiel: Unser lieber Onkel ist von uns gegangen.
Aischrologie
Die Schimpfrede will mit Absicht brüskieren (vgl. Ottmers 1996: 182; Kolmer/Rob-Santer 2002: 115f.).
Beispiel: Diesen Frass krieg ich nicht runter.
Epitheton
Das schmückende Beiwort (epitheton ornans) bildet zusammen mit einem Substantiv eine feste Verbindung
zwecks Präzisierung oder Steigerung des Ausdrucks (vgl. Ottmers 1996: 182; Lausberg 1963:101f.; Ueding/
Steinbrink 1994: 291f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 80).
Beispiele: die Olympischen Spiele; die grosse Kammer; das schwarze Brett
Preziösität
Gestelzte Formulierung (vgl. Ottmers 1996: 182; Lausberg 1963: 62f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 115).
Beispiel: Madame hat sich fürchterlich echauffiert.
Neologismus
Neuschöpfung eines Wortes (vgl. Ottmers 1996: 182; Lausberg 1963: 49; Ueding/Steinbrink 1994: 287; Kolmer/Rob-Santer 2002:118f.).
Beispiel: Scheininvalide
Archaismus
Veralteter Ausdruck (vgl. Ottmers 1996: 182; Lausberg 1963: 49; Ueding/Steinbrink 1994: 286f.; Kolmer/RobSanter 2002:116f.).
Beispiel: Häscher für Gerichtsdiener
53
5.3 Argumentationsfiguren
Argumentationsfiguren unterstützen die Absichten und Ziele einer Rede und bringen die Argumentation voran, weshalb sie auch argumentationssteuernde Figuren genannt werden.
Allerdings dienen sie nicht allein dem rationalen Argumentieren, sondern auch einer affektischen Argumentationsweise, die auf die Gefühle des Publikums wirken will. Ausgehend von
ihren Wirkungsabsichten bilden die Argumentationsfiguren drei Untergruppen: die kommunikativen und appellativen Figuren, die semantischen Figuren und die personalen Figuren. Die
kommunikativen und appellativen Figuren (communicatio) sind primär auf das Publikum gerichtet, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen, zu steigern oder zu bewahren. Die semantischen Figuren sind primär auf die Sache gerichtet und die Art und Weise, wie der Redner
damit umgeht. Die personalen Figuren hingegen richten sich auf den Opponenten. Da sie
bewusst unsachlich und verletzend sind, stehen die personalen Figuren jedoch dem Ethos
des Redners entgegen, der sich durch Einsicht, Tugend und Wohlwollen auszeichnen sollte
(vgl. Aristoteles II.1.5; Ottmers 1996: 182–198; Ueding/Steinbrink 1994: 308–323; Plett 2001:
56–72, 74–88; Kolmer/Rob-Santer 2002: 75, 77–114).
5.3.1 Kommunikative und appellative Figuren (communicatio, deliberatio)
Rogatio (interrogatio)
Die rhetorische Frage erwartet keine Antwort, sondern impliziert sie, oder der Redner antwortet selbst (vgl. Ottmers 1996: 184; Lausberg 1963: 146f.; Ueding/Steinbrink 1994: 310f.; Plett 2001: 80; Kolmer/Rob-Santer 2002:
87f.). Beispiel: Wollen Sie etwa, dass der Steuerfuss angehoben wird?
Subiectio
Eine Abfolge von Fragen und Antworten, die der Redner monologisch inszeniert (polemisch oder ironisch) (vgl.
Ottmers 1996: 184; Ueding/Steinbrink 1994: 311f.; Plett 2001: 81f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 88).
Beispiel: Und hat der Täter daraufhin seinem Opfer geholfen? Nein, er hat gewartet, bis es kein Lebenszeichen
mehr von sich gab. Und hat er dann wenigstens einen Krankenwagen gerufen? Nein, er hat nur das Geld an sich
genommen und das Weite gesucht.
Aporie (dubitatio, deliberatio)
Gespielte Schwierigkeit des Redners mit dem Thema oder seiner Darstellung. Oft werden solche vorgegebenen
Zweifel als Bescheidenheitsgeste am Anfang einer Rede eingesetzt (Exordialtopoi) (vgl. Ottmers 1996: 184;
Lausberg 1963: 145; Ueding/Steinbrink 1994: 312f.; Plett 2001: 81; Kolmer/Rob-Santer 2002: 89).
Beispiele: Womit soll ich beginnen? …wie soll ich sagen…?
54
Correctio
Selbstkorrektur des eigenen Standpunktes in Form eines Exkurses, der zurück zur eigenen Argumentation lenkt
oder punktuell der Steigerung des Ausdrucks dient (vgl. Ottmers 1996: 184; Lausberg 1963: 85, 124; Ueding/
Steinbrink 1994: 314; Plett 2001: 59f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 96).
Beispiel: Er hat berechnend, nein, kaltblütig gehandelt.
Concessio (confessio)
Scheinbare Kapitulation vor den gegnerischen Argumenten, meist ironisch herablassend, um sie anschliessend
mit noch überzeugenderen Argumenten zu übertreffen (vgl. Ottmers 1996: 184; Lausberg 1963: 145; Ueding/
Steinbrink 1994: 318; Plett 2001: 82: Kolmer/Rob-Santer 2002: 95).
Beispiel: Sie haben vollkommen Recht, wenn sie behaupten, dass die Wirtschaft in den letzten Jahren keinen
Aufschwung erlebt hat. Das hat ja auch ihre Fraktion zu verantworten.
Obsecratio
Scheinbare Ratlosigkeit mit der Bitte (des Publikums) um Beistand. In der Antike und später auch in literarischen
Textgattungen ist auch der Götteranruf, die Invocatio, gebräuchlich (vgl. den Götteranruf Ovids in den Metamorphosen) (vgl. Ottmers 1996: 184f.; Lausberg 1963: 146; Plett 2001: 81; Kolmer/Rob-Santer 2002: 91).
Beispiel: Dann sagen Sie mir bitte, was ich hätte tun sollen.
Permissio
Aufforderung bzw. Erlaubnis des Publikums, mit der Rede fortzufahren (vgl. Ottmers 1996: 185; Lausberg 1963:
142; Ueding/Steinbrink 1994: 314; Plett 2001: 83; Kolmer/Rob-Santer 2002: 89f.).
Beispiel: Wer etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, bringe es vor oder schweige für immer.
Exclamatio
(Gespielter) Ausruf, der an die Gefühle des Publikums appelliert (vgl. Ottmers 1996: 185; Lausberg 1963: 147;
Ueding/Steinbrink 1994: 313; Plett 2001: 83f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 92f.).
Beispiel: Ach ja? Tatsächlich? Und das sollen wir ihnen nun glauben?
Sermocinatio (allocutio, imitatio, percontatio)
Die Rede eines anderen wird referiert oder es wird mit jemandem ein fiktiver Dialog geführt. Dies kann auch zur
negativen Charakterisierung des Opponenten eingesetzt werden (vgl. Ottmers 1996: 185; Lausberg 1963: 143f.;
Ueding/Steinbrink 1994: 319f.; Plett 2001: 85ff.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 93).
Beispiel: Ihr Fraktionsvorsitzender würde nun wahrscheinlich sagen…
55
5.3.2 Semantische Figuren
Praeparatio (propositio)
Ankündigung der folgenden Redeteile zu Beginn einer Rede oder eines Redeabschnittes (vgl. Ottmers 1996: 186;
Lausberg 1963: 27, 97; Ueding/Steinbrink 1994: 318f.; Plett 2001: 82; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 94).
Beispiele: Zuerst komme ich auf (…) zu sprechen, anschliessend werde ich kurz erläutern (…)
oder: Hiermit kommen wir zum Schluss.
Definitio
Begriffe, die für die Argumentation zentral sind, werden erläutert (vgl. Ottmers 1996: 186; Lausberg 1963: 123;
Ueding/Steinbrink 1994: 289; Plett 2001: 58f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 109ff.).
Beispiel: Der Leistungsauftrag der SRG sieht nicht nur Bildung, sondern auch Unterhaltung vor.
Antizipation (praeventio, praesumptio, praeoccupatio, conciliatio)
Vorwegnahme der gegnerischen Argumente, um sie auszuräumen und den Weg zu bereiten für die eigenen
Argumente (vgl. Ottmers 1996: 187; Lausberg 1963: 123f.; Ueding/Steinbrink 1994: 318; Plett 2001: 82; Kolmer/
Rob-Santer 2002: 94f.).
Beispiel: Sie werden nun vielleicht einwenden, dass damit die Kosten auf die Patienten abgeschoben werden.
Tatsächlich aber wurden diese Therapien in die Grundversicherung aufgenommen.
Concessio
Ein partielles Zugeständnis, das anschliessend wieder ganz oder teilweise widerrufen wird (vgl. Ottmers 1996:
187; Lausberg 1963: 145; Ueding/Steinbrink 1994: 318; Plett 2001: 82; Kolmer/Rob-Santer 2002: 95).
Beispiel: Es stimmt zwar, dass die Mietkosten aufgrund der Renovation gestiegen sind, mit der neuen Isolation
konnten aber gleichzeitig die Heizkosten um mehr als die Hälfte gesenkt werden.
Konsens (consensio)
Übereinstimmung mit der gegnerischen Seite, möglicherweise aus taktischen Gründen (vgl. Ottmers 1996: 187).
Beispiel: Wir sind uns einig, dass die Krankenkassenprämien gesenkt werden müssen. Ich verstehe daher nicht,
weshalb ihre Partei das Reformpaket bekämpft.
Correctio
Zurückweisung eines gegnerischen Arguments verbunden mit einer Richtigstellung (vgl. Ottmers 1996: 187;
Lausberg 1963: 124; Ueding/Steinbrink 1994: 314; Plett 2001: 59f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 96).
Beispiel: Es entspricht schlicht und einfach nicht den Tatsachen, wenn sie behaupten, der Konkurs sei dem Verwaltungsrat anzulasten. Vielmehr wurden im Management gravierende Fehler begangen.
Dilemma (divisio)
Argumente werden dialektisch gegeneinander erwogen, oft in Form einer antithetischen Struktur (vgl. Ottmers
1996: 187; Lausberg 1963: 126; Ueding/Steinbrink 1994: 314; Plett 2001: 59).
Beispiel: Einerseits haben sie Recht, wenn sie sagen (…), andererseits müssen sie aber bedenken (…)
Aposiopese (praecisio, interruptio, reticentia)
Redeabbruch im Affekt (vgl. Ottmers 1996: 188; Lausberg 1963: 104, 137; Ueding/Steinbrink 1994: 322f.; Plett
2001: 76; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 98).
Beispiel: Aber lassen wir das…
56
Paralipse (occupatio, praeteritio)
Erklärung, dass der Redner auf einen Gegenstand nicht eingehen will, wodurch dieser gerade betont wird (vgl.
Ottmers 1996: 187f.; Lausberg 1963: 137; Ueding/Steinbrink 1994: 317f.; Plett 2001: 75f.; Kolmer/Rob-Santer
2002: 97f.).
Beispiel: Ich brauche hier nicht näher zu erläutern, wie sehr meine Mandantin unter den Folgen der physischen
Attacke gelitten hat. Ganz zu schweigen von der psychischen Belastung.
Die Paralipse kann auch den Charakter einer Allusio annehmen, beispielsweise wenn etwas suggeriert werden
soll, was man nicht offen aussprechen will.
Beispiel: Wir können uns ja denken, was die beiden da so allein gemacht haben.
Apostrophe (aversio)
Der Redner wendet sich von seinem Publikum ab und einem anderen (fiktiven) Gegenüber zu (vgl. Ottmers 1996:
188; Lausberg 1963: 145f.; Ueding/Steinbrink 1994: 321f.; Plett 2001: 84f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 90).
Beispiel: Und dem Bundesrat in Bern möchte ich von dieser Stelle aus zurufen…
Licentia
Eine Entschuldigung mit Bitte um Erlaubnis etwas vorzubringen, das kaum auf Akzeptanz stossen kann (vgl.
Ottmers 1996: 189; Lausberg 1963: 145; Ueding/Steinbrink 1994: 315; Kolmer/Rob-Santer 2002: 98f.).
Beispiel: Auch wenn sie das jetzt nicht gerne hören, muss ich sie bitten, die Regeln zu beachten.
Enumeratio (dinumeratio)
Aufzählung im Sinne einer Aneinanderreihung von Einzelelementen, die in einem Zusammenhang stehen (vgl.
Ottmers 1996: 189f.; Lausberg 1963: 98ff.; Plett 2001: 58; Kolmer/Rob-Santer 2002: 100f.).
Beispiel: Unter den Demonstranten waren junge und alte Leute, Frauen wie Männer.
Descriptio
Veranschaulichende Beschreibung eines Gegenstandes oder Sachverhalts durch Aufzählung von Details (vgl.
Ottmers 1996: 190; Lausberg 1963: 119; Plett 2001: 63ff.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 101ff.).
Beispiel: Wer mit dem Existenzminimum leben muss, kann die Fixkosten für Miete und Krankenkasse nur knapp
berappen. Der Speiseplan ist auf das Notwendige beschränkt und der Kaffee unerschwinglich.
Distributio (digestio, partitio)
Aufzählung, wobei ein Überbegriff durch seine Unterbegriffe erläutert wird (vgl. Ottmers 1996: 190; Lausberg
1963: 98, 100ff.; Plett 2001: 57f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 101).
Beispiel: Die Schweiz braucht eine schlagkräftige Armee: Flieger, Panzer, Sturmgewehre modernen Typs.
Polysyndeton (acervatio)
Aufzählung, wobei die einzelnen Glieder durch Konjunktionen verbunden sind (vgl. Ottmers 1996: 190f.; Lausberg
1963: 81f.; Ueding/Steinbrink 1994: 304f.; Plett 2001: 74f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 71).
Beispiel: Da gab es Kuchen und Schokolade und Erdbeereis und alles, was man sich nur wünschen kann.
Asyndeton (dissolutio)
Aufzählung, wobei die einzelnen Glieder ohne Konjunktionen aufeinander folgen (vgl. Ottmers 1996: 191; Lausberg 1963: 81f., 108f.; Ueding/Steinbrink 1994: 304f.; Plett 2001: 74f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 72).
Beispiel: Wollen wir Tamilen, Jugoslawen, Türken die Einbürgerung verweigern?
Similitudo (comparatio)
57
Der Vergleich illustriert einen Begriff oder Gedanken innerhalb einer Argumentationsführung durch einen anderen, ähnlichen Begriff oder Gedanken. Voraussetzung ist eine Vergleichbarkeit, die auf Ähnlichkeit beruht (tertium
comparationis). Ist der Vergleich nicht nur lokal, sondern zieht er sich über eine längere Texteinheit, so handelt es
sich um ein Gleichnis (vgl. Ottmers 1996: 191f.; Lausberg 1963: 133ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 286; Plett 2001:
70ff.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 105f.).
Beispiel: Mit den Hooligans ist es wie mit den Kindern: Man muss ihnen alles ganz genau erklären: dass man
nicht auf den Rasen spuckt, nicht mit Flaschen wirft und nicht die anderen Fans verhaut.
Exemplum (paradeigma)
Das Beispiel kann sowohl schmückende als auch beweisende Funktion haben, indem es einen Sachverhalt anschaulich verdeutlicht (illustratives Beispiel) oder als Beleg für eine aufgestellte Behauptung herangezogen wird
(induktives Beispiel) (vgl. Ottmers 1996: 192; Lausberg 1963: 135; Ueding/Steinbrink 1994: 267f.; Plett 2001: 71f.;
Kolmer/ Rob-Santer 2002: 107f., 198–202).
Sententia
Sinn- und Denkspruch, der in knapper, einprägsamer Formulierung allgemein Bekanntes oder Akzeptiertes auf
den Punkt bringt. Als argumentative Verkürzung kann sie komplexe Sachverhalte auch unzulässig simplifizieren
oder pejorativ als Vorurteil eingesetzt werden (vgl. Ottmers 1996: 192; Lausberg 1963: 131f.; Ueding/Steinbrink
1994: 268f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 108f.). Gemäss Lausberg (1963) ist die Sententia ein "semantisch infiniter
Satz, der mit dem Anspruch normativer Geltung auftritt" (S. 168). Am Schluss eines argumentierenden oder narrativen Gedankengangs wird diese Figur auch Epiphonema genannt (vgl. ebd. S. 132)
Beispiel: Das Boot ist voll.
Allusio (Significatio)
Eine Anspielung bzw. Andeutung besagt mehr, als sie explizit zu erkennen gibt. Sie kann bspw. auf einen anderen Text anspielen, so dass in der Verfremdung das Original erkennbar ist. Abwandlungen dieser Art kommen oft
in Form von Wortspielen mit allgemein bekannten Denk- und Werbesprüchen vor (vgl. Ottmers 1996: 192; Lausberg 1963: 138ff.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 142f.).
Beispiel: Endspiel gut, alles gut.
Parenthese (interpositio, declinatio, interpellatio)
Kurzer, ergänzender Einschub innerhalb einer Argumentationsführung (vgl. Ottmers 1996: 193; Lausberg 1963:
138; Ueding/Steinbrink 1994: 301f.; Plett 2001: 69; Kolmer/Rob-Santer 2002: 74f., auch Paraphrase ebd. S. 111).
Beispiel: Das Existenzminimum – und es handelt sich wirklich um ein absolutes Minimum – sollte jedem zukommen, der ausweisen kann, durch Arbeit den Lebensunterhalt nicht eigenständig bestreiten zu können.
Exkurs (digressio)
Längerer Einschub innerhalb einer Argumentation in Form einer in sich geschlossenen Texteinheit (vgl. Ottmers
1996: 193; Lausberg 1963: 144; Plett 2001: 70; Kolmer/Rob-Santer 2002: 111f.).
Klimax (gradatio, progressio)
Eine Steigerung, die sich stufenweise über längere Passagen aufbaut. (Sie ist ausgedehnter, als die gleichnamige Amplifikationsfigur, und beruht zudem nicht auf der Wiederholung von Worten) (vgl. Ottmers 1996: 194; Lausberg 1963: 85f.; Ueding/Steinbrink 1994: 302; Plett 2001: 68; Kolmer/Rob-Santer 2002: 82f.).
Antiklimax (extenuatio)
Herabstufung über längere Passagen (vgl. Ottmers 1996: 194; Kolmer/Rob-Santer 2002: 83f.).
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Antithese (contentio, contrarium, oppositio)
Wörter, Wortgruppen, (Teil-)Sätze oder ganze Textabschnitte sind einander semantisch konträr gegenüber gestellt. Dabei müssen die Gegensätze nicht absolut sein, sondern können auch relativ sein (vgl. Ottmers 1996:
194; Lausberg 1963: 126ff.; Ueding/Steinbrink 1994: 308, 313; Plett 2001: 60f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 84).
Beispiel: Während man gut Verdienende mit Steuergeschenken belohnt, werden kinderreiche Familien durch
diese Regelung noch zusätzlich belastet.
Regressio
Antithetische Konfrontation, indem ein Redner kontradiktorisch auf seinen Vorredner Bezug nimmt (vgl. Ottmers
1996: 194; Lausberg 1963: 128; Kolmer/Rob-Santer 2002: 68f.).
Beispiel: Wenn mein Ratskollege zuvor gesagt hat, dass die Preise sinken werden, so ist das völlig haltlos.
Subiectio (ratiocinatio)
Inszeniertes Frage-Antwort-Spiel, um einen Gedanken zu entfalten. (Im Gegensatz zur gleichnamigen kommunikativen Figur appelliert die semantische Figur aber weniger an das Publikum, sondern ist mehr auf die Sache und
auf die Überlegungen des Redners gerichtet) (vgl. Ottmers 1996: 194; Lausberg 1963: 40, 144; Ueding/Steinbrink
1994: 311f.; Plett 2001: 81f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 88).
Beispiel: Könnte es sein, dass das Fenster nicht verschlossen, sondern nur angelehnt war? Und falls ja, wäre es
denkbar, dass der Täter nicht durch die Hintertür, sondern durch eben dieses Fenster eingestiegen ist?
Oxymoron
Antithetische Verbindung zweier Begriffe (vgl. Ottmers 1996: 194; Lausberg 1963: 127; Ueding/Steinbrink 1994:
313f.; Plett 2001: 61f.; Kolmer/ Rob-Santer 2002: 84f.).
Beispiel: Dichtung und Wahrheit
Contradictio in adiectio
Ein Beiwort, das mit seinem Bezugswort im Widerspruch steht (vgl. Ottmers 1996: 194; Lausberg 1963: ; Plett
2001: 62).
Beispiel: schwarze Milch
Paradoxon
Miteinander verbundene, gegensätzliche Satzglieder, die vordergründig einen Widerspruch bilden, auf einer weiteren Interpretationsebene aber einen Sinn ergeben (vgl. Ottmers 1996: 195; Ueding/Steinbrink 1994: 314; Kolmer/Rob-Santer 2002: 85f.).
Beispiele: Kein Leben ohne Tod.
Antimetabole (commutatio)
Chiastische Wortstellung einer Antithese (vgl. Ottmers 1996: 195; Lausberg 1963: 126f.; Ueding/Steinbrink 1994:
308; Plett 2001: 61; Kolmer/Rob-Santer 2002: 70f.).
Beispiel: Nicht um zu essen, lebe ich, sondern um zu leben, esse ich. (Quintilian)
Antithetischer Parallelismus
Wortgruppen oder (Teil-)Sätze, deren Satzglieder parallel geordnet und semantisch gegensätzlich sind (vgl. Ottmers 1996: 195; Lausberg 1963: 126f.; Kolmer/Rob-Santer 2002: 69).
Beispiele: Die Alten zum Rat, die Jungen zur Tat. Frieden den Hütten, Krieg den Palästen.
59
5.3.3 Personale Figuren
Nach antikem Ideal sollte die Rede dem Gemeinwohl dienen – dies nicht zuletzt im Bewusstsein der Kraft, die Rhetorik entfalten kann. Vom perfectus orator (Cicero) bzw. vir bonus
(Quintilian) wurde daher auch eine ethisch-moralische Befähigung erwartet. Was nun die
personalen Figuren betrifft, so stehen sie den drei ethischen Qualitäten des Redners – Einsicht, Integrität, Wohlwollen – entgegen (vgl. Ottmers 1996: 120). Daher wurden diese Figuren auch nicht gelehrt, um sie anzuwenden, sondern um sie zu erkennen und sich gegebenenfalls dagegen wehren zu können. Hauptmerkmal der personalen Figuren ist, dass sie
nicht auf die Sache bezogen, sondern gegen den Opponenten gerichtet sind. Meistens handelt es sich um bewusst verletzende Angriffe (vgl. ebd. S. 196). Kommunikative und appellative Figuren können ebenfalls personalisiert eingesetzt werden, vgl. z.B. indiskrete Fragen
oder störende Zwischenrufe. Ebenso können Tropen durch negative Bezüge abwerten. Besonders dankbar für eine verdeckt geführte, persönliche Verletzung sind die Spielarten der
Ironie. Ob sich eine Rede gegen den Opponenten richtet, ist daher weniger eine Frage der
gewählten Stilmittel als eine Frage des rednerischen Ethos im Umgang derselben.
Obiurgatio
Ein an den Opponenten gerichteter Tadel (vgl. Ottmers 1996: 196).
Beispiel: Dieses Defizit haben wir den Linken und den Netten zu verdanken.
Iracundia
Schimpfrede, die im Zorn über einen Opponenten herzieht (vgl. Ottmers 1996: 196).
Exsecratio
Verwünschung eines Opponenten (vgl. Ottmers 1996: 196; Kolmer/Rob-Santer 2002: 91).
Beispiel: Geh doch nach Moskau!
Laesio
Verletzung des Opponenten, die oft verdeckt durchgeführt wird, indem auf tatsächliche oder vermeintliche
Schwachstellen der Persönlichkeit angespielt wird. Hier kommt das ganze Spektrum der gesellschaftlichen Vorurteile zum Einsatz (vgl. Ottmers 1996: 196f.).
Beispiele: Wir brauchen keine Quotenfrauen, der Bessere soll sich bewähren.
Illusio (inlusio)
Ironische, oft subtile Verspottung aus einer Position der Überlegenheit bzw. Überheblichkeit (vgl. Ottmers 1996:
197; Lausberg 1963: 80; vgl. Plett 2001 zu Ironie S. 116–123, ebenso Kolmer/Rob-Santer 2002: 143ff.).
Beispiel: Haben wir heute mal wieder einen schlechten Tag?
60
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