london southside bar

Transcription

london southside bar
03
006003
190171
4
6 EURO
SEIN VERMÄCHTNIS
ALS FOTOGRAF
ELLSWORTH KELLY
KRIEG AUF DER
DOCUMENTA
HIWA K
DA HILFT KEIN
MODERNER BLICK
REMBRANDT
APRIL 2016
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 10
JULIAN BARNES
ÜBER
FÉLIX
VALLOTTON
Die Uhr
Happy Anniversary!
1966 –2016
50 Years of Lamy design.
Celebrating a timeless icon.
LAMY 2000
AUFTAKT
„Wie konnte ein
Künstler, der noch bei
Max Beckmann
studiert hatte, Werke
schaffen, die so
brandneu und frisch
aussahen? Ellsworth
Kelly musste eine
magische Bildquelle
angezapft haben“
Als ich Ellsworth Kelly 2008 das erste
Mal in Spencertown, Upstate New
York, besuchte, war er jugendliche
84 Jahre alt. Ich war mit Ulf Erdmann
Ziegler angereist, um ihn für die
Kunstzeitschrift Monopol zu interviewen. Und wie er farbbekleckst dasaß
und vor einem gerade erst fertiggestellten gelben Relief von seinem
Atelierbesuch bei Constantin Brancusi
erzählte, da bekam ich es für einen
Moment nicht ganz zusammen. Wie
konnte ein Künstler, der noch bei
Max Beckmann studiert hatte, 60 Jahre später Werke schaffen, die so
brandneu und frisch aussahen? Kelly
musste eine magische Bildquelle angezapft haben. Nur welche?
„Ich wollte das Werk, aber ohne
das Gepäck“, sagte er irgendwann
und zeigte dabei zur Seite. „So wie der
Schatten der Kiste da vorn oder
hier auf der Wand, drei verschiedene
Graus; oder wie die Ecke des Raums –
nur die Ecke! So sollten meine Gemälde aussehen.“ Natürlich ahnte ich,
was er meinte. Aber es blieb mir seltsam abstrakt, so wie ich auch das gelbe
Kurvenrelief hinter ihm weiter als
abstrakte Kunst wahrnahm. Vielleicht
konnte ich es fühlen, aber verstehen
tat ich es nicht.
Drei Jahre später war ich zurück
in Spencertown. Wir hatten am Nachmittag vor einem langen Tapeziertisch
gestanden, auf dem Kelly Seite für
Seite die Entwürfe für seine Künstlerausgabe der Welt ausgebreitet hatte,
und waren anschließend mit einem
Golfcart die paar Meter zu einem zweiten Ateliergebäude gefahren. Zwei
Stühle warteten dort auf uns und
an der Wand ein schwarzes Relief –
links gerade, rechts mit zwei übereinanderstehenden Kurven. Es war
eines der schönsten Objekte, das ich
je gesehen hatte. Und doch verstand
ich erst abends, in Kellys bescheidenem Farmhaus, was genau ich gesehen hatte.
In einer kurzen Konversationspause nahm Kelly noch einen Cracker
mit Thunfischsalat und ließ sich ins
Sofa zurücksacken. „Aber die schwarze
Arbeit heute“, sagte er zwischen zwei
Bissen, „was für ein wunderbarer
Hintern, oder?“
Hätte ich seine Fotos gekannt, ich
hätte früher verstanden, was Kelly
meinte, wenn er sagte, alles sei schon
da, man müsse nur schauen. Unter
Ausschluss der Öffentlichkeit und über
Jahrzehnte hinweg machte Kelly
immer wieder Fotografien von Schatten und Scheunen, von Hauswänden
und Hügeln, die heute, zurückblickend
auf sein Werk, wie Vorstudien aus
Licht und Schatten wirken.
Alles war und ist schon da. Und es
wirkt anrührend folgerichtig, dass
Ellsworth Kelly uns an seinem Lebensende daran erinnern wollte. Noch an
seinem letzten Tag, am 27. Dezember
2015, arbeitete er an der ersten,
ausschließlich seinen Fotografien gewidmeten Ausstellung. Es sind
Fotografien, bei denen Entdeckung
in Erkenntnis umschlägt, wie Ulf
Erdmann Ziegler in seinem Essay
schreibt. Und wir sind dankbar,
dass Kellys Ehemann Jack Shear sie
uns anvertraut hat.
Und, werden Sie sich jetzt fragen,
wie war es denn nun für den jungen
Kelly bei Brancusi? „Ich weiß noch
genau, wie er mir ein Foto zeigte“,
erinnerte er sich an seinen Besuch. „Es
war ein toter Ast von einem Baum,
aus dem ein einziges grünes Blatt hervorspross. Brancusi sagte, er habe dieses Blatt produziert. Er sei kürzlich
krank zu Hause im Bett gelegen und
habe seinen Assistenten gebeten, ihm
einen Ast zu bringen. Und dann habe
er sich so lange auf den Ast konzentriert, bis dieses neue Blatt ausgeschlagen sei.“ Kelly lachte. „Stellen Sie sich
vor, Brancusi sitzt neben Ihnen zwischen seinen Holzskulpturen und
sagt Dinge wie: ‚Ich kann einen toten
Baum zum Blühen bringen.‘ Ist das
nicht magisch?“
Auch Ellsworth Kelly hat einen
Ast fotografiert. Sie sehen ihn auf
Seite 57. Ein grünes Blatt hat er nicht.
Noch nicht. Schließlich hat Kelly
uns gelehrt: Wunder warten auf den,
der schaut.
CORNELIUS TITTEL
5
APÉRO
EIN KUNSTMAGAZIN
CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
13
ESSAY
Kontrolle verloren
16
NEUES, ALTES, BLAUES
18
DICHTER DRAN
Monika Rinck
19
DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
24
BLITZSCHLAG
Siri Hustvedt
26
UM DIE ECKE
Köln
Nr. 10 / April 2016
FÉLIX VALLOTTON
Die Weiße und die Schwarze, 1913,
Öl auf Leinwand, 114 × 147 cm
„Was hat der Mann
nur so Schlimmes
getan, dass er
dieses schreckliche
Wesen namens
Frau als ‚Gefährtin‘
erdulden muss?“
— FÉLIX VALLOTTON
DER KAMMERSPIELER
JULIAN BARNES ÜBER FÉLIX VALLOTTON, DEN MALER,
DER IHN NICHT MEHR LOSLÄSST
s. 30
HIWA K
ER FLOH AUS DEM IRAK UND BRINGT DEN
KRIEG AUF DIE DOCUMENTA
s. 44
REMBRANDT
ZEITGERECHT: WAS VON REMBRANDT BLEIBT, WENN
MAN IHM ALL SEINE MYTHEN NIMMT
s. 20
INHALT
6
Von oben im Uhrzeigersinn: Félix Vallotton und seine Frau Gabrielle in Vasouy, 1902. REMBRANDT Selbstbildnis in jungen Jahren, um 1628/29, Öl auf Holz, 23 × 19 cm.
HIWA K My Father’s Color Periods (Detail), 2014, Videoinstallation
10
— ELLSWORTH KELLY
ENCORE
76 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
78 BLAU KALENDER
Unsere Termine im
April
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 10 / April 2016
81
BILDNACHWEISE
82 DER AUGENBLICK
Peter Hendricks
WERTSACHEN
Was uns gefällt
s. 72
ELLSWORTH KELLY
WO ER HINGESCHAUT HAT,
WAREN SEINE BILDER SCHON DA
S. 50
KUNST UND PRAXIS
WIE MARK BRADFORD MITHILFE DER KUNST
LOS ANGELES VERSÖHNEN WILL
s. 60
MARK TOBEY UND SAM FRANCIS
ZWEI AMERIKANER IN EUROPA.
DIE GESCHICHTE EINER HEIMHOLUNG
s. 69
INHALT
8
Von oben im Uhrzeigersinn: ELLSWORTH KELLY Doorway Shadow, Spencertown, 1977, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm. BERNARD BOUTET DE MONVEL
Delfina im Profil, 1936. Mark Bradford in seinem Studio in Los Angeles, fotografiert von Lisa Ohlweiler. SAM FRANCIS Untitled, 1973, Gouache auf Papier, 109 × 79 cm.
MARK TOBEY Echoes of Broadway, 1964, Tempera auf Papier, 133 × 65 cm
„Einmal, in Paris, lag
ich unter einem
Baum und schaute
zu den Blättern
hinauf. Ich habe ein
Auge zugemacht
und das Ganze sah
aus wie eine Tapete,
mit tausend
Überschneidungen.
Dann habe ich
das andere Auge wieder
geöffnet und es
war ein Canyon, mit
enormer Tiefe“
STURTEVANT
DRAWINGS
PARIS MARAIS
APRIL – MAI 2016
ROPAC.NET
PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG
www.georghornemann.de
CONTRIBUTORS
Julian BARNES
In seinen Büchern geht es um
Liebe und Schmerz. Und wunderbar, wie der 70-jährige Engländer
der Schwerkraft seines Lebensthemas mit ironischer Melancholie entgegenwirkt. Vielleicht am schönsten in seinem Roman Vom Ende einer
Geschichte, für den er 2011 den Booker-Preis erhielt. Es hat nicht
ausbleiben können, dass der Schriftsteller irgendwann auch
der Kunst begegnet ist. In seiner Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln stand er staunend vor Géricaults Floß der Medusa. Jetzt hat es
ihm der Schweizer Félix Vallotton angetan. Ein leichthändiger
Essay über einen Außenseiter der frühen Moderne. In BLAU
exklusiv und als Vorabdruck in deutscher Übersetzung. (Seite 30)
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Claudia Kühne, Max G. Okupski
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Monika RINCK
Die rätselhafte Verbindung von
Text und Leben ist das pochende
Herz jeder Dichtung, daran erinnerte uns die Lyrikerin Monika
Rinck, Jahrgang 1969, als sie im
November für ihr intellektuelles
Großgedicht Risiko und Idiotie den
Kleist-Preis verliehen bekam. „Welcher Art ist das Gelenk zwischen Werk und Biografie?“, fragte sie. Nach einer Antwort
sucht sie weiter in ihrer fraglos klugen und tiefen Dichtung.
Nun hat sie ihre kostbare Zeit und ihren starken Geist BLAU
geschenkt und antwortet der Malerin Joan Mitchell mit einem
langen „Danke“. (Seite 18)
Mark VON SCHLEGELL
Der 1967 geborene New Yorker
Schriftsteller lebt seit neun Jahren in
Köln, an der Frankfurter Städelschule leitet er eine Schreibwerkstatt und verbindet Literatur- und
Kunstkritik, Romane und Comics.
„Fictiocriticism“ nennt er seinen
sehr eigenen Stil, wenn er, wie in
Realometer (2009), Fantasie und Philosophie vermischt. Sein
visionärer Roman Venusia von 2006 über einen Zivilisationsrest
auf der Venus ist jetzt endlich bei Matthes & Seitz auf Deutsch
erschienen. Was Science-Fiction und Kirchengeschichte gemein
haben, zeigt uns Mark von Schlegell auf seinem Streifzug durch
sein Veedel. (Seite 26)
Autoren dieser Ausgabe
Uli Aumüller (Übersetzung), Julian
Barnes, Thomas Bodmer (Übersetzung),
Simon Elson, Hanno Hauenstein,
Siri Hustvedt, Hannah Lühmann,
Ulf Poschardt, Mark von Schlegell,
Marcus Woeller (Übersetzung),
Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Yves Borgwardt, Martin Lebioda,
Lisa Ohlweiler, Fabian Schubert
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 10, April 2016
Verkaufspreis: 6,00 Euro
inkl. 7 % MwSt.
Abonnement und Heftbestellung
Jahresabonnement: 48,00 Euro
Abonnenten-Service BLAU
Postfach 10 03 31
20002 Hamburg
+49 40 46860 5237
[email protected]
Verlag
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Jan Bayer, Petra Kalb
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Eva Dahlke (V. i. S. d. P. ),
[email protected]
HERSTELLUNG
Olaf Hopf
DIGITALE VORSTUFE
Image- und AdMediapool
DRUCK
Firmengruppe APPL, appl druck GmbH
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2
vom 01.01.2016. Copyright 2016,
Axel Springer Mediahouse GmbH
JACQUELINE HUMPHRIES
13. APRIL – 28. MAI
G A L E R I E G I S E L A C A P I TA I N , KÖ L N
APRIL 9 TO MAY 21, 2016
MATIAS FALDBAKKEN
MAAG AREAL
APRIL 16 TO MAY 21, 2016
CARROLL DUNHAM
LÖWENBRÄU AREAL
APRIL 16 TO MAY 21, 2016
INSIDE OUT
CATHARINE CZUDEJ, CAMILLE HENROT, RASHID JOHNSON,
JAMIAN JULIANO-VILLANI, WYATT KAHN, ELLA KRUGLYANSKAYA,
TALA MADANI, CALVIN MARCUS, EBECHO MUSLIMOVA,
MICHAEL WILLIAMS
CURATED BY ALEXANDRA ECONOMOU
LÖWENBRÄU AREAL
GALERIE EVA PRESENHUBER
MAAG AREAL
ZAHNRADSTR. 21, CH-8005 ZURICH
TEL: +41 (0) 43 444 70 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60
OPENING HOURS: TUE-FRI 10-6, SAT 11-5
LÖWENBRÄU AREAL
LIMMATSTR. 270, CH-8005 ZURICH
TEL: +41 (0) 44 515 78 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60
OPENING HOURS: TUE-FRI 11-6, SAT 11-5
WWW.PRESENHUBER.COM
ESSAY
KONTROLLE
VERLOREN
MONIK A GRÜTTERS
Vor einem Jahr habe ich
mich in die Kulturstaatsministerin verliebt. Seitdem
ist vieles schiefgegangen.
Eine Spurensuche im
Minenfeld der Kulturpolitik.
Von Hannah Lühmann
W
enn ich schreibe, dann versuche
ich meist, aus der Perspektive
meines Alltagserlebens zu schreiben. Das ist weniger eine bewusste Entscheidung, als dass es sich daraus ergibt, dass
ich viele Dinge nicht durchschaue und
dass es meiner Meinung nach allgemein viel
häufiger so ist, dass man die Dinge nicht
durchschaut, als dass man sie durchschaut,
und dass, wenn man vom Journalismus
will, dass er die Sachen so sagt, „wie sie sind“,
vergisst, dass dieses Nichtdurchschauen
ja auch eine ganz eigene Realität ist, an die
man als Leser vielleicht von Zeit zu Zeit
erinnert werden will.
Etwas, das ich absolut nicht durchschaue, sind Intrigen. Es ist mir vollkommen
rätselhaft und unbegreiflich, wie irgendjemand auf dieser Welt in der Lage ist, eine
Intrige durchzuführen. Ich weiß, die Leute
sagen, das sei so ähnlich wie Schachspielen,
aber Menschen sind ja keine Schachfiguren,
und das meine ich jetzt nicht humanistisch,
sondern ontologisch.
Menschen sind kompliziert, ich habe
gar keine Lust, auf sie Einfluss zu nehmen.
Ich finde, man sollte sich gegenseitig in Ruhe
lassen. Seltsamerweise glaube ich, dass ich
trotzdem eine sehr gute Politikerin wäre.
Ich habe auch geglaubt, dass Monika
Grütters eine sehr gute Politikerin ist.
Vielleicht liegt das daran, dass ich nicht viele
Politiker kenne und vor allem: nicht viele
Politikerinnen. Dieser geschlechterspezifische Gedanke kommt mir in dieser Deutlichkeit etwas weniger als ein Jahr nachdem
ich sie kennengelernt habe.
Monika Grütters ist unsere Kulturstaatsministerin. Ihr Büro ist im Kanzleramt,
im achten Stock, sie hat zu mir gesagt:
„Da müssen Sie mal vorbeikommen.“
Als wir uns kennenlernten, war es Ende
April, Süddeutschland, draußen wurde
es grün und die Spargelfelder zogen vorbei,
wir waren in einem riesigen Bus unterwegs.
Journalisten, Presseleute, Entourage. Wir
waren auf einer Theaterreise, die ich als
Journalistin begleitete.
Das heißt, wir besuchten Theater in der
Provinz, Mannheim, Mühlheim, Ludwigshafen. Monika Grütters hörte sich die Sorgen
der Provinztheaterleute an, ja, vor allem
hatte man das Gefühl, sie höre zu, und ich
schrieb danach in meinem Artikel, mit ihr
APÉRO
13
durch Deutschland zu reisen sei ein bisschen, als begleite man einen Fürsten dabei,
wie er seine Ländereien inspiziert. Die
Überschrift war: Wir haben uns in eine Staatsministerin verliebt. Und es stimmte.
Ich fand sie witzig, ich fand sie charismatisch, ich fand sie souverän. Ich fand
es ungeheuer beeindruckend, dass jemand in
der Lage ist, während einer wackelnden Fahrt
durch süddeutsche Landschaften Unterlagen mit Zeitungsausschnitten zu studieren
und dabei angeregten Small Talk mit fünf
verschiedenen Menschen zu betreiben. Kurz:
die ganze von ihr in Perfektion gemeisterte
Zeremonialität der Macht, von der man,
wenn man jung ist und in Berlin wohnt und
nichts mit Politik zu tun hat, manchmal
vergisst, dass es sie gibt und dass sie ernst
gemeint ist. Nicht als ironischer Kommentar
auf einen Machtapparat, sondern als
notwendige rituelle und formelle Bewältigung von Realität.
Monika Grütters jedenfalls ist
eine gläubige Katholikin aus Münster, die
regelmäßig zum Gottesdienst geht und
immer noch gern mit ihren Eltern verreist,
immer nach Sylt, eine, die keine Kinder
hat, aber einen Lebensgefährten, eine, die
auf die Frage, ob sie Feministin sei, sagt,
nein, sie sei keine „Kampfhenne“, die aber
sagt, sie habe explizit immer Frauen gefördert, weil sie das wichtig finde.
Eine, die abends im Hotel sagte: „Jetzt
noch einen Gin Tonic“, und dann trank
man zwei, und sie sprach über ihren Umzug
und ihre Hausbibliothek und über den
Dichter Jean Paul, der sie zeit ihres Lebens
beschäftigt hat. Klar sprach sie mehr,
als dass sie fragte, aber das ist ja normal, sie
lieferte dadurch auch Material für das
Porträt. So läuft es. Sie wirkte vor allem wie
jemand, der drei Dinge kann: aufnehmen,
zuhören, analysieren.
Aber irgendetwas ist in diesem letzten
Jahr bei Frau Grütters schiefgelaufen und
man weiß nicht genau, was es eigentlich ist.
„Stimmungsumschwung“ ist ein merkwürdiges und abstraktes Wort, aber wie nennt
man das, wenn einen erst viele mögen und
dann kaum noch einer?
Seit diesem April vor einem Jahr habe
ich mich aus verschiedenen Gründen an
Orten aufgehalten, die als Orte der (Berliner)
Kulturpolitik bezeichnet werden, und mit
Menschen geredet, die als „Protagonisten“
derselben gelten können. Denn Kulturpolitik ist ja auch nicht mehr als die Gesamtheit
dieser Menschen, ihrer Handlungen und
Sätze. Man geht mittagessen, man liest hier
und da einen Artikel, manchmal schreibt man
ihn. So läuft es. So wird Realität gemacht.
Und das eine, das man immer häufiger
hört, wenn es um Frau Grütters geht, ist
ein erstaunt klingendes „Die kann nicht
zuhören“. Natürlich ist es kein wirkliches
Erstaunen, wenn die Leute das sagen.
Denn wenn so ein Satz gesagt wird und
wenn er so häufig gesagt wird, dann ist
ja vorher schon etwas passiert. Dann hat
sich ein Bild verfestigt.
Wenn Männer mittleren Alters das
sagen. Männer mittleren Alters äußern
solche Sätze immer auf die gleiche Weise.
Sie ziehen die Augenbrauen hoch und
schauen einen mit diesem „Tja-nu-zieh-damal-deine-Schlussfolgerungen-draus“Blick an. Schultern hoch, Lippen aufeinander, Lächeln. Unangenehm, aber isso.
Muss man mal sagen.
ie passiert das, dass auf einmal alle
gegen einen sind, obwohl es
anders sein könnte, anders hätte
werden können? Vielleicht ist es eine
Intrige. Aber auch wenn es eine Intrige ist,
dann hat man vielleicht etwas falsch
gemacht, denn Scheitern heißt, die Deutungshoheit zu verlieren.
Vielleicht begann es mit Tim Renner.
Als wir zusammen unterwegs waren, im
April vor einem Jahr, da waren es vor allem
zwei Dinge, die man über Grütters sagte.
Die waren weder gut noch schlecht, die
waren erst einmal einfach so da. Sie war seit
2013 Kulturstaatsministerin, und man
begann von ihr zu sprechen, das heißt, es
erschienen Artikel und die Augenbrauen
bei den Mittagessen gingen hoch, aber da
halt noch in die wohlwollende Richtung.
Sie hatte Tim Renner gerügt. Das war
nicht unbedingt ihre Aufgabe, denn Tim
Renner ist Berliner Kulturstaatssekretär und
Monika Grütters macht Bundespolitik. Aber
man konnte es verstehen und beherzt finden.
Denn Tim Renner hatte gerade auf
ebenfalls sehr unkluge Weise damit begonnen, zu kommunizieren, dass er für die
Castorf-Nachfolge an der Berliner Volksbühne Chris Dercon gewonnen hatte. Im
W
Übrigen könnte man sich auch fragen,
warum ihm so etwas nicht auf den Kopf
fällt, ihr aber schon.
Monika Grütters also ermahnte Tim
Renner, weil sie sich Sorgen machte, dass
es im neuen Volksbühnenprogramm zu
Überschneidungen mit dem bundesfinanzierten Hauptstadtkulturangebot kommt,
und weil sie die Idee, das VolksbühnenEnsemble aufzulösen, furchtbar fand,
womit sie wahrscheinlich recht hat. Trotz-
Wie passiert das, dass
auf einmal alle gegen einen
sind, obwohl es anders
sein könnte, anders hätte
werden können?
dem: Die Rüge war nicht klug und Chris
Dercon macht es sowieso. Vielleicht ging es
da los, mit dem Scheitern, mit dem Einmischen, mit dem Nicht-richtig-Hinhören.
Die zweite Sache, über die zu dieser
Zeit vor einem Jahr alle sprachen, war
die Tatsache, dass sie ihren Freund Neil
MacGregor für dieses merkwürdige
Triumvirat an der Spitze des noch nicht
so richtig existierenden HumboldtForums gewonnen hatte. Alle fanden es
nett und toll, dass jemand, unter dessen
Führung das British Museum floriert hatte,
jetzt nach Berlin kommt und dass es ein
freundlicher älterer Schotte mit internationaler Perspektive ist. Nur dass alle, die
es nett und toll fanden, inzwischen wissen,
dass der freundliche ältere Schotte noch
einige Nebenjobs hat, und, wenn er denn
überhaupt mal in Berlin ist, längst ebenso
frustriert in der Stadt herumläuft wie
diejenigen, die jahrelang das Forum vordenken sollten und nun das Nachsehen
haben. Wenn für das Stadtschloss nicht
bald ein Konzept präsentiert wird, dann
ist das ein Problem.
Dann dieser unselige Versuch des
Kulturgutschutzgesetzes, mit dem Monika
Grütters so ziemlich alle Sammler, Kunsthändler und Museumsleute gegen sich
aufgebracht und binnen Wochen die gerade
noch treue Gefolgschaft der Kunstwelt
APÉRO
14
verloren hat. Sagt man Formtief dazu,
wenn man zusehen muss, wie anschließend
auch der Bundesrat in Aufruhr gerät und
bei der parlamentarischen Beratung im
Februar die SPD-Verbündeten abfallen und
nur noch die Linkspartei ihr Gesetz
wirklich loben mag?
Irgendwie ist die Stimmung gekippt.
So sehr, dass es kaum noch auffiel, dass
Monika Grütters öffentlich aus dem Gutachten zitierte, das dem greisen Erblasser
Cornelius Gurlitt Zurechnungs- oder
Unzurechnungsfähigkeit attestierte, bevor
die Angehörigen davon Kenntnis bekommen hatten. Und dass sie, während Gurlitts
Nichte noch vor Gericht um ihr Erbe
kämpft, schon mal anordnete, seine Sammlung in der Bundeskunsthalle auszustellen,
obwohl sie über die Kunst noch gar nicht
verfügen darf.
Überhaupt die Raubkunst: Wenn
Monika Grütters solche Sätze sagt wie den,
dass in die Expertenkommission zur
Rückgabe von NS-Raubkunst keine Opferverbände hineinsollten, weil sie die
„Einzigen sind, die voreingenommen“ seien,
dann ist das im besten Fall unüberlegt.
Sie hat das während ihrer USA-Reise gesagt,
und die Bereitschaft der hiesigen Presse,
die von amerikanischen Medien überlieferte
Variante ihres Ausspruchs zu übernehmen, zeigt vor allem eins: Die Kontrolle
ist verloren.
Wenn es wirklich nur daran liegt, dass
sie „nicht zuhört“, dann sollte sie vielleicht
damit anfangen. Denn es gibt schon andere,
über die jetzt in Berlin der Satz gesagt wird,
dass sie Kulturstaatsminister werden wollen
und könnten. Und Sätze, die oft gesprochen
werden, werden häufig wahr.
Irgendwie schafft diese Frau es, alles
falsch zu machen, oder sie schafft es, alles so
zu machen, dass es als falsch empfunden
wird, oder vielleicht liegt es gar nicht daran,
dass sie, wie es dann weiter heißt, „beratungsresistent“ ist, sondern daran, dass sie
den Gestus der Macht doch nicht so selbstverständlich draufhat, wie man zunächst
meint, dass also umgekehrt Leute sie auflaufen lassen, gar nicht oder falsch beraten?
Was läuft schief und wie kann es
wieder geradelaufen?
APÉRO
NEUES, ALTES,
BLAUES
U IER
E
N H
Wer weiß, wie verspielt und prunkbesessen der späte Barock war, kann
sich vorstellen, was sich Landgraf
Karl von Hessen-Kassel vom römischen Bildhauer Pierre-Étienne
Monnot wünschte, als er ihm 1722
den Auftrag erteilte, sein Marmorbad auszustatten. Das Schwimmbad
im Orangerieschloss der Kasseler
Karlsaue ist Deutschlands letzte
bedeutende Badeanlage aus der
Zeit. Mithilfe der Kulturstiftung der
Ein Platz an der Sonne
B
unte, schwere Vorhänge kleiden den
Raum aus. Eine Bühne wird von
blinkenden Glühbirnen gerahmt, und
von der Decke strahlen massive Studiolichter herab. In Berlin-Kreuzberg kann man
dieser Tage mitten in das Set eines kleinen
TV-Studios hineinstolpern. Fünf Berliner
Künstler und Filmemacher haben es für
den Projektraum Kinderhook & Caracas
inszeniert. Was wird gezeigt? Alles was
Fernsehen so ausmacht: Spendengalas,
Conglomerate. Tele-Extravaganza Blue Carpet Event,
Installationsansichten bei Kinderhook & Caracas, 2016
Telenovelas und Dokumentationen. Dabei
lädt die Gruppe andere Künstler für
Beiträge ein. Übertragen wird das Programm erst einmal auf einer Website.
Dort wachsen 15-minütige Blöcke über
das Jahr hinweg zu einem großen Set
zusammen. Bunt soll es werden, auch ernst,
in jedem Fall absurd. Wenn Kunst und
Fernsehen verschmelzen, kann es nicht
ausbleiben, dass bewährte Formate
wiederentdeckt werden. Und so macht den
Anfang im April ein Telethon, der Saurier
früher TV-Unterhaltung: Bei dem Spendenmarathon klingeln Zuschauertelefone
wild durcheinander, Künstler nehmen die
Anrufe an, auf der Anzeigentafel schnellen
die Beträge nach oben. Bilder, die dieser
Tage eine seltsam unbedarfte Fröhlichkeit
umweht. Zwischendurch flimmern neue
Videos von Jeremy Shaw und ein Werbeclip
des Berliner Künstlers Constant Dullaart.
Abschalten nicht vergessen! MW
www.conglomerate.tv
APÉRO
16
PIERRE-ÉTIENNE
PIERRE
ÉTIENNE MONNOT
Vergoldete Statue des Paris für das Marmorbad in
Kassel, um 1700
Länder und anderer Unterstützung
wurden jetzt Terrakotta-Modelle
angekauft, die von der Genese des
Schaubads erzählen. Die vergoldeten Modelle sind plastische Vorstudien zu den Marmorfiguren des
Paris und der Bacchantin, die 1722
mit acht weiteren Figuren aus Rom
in Kassel eintrafen. Ihr Auftauchen
auf dem Kunstmarkt 2013 war eine
kleine Sensation, da sie bis zu
diesem Zeitpunkt unbekannt waren.
Zwei weitere Terrakotta-Modelle
der Statuen Venus und Narziss
befinden sich in Privathand und
sind für die Forschung praktisch
unzugänglich. SWKA
WANDKUNST
P
MANUFAKTUR PAUL BALIN Blumendekortapete mit
Blütenzweigen und Schmetterlingen (Ausschnitt), 1869
aul Balin (1832–1898) war
ein Meister des schönen
Scheins. Kacheln, Leder,
Samt und Seide verwandelte
der Pariser Tapetenfabrikant in
historistische Luxuspanoramen aus Papier, die bis heute
die Wände von Palästen,
Künstlerhäusern und Schlössern in aller Welt zieren.
Spätestens auf der Wiener
Weltausstellung 1873 avancierte Balin zum Lieblingslieferanten für dieses exquisite
Kunstgewerbe. Nun widmet
ihm das Deutsche Tapetenmuseum in Kassel erstmals
eine umfassende, mit Neufunden gespickte Ausstellung:
Bei Forschungsarbeiten hat
man 124 bisher unbekannte
sensationelle Tapeten im
Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK)
entdeckt, von denen einige
nun öffentlich präsentiert
werden. An ihnen lässt sich
ablesen, was Balin für ein
gewiefter Geschäftsmann war:
Er signierte jedes Stück,
das er dem Wiener Museum
schenkte, und versah es mit
Randnotizen zu den Vorbildern
der Motive. Anhand von
Dokumenten gewährt die
Ausstellung Einblick in
diese Schenkungsgeschichte, durch die Balin
mit dem Nimbus Museum
werben konnte. Tragischerweise sank sein Stern
mit dem wahnhaften
Verdacht, dass ihn Konkurrenten imitierten. Er
wurde zum Außenseiter,
machte Schulden und
suchte schließlich den
Freitod. GB
29. APRIL – 24. JULI
A
m Ende des Films
über die Künstlerin
Eva Hesse sitzt man
weinend im Kino. Bewegend
ist jedoch nicht nur ihr jäher
Tod im Alter von 34 Jahren,
als sie an einem Gehirntumor
stirbt. Hinein mischt sich auch
die Freude darüber, dass dieses intensive Werk weiterwirkt. 1939 schicken die jüdischen Eltern die dreijährige
Eva und ihre Schwester im
Kindertransport von Hamburg nach Holland. Die FamiEva Hesse, Woodstock, 1963
lie schafft es nach New York,
in letzter Sekunde. Doch die
Mutter nimmt sich später das
Leben, als sie hört, dass ihre
Eltern im KZ ermordet wurden. Die Kunst wird Eva Hesses Überlebensstrategie. Und der Erfolg ist ihr
wichtig. Als einzige Frau im Künstlerkreis um Sol LeWitt, Robert Mangold,
Carl Andre behauptet sie sich. „Qualität hat kein Geschlecht“, sagt sie im Film.
Das letzte Bild, das sie zu sehen bekommt, ist das Cover des Kunstmagazins
Artforum – darauf: Eva Hesse. Sie hat in fünf Jahren ein Werk geschaffen, das
zum großen Lebenswerk reicht. Die Hamburger Kunsthalle brachte es 2013 in
Eva Hesses Geburtsstadt. Im Rahmen der Schau entstand ein Dokufiktionsfilm, der nun endlich in die deutschen Kinos kommt. SWKA
GENIE
DIE MALERFÜRSTIN
GLORIA VON THURN UND TAXIS
Frank Castorf, 2015
APÉRO
17
G
loria von Thurn und
Taxis liebt klare
Worte, auch wenn es
um ihre Malerei geht: „Wenn
wir von Karen Kilimnik und
Elizabeth Peyton absehen:
Keine Sau will noch so was
Spießiges wie Porträtmalerei
machen.“ Also sei das ihre
Nische, „und es spielt keine
Rolle, ob es bedeutsam ist. Es
ist vor allem eine Gaudi.“
Ein Farbenhändler habe ihr
geraten, jeden Tag zu malen,
woran sie sich eisern halte.
Bestärkt von Freunden wie
Cindy Sherman und Jeff
Koons (und nur kurzfristig
entmutigt von Julian Schnabel)
entsteht nun Porträt um
Porträt. „Auf Reisen mit
Kreide, zu Hause mit Öl.“ Ab
dem 28. April sind ihre Berliner
Köpfe bei The Corner Berlin
zu sehen. CT
DICHTER DRAN
MERCI
Monika
RINCK
Was für Energien werden frei,
wenn die Sprachkunst auf
die Bildkunst triff t? Für BLAU
hören Lyriker auf den Klang
der Kunst. Monika Rinck, Jahrgang 1969, sagt Danke und die
Leere verendet.
Wie sagt man am Ende? Merci, sagt man. Da ist jetzt keine Leere mehr.
In den Gesten ist noch Licht, das geht. Sie haben uns zu sehr belohnt.
Wie sagt man noch? Etwa: Ich danke Ihnen für das Verenden der Leere.
Sie haben Licht gemacht. Mit Ihren Armen. Dafür danke ich Ihnen sehr.
Und was sagt man danach? Da zählt man dann die Farben auf. Falsch!
Voll falsch. Nach dem Ende steht die Schwerkraft gegen die Fliehkraft.
Licht, Luft und Nahrung waren Ihnen zunächst äußerlich. Das ist richtig.
Die Fuchtel einer aufgebrachten Geste, beteiligt am Entstehen der Beine.
Das Gesetz der Bewegung verlangt, in Richtung des Himmels zu stürzen.
Am Ende war keine Gnade, Sie aber sagten: Danke, am äußersten Ende.
Inspiriert von
Joan Mitchell
Aber sagt man das auch? Und wenn ja, wann soll man es sagen, zu wem?
Sie waren zu zweit. Das machte das Sagen leichter, machte es schwerer.
Die Bewegung aber könnte das tragen, hinstellen, eben bewegen. Am Ende
natürlich Erbarmen. Nein, war da nicht. Am Ende war nichts als der Wunsch,
nicht länger zu warten, ab heute nicht mehr auszuharren, in der Schräglage
einer Frage, Geste oder Bitte um Entschuldigung, einer angelehnten Reue
oder Äußerung der Reue in unverständlicher Sprache. Harren Sie also aus,
im Dank des unergründlichen Sogs oder Songs, der ganz leise nach oben,
unten, zur Seite, zur anderen, in Bewegung gerät. Der Dank ist das Fremde.
Das geht, wenn es zum Abschied kommt. Des Gastes, wenn er weiter muss.
JOAN MITCHELL
Merci (Diptychon), 1992, Öl auf Leinwand, 280 × 360 cm
APÉRO
18
BEWEGTBILD
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
UFO UND MOLLI
ANDRO WEKUA über seinen
einen
Lieblingsfilm
Die Farbe des Granatapfels
pfels
„Die Farbe des Granatapfels
atapfels
des armenischen Regisseurs
gisseurs
Sergej Paradschanow hat mich
sehr geprägt. Ich sah ihn zum
ersten Mal als Jugendlicher
icher in
Georgien. Mich faszinierte,
erte, wie
er sich aus verschiedenen
nen Szenen zusammensetzt, die
e wie eine Abfolge von Bühneninszenierungen wirken. Der Film ist
komplex, eine Art Bildgedicht
voller Symbole und Rituale,
aber auch ziemlich direkt gemacht, wie ein Theaterstück
ohne Dialoge. Paradschanow
hatte kaum Budget, doch das
Provisorische macht den Reiz
aus. Mir erschien es revolutionär, dass Sofiko Chiaureli in der
Hauptrolle sechs Figuren spielt –
Frauen und Männer! Der Film
ist ja von 1969. Außerdem fesselten mich die Farben. Paradschanows Umgang damit ist
mir sehr nah. Man kann an einer Stelle sehen, wie jemand
etwas rot einfärbt, ich glaube
Wolle. Dieses leuchtende Rot
durchzieht den ganzen Film.“
DER
KÖLNISCHE
KUNSTVEREIN ZEIGT
VOM
15.04.–19.06.
ANDRO
WEKUAS
AUSSTELLUNG
ANRUF
Hart, aufregend, explosiv, der Lamborghin
Lamborghini
Miura. Ein Bote der Zuversicht, dass alles
und
besser un
schöne
schöner
wird
LAMBORGHINI MIURA
D
er Straßenkampf
begann 1966.
Erschnaubt von einem
27-Jährigen namens Marcello
Gandini stürzte der Lamborghini
Miura die herrschenden
Verhältnisse im Automobilbau
um. Die Härte und Aggression
des Rennsports wurden in die
bis dahin idyllische Welt des
Jetsets gekippt. Quer, direkt
hinter dem Sitz des Piloten,
röhrte und lärmte der Zwölfzylinder und forderte konstant
zum Gesetzesbruch auf. Das
Ganze war so laut, dass keine
bürgerliche Konversation
möglich war, nur Schreien und
ab und an der Blick aus dem
Fenster, auf eine Wirklichkeit,
deren Zeit gekommen war.
Die 60er-Jahre waren und sind
eine Hochzeit des
Autodesigns gewesen. Mehr als die
dann doch eher am
19. Jahrhundert
orientierten Studenten- und Kommunistenerhebungen waren
Die Farbe des Granatapfels, 1969,
die jungen, aggressiein Film von Sergej Paradschanow
ven Geschöpfe des Automobilbaus Ankündiger einer umstürzlerischen Zeit. Der Miura von
Lamborghini war eine Mischung
aus Ufo und brennendem
Molotowcocktail, und so fuhr
er sich auch. Aufgrund der
schlechten Aerodynamik konnte
die Höchstgeschwindigkeit
von fast 280 km/h nur erreicht
werden, wenn man sein Leben
aufs Spiel setzte. Ein Windstoß
genügte, und der Miura hob
vorne ab. Es wäre in jedem Fall
ein sehr schöner Tod geworden. Die erste Baureihe war
auch explosiv wie ein Molli. Der
zu Beginn verbaute Vergaser
war auf Rennstrecken abgestimmt und eben nicht für den
üblichen Straßenverkehr.
Mit der Konsequenz häufiger
Selbstverbrennungen auf
offener Bühne. Galten Ferraris
als Renaissance-Schönheiten,
waren Lamborghinis manieristische Geschöpfe aus der
direkten Nachbarschaft Enzo
Ferraris. Irrwitzige, abstruse,
abenteuerlich schöne wie starke,
oft genug selbstmörderische
APÉRO
19
Sant’Agata,
Kisten kamen aus Sant’A
stets am Rande des Konkurses
entworfen und gebaut. Der
Miura war und ist anders: Der
wird auch von Porsche-Fahrern
und Ferraristi geliebt. Zum 50.
Geburtstag hat Lamborghini
einen Miura rekonstruiert und
in der aufwühlenden Farbe
Dunkelfroschgrün-Metallic
lackiert. Er ist ein Bote der
Zuversicht, dass alles besser
und schöner wird. Ein letzter
euphorischer Gruß an eine
Zukunft, die mit der Ölkrise und
dem Bericht des Club of Rome
untergegangen ist. Frank Sinatra
und der Schah von Persien
liebten ihren Miura, weil sie in
ihm glaubten, dass die großen
Zeiten erst kommen werden,
obwohl sie vorbei waren. Es war
ein Glück ohne Komfort. Die
Fahrt im Miura ist hart und
aufregend. Jedes Detail ist schön,
warum sollte er dabei noch
alltagstauglich sein? Dieser
Wagen war der Vorschein
seiner eigenen Utopie. Eine
Art Wunder.
ULF POSCHARDT
PORTRÄT
„SONST BRECHEN WIR
DAS GESPRÄCH AB“
hat seine Stimme besonderes
Gewicht, wenn es um Zu- oder
Abschreibungen geht. Nach
Rembrandt – The Painter at Work
hat van de Wetering seine Erfahrungen und Erkenntnisse in
einem neuen Buch versammelt:
Rembrandt – The Painter Thinking.
Seit rund 150 Jahren wächst
die Rembrandt-Literatur ins
Bedrohliche. Was weiß man
noch nicht über den Maler?
— Die Literatur über
Rembrandt hat viel gebracht.
Nur ist in der Fülle nicht immer
leicht zu erkennen, was gesicherte Fakten sind und was
populäre Erzählung ist. Tatsächlich ranken wie bei vielen
großen Künstlern zähe Legenden um Rembrandts Werk und
Leben. Es gibt diese Mär vom
verkannten Künstler, der in den
Bankrott getrieben worden sei.
Gern werden auch seine Frauengeschichten kolportiert und
manch anderer Quatsch. Zwar
hat man den RembrandtMythos längst enttarnt, aber es
ist noch immer schwierig, das
gereinigte Bild auch öffentlich
durchzusetzen.
DIE BLENDUNG SIMSONS 1636, Öl auf Leinwand, 206 × 276 cm
Rembrandts Kunst ist Kunst
über Kunst. Man sollte sie
schützen vor dem modernen
Blick. Sagt Ernst van de
Wetering, der beste – und leicht
reizbare – Kenner des Werks
D
er niederländische
Rembrandt-Experte
Ernst van de Wetering,
Jahrgang 1938, ist eine Autorität auf seinem Gebiet. Keiner
hat so lange und so intensiv
über das Werk des Malers
geforscht. Keiner hat so viel
über ihn geschrieben. Als
prominentestes Mitglied des
„Rembrandt Research Project“,
das seit Jahrzehnten mit der
Erstellung eines gültigen
Œuvre-Katalogs beschäftigt ist,
APÉRO
20
Dabei ist Rembrandt-Forschung
doch lange Zeit Publikumsernüchterung gewesen. Gnadenlos
hat das Rembrandt Research
Project einen Verehrungsgegenstand nach dem anderen aberkannt. Nicht zuletzt den Mann
mit dem Goldhelm, den Generationen in der Berliner Gemäldegalerie bewundert haben.
— Vielleicht ist ja die frühe
Werkphase bis zur Nachtwache
des Jahres 1642 aufs Ganze
gesehen doch zu schroff gereinigt worden. Deswegen habe
ich auch im letzten Band des
Œuvre-Katalogs von den
ursprünglich abgeschriebenen
Gemälden etwa 40 wieder
Rembrandt zuerkannt.
Ein seltener Fall von Selbstwiderspruch der Wissenschaft.
— Ich denke, es gibt gute
Gründe dazu. Ich war ja im
Rembrandt Project der Jüngste
im Team und zugleich derjenige,
der über sehr viel mehr Aspekte
im Werk von Rembrandt
geforscht hat als manche meiner
Kollegen. So ist über die Jahre
hin das Verständnis für jedes
einzelne Bild gewachsen. Und
in der Zwischenzeit bin ich
überzeugt, dass Urteile, die allein
auf stilkritischer Kennerschaft
beruhen, überholt sind. Wir
verfügen heute über bildtechnische Kenntnisse, die nahelegen, das eine oder andere zu
Unrecht aberkannte Bild wieder
Rembrandt zuzuschreiben.
Buch entstanden Rembrandt –
The Painter at Work.
Und nun heißt Ihr neues Opus
magnum Rembrandt – The
Painter Thinking.
— Ja, jetzt liegt der Fokus auf
dem Denken, auf Rembrandts
Kunsttheorie.
Worin unterscheidet sich
Rembrandts Kunstauffassung
von den Kunsttheorien des
17. Jahrhunderts?
— Ganz wichtig für die Zeit war
das Schilder-Boeck (Das MalerBuch) des Karel van Mander, in
dem der Maler und Kunstschriftsteller die Grundlagen der
Malerei beschreibt. Anders als
die humanistische Kunsttheorie,
die in Italien vor allem damit
Auch Gnade für den Mann mit
beschäftigt war, die Malerei auf
dem Goldhelm?
die intellektuelle Ebene der
— Es war Jan Kelch, der
anderen freien Künste zu heben,
ehemalige Direktor der Berliner
ging es Mander darum, alle
Gemäldegalerie, der das Gemälde wichtigen Aspekte der Malerei
problematisiert hat. Von ihm
aufzulisten, Zeichnung, Proporging die Initiative aus. Wir waren tionen, Affekte usw. Auch
zwar auch überzeugt, dass es
Rembrandt hat sich mit diesem
kein Rembrandt ist, aber wir
Lehrbuch auseinandergesetzt.
haben das Bild nie offiziell
Wie er Mander rezipiert und für
abgeschrieben. Auch wenn
sich erweitert hat, erfährt man,
uns das immer wieder nachwenn man die Aufzeichnungen
gesagt wird.
seines Schülers Samuel van
Hoogstraten analysiert, in denen
Und wenn Sie bewertend auf
er sich ganz ausdrücklich auf
die Arbeit in der Rembrandtseinen Lehrer bezieht. Man kann
Jury zurückblicken?
aus den Notizen, die Hoogstra— Es war eine Gruppe, die
ten sich während des Unterdemokratisch funktioniert hat.
richts bei Rembrandt gemacht
Das heißt, es wurde bei jedem
hat, dessen eigene Kunstauffaseinzelnen Bild abgestimmt. Und sung destillieren. Das ist bislang
wenn ich einen Minderheitenzu wenig berücksichtigt worden.
Standpunkt hatte, dann habe ich
das in vielen Fällen publizieren
Ein Verfahren, das deutlich im
lassen – ganz bescheiden am
Widerstreit zur gängigen
Ende des Textes. Ich hatte ja als
Rembrandt-Forschung liegt, die
ursprünglich ausgebildeter
sich in den letzten Jahren vor
Maler einen anderen Hinterallem mit Rembrandts Rolle als
grund, sehe mit anderen Augen, Künstler, mit seinen Erfolgssehe ein Bild nicht als Bild,
strategien beschäftigt hat. Kann
sondern als Resultat eines Prozes- man sagen, dass es jetzt wieder
ses. Daraus ist mein letztes
um Bilder geht?
— Jedenfalls habe ich
die Hoffnung, dass, wer
mein Buch liest, mit
anderen Augen auf die
Bilder sieht. Und in den
Bildern den denkenden,
suchenden Künstler
erkennt, dessen Malerei
eben nicht Mittel der
Expression ist. Gerade
Rembrandts Selbstbildnisse sind ja häufig als
eine Art Ausdruckskunst beschrieben
worden, als sei hier der
Maler auf der Suche
nach sich selbst. Das ist
aber gar nicht der Fall.
Es sind Bildnisse von
Rembrandt, von ihm selbst
gemalt, weil er ein berühmter
Maler war. Das ist ein ganz
anderes Motiv, als es der
moderne Selbstporträtist hat,
der in den Spiegel guckt
und seine Psyche erkundet.
ERNST VAN DE WETERING
Friedenszeit. Wirtschaftsblüte
dank weltweiter Handelsbeziehungen. Ein stolzes, selbstbewusstes Bürgertum. Von all dem
ist in Rembrandts Werk kaum
etwas zu spüren.
— Völlig anachronistisch, Ihre
Kunstbetrachtung. Es geht nicht
um Politik, nicht um Wirtschaft,
Wenn ich Sie recht verstehe,
dann ist es eigentlich unzulässig, nicht um die Gesellschaft. Es
geht um einen Kunstbegriff und
auf Rembrandts Bilder mit
der hatte mit ökonomischen
zeitgenössischen Erfahrungen
Umständen nichts zu tun. Sie
zu blicken …
— Man muss Rembrandts Bilder müssen sehr vorsichtig sein
mit Ihrer These, dass die Kunst
zeitgerecht sehen. Man verfehlt
Ausdruck ihrer Zeit sei. Die
das Werk, wenn man es in
Kunst des 17. Jahrhunderts hatte
anachronistische Kategorien
ihre eigene Sprache, die nicht
zwängt. So wie man sagt,
an sozialer Wirklichkeit interesFrans Hals, der ist ja fast ein
siert war. Sie griff auf Ideen,
Impressionist. Von solchen
Formen und Motive zurück, die
Anachronismen, die sich beim
zum Teil schon im klassischen
Sehen einschleichen, nährt
Altertum entwickelt worden
sich der Mythos. Man projiziert
waren. So wusste ein Kunstkeneine Auffassung des 19. Jahrner des 17. Jahrhunderts mehr
hunderts, ein romantisches
über antike Maler wie Apelles
Künstlerbild auf Rembrandt
und Zeuxis als über die Maler
und gibt sich nicht die Mühe,
seiner Zeit. Was Sie sagen, das
die Bilder mit den Augen
erschreckt mich, muss ich sagen.
eines Kenners des 17. Jahrhunderts zu betrachten.
Ich möchte Sie ja nicht erschrecken, aber hatte ein Maler
Also versetzen wir uns ins
wie Rembrandt nicht auch den
17. Jahrhundert. Es war das
Ehrgeiz, in seiner Zeit zu
berühmte Goldene Zeitalter
wirken?
in den Niederlanden. Lange
APÉRO
21
an Rubens, den er übertreffen
möchte. Darum geht es: um den
Ehrgeiz, ein ungemein lebhaftes, erschreckendes, in der
Lichtgestaltung phänomenales
Bild zu malen. Und nicht um
soziale Wirklichkeit.
BADENDES MÄDCHEN (STUDIE NACH HENDRICKJE STOFFELS)
1654, Öl auf Leinwand, 62 × 47 cm
Realismus, dem auch die Hässlichkeit malenswert erschien.
Und es gibt an dem Bild zwei
Seiten. Die eine ist der Inhalt:
Mann und Frau, das heißt,
die Gefahr, die von der Frau
ausgeht, ein Thema, dem
ja viele Gemälde und Texte
in der Zeit gewidmet sind.
Lassen Sie es uns doch noch
Die alttestamentliche Delilaeine Weile versuchen. Malt
und-Simson-Geschichte ist
einer ein Schauerbild wie Die
Blendung Simsons im Frankfur- dafür eines der großen Beispiele.
Zugleich aber ist das Bild
ter Städel Museum – ohne
auch ein Schaustück, wie gut
Auftrag, also freiwillig –, wenn
Rembrandt malen konnte,
er nicht Interesse oder sagen
wir Neugier an der Lebenswirk- eine abenteuerliche Komposition aus Licht und Bewegung,
lichkeit namens Gewalt hat?
Hässlichkeit und Schönheit.
Der Schriftsteller Elias Canetti
Bis kurz zuvor stand Rembrandt
hat gesagt, vor dem Bild habe
ja im Dienste eines Malers, für
er gelernt, was Hass sei.
den er hauptsächlich Porträts
— Canetti mag das geschrieben
anfertigen musste. Jetzt gehört
haben. Aber er hat nicht das
Recht dazu. Das ist eine intuitive er selber zur Gilde und tritt
selbstbewusst auf, malt große
Aussage, die nichts über
Formate, dramatische Szenen
Rembrandt sagt. Der Maler war
und denkt dabei unverkennbar
bekannt für seinen drastischen
— Nein, hatte er nicht!
Rembrandts Kunst ist Kunst
über Kunst. Und nicht Kunst
über die Gesellschaft. Und
wenn Sie bei dem Gedanken
bleiben, dann beenden wir
lieber unser Gespräch.
Ein intimes Bild ist auch das
Badende Mädchen aus dem Jahr
1654, das ins seichte Wasser
steigt, das Kleid hochhält
und mit sichtlicher Laune im
Wasserspiegelbild betrachtet,
was uns verborgen ist. Der
Kunsthistoriker Max Eisler hat
hier einen „erotischen Exzeß
des Meisters“ entdecken wollen.
— Ich habe da ganz andere
Ansichten über die Funktion
und Ikonografie des Bildes, weil
die junge Frau ganz sicher nicht
im spiegelnden Wasser unter
ihren Rock schauen will, wie Sie
sagen. Das Bild, wahrscheinlich
gemalt für Hendrickje Stoffels,
Rembrandts Haushälterin und
Geliebte, handelt in Wahrheit
von Kallisto. Kallisto war eine
Nymphe aus dem Gefolge von
Diana und wurde, das kann
man in Ovids Metamorphosen
nachlesen, auf ziemlich gräuliche Weise von Zeus vergewaltigt. Als ihre Schwangerschaft
offensichtlich wurde, hat sie
Diana, bei der strenge Keuschheit galt, sogleich verbannt.
An ihrem Attribut, dem Hemd,
das sie anhebt, ist Kallisto
eindeutig zu erkennen. Das
Besondere ist, dass in dem Jahr,
in dem das Bild entstanden ist,
auch Hendrickje schwanger ist
und ebenfalls verbannt wird,
nämlich aus der Kirche.
Warum hat Rembrandts Werk
so viel Bewunderung, aber auch
Ablehnung erfahren?
— Die negativen Beurteilungen
von Rembrandts Werk sind alle
erst nach seinem Tod entstanden. Das hat vor allem damit zu
APÉRO
22
tun, dass kurz vor seinem Tod
der französische Klassizismus
Mode wird – auch in Holland.
Für die Vertreter des normativen Klassizismus war Rembrandt
der bedeutendste Vertreter des
vorklassizistischen Realismus.
Zu Lebzeiten aber wurde er als
großer Maler anerkannt, er hatte
die meisten Schüler und bei
Weitem die höchsten Preise.
Und die Kritik an der berühmten Nachtwache?
— Das ist ja auch so ein Mythos.
Die Rembrandt-Forschung hat
der populären Erzählung, das
Gemälde sei nicht akzeptiert
worden, schon lange widersprochen. Rembrandt hat sein Geld
bekommen, und das Gemälde
hing lange an dem Platz, für
den es gemalt worden ist. Diese
Lebenseinteilung in eine Phase
der Bewunderung bis ins Jahr
1642, auf die dann der Abfall in
die Depression gefolgt sei, der
vergrämte, in sich gekehrte, verpönte Rembrandt, ist reine
Erfindung. Es war der deutsche
Kunsthistoriker Carl Neumann,
der um die Jahrhundertwende
diesen Mythos aufgebracht hat.
Einen Mythos, der enorm
populär werden sollte. Gehört
doch das gespaltene biografische Modell, die Saulus-PaulusDialektik, zum beliebten
dramaturgischen Muster vieler
Lebensbeschreibungen. Aber
bei Rembrandt gibt es diesen
biografischen Wechsel so nicht.
Dass es zu Veränderungen im
Spätwerk kommt, beweist nur
die höchsten Ansprüche, die
er an die Malerei stellt. Davon
handelt mein Buch.
INTERVIEW:
HANS-JOACHIM MÜLLER
ERNST VAN DE WETERING:
REMBRANDT – THE PAINTER THINKING, AMSTERDAM UNIVERSITY
PRESS, 2016
CONTEMPORARY ART 1301PE | A ARTE INVERNIZZI | ACB | AKINCI | MIKAEL ANDERSEN | ANHAVA | ARTELIER CONTEMPORARY | JÜRGEN BECKER | BO BJERGGAARD | BLAIN
SOUTHERN | NIELS BORCH JENSEN | JEAN BROLLY | DANIEL BUCHHOLZ | BUCHMANN | SHANE CAMPBELL | CANADA | GISELA CAPITAIN | CAPITAIN PETZEL | CONRADS |
CONTEMPORARY FINE ARTS | COSAR HMT | CRONE | DEWEER | EIGEN + ART | FIEBACH,MINNINGER | KONRAD FISCHER | LAURENT GODIN | BÄRBEL GRÄSSLIN | KARSTEN GREVE |
BARBARA GROSS | HAAS | HÄUSLER CONTEMPORARY | HAMMELEHLE UND AHRENS | JACK HANLEY | REINHARD HAUFF | HAUSER & WIRTH | JOCHEN HEMPEL | MAX HETZLER | FRED
JAHN | KADEL WILLBORN | MIKE KARSTENS | KERLIN | KLEMM’S | KLÜSER | SABINE KNUST | KÖNIG | CHRISTINE KÖNIG | KOENIG & CLINTON | KRINZINGER | KROBATH | KROMUS +
ZINK | BERND KUGLER | PEARL LAM | LANGE + PULT | GEBR. LEHMANN | CHRISTIAN LETHERT | LÖHRL | LINN LÜHN | MAIOR | MARLBOROUGH CONTEMPORARY | HANS MAYER |
MOT INTERNATIONAL | VERA MUNRO | NÄCHST ST. STEPHAN | NAGEL DRAXLER | NEU | CAROLINA NITSCH | DAVID NOLAN | NOSBAUM & REDING | OMR | ONRUST | ROSLYN
OXLEY9 | PARAGON
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ROPAC | PHILIPP VON ROSEN | BRIGITTE SCHENK | ANKE SCHMIDT | RÜDIGER SCHÖTTLE | SIES + HÖKE | SLEWE | SPRÜTH MAGERS | NILS STAERK | JACKY STRENZ | SUZANNE
TARASIEVE | ELISABETH & KLAUS THOMAN | WILMA TOLKDSDORF | TUCCI RUSSO | VAN HORN | FONS WELTERS | WENTRUP | MICHAEL WERNER | THOMAS ZANDER | DAVID ZWIRNER
MODERN, POST-WAR AND CONTEMPORARY BECK & EGGELING | KLAUS BENDEN | BERNHEIMER FINE ART | BOISSERÉE | BORZO | BEN BROWN FINE ARTS | DIERKING | JOHANNES FABER |
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APÉRO
23
BLITZSCHLAG
DIE ZEIT
DAZWISCHEN
Es ist ein Augenblick der
Gewissheit: Dieses Kunstwerk
trifft mich im Kern.
Siri Hustvedt über Edvard Munchs
Gemälde
Pubertät, dem
ls Kind zeigte ich eine
Begabung fürs Zeichnen
sie als kleines
und saß oft stundenlang
über den Kunstbänden meiner
Mädchen
Eltern. Am besten gefielen mir
Bücher mit Reproduktionen der
begegnete
Bilder von Edvard Munch. Ich
A
weiß nicht mehr, wie alt ich war,
als ich sein ungewöhnliches
Gemälde Pubertät von 1894/95
zum ersten Mal sah, aber es
war lange bevor ich selbst in die
Pubertät kam. Munchs Bild
eines auf der Bettkante sitzenden
nackten Mädchens, hinter sich
einen drohenden Schatten,
der ein Eigenleben zu besitzen
scheint, übte eine ungeheure
Faszination auf mich aus. Und
es fasziniert mich noch immer.
Die Arme des Mädchens sind
vor ihren Schenkeln verschränkt,
die Hände liegen an den Knien,
während sie die Beine fest
geschlossen hält. Ihr Gesichtsausdruck fesselte mich damals
wie heute. Ich entdecke darin
eine Mischung aus Angst
und intensivem Denken, die
bestürzende Mischung aus
einem verletzlichen Kind und
einem Philosophen bei der
Arbeit. Trotz ihres offensichtli-
Ihr letztes Buch Die gleißende Welt nimmt die Kunstwelt ins Visier:
SIRI HUSTVEDT, Schriftstellerin aus New York
chen Unbehagens hat der Maler
das Mädchen mit einer subjektiven Würde versehen, die er
seinen geschlechtsreifen Frauen
selten verlieh, diesen bedrohlichen Vampiren, die sich an ihren
männlichen Opfern gütlich
tun. Munchs Mädchen ist auch
ein Junge – der Titel Pubertät
umfasst eine Übergangszeit in
der menschlichen Entwicklung
zwischen Kindheit und Erwachsensein, eine Zeit sprunghafter
Veränderung, die wir alle
durchmachen. Heute weiß ich,
dass der Künstler damals in
Berlin lebte, dass er von Max
Klinger beeinflusst wurde
und seine Vorstellungen von
Liebe und Sexualität sich
änderten. Davon ahnte
ich als kleines Mädchen
nichts. Ich wusste, dass
ich ein erstaunliches Bild
des denkenden Körpers
betrachte, ein Bild, das
einen tiefen Nachhall in
meinem Innenleben fand.
Im Nachhinein hat das
Bild etwas Prophetisches:
Die Idee des Übergangs,
des Dazwischen, einer
menschlichen Realität, in
der Fühlen und Denken
verkörpert und dynamisch
sind, hat mein gesamtes
Werk, das fiktionale wie das
nichtfiktionale, geprägt.
ÜBERSETZUNG: ULI AUMÜLLER
APÉRO
24
EDVARD MUNCH
Pubertät, 1894–95
<6A:G>:H8=L6GO:G
@Žc^\hVaaZZ(%@Ž"8ZciZgÊ)%'&'9“hhZaYdg[
IZa#%'&&"(,)**(Êlll#\VaZg^Z"hX]lVgoZg#Xdb
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hjg\VaZg^ZYZkd^ijgZ¼!&.+(
&(%m&*%m)*Xb!h^\c^ZgijcYYVi^Zgi
UM DIE ECKE
SEIN VEEDEL
IN KÖLN
Jede Stadt hat ihre
Mikrokosmen,
wir stellen sie vor.
In Köln zeigt uns
Mark von Schlegell
sein Veedel wenige
Minuten vom Dom.
Der amerikanische
Schriftsteller läuft
auf den Scherben
unserer Geschichte
und schaut mit
uns in die Weite
seines Universums
A
ls freier Autor in einem fremden Land,
als Amerikaner in Deutschland, habe
ich mich selbst schon in den unterschiedlichsten Büros wiedergefunden, in allen
Zeiten. Die spannendste Umgebung aber, in
der ich jemals geschrieben habe, führt mich
zehn Minuten vom Kölner Hauptbahnhof
nach Westen. Nur scheinbar ruhig, strotzt
dieses Viertel vor aufwühlenden Geschichten
und Charakteren, hält einen Science-FictionAutor wie mich in der Stadt fest, beschäftigt
mich, wenn ich gerade nicht schreibe.
Den besten Kaffee gibt es bei Baris
Aksu in der Kolumbastraße. Im Jahr 1999
hat er in Köln sein Geschäft „Espresso Per-
fetto“ eröffnet. Eigentlich wollte er dort nur
Espressomaschinen verkaufen. Doch sein
Kaffee war so gut, dass jetzt Baristas dort
den besten Espresso der Stadt machen und
ich mich jeden Morgen bereitwillig in die
Schlange stelle. Die Reihe bewegt sich schnell
vorwärts, und ich beobachte die Menschen,
treffe Künstler oder auch Schauspieler; der
Westdeutsche Rundfunk ist gleich um die
Ecke. So beginne ich meinen Tag. Aksus
Vater hat das Café designt, wohlig warm in
Pastellfarben und glänzendem Chrom. Mittlerweile hat Baris Aksu noch einen zweiten
Laden in Köln und ein nächster ist in Istanbul geplant.
Wie tief Köln in der Türkei verwurzelt
ist, sieht man heute an der Architektur und
im Innern der zwölf romanischen Kirchen,
für die die Stadt berühmt ist. Vom Café aus
sehe ich direkt auf die Grundmauern von
St. Kolumba. Im Zweiten Weltkrieg heruntergebombt bis auf die Bruchsteine eines
ursprünglich hier stehenden fränkischen
Gehöfts, wurde die Kapelle vom Architekten
APÉRO
26
Peter Zumthor in ein international gefeiertes
Museum verwandelt, das sich nun über den
Fragmenten der Geschichte erhebt. Es
beherbergt die Kunstsammlung der Erzdiözese Köln, der Beschützerin der rheinischen
Kunst über Jahrhunderte hinweg. Wir Amerikaner sind nostalgisch, ich liebe es, über
Richard Serras Stahlskulptur The Drowned and
Saved zu balancieren. Sie nimmt geradezu
körperlichen Kontakt auf zu den GIs, die
im März 1945 in das von der Geschichte
vieler Jahrhunderte beladene Köln einmarschiert sind.
In diesen Schichten der Zerstörung
wird die Historizität Kölns sichtbar. Die
Geschichte öffnet und faltet sich gleichsam in
TRIP MIT MARK VON SCHLEGELL
BEI BARIS AKSU (OBEN) TRINKT
DER AUTOR SEINEN MORGENDLICHEN
ESPRESSO, IN DER ROMANISCHEN
KIRCHE ST. ANDREAS GENIESST ER DIE
BEWUSSTSEINSERWEITERNDE
WIRKUNG DER GEOMETRIE (RECHTS)
UND RICHARD SERRAS SKULPTUR
(UNTEN) VOR DEM KOLUMBA (LINKS)
BRINGT IHN IN KONTAKT
MIT AMERIKANISCHEN GIS
sich zusammen, so als forme sie
aus vielen Überresten und Altlasten ein Reliquiar – in einer Welt,
die nach all dieser Zeit ein Relikt
ihrer selbst geworden ist.
In der Kirche St. Andreas
kann man Reste aus jeder Epoche
der Kölner Geschichte vom Mittelalter bis in die Moderne entdecken. Man kann hier Stunden verbringen, die klare Geometrie
hilft, über die Tiefe des Universums zu sinnieren. Denn in der
Kirche herrscht totaler Frieden, nur unterbrochen vom freundlichen, klugen Sakristan
Christoph Wenzel, der mich bittet, meinen
Hut abzunehmen.
rstmals geweiht im späten 10. Jahrhundert, ist St. Andreas die einzige Kirche
in Köln, die die Bombenangriffe im
Zweiten Weltkrieg fast intakt überstand. Nur
wenige wissen, dass alle anderen Kirchen
nicht alt sind, sondern nach dem Krieg wieder aufgebaut wurden. Trotzdem gingen die
schweren Zeiten auch an St. Andreas nicht
spurlos vorüber, etwa das große Feuer von
1220 oder die Besetzung durch Napoleon.
Um die Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem (deren Bischof auch Kurfürst von Köln
E
war) zu demütigen, brachte der Möchtegernimperator seine Kavalleriepferde in der Kirche unter. Die Gemälde haben das nur partiell überlebt. Doch sogar der flüchtige Blick
auf ihre außerordentliche Technik und Farbigkeit zeugt von einer Einheit der Kunstfertigkeit, Erzählkunst, Religion, Architektur
und Bildhauerei mit beinahe holografischem
Nachklang. Die namenlosen Künstler, die
im byzantinischen Stil an drei fast komplett
erhaltenen Fresken in einer Seitenkapelle
arbeiteten, schlagen einen Bogen zur Gegenwartskultur von Sprache und Kunst, wie es
sie in Köln erst in den 1980er-Jahren wieder
gegeben hat – in drei unglaublichen, vollständig erhaltenen Wandmalereien. Als KunstAPÉRO
27
kritiker – für diesen
einen kurzen Satz
übernehme ich einmal diese Rolle –
kann ich sagen, auch
wenn er an einer
Tür der Sakristei zu
suchen ist, es gibt
keinen Drachen töter so nahe an
der Schwelle zur
Moderne und so
sciencefictional
wie diesen Heiligen
Georg den Gelben.
Der hallende
Gang durch die
Kirche zeigt mir
Märtyrerschädel in
goldenen Gehäusen – auch Splitter
des echten Kreuzes.
Reliquien, wohin
der Blick auch geht.
Erstaunlich die Gebeine, die
von der Heiligen Helena, der
Mutter des ersten christlichen
römischen Kaisers Konstantin,
um 320 nach Byzanz gebracht
wurden. 900 Jahre später
gelangten sie in den Besitz
eines der hervorragendsten
Denkers von Köln: Doctor
universalis Albertus Magnus.
Der Universalgelehrte lebte
und unterrichtete in Köln als
Dominikanermönch. Seine
letzte Ruhestätte in St. Andreas fand er auf
Geheiß seines Ordens aber erst nach dem
Zweiten Weltkrieg, da man die Krypta wiederentdeckt hatte. Als Science-Fiction-Fan
kenne ich den großen Albert natürlich als
den Schöpfer des zweiten Androiden der
Welt („der Messingkopf “ oder „die sprechende Bildsäule“), als Astrologen, Alchemisten und Besitzer des eigentlichen Steins
der Weisen. Christoph Wenzel erzählt, dass
er auch Dominikanermönch war, Lehrer von
Thomas von Aquin, ein Naturwissenschaftler und Kämpfer für freie Gedanken – wenn
nicht sogar für Frauenrechte.
Wie der im Weltraum festsitzende
Sundogz in meinem jüngsten Roman liebten
die Römer das Wasser. Sie hätten alles getan,
um mehr davon zu haben. Man kann viel
über dieses ambitionierte Volk sagen, aber
vor allem waren sie die großartigsten
Sanitärinstallateure aller Zeiten. Als wären
sie allergisch gegen die germanische Magie
des Rheins gewesen, insistierten der Feldherr Germanicus und seine Gefolgsleute
darauf, ein Ingenieurwunderwerk zu errichten, mit dem frisches Quellwasser aus der
Eifel nach Köln geleitet wurde, um die städtischen Brunnen zu speisen. Daran erinnert
das „neoromanische“ Monument des
Römerbrunnens.
anz in der Nähe poliert seit 1950 das
Besteckhaus Glaub seine Silberwaren.
Heute führt Anita Glaub das Geschäft
ihres Vaters mit Unterstützung von Hermann Freiß, einem ausgewiesenen Liebhaber von handgemachtem Hausgerät, und
wacht persönlich über die Herstellung,
Reparatur, Aufbewahrung und Präsentation
von Löffeln, Gabeln und Messern in einem
der beliebtesten Schaufenster der Stadt. Für
Hildegard von Bingen war das Essbesteck
noch ein Werk des Teufels; Frau Glaub erinnert uns daran, dass die Gabel aus Byzanz zu
uns kam.
Auch wenn es jetzt einen Seiteneingang
gibt, der beste Weg, um die Galerie Daniel
Buchholz zu entern, ist durch ein Anticham-
G
KÖLN BLICKT ZURÜCK
NONNEN GEHÖREN AUCH
HEUTE NOCH ZUM STADTBILD
VON KÖLN, HIER VOR DEM
FRAUENVEREIN „DAS LÄDCHEN“
(LINKS). NEBENAN FÜHRT
ASSAWIN GETHUTAWORN DAS
ANTIQUARIAT BUCHHOLZ
(OBEN) UND IM EL-DE-HAUS
WIRD AN DIE GESCHICHTE DER
STADT IM NATIONALSOZIALISMUS ERINNERT (UNTEN)
bre, in dessen Genuss nur wenige Ausstellungen kommen: das Antiquariat Buchholz,
heute eine der vorzüglichsten antiquarischen
Buchhandlungen, die in der Stadt überlebt
haben. Ist man mit dem Galeristen und
Büchersammler Buchholz unterwegs zur
Cutting-edge-Kunst der Gegenwart (in ihrer
Natur oft durchaus literarisch), führt der Weg
über dessen persönliche Obsessionen und
Interessen oftmals auch in die fortdauernde,
wenngleich vergessene Geschichte der Science-Fiction im literarischen Europa des
18. und 19. Jahrhunderts.
Als der Antiquar Daniel Buchholz
senior im Jahr 1993 verstarb, zog sein Sohn
Daniel mit seiner Galerie für zeitgenössische
Kunst in die hinteren Räume der BuchhandAPÉRO
28
lung, dessen Geschäft und Schauräume er weiter betrieb. Mithilfe der
langjährigen Mitarbeiterin Frau Bauer
kümmert sich seitdem der Kurator
Assawin Gethutaworn um Aufbau
und Management der Sammlung.
Die Galerie Buchholz beteiligt sich
auch am traditionell stadtweiten
Engagement für die Gestaltung der
Ladenschaufenster. Ob kuratiert von
internationalen Künstlern, von seinem Galeriepartner, dem Kunsthistoriker Christopher Müller, oder von Assawin
Gethutaworn selbst, immer belohnen die
Buchholz-Fenster die Aufmerksamkeit der
Passanten mit fesselnden Miniausstellungen.
Rational-utopistischen Geist im Fenster
findet man auch im kleinen Geschäft
nebenan: „Das Lädchen“ hat eine große Vergangenheit. Der Frauenverein wurde nach
dem Ersten Weltkrieg von Damen der
Gesellschaft gegründet, die sich in den Kopf
gesetzt hatten, eine Lokalität aufrechtzuerhalten, in der wertvolle Familiengegenstände
wie Schmuck, Kunst, Porzellan und Silber
begutachtet und fair gehandelt wurden. Die
„Witwen“ wurden dann von den Nazis aus
dem Laden vertrieben, kamen aber umso
stärker zurück. Heute ist es Doris zur Linden,
die die anspruchsvolle Tradition fortsetzt.
Mit 32 Kölnerinnen, die ehrenamtlich in zwei
Schichten arbeiten, unterstützt sie in Not geratene Familien, eine neue Heimat für deren
Preziosen zu finden.
ine Tür weiter etablierte der legendäre
Numismatiker und Autor Tyll Kroha im
Jahr 1968 sein Kölner Münzkabinett,
um mit den ältesten Geldern der Welt zu
handeln, antiken und mittelalterlichen Münzen. Heute betreiben Kai Scheuermann und
Christoph Heinen (beide zufällig 1968 geboren) die Geschäfte. Krohas Kuriositätenkabinett ließen sie unangetastet, lediglich das
Geschäftsmodell, Käufer und Verkäufer von
alten Münzen zu finden, haben sie behutsam
modernisiert. Dennoch kommen 60 Prozent
ihrer Bestände aus römischen Zeiten und oft
gleichzeitig aus Köln.
Wenige Schritte die Neven-DuMontStraße hinauf ist das NS-Dokumentationszentrum der Stadt. Es ist das größte Museum
seiner Art, gleichermaßen eigentümlich wie
erfolgreich. Das EL-DE-Haus, wo das Zentrum eingerichtet wurde, bekam seinen
Namen von seinem ersten Besitzer Leopold
E
Die Kunsthalle Düsseldorf
wird gefördert durch
Gefördert durch
Ständige Partner
Dahmen, der mit alten Uhren und Goldobjekten handelte, wie man sie heute in der
Gegend noch finden kann. Die Gestapo
beschlagnahmte das geräumige Haus 1935,
um es für die nächsten zehn Jahre als Hauptquartier, zeitweiliges Gefängnis und Hinrichtungsstätte zu nutzen.
Heute forscht und informiert das NSDokumentationszentrum über die Nazizeit
in Köln und ihre Opfer. Wie viele andere hat
auch mich der Besuch hier verwandelt. Ich
war erstaunt, wie vertraut die Studenten aus
dem Rheinland mit ihrer Geschichte sind.
Jeden Tag können sie das EL-DE-Haus
besuchen. Ein Haus, in dem die Gefängniszellen im Keller immer noch im Originalzustand sind. Hier hatten Tausende Häftlinge
ihre härtesten Stunden verbracht im Angesicht eines ungerechten und willkürlichen
Schicksals, das in vielen Fällen den Tod
bedeutete. Diesen Stunden aber setzten sie
ein Denkmal: Mehr als 1.800 Inschriften und
Zeichnungen an den Zementwänden von
dieser Handvoll Zellen wurden konserviert.
Es ist wie bewegende Lebenskraft, die sich
am Geist dieser vermeintlich zum Schweigen
In Kooperation mit
R i t a Mc B r i d e
Arena, 1997
© R i t a Mc B r i d e / VG B i l d - Ku n st , B o n n 2 01 6
Fot o / P h ot o : Pa b l o M a s o n , 2 014
gebrachten Reisenden Europas entzündet,
den Homosexuellen, den Freidenkern, den
Juden und all den anderen, die unerwünscht
waren. Ihre Zeichnungen und Texte sind
bewahrt, verteidigt und im wahrsten Sinne
veröffentlicht im EL-DE-Haus. Ob mit
Bleistift, Draht, Kreide oder Lippenstift, all
diese Spontankünstler und -dichter schrieben
mit an der dunklen Geschichte einer kollektiven internationalen Erfahrung. Sie fügt sich
ein in die vielen Schichtungen unserer Stadt,
die überlebt hat – und die Selbstverständlichkeit eines unbezwingbaren Geistes gemeinschaftlicher Menschlichkeit lebt.
Es wird langsam dunkel draußen, junge
Leute versammeln sich im sanften Abendlicht in den Straßen. Unser Spaziergang in
der Gegenwart ist zu Ende. Es ist Zeit, nach
Hause zu gehen und über die Zukunft zu
schreiben.
FOTOS: MARTIN LEBIODA
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
DIE ÜBERSETZUNG VON MARK VON SCHLEGELLS
SCIENCE-FICTION-ROMAN VENUSIA IST GERADE
BEI MATTHES & SEITZ ERSCHIENEN
Der
fremde
Nabi
Félix
Vallotton
DIE WEISSE UND DIE SCHWARZE
1913, Öl auf Leinwand, 114 × 147 cm
Vor 20 Jahren trifft der
englische Schriftsteller
Julian Barnes das erste Mal
auf ein Gemälde von
FÉLIX VALLOTTON. Es
heißt Die Lüge und wird zum
Beginn einer Love Affair,
die in der Londoner Royal
Academy ihr Happy End
erleben wird. Dort kuratiert
Barnes 2018 seine erste
Ausstellung, eine Retrospektive
von Vallotton. Seine Liebeserklärung an den Maler lesen
Sie schon jetzt
SELBSTPORTRÄT 1897, Öl auf Karton, 59 × 48 cm
D
ie Schwestern Cone aus Baltimore, Dr. Claribel und Miss Etta,
erbten um 1900 ein mit Baumwolle, Jeansstoff und Matratzenüberzügen erworbenes Vermögen. Sie beschlossen, es für
Kunst auszugeben. Während der nächsten Jahrzehnte kauften sie
vor allem in Paris ein und trugen dank ihres guten Geschmacks und
der Hilfe von Experten – darunter Leo und Gertrude Stein –
eine große Matisse-Sammlung zusammen, dazu kamen Werke von
Picasso, Cézanne, van Gogh, Seurat und Gauguin. Bevor Dr. Claribel
1929 starb, setzte sie eines der manipulativsten Testamente der
Kunstgeschichte auf. Ihr Teil der Sammlung sollte zunächst an ihre
Schwester gehen, doch nach deren Tod, so lautete Dr. Claribels
„Vorschlag“, den sie „nicht als Anweisung oder Verpflichtung“
verstanden sehen wollte, sollte die Sammlung an das örtliche
Museum of Art gehen, „für den Fall, dass sich in Baltimore die
Einstellung moderner Kunst gegenüber verbessern sollte“. Diese
wunderbare Herausforderung einer Sterbenden an eine Stadt war
gekoppelt mit dem Vorschlag oder der Drohung, dass die Sammlung
anderenfalls ans Metropolitan Museum in New York gehen würde.
Während der nächsten zwanzig Jahre bis zum Tod von Miss Etta
1949 machte das Metropolitan natürlich allerlei Avancen, doch
das kleine Baltimore ließ sich den Schneid nicht abkaufen, sondern
stellte seine Tauglichkeit und Modernität unter Beweis. Die Cone
Collection ist heute der Hauptgrund, warum sich ein Besuch des
Baltimore Museum of Art auf dem Campus der Johns Hopkins
University lohnt.
Als ich Mitte der 90er-Jahre dort ein Semester lang unterrichtete, besuchte ich zwischen den Lehrveranstaltungen das Museum.
Zuerst beschäftigten mich Matisse und die anderen großen Namen,
doch am getreulichsten fand ich mich im Laufe der Wochen vor
einem kleinen, kraftvollen Ölgemälde des Schweizers Félix Vallotton
mit dem Titel Die Lüge ein. Zur Sammlung gehörte ein weiterer
Vallotton, ein Porträt der massig dräuenden Gertrude Stein (1907),
das Vuillard in Anspielung auf ein berühmtes Ingres-Gemälde
„Madame Bertin“ nannte und das zweifellos ihr öffentliches Bild
geprägt hätte, hätte sich Picasso des Sujets nicht bereits im Vorjahr
bemächtigt. Ich aber stand im Bann der Lüge; es entstand 1898,
30 Jahre später kaufte es Etta Cone bei Félix’ Bruder, dem Kunsthändler Paul Vallotton, in Lausanne. Es kostete 800 Schweizer
Franken, ein Pappenstiel angesichts der 20.000 Franken, für die sie
am selben Tag beim selben Händler ein Degas-Pastell kaufte.
Eine meiner Studentinnen hatte eine Erzählung eingereicht, in
der es um eine geheimnisvolle Lüge ging, weshalb ich meinen
Studenten das Vallotton-Bild beschrieb. Ein Mann und eine Frau
sitzen in einem Interieur des späten 19. Jahrhunderts: im Hintergrund eine gelb-rosa gestreifte Tapete, im Vordergrund flächig
gemalte Möbel in verschiedenen Rotschattierungen. Das Paar sitzt
eng umschlungen auf dem Sofa, ihre satt scharlachroten Kurven
zwischen seine schwarzen Hosenbeine gebettet. Sie flüstert ihm ins
Ohr, seine Augen sind geschlossen. Offensichtlich ist die Frau die
Lügnerin, was bestätigt wird durch das selbstgefällige Lächeln des
Mannes und die Munterkeit, mit welcher der Ahnungslose seinen
linken Fuß abspreizt. Unklar ist nur, was ihm vorgelogen wird. Ist es
die alte Leier „Ich liebe dich“? Oder angesichts ihrer schwellenden
Formen der andere Klassiker, „Selbstverständlich ist es dein Kind“?
REVUE
32
DIE LÜGE 1898, Öl auf Karton, 24 × 33 cm
In meiner nächsten Stunde meldeten sich verschiedene Studentinnen und Studenten zu Wort. So teilte mir die kanadische Romanautorin Kate Sterns höflich mit, ich liege völlig falsch. Es sei offensichtlich, dass der Mann der Lügner sei, was bestätigt werde durch
die Selbstgefälligkeit seines Lächelns und den munter abgespreizten
Fuß. Seine Haltung strotze vor verlogener Selbstzufriedenheit, die
Haltung der Frau hingegen sei diejenige einer fügsam hinters Licht
Geführten. Unklar sei nur, was ihr vorgelogen werde. Wenn nicht
„Ich liebe dich“, dann vielleicht jener andere männliche Dauerbrenner: „Selbstverständlich heirate ich dich“. Andere Studentinnen und
Studenten sahen es noch anders. Ein raffinierter Vorschlag lautete, der
Titel beziehe sich nicht auf eine bestimmte Unwahrheit, sondern
etwas Allgemeineres: die unvermeidliche Lüge gesellschaftlicher
Konventionen, die einen ehrlichen Umgang der Geschlechter
miteinander unmöglich mache. Als Bestätigung dieser Idee könnte
man Vallottons Verwendung der Farben sehen: Links beim Paar
kontrastieren die Farben heftig, rechts verschmilzt ein roter Sessel
mühelos mit einem roten Tischtuch. Möbelstücke können miteinander harmonieren, ließe sich daraus folgern, Menschen nicht.
W
ie seine Landsleute, der Maler Liotard, der Architekt
Le Corbusier und der Filmemacher Godard, machte
Vallotton dieses typisch Schweizerische: der übrigen Welt
wie ein Franzose zu erscheinen; ja, er ging noch einen Schritt
weiter und nahm, nachdem er 1899 in die Pariser Kunsthändlerfamilie Bernheim eingeheiratet hatte, im folgenden Jahr die französische Staatsbürgerschaft an. Er gehörte zur Künstlergruppe der Nabis
und war sein Leben lang mit Vuillard befreundet. In Großbritannien ist er deswegen kein bisschen bekannter. In Baltimore ist mir
sein Name zum ersten Mal aufgefallen; und englische Galeriebesucher brauchen sich nicht zu schämen, wenn ihnen der Name
Vallotton nichts sagt. Schämen sollten sich eher die Kunsteinkäufer
unseres Landes. In Großbritannien ist er nicht so sehr der „vergessene Nabi“ als vielmehr der „unbekannte Nabi“. Seine Gemälde
sind in unserem Land noch nie öffentlich ausgestellt worden; 1976
gab es immerhin eine Arts-Council-Wanderausstellung seiner
Holzschnitte. Eine Anfrage bei der Fondation Félix Vallotton ergab,
dass in Großbritannien ein einziges seiner Gemälde in öffentlichem
Besitz ist, nämlich Alte Landstraße bei Saint-Paul (Route à Saint-Paul,
REVUE
33
FRAU, SICH FRISIEREND 1900, Öl auf Leinwand, 61 × 80 cm
1922). Es gehört nur deshalb der Tate Gallery, weil es ihr von Paul
nach dem Tod seines Bruders gestiftet wurde. Seit 1993 ist es weder
ausgestellt noch ausgeliehen worden. Die meisten von Vallottons
Werken sind im Besitz von Museen großer Schweizer Städte sowie
des Musée d’Orsay; anderswo sieht man kaum je mehr als zwei
nebeneinander hängen. Viele seiner Werke, darunter einige seiner
besten, sind in Privatbesitz und tauchen nicht einmal auf Einladung mächtiger Kuratoren auf.
Vallotton ist oft unterschätzt, ja von oben herab behandelt
worden: So bezeichnete ihn Gertrude Stein als „Manet für
die Mittellosen“. Es gibt aber einen weiteren Grund dafür, dass
er häufig unbeachtet bleibt. Sein Ausstoß war groß und mehr
als bei jedem anderen Maler reicht seine Bandbreite von höchster
Qualität zu äußerster Schrecklichkeit. Im Musée des Beaux-Arts in
Vallotton ist oft unterschätzt worden.
Gertrude Stein bezeichnete ihn als
„Manet für die Mittellosen“
Rouen beispielsweise hängen zwei Vallottons in einem ziemlich
schäbigen und vollgestopften Korridor. Das eine Gemälde zeigt
ein Bild aus dem Zuschauerraum eines Theaters: Neun winzige
schwärzliche Köpfe lugen über die Brüstung, bloße Pünktchen
verglichen mit dem üppigen Schwung des cremefarbenen Balkons,
auf dem sie sitzen. Das hat nichts gemein mit dem unruhigen
Impressionismus, dem bewegten Licht und Goldflimmern in den
Theaterbildern eines Degas oder Sickert beispielsweise. Es ist
kraftvoll, doch in kargen Tönen gehalten, eine starke Darstellung
des bei aller Nähe isolierten Lebens in modernen Städten. An
der gegenüberliegenden Wand des Korridors allerdings hängt ein
Akt von solch atemberaubender Scheußlichkeit, dass man sich
den Namen des Künstlers, hätte man ihn zuerst erblickt, nur deshalb
merken würde, um ihm künftig unbedingt aus dem Weg zu gehen.
Ein Schweizer Freund fragte mich denn auch einmal wehmütig:
„Hast du je einen guten Akt von Vallotton gesehen?“
ls ich zum ersten Mal eine reine Vallotton-Ausstellung
besuchte, 2007 im Kunsthaus Zürich, war meine erste
Reaktion Erleichterung: Er war ein noch besserer Künstler
und die Bandbreite seiner Sujets entschieden größer, als ich
angenommen hatte. Und auch wenn er eine Französin geheiratet
und die französische Staatsbürgerschaft angenommen, seine
Sommer in Étretat und Honfleur verbracht und bei den Parisern
als der „fremde Nabi“ gegolten hatte – ein französischer Künstler
war er mitnichten; eher ein Unabhängiger, der schlecht in die
Entwicklungsgeschichte der Malerei passt. Nach einer Hollandreise
1888 schrieb er an den befreundeten französischen Maler Charles
Maurin: „Mein Hass auf die italienische Malerei ist gewachsen, auch
derjenige auf unsere französische … Es lebe der Norden! Auf
Italien ist geschissen.“ Auch wenn er ein engagierter Nabi war und
das moderne Leben und das Alltagsgeschehen in Städten malte,
zog es Vallotton zum Erzählerischen und zur Allegorie, zu klar
Umrissenem und Nordischem, nach Deutschland und Skandinavien;
und zu einem ungekünstelten Stil, der zuweilen Hopper vorweg-
A
REVUE
35
Kakao“, schrieb er nach Hause. Im Laufe der
1890er-Jahre wurde er langsam aber sicher bekannt
dank seiner Karikaturen und satirischen Holzschnitte; er war Mitarbeiter der Revue blanche und
künstlerischer Leiter der Revue franco-américaine,
einer von Prinz Poniatowski finanzierten Luxuszeitschrift, die nach drei Ausgaben einging. Er
wurde offiziell zu einem Nabi, indem er 1893 an
deren dritter Gruppenausstellung teilnahm.
Vuillard hatte er ein paar Jahre zuvor kennengelernt; er kannte Mallarmé und den Schriftsteller
Jules Renard, der im April 1894 in sein Tagebuch
schrieb: „Vallotton, sanft, direkt und distinguiert;
das glatte Haar säuberlich gescheitelt; nüchterne
Gestik, unkomplizierte Theorien, alles, was er
sagt, hat einen egoistischen Beigeschmack.“ Er
war Anfang 30, selbstgenügsam, und es ging
aufwärts mit ihm.
Und dann, 1899, schreibt ihm Vuillard: „Wie
ich höre, hat sich Revolutionäres ereignet.“
Allerdings: Vallotton hatte bekannt gegeben,
Gabrielle Rodrigues-Henriques, Tochter des
Kunsthändlers Alexandre Bernheim, heiraten zu
wollen. Er kannte sie seit vier Jahren; die Ehe
schien auf Liebe und gesundem Menschenverstand
zu gründen. Vallotton, der nie zu Gefühlsüberschwang neigte, erklärte seinem Bruder Paul: „Sie
ist eine Frau von vortrefflicher Güte, mit der ich
mich sehr gut verstehen werde“; alles werde „sehr
vernünftig“ sein; und die Familie Bernheim sei
„sehr ehrenwert und reich“. Gabrielle war 35, er
AKT 1912, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm
33, sie war die Witwe eines Mannes, der sich
umgebracht hatte und von dem sie drei Kinder
zwischen 15 und 7 hatte – „die ich lieben werde“,
wie Vallotton seinem Bruder (und sich selbst)
nimmt (der Vallotton-Werke gesehen haben könnte anlässlich seines versicherte. Das war in der Tat revolutionär: Heirat; Stiefvaterschaft; ein Wechsel von der Rive Gauche zur Rive Droite, von der
Paris-Aufenthalts 1906/07). Er war auch politischer, satirischer,
hatte einen größeren Hass auf Autoritäten. Zu seinem symbolträch- Rue Jacob in die Rue de Milan; von Unabhängigkeit, Unsicherheit
und einer Vorliebe für Anarchismus zu bourgeoiser Bequemlichtigsten Akt der Solidarität mit seinen französischen Kollegen kam
keit. Gleichzeitig gab er auch seine journalistische Laufbahn auf
es, als ihm, Bonnard und Vuillard gleichzeitig die Légion d’honneur
und machte kaum noch Holzschnitte. Von der Jahrhundertwende
angeboten wurde. Alle drei lehnten sie ab.
om Temperament her wirkte er in seiner Frühzeit französisch an würde er sich ganz der Malerei und der Ehe widmen. Wie sollte
da noch etwas schiefgehen?
oder jedenfalls ziemlich französisch: „umgänglich, entJa, wie? Am 24. April 1901 dinierte der 29-jährige Paul Léautaud
spannt und zufrieden“, in Paris zu sein. Er hatte natürlich
bei Paul Valéry, wo Odilon Redon als Ehrengast geladen war. Der
ein Modell als Maitresse, Hélène Chatenay, genannt „la petite“, die,
Maler ließ sich des Längeren über Rebberge im Bordeauxgebiet aus
natürlich, eine Näherin war. Er scheint mit dem Gedanken gespielt
und machte dann einen überraschenden Sprung: „Gerüchte über
zu haben, sie zu heiraten, wovon ihm Maurin aber abriet mit
Vallotton, der vor Kurzem eine sehr reiche Witwe geheiratet hat. Er
den Worten: „Freunde von mir waren davor dermaßen nett – und
komme nicht mehr zum Arbeiten, weil er ständig Besuche abstatdanach dermaßen übellaunig.“ Dank der Porträtmalerei konnte er
seine Rechnungen bezahlen; er wurde aber auch von seiner Familie ten oder empfangen müsse.“
Valéry und Redon waren verheiratet (und ihre Frauen anwefinanziell unterstützt. Sein Bruder Paul, der zu diesem Zeitpunkt
send), weshalb vielleicht auch etwas Selbstgefälligkeit im Spiel war:
noch nicht mit Kunst handelte, war im Bereich der Schokolade-,
„Wir schaffen es, verheiratet zu sein und dennoch künstlerisch zu
Kakao- und Nugatfabrikation tätig, und Félix musste jeweils
arbeiten – er nicht.“ Wie so viele Gerüchte traf auch dieses nur
in Paris mögliche Verkaufsstellen ausfindig machen. „Schick bitte
V
REVUE
36
teilweise zu. Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts waren gut für
Vallottons Kunst; in dieser Periode entstanden die zärtlichsten
Bilder, die er je malte, alle von seiner neuen Ehefrau: Gabrielle im
Morgenmantel, im Schlafzimmer, beim Nähen, Stricken, Säumen,
Stöbern in einem Schrank, Klavierspielen, Gabrielle, wie sie vor einer
Flucht von Zimmern steht, die direkt ins Glück hineinzuführen
scheinen. Dies war zweifellos eine liebevolle Beziehung. Es war
aber auch eine bürgerliche Ehe. Dem Beruf ihres Vaters zum Trotz
interessierte sich Gabrielle nicht sonderlich für die Arbeit ihres
Mannes; und Félix stellte fest, dass er die Geldsorgen eines Bohemiens gegen die finanziellen Sorgen eines Bourgeois’ eingetauscht
hatte. Zwischen 1895 und 1905 sank sein Einkommen. Außerdem
vertrug sich das Luxusleben, das er mittlerweile führte, nicht mit
seinem Temperament. Im Dezember 1905 schrieb er seinem Bruder
aus Nizza: „Wir leben in einer prächtigen Villa, umgeben von
Palmen und Orangenbäumen. Ich fühle mich hier nicht wohl. Ich
wäre lieber in einer Hütte auf dem Land.“ Obschon Félix Vallotton
den Kontakt zu Hélène Chatenay aufrecht hielt, verbot es die
bürgerliche Etikette, dass Bonnard die Vallottons besuchte, wenn
seine petite, Marthe de Méligny, mit von der Partie war.
iniges davon war seltsamerweise (oder nicht seltsamerweise)
vorweggenommen worden in Werken, die Vallotton unmittelbar
vor seiner Hochzeit geschaffen hatte. Die Rede ist von der
zwischen 1897 und 1899 entstandenen Serie der Intimitäten, zu denen
Die Lüge gehört. Sie stammen aus seiner Nabi-nächsten Periode:
Kompositionen in Farbblöcken, schwelgerisches Gegeneinandersetzen von Farbtönen, eine Vorliebe für Innenräume und eher
düstere Lichtverhältnisse. Doch während für Vuillard und Bonnard
die Farben und deren Harmonien das Wichtigste, die Bewohner
ihrer Interieurs aber eher willig mitspielende Schemen als Menschen
waren, interessierte Vallotton immer, was zwischen den von ihm
dargestellten Personen geschah. Seine Figuren haben ein Leben
jenseits der Farben, mit denen sie gemalt sind; sie bergen (und
verbergen) Geschichten. Auf Erwartung hält ein Mann in einem
braunen Anzug, halb getarnt von schweren braunen Vorhängen,
durch eine Spitzengardine Ausschau, vermutlich in Erwartung einer
Frau. Aber ist er von schüchterner Hoffnung erfüllt oder getrieben
von bedrohlicher Geilheit? Auf dem Bild Der Besuch begrüßt ein
anderer Mann (oder vielleicht derselbe) eine Frau in einem violetten
Mantel, und die Kraftlinien des Bildes ziehen einen unweigerlich
zur offenen Schlafzimmertür links hinten. Doch wer hat hier das
Sagen? Interieur mit rotem Sessel und Figuren zeigt die Nachwirkungen
eines Streits: eine sitzende Frau, das Kinn auf eine Hand gestützt,
ein stehender Mann, dessen schwarzer Schatten auf ihren Rock fällt
wie ein unheimlicher sexueller Fleck. Auf anderen Bildern stecken
Paare die Köpfe zusammen oder umarmen sich im Halbdunkel;
sogar die Möbel scheinen verschwörerisch mitbeteiligt zu sein an
dem, was da geschieht. Es sind Bilder der Angst, der Unzufriedenheit, des Konflikts. Es sind rätselhafte Erzählungen vom sexuellen Leben: Selten ist klar, wer dominiert, wer bezahlt und in
welcher Währung. Man hat die Bilder als „gewalttätige Interieurs“
bezeichnet, was vielleicht überinterpretiert ist; doch auf jeden Fall
geht es um eine tiefe Dissonanz der Gefühle. Ungefähr zur selben
Zeit machte Vallotton eine Serie von Holzschnitten, die ebenfalls
Intimitäten heißt, wobei nur eine Szene direkt wiederholt wird:
Die Lüge. Die Holzschnitte sind satirisch schärfere – und rascher
lesbare – Darstellungen eines Kriegs der Gefühle. Der Triumph
zeigt eine unbarmherzige Frau, die einen Mann zum Weinen bringt;
Ausgangsvorbereitungen einen fürchterlich gelangweilten Mann, der
wartet, während seine Frau sich zurechtmacht und herausputzt;
Extreme Maßnahme einen Streit beim Abendessen: Die Frau steht
abgewandt, das Gesicht in einer Serviette vergraben, der Mann
erhebt sich schuldbewusst, um sie zu besänftigen. Auf dem stärksten der Serie, Das Geld, blickt am linken Rand des Bilds ein Paar
von einem Balkon; der schwarz gekleidete Mann erklärt der weiß
gekleideten Frau etwas. Was sie nicht sehen kann, aber wir, ist,
was hinter dem Mann ist: nichts als Schwarz, das zwei Drittel des
Bildes bedeckt und vom Körper des Mannes Besitz ergreift, sodass
E
REVUE
37
GABRIELLE VALLOTTON AN IHREM FRISIERTISCH
1899, Tempera auf Karton, 58 × 78 cm
PORTRÄT VON MADAME RODRIGUES-VALLOTTON
1902, Öl auf Karton auf Tafel, 45 × 65 cm
ein Fluch auf ihm, und, falls ja, wie könnte er weitere Todesfälle
vermeiden? Auch dieser Roman ist ein organisiertes Rätsel.
Vallotton war zu vernünftig, um zu glauben, dass ein Fluch auf
ihm laste. Aber die Lösung, die er dank Gabrielle gefunden zu
haben schien – ein Leben erfüllt von Malerei, einer verständnisvollen
Gemahlin und der Liebe zu Stiefkindern –, erwies sich als illusorisch. Bei Tisch, Lichtwirkung (1899) zeigt als Silhouette die Rückenansicht eines (zweifellos schweizerischen) Mannes beim Abendbrot;
rechts von ihm blickt Gabrielle in einem rosa Kleid über den Tisch
„Mein Leben lang“, klagte Vallotton, „werde
zu ihrem älteren Sohn Jacques, der an einer Frucht herumkaut,
während direkt gegenüber ein kleines Mädchen mit großen Augen
ich das Leben durch ein Fenster betrachtet,
den Eindringling am Tisch anstarrt. In diesem Bild geht es nicht
um die Harmonie von Texturen und Farben; es geht vielmehr um
selbst aber nicht gelebt haben“
Farbgegensätze und Psychodynamik. Und es ist eine Vorhersage.
Vallottons Beziehung zu seinen Stiefkindern ging rasch schief. „Ihre
Doch in diesem Medium gelingt es Vallotton, subtil zwischen
verschiedenen Stoffarten zu differenzieren; und auf dem beschränk- Spontaneität machte ihm Angst“, sagte ein Beobachter, und seine
Briefe strotzen von Beschwerden. „Es wäre alles bestens, wenn nur
ten Platz gelingen ihm dynamische Massenszenen: Demonstranten
Jacques nicht so widerwärtig wäre.“ Jacques und sein Bruder seien
flüchten vor angreifenden Polizisten; Regenschirme öffnen sich
„zwei Vollidioten“ (auch Gertrude Stein erwähnte die „Gewalttätigallenthalben gegen einen Regenguss; grobschlächtige Polizisten
keit seiner Stiefsöhne“). Doch der größte Quell der Feindseligkeit
stürzen sich auf einen schmächtigen, poetischen Anarchisten.
Diese erzählerischen Elemente erinnern daran, dass Vallotton auch war die Stieftochter. „Madeleine stolziert herum und strapaziert uns
mit ihrer Selbstgefälligkeit, ihrer Dummheit und ihrer Herrschin anderer Hinsicht ein Künstler von Seltenheitswert war: Er
hatte literarische Ambitionen. Wie viele Maler führte er Tagebuch. sucht.“ – „Sie tanzt Tango, schleppt Zufallsbekanntschaften an und
hat an allem etwas auszusetzen.“ – „Sie verbringt ihre Zeit damit,
Er war aber auch als Kunstkritiker tätig, schrieb acht Theaterstücke, von denen zwei kurz gespielt wurden, und drei Romane, von ihre Nägel zu lackieren und die Leiden anderer von oben herab zu
betrachten.“ Im Jahr 1893 hatte der Maler Philippe-Charles Blache
denen keiner zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Der beste
davon, Das mörderische Leben, ist ein „gewalttätiges Interieur“, in dem Vallotton in einem Brief scherzhaft als „Monsieur Melancholiker“
es blutiger zugeht als in den Intimitäten. Es ist die an Poe erinnernde angesprochen und jetzt kam diese unterschwellige Melancholie
Geschichte eines Juristen, der Kunstkritiker geworden ist und schon seines Temperaments zum Vorschein. Er war auch „überempfindlich
als Kind festgestellt hat, dass seine bloße Anwesenheit für Menschen und knauserig“, was ihn nicht unbedingt zum Stiefvater prädestinierte. Zerrissen von ihren Loyalitätsgefühlen, wurde Gabrielle oft
um ihn herum tödliche Folgen hat. Er ist dabei, als ein Jugendfreund in einen Fluss stürzt; als ein Graveur sich mit seinem Stichel krank. In seinen frühen Briefen ist von ihr oft als „ma bonne
Gab“ die Rede, daraus wird jedoch bald „ma pauvre Gab“, und
sticht und an Kupfervergiftung stirbt; als das Modell eines Künstdabei bleibt es dann. 1911 berichtet Félix seinem Bruder Paul
lers gegen einen Ofen fällt und tödliche Verbrennungen erleidet.
von seiner „anhaltenden Qual“: „Es ist niemand da, dem ich mich
Wie beteiligt oder unschuldig ist er an dem, was passiert? Lastet
nur noch dessen linke Hand und sein Gesicht übrig bleiben. Das,
begreifen wir, ist das Geld, und so unerbittlich drängt es sich zwischen das Paar und in dessen Beziehung. All das wurde in Holz
geschnitten, kurz bevor Vallotton seine „sehr reiche“ Witwe heiratete.
In den Holzschnitten kommen seine Verspieltheit, sein Witz
und sein scharfer und sardonischer Blick auf das Paris des Fin
de Siècle am besten zur Geltung. Die Grafiken leben von starken
Schwarz-Weiß-Kontrasten und sie sind klein (oft 17 × 22 cm).
DER TRIUMPH (EHESTREIT) 1898, aus der Serie Intimitäten,
Holzschnitt, 18 × 23 cm
DAS GELD 1898, aus der Serie Intimitäten,
Holzschnitt, 18 × 23 cm
REVUE
38
DER BESUCH 1899, Gouache auf Karton, 56 × 87 cm
anvertrauen könnte, und die Gedankenlosigkeit der Menschen um
mich herum, die einzig für die sofortige Befriedigung ihrer Lüste
leben, ist atemberaubend.“ 1918 schreibt er in sein Tagebuch: „Was
hat der Mann nur so Schlimmes getan, dass er dieses schreckliche
Wesen namens Frau als ‚Gefährtin‘ erdulden muss?“ Es ist, als sei
Die Lüge wahr geworden. Er schreibt: „Mir graut vor diesem falschen
Leben am Rande des richtigen, einem Leben, das ich nun seit
20 Jahren erdulde und an dem ich so heftig leide wie am ersten
Tag.“ Während Vuillard zufrieden von sich sagen konnte: „Ich bin
nie mehr als ein Zuschauer gewesen“, klagte Vallotton: „Mein
Leben lang werde ich das Leben durch ein Fenster betrachtet, selbst
aber nicht gelebt haben.“
Ihm blieb nur die Kunst. 1909 schreibt er in einem Brief an
seine Gönnerin Hedy Hahnloser (die mit ihrem Mann Arthur in
der Villa Flora in Winterthur lebte): „Ich glaube, charakteristisch
für meine Kunst ist ein Bedürfnis nach Ausdruck durch Form,
Silhouette, Linie und Volumen; Farbe ist ein Zusatz zur Betonung
dessen, was wichtig ist, doch diesem immer untergeordnet. Ich
bin ganz und gar kein Impressionist, obschon ich diese Kunstrichtung sehr bewundere, sondern vielmehr stolz darauf, ihrem
starken Einfluss widerstanden zu haben. Ich habe eine Vorliebe
für Synthesen; Subtilitäten der Nuancierung sind weder etwas, was
ich anstrebe, noch was mir besonders liegt.“
D
ies ist eine hellsichtige Selbsteinschätzung, die deutlich macht,
wie weit entfernt von den anderen Nabis er ist, war und
bleiben wird. 1920 stellte er fest, wie gut Bonnard und er sich
nach wie vor verstanden, „obschon wir malerisch die extremsten
Gegenpositionen einnehmen“. Vallotton war immer ein protestantischer Maler: Er war ein Vertreter von harter Arbeit, Kontrolle
und der Bewältigung maltechnischer Schwierigkeiten; er hasste alles
Gekünstelte, Virtuose und zufällig Geglückte in der Malerei. Die
Kritiker sahen das im Wesentlichen ähnlich: Er sei ein „starker,
nüchterner“ Maler; sein Werk verströme eine „hartnäckige Aufrichtigkeit“; es sei „konzentriert, schmucklos, von kühler Leidenschaftlichkeit“ und entbehre „jeglicher Anmut“.
Man spürt schon, dass sich dieselben Kritiker auch gegen ihn
wenden könnten. Was sie dann auch immer häufiger taten. Vallottons
15 letzte Lebensjahre von 1910 bis 1925 zeichnen sich auf der
persönlichen Ebene aus durch zunehmende Isolation und Ernüchterung; er wird streitsüchtig und depressiv oder vielmehr „neurasthenisch“, wie das damals hieß; in seinen Tagebüchern ist von
Selbstmordgedanken die Rede. Der Krieg entsetzt ihn, zugleich
leidet er darunter, nichts tun zu können. Sogar der alles andere
als militärische Vuillard trägt das Seine zum Krieg bei, indem er
Brücken bewacht. In seinem Hass auf die Deutschen klingt
Vallotton französischer als die Franzosen; zugleich widert ihn die
REVUE
39
Außerdem hat er das Gefühl, die Mode wende
sich gegen ihn. 1911 notiert er: „Kubismus ist
der letzte Schrei und seine Entdecker interessieren
sich vor lauter Stolz für nichts anderes mehr.“
1916 klingt er fast schon paranoid: „Bilder von mir
werden ausgestellt in Den Haag, Christiania, Basel
und bald in Barcelona. Doch das nützt nichts. Die
Kubisten, Futuristen, Matissisten und so weiter
legen sich in Europa und in Nord- und Südamerika
heftig ins Zeug mithilfe ihrer Vertreter, Händler
und Vermittler. Schlau bereiten sie die Machtergreifung nach dem Krieg vor.“
r stellt auch fest, dass er preislich falschliegt: Es
ist einfacher, ein Bild für 50.000 Francs zu
verkaufen als eines für 500; die Sammler wollen
entweder „neue Künstler für ’n Appel und ’n Ei
oder Renoirs für 50.000 Francs – Künstler meines
Niveaus haben das Nachsehen.“ Dabei hatte
Vallotton an Hedy Hahnloser einst die weisen Sätze
geschrieben: „Ein mittelmäßiges Bild ist immer
zu teuer; ein gutes Bild kann für seinen Preis teuer
sein; wohingegen ein sehr gutes nie zu teuer ist.“
Er malte und malte: Er malte, um geistig
gesund zu bleiben, und malte deswegen wohl zu
viel. Er stellte mehr und mehr Akte aus, welche
den Kritikern immer mehr missfielen. Stur malte er
weiter Akte und stellte diese aus. Andere Bereiche
seines Schaffens wurden ungerechterweise übersehen. Er beherrschte die Kunst des Stilllebens –
seine roten Paprikas sind überwältigend gut – und
seine Landschaften sind erstaunlich und für viele
Besucher einer Vallotton-Ausstellung jeweils die
größte Überraschung. In jedem Jahrzehnt malte
er Sonnenuntergänge – immer Sonnenuntergänge,
nie Sonnenaufgänge. Das könnte man mit seinem
FLUT BEI HOULGATE 1913, Öl auf Leinwand, 73 × 54 cm
Temperament erklären – wären sie nicht so kühn
Rechte Seite: RUMÄNIN IM ROTEN KLEID (LA ROUMAINE À LA ROBE ROUGE)
1925, Öl auf Leinwand, 105 × 81 cm
und schwelgerisch, ja feurige Explosionen.
Sonnenuntergang, Villerville (1917) hat mit seinen
orangenen, violetten und schwarzen Farbbändern etwas geradezu
„Verderbtheit“ der französischen Zivilisten an, ihr Alkoholismus
und ihre Kleinlichkeit, die sexuelle Liederlichkeit der Frauen, deren Halluzinatorisches und ist nahe bei Munch.
In den Landschaften bei Tageslicht zeigt sich seine eigene
Ehemänner oder Liebhaber an der Front stehen. Das ändert sich
auch unmittelbar nach dem Krieg nicht: Der Geist und die Werte Interpretation der idealisierenden Darstellung, wie man sie von
Poussin und Rubens kennt. Poussin eliminierte Zufälle der Natur
der Franzosen sind im Niedergang; überall sieht Vallotton Anzeichen moralischen Verfalls, der Inbegriff ist für ihn die „Massenonanie und ordnete mithilfe seiner Fantasie die Dinge so, dass sie seiner
gewünschten Stilhöhe entsprachen. Doch Vallottons Ansicht nach
von Tango-Teepartys“. Er hat kaum Freunde und die Beziehungen
zu seiner Familie sind eingefroren. Seine Karriere steht still; manch- wurde Poussin von Rubens noch übertroffen: „Er ist meiner
Meinung nach der größte Landschaftsmaler, weil er ein Gefühl für
mal vergehen Monate ohne den Verkauf eines einzigen Bildes;
Universalität hat. Seine Landschaften sind keine topografischen
seine Werke kommen aus der Galerie zurück und verstellen den
Zufälligkeiten, sondern Schauspiele der Natur.“ Aufgrund der
Platz im Atelier; bei Auktionen werden sie zu Preisen verschleuBeschäftigung mit diesen beiden Meistern entwickelte Vallotton ab
dert, die seinen Ruf beschädigen. 1916 veranlasst die Meldung, er
1909 sein Konzept der paysage composé, der „zusammengesetzten
habe zur Herstellung eines Gemäldes auch Fotografien benutzt
Landschaft“. Er ging hinaus in die Natur, machte Skizzen und
(was zu diesem Zeitpunkt unter Malern gang und gäbe ist), SchweiNotizen, doch dann kehrte er in sein Atelier zurück und stellte ein
zer Sammler dazu, seine Werke zurückzuschicken, da sie befürchBild aus Material von verschiedenen Schauplätzen zusammen: ein
ten, sie verlieren an Wert.
E
REVUE
40
Als ich zum ersten Mal seine Akte sah,
schienen sie das Vallotton’sche Gesetz zu
beweisen: Je weniger Kleider eine Frau
auf einem seiner Gemälde trägt, desto
schlechter ist es
neues, streng genommen nicht existierendes Stück Natur, das auf
der Leinwand erst erschaffen wurde. In diesen Bildern leben
gewisse Elemente des Nabismus weiter: die holzschnittartigen
Formen und die starken Farbkontraste. Auch stiller Witz ist
spürbar: Auf Der Teich (Honfleur) (1909) sind manche Teile impressionistisch gestaltet, andere scharf realistisch, wohingegen eine
Fläche trüben, schwarzen Wassers sich bei längerem Hinsehen in
einen unheimlichen Riesenplattfisch zu verwandeln scheint.
Und auch wenn die Titel dieser späten Landschaftsbilder oft auf
bestimmte Orte verweisen – Die Dordogne bei Carrenac oder Sandbänke an der Loire –, entziehen sich die Bilder einer exakten Festlegung. Es sind „Schauspiele der Natur“, doch sie haben auch
etwas Dissonantes an sich; auf ihre eigene Weise sind auch sie
„rätselhafte Erzählungen“ wie die Intimitäten.
Und dann, es gibt kein Entkommen, sind da noch die Akte.
„Hast du je einen guten Akt von Vallotton gesehen?“ Ja, ein paar
wenige, meist frühe. Gesäßstudie (ca. 1884) ist ein Pobild von außerordentlichem Realismus, eine ebenso sorgfältige Darstellung
menschlichen Fleisches wie irgendein entsprechendes Bild von
Courbet oder Correggio. Auf Akt in Interieur (1890) sitzt eine
traurig blickende Frau inmitten ihrer ausgezogenen Kleider auf
dem Ateliersofa: Vermutlich war sie kein professionelles Modell,
und ihre Verlegenheit ist offensichtlich. Das Bad am Sommerabend
(1892/93), worauf sich Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Körperformen ausziehen und ins Wasser steigen, hat
etwas ätherisch Interkulturelles an sich: teils japanisch stilisiert,
teils skandinavisch-mythisch, teils eine Variation des alten Jung-
brunnenmotivs. Als das Bild im Salon des Indépendants erstmals
gezeigt wurde, erregte es Unmut; vor dem Bild stehend, sagte
Henri Rousseau brüderlich zu dessen Urheber: „Na dann, Vallotton,
gehen wir zusammen.“ Doch Vallotton ging immer seinen
eigenen Weg und der führte zu immer größeren weiblichen Akten.
Als ich zum ersten Mal eine Masse seiner Akte sah, schienen sie
aufs Schauerlichste zu beweisen, was man als das Vallotton’sche
Gesetz bezeichnen könnte: Je weniger Kleider eine Frau auf
einem Vallotton-Gemälde trägt, desto schlechter ist es. Es gibt
bezaubernde frühe Studien von Gabrielle im Morgenmantel und
in einem Nachthemd; eine andere von einem Modell, das gerade
das Unterhemd auszieht; auf der Kippe sind die Bilder von Frauen,
bei deren Unterhemd – oh là là – die Träger bereits gefallen sind;
und schließlich kommt the full monty oder vielmehr: the full Félix.
Vallotton kam zu seinen Akten durch die Auseinandersetzung
mit Ingres, was wieder einmal beweist, dass große Maler wie
große Schriftsteller – man denke nur an Milton – einen schädlichen
Einfluss haben können. (Vallotton wandelte sogar mehrere
bekannte Ingres-Sujets – Das türkische Bad, Die Quelle und Roger befreit
Angelica – auf so sinnlose, offensichtlich schlechtere Weise ab,
dass man sich wundert, dass er je welche ausgestellt oder gar verkauft
hat.) Doch Vallotton war abgesehen von allem anderen ein zutiefst
seriöser, ja geradezu gläubiger Maler: manchmal witzig, aber nie
trivial; seine Schwäche waren eher zu viel Überlegtheit und zu
viel Kontrolle als Faulheit oder Schlampigkeit. Ich habe deshalb
nach dem ersten Schreck versucht, seine Akte zu mögen oder
wenigstens zu verstehen, was er damit wollte. Es gibt zwei Gruppen:
Akte drinnen und Akte draußen; die Welt um sie herum ist
immer leer. Das Sujet der einsamen nackten Frau, die, kontrastarm
beleuchtet in einem modernen Raum, meist handlungsunfähig
und isoliert wirkt, erinnert zwangsläufig daran, wie viel subtiler und
komplexer es von Hopper umgesetzt werden sollte. Doch nicht
darin liegt das Problem. Sondern erstens darin, dass die meisten dieser
Nackten so entsetzlich leblos wirken: Sie verströmen so viel Atem
und Feuer, als seien sie aus Plastilin geformt. Sie sind kein bisschen
erotisch, bar jedes Gedankens, jedes Gefühls.
Außerdem sind sie oft nicht in sich stimmig: Als
hätte Vallotton die Idee der paysage composé auf Akte
angewandt und nues composées geschaffen. Liegender
Akt auf rotem Teppich (1909) sieht jedenfalls so aus,
als hätte der Künstler einem Ingres-Hals den Kopf
seiner eigenen Frau aufgesetzt und dann beide in den
Körper eines Modells gesteckt: eine haarsträubende Zusammensetzung. Was bei Landschaften
funktioniert, versagt beim menschlichen Körper.
nd dann sind da die Akte draußen: Badende,
die bis zum Knie oder Oberschenkel im
Meer stehen; eine stämmige Europa, die sich
von einem frisch vom Bauernhof stammenden Stier
durchs seichte Wasser tragen lässt; eine moderne
Andromeda mit blondem Bubikopf, deren Handgelenke an einen Felsen gebunden sind und deren
Miene verrät, dass ihr das alles ach so ungelegen
kommt; Perseus, der einen „Drachen“ erschlägt,
U
BEI TISCH, LICHTWIRKUNG 1899, Öl auf Karton, 57 × 90 cm
REVUE
42
DIE KEUSCHE SUSANNA 1922, Öl auf Leinwand, 54 × 73 cm
der allzu sehr dem Tier gleicht, das Vallotton als Vorlage gedient
hatte, nämlich ein ausgestopftes Krokodil. Der Ernst und die
hochfliegenden Absichten dieser mythologischen und allegorischen
Darstellungen – die immer monumentaler geraten – lassen einen
erst recht den Kopf schütteln angesichts der Ergebnisse. All das ist
umso enttäuschender, als Vallotton anderswo bewiesen hatte, dass
er Mythen auf brillante Weise aufzugreifen und ihnen einen neuen
Dreh zu geben vermochte. Die keusche Susanna (1922) ist seine
Version der alttestamentlichen Geschichte von Susanna und den
beiden Alten: Aus dem Bad wird die rosa gepolsterte Sitzbank
in einer noblen Bar oder einem Nachtklub, aus den Alten werden
zwei aalglatte Geschäftsleute, auf deren Glatzen Glanzlichter
tanzen, während sie mit ihrem Opfer verhandeln, das einen silbrigen
Hut trägt. Das Bild ist kraftvoll und bedrohlich, aber auch rätselhaft: Denn das vermeintliche Opfer sieht, zumindest für meine
Augen, nicht etwa ahnungslos, sondern berechnend aus. In der
heutigen Zeit, scheint das Bild anzudeuten, könnte Susanna den
Spieß umdrehen und die Alten erpressen.
In der Züricher Ausstellung damals flüchtete ich mich also vor
den Akten zur Lüge, die mich erneut überraschte, besonders
nach diesen gewaltigen Zeppelinen aus Fleisch: Es war winzig, ja
das kleinste Bild der Ausstellung (24 × 33 cm). Hätte man mich in
den Jahren zwischen meiner Entdeckung des Bildes in Baltimore
und der Wiederentdeckung in Zürich gefragt, wie groß es sei, ich
hätte vermutlich das Vierfache seiner wirklichen Größe angegeben.
Schon seltsam, was zeitlicher und örtlicher Abstand mit Bildern
anstellen kann, die man bewundert und gut zu kennen glaubt.
Ähnlich wie wenn man in das Haus zurückkehrt, in dem man als
Kind gewesen war, und feststellt, wie anders dessen Proportionen
tatsächlich waren und noch immer sind. Bei Gemälden hat man
die kleinen größer und die großen kleiner in Erinnerung, als
sie sind. Warum das so ist, weiß ich nicht, will es aber in seiner
Rätselhaftigkeit belassen, denn diese passt zu Vallotton.
AUS DEM ENGLISCHEN VON THOMAS BODMER
REVUE
43
ENDLICH
FARBE
HIWA K
D
Hiwa K in seinem Berliner Studio, fotografiert von Fabian Schubert
Auftaktseite: MY FATHER‘S COLOR PERIODS, 2014, VIDEOINSTALLATION
EIN IRAKER UND SEINE KUNST ZWISCHEN
ERINNERN UND VERGESSEN:
HIWA K IST DER HOFFNUNGSTRÄGER
DER NÄCHSTEN DOCUMENTA.
VON HANNO HAUENSTEIN
REVUE
46
ie Fensterfront des Ateliers erfüllt
den Raum mit milchigem Tagesrestlicht. Der Nachmittag in Kreuzberg wirkt merkwürdig stehen geblieben.
Hiwa K beginnt sich eine Zigarette zu
drehen, setzt immer wieder an. Seine Unruhe
ist nicht die vertraute Aufregung, wenn
etwas Großes ansteht. Die Nervosität sitzt
in den Knochen, scheint ins Mark übergegangen. Seine Augen aber schauen ruhig,
seine langen Finger ziehen an dem Papier.
„Kunst ist meine ganz persönliche Diagnose. Ich leide an ihren Symptomen“, sagt
der 40-Jährige mit einer Stimme in hoher,
aber sanfter Frequenz, in der seine über die
Jahre gesammelten Akzente vibrieren wie
die Geschmacksnerven bei einem eklektischen Essen.
Der 1975 in Sulaymaniyah, einer
kurdischen Stadt im Nordirak, geborene
Künstler begeisterte auf der Biennale in
Venedig im vergangenen Jahr und nimmt
2017 an der Documenta teil – in Griechenland. Der künstlerische Leiter des
deutschen Kunstfestivals Adam Szymczyk
hat sich entschieden, die Documenta
an zwei Standorten zu zeigen – in Kassel
und Athen.
Athen – damit assoziieren wir auch:
Zentrum der Wirtschaftskrise in Europa.
Grexit. Eine Zwischenstation für tausende
Geflüchtete an derzeit geschlossenen
Außengrenzen. Wer wenn nicht einer wie
Hiwa K ist in der Lage, an einem für die
Kunst derart komplexen Schauplatz Spuren
zu hinterlassen? Seine Stärke ist die Transformation, nicht die Provokation. Für Nazha
and the Bell Project, für das er auf der Biennale in Venedig gefeiert wurde, verarbeitete
er altes Kriegsmaterial zu einer 600 Kilo
schweren Kirchenglocke. „Ich habe ja nur
die Enden verbunden“, sagt er. Die Art,
wie er den ersten Anflug von Hochmut
reflexhaft herunterspielt, wirkt fast panisch.
Geholfen haben ihm Nazha, ein kurdischer
Eisenbrenner, der alte Waffen in Rohmaterial
verwandelt, und eine 700 Jahre alte Handwerksgießerei bei Crema in Italien. Vor dem
Hintergrund der Bedrohung kultureller
Stätten wie Palmyra durch den „Islamischen
Staat“ ließ Hiwa K die Glocke noch während des Gießens mit mesopotamischen und
babylonischen statt mit traditionellen christlichen Mustern verzieren.
THIS LEMON TASTES
OF APPLE, 2011, VIDEO
Mitte: COUNTRY
GUITAR LESSONS,
2005 – 2015, VIDEO
Unten: NAZHA AND THE
BELL PROJECT,
VIDEOINSTALLATION
BIENNALE VENEDIG
2015
Im Studio fiept es eindringlich. Das
Geräusch kommt von den altertümlichen
Fernsehgeräten, die an der Hinterseite
zwischen Regalen unverbundene Filmszenen
in Schwarz-Weiß zeigen. Der Künstler hat
die Apparate mit farbigen Folien beklebt.
Mit der Arbeit My Father’s Color Period schaut
er in eine technische Vergangenheit, die
jedoch durch die Farbschichten etwas
Futuristisches bekommt. Die Spannung
zwischen dem Flimmern am Bildschirmrand und den leuchtenden Überzügen reißt
einen Riss in die Matrix der Bilder, wie ein
schroffer Beweis ihrer missglückten
Aktualisierung. Hiwa K aber will nicht Altes
mit Neuem versöhnen. Die Bildschirme
erzählen vielmehr von einer Kindheitserinnerung, einer historischen Situation, deren
multiple Sichtachsen er nachgebildet hat.
My Father’s Color Period spielt im Jahr
1979 im kurdischen Irak, als es durch
ein Gerücht auch für Hiwa Ks Familie
eine Idee von Zukunft gab, die jedoch
zur Enttäuschung wurde. Dem Gerücht
nach wollte der Staatssender im Irak
Farbfernsehen für alle einführen. Anders
als in den arabischen Teilen des Landes
hatten die marginalisierten Kurden
damals noch keine Technik dafür. Nach
Jahrzehnten der Unterdrückung genießen Kurden im Irak erst seit jüngerer
Zeit einen vergleichsweise unabhängigen
Status. Der Krieg gegen den „Islamischen Staat“ hat diese Freiheit jedoch
heute wieder infrage gestellt.
iwa Ks Vater, ein Kalligraf, beschließt,
als das Farbfernsehen ein Traum
bleibt, den Bildschirm mit farbigem
Zellophan zu bespannen, eine Farbe
für jede Woche. „Wir sahen alle möglichen
Programme, Filme, Musikvideos, in Tönen
von Blau, Pink, Grün oder Gelb.“ Mit der
Zeit habe der Vater immer elaboriertere
Techniken entwickelt, habe begonnen, den
Bildschirm in Abschnitte zu unterteilen
und jeden mit anderen Farben zu belegen.
„Ich dachte ja, er sei schlicht verrückt
geworden. Erst später erfuhr ich von einem
Freund, dass er nicht der Einzige war, der
so seltsame Filter konstruierte. Die ganze
Stadt machte das!“
Neben der Installation im Atelier fällt
ein dem Handwerk des Vaters, der Kalligrafie, nachempfundenes Bild ins Auge. Es
H
DIAGONAL, 2007, VIDEOINSTALLATION
sind rhythmische Pinselstriche eines arabischen Schriftzugs. Übersetzt steht dort „Das
Ende“. Ende der Apathie? Des Stillstands?
Der Diskriminierung? Des Schwarz-Weiß?
Das Bild ist nicht nur Anspielung auf die
List des Vaters, es ist auch Ausdruck kollektiver Sehnsucht und leiser Auflehnung – Protest in einer Sprache, die nicht die eigene ist.
ynischerweise, erinnert sich Hiwa K,
fiel das Jahr 1980, als Farbfernsehen
schließlich auch die Kurden im Irak
erreichte, mit dem Beginn des Golfkriegs
zusammen. „Plötzlich war alles in Farbe,
alles. Es war wunderschön. Aber wir sahen
nun immer zur Abendzeit das Programm
Images of War, abgeschnittene Gliedmaßen
und Opfer chemischer Waffen.“
Krieg, Sterben und Überleben, für
Hiwa K sind das keine Topoi der Kunst
sondern Erfahrungswerte. „Kunst ist nicht
politisch, nur weil man sie mit Politik
auflädt“, sagt er. Auf die unendlich vielen
Z
Das Jahr 2005 brachte die Wende.
Hiwa K bewirbt sich an der Kunsthochschule Mainz, mit gefälschtem Portfolio,
geliehenen Bildern von Freunden, als sei es
ihm in Wirklichkeit darum gegangen, die
vorherrschenden Wertmaßstäbe als falsches
Bewusstsein zu entlarven. Und anstatt sich
„KUNST IST NICHT
brav in der Klasse einzufügen, verwandelt
POLITISCH, NUR WEIL
der wenige Jahre zuvor nach Deutschland
Geflüchtete den Mainzer Universitätsflur
MAN SIE MIT POLITIK
in eine nahöstliche Skype-Kochklasse –
AUFLÄDT“
Cooking with Mama. Leben wird Kunst, nicht
umgekehrt. Mag diese Aktion entfernt an
Rirkrit Tiravanija und seine Kochaktionen
der auf Englisch pinky heißt. Oder: Er sei
kein Intellektueller, sondern ein Extellektu- in den 90er-Jahren erinnern, so ist es
genau diese Kunstszenenwelt, die Hiwa K
eller, so etwas wie das nach außen gestülpte
nicht interessiert. Anstatt die Chance
Andere geradliniger Interpretation. Und
zu ergreifen und zu Simon Starling an die
entsprechend nennt er sich auch nicht
Künstler, er nennt sich Geschichtenerzähler renommierte Frankfurter Städelschule zu
wechseln, entscheidet Hiwa K, bei Friedeund ist doch zu einem der großen Hoffmann Hahn und den Studentenfreunden
nungsträger der aktuellen Kunst in Berlin
in Mainz zu bleiben.
geworden.
Künstler, die politische Botschaften zum
Vorteil der Vermarktung verteilen, reagiert
er allergisch. Lieber umkreist er die eigene
Rolle. Er stelle Bezüge nicht mit dem Zeigefinger her, sondern mit dem kleinen Finger,
REVUE
48
Dort trifft er auf den amerikanischen
Exsoldaten und Mainzer Hochschulhausmeister Jim White und bringt ihm bei, wie
man Countrygitarre spielt. Im Film With Jim
White, Once Upon a Time in the West dokumentiert Hiwa K den Prozess, an dessen Ende
der Exil-Iraker und der Exil-Amerikaner,
zwei Erzählende eines geteilten Traumas, Spiel
mir das Lied vom Tod performen.
Im Frühjahr 2011, zu einer Zeit, als die
Vehemenz des Arabischen Frühlings sich
gerade erst abzeichnet, zeigt er sich auf einer
Demo im Irak. This Lemon Tastes of Apple
heißt die Filmarbeit, die den Einsatz von
Reizgas gegen Aktivisten dokumentiert.
Feuer, Blut. Zitronen gegen die Reizung der
Augen und Atemwege. Bilder, die man
kaum ansehen kann. Wegsehen gelingt aber
auch nicht. Mittendrin der Künstler mit
Harmonika. Und wieder spielt er die Mainzer
Melodie: Spiel mir das Lied vom Tod. Das fahle
Pathos des Eastwood’schen Spaghettiwesterns wird zum unheimlichen Subtext des
authentischen Straßenkampfs. Der Künstler
als subversiver Narr, als Demonstrant und
ironischer Kommentator in einem.
Irgendwo in seinem Assoziationsraum
aus Bescheidenheit, Witz und Verpflichtung
aufs Material verbergen sich fünf Jahre, die
fehlen, über die der Künstler nicht sprechen will und kann. Irgendwann werde er
sie in seiner Kunst wiederfinden, sagt er.
Aber man merkt, dass sie ihn nicht loslassen,
er nicht schweigen kann über sein Geheimnis. Es ist wie der Versuch, die Reaktionskreise eines auf seestiller Wasseroberfläche
dahinspringenden Steins ihrem Ursprung
zuzuordnen. Anstatt die Dunkelheit jener
Jahre als Effekt ihrer Nichtmittelbarkeit
stehen zu lassen, geht Hiwa K an diesem
frühen Abend die Kreise ab, einen
nach dem anderen. Er deutet auf die linke
Studiowand. Dort ist die Silhouette einer
Hauswand und eines Treppenaufgangs
erkennbar, obendrauf ein Bett. Es ist ein
Bleistiftumriss seiner Arbeit One Room
Apartment – das Gebäude ist ein Emblem
neuer Lebensformen nach der, wie er sagt,
„Schocktherapie“ der Golfkriege. Hiwa K
hat diese Reste eines Hauses im irakischen
Teil Kurdistans nach dem Golfkrieg
inmitten von Minenfeldern gesehen.
Er hat sichtlich Spaß daran, zu erzählen. Erzählt vom dekorativen Kitsch des
sozialistischen Realismus, der durch die
Verbindung zu Sowjetrussland nach Irak
geschwappt war, von seinem Bruch mit
der Kunst, der Hinwendung zur Musik, als
er Flamenco spielen lernte. Vom Foltergefängnis in seiner Heimatstadt und dem
großartigen Gefühl, nach der Einnahme des
Gefängnisses durch die Peshmerga im
querliegend zerstörten Aussichtsturm stehen
zu können. Und auch davon, auf der Flucht
fast erschossen worden zu sein (dokumentiert in seinem Film Diagonal).
azwischen liegen Jahre des Reisens.
Jahre, in denen der Künstler unter
Anleitung des Meisters Paco Peña
die Flamencogitarre lernte. Jahre der
Beschäftigung mit dem islamischen Erbe,
antiker Philosophie, kolumbianischer
Musik, jüdischer Literatur und europäischen
Sprachen. Einflüsse durch die expressionistische Malerei eines Willem de Kooning
D
ONE ROOM APARTMENT, 2007, SKULPTUR
REVUE
49
oder Georg Baselitz. Die Auseinandersetzung mit der abgründigen Zukunftsvision,
wie sie Andrej Tarkowski in seinem Film
Stalker erschuf. Wenn Hiwa K erzählt, blitzt
etwas in seinen Augen – dieser Überfluss an
Einfluss scheint ihn zu elektrisieren. Gemäß
der Schreibrichtung semitischer Sprachen
verschlang er damals den Kunstkanon von
hinten nach vorn. Doch so wichtig wie das
Lernen, das ist noch so eine Hiwa-Weisheit,
sei die Distanz zu den Dingen. Er habe sich
zum Beispiel bewusst dagegen entschieden,
Spanisch zu lernen, denn mit dem Flamenco
wollte er eine Affäre, keine Beziehung. „Die
Affäre zeigt dir nie das ganze Bild. Du darfst
nie am Vordereingang klopfen. Das macht
die ganze Sache viel interessanter.“
DIE ERSTE SOLOAUSSTELLUNG VON HIWA K
IN DEUTSCHLAND ERÖFFNET IN DER BERLINER
GALERIE KOW IM RAHMEN DES GALLERY
WEEKEND AM 29. APRIL
SCHAU AUF
MEINEN SCHATTEN
Broken Window, Paris, 1978, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm
ELLSWORTH
KELLY
TEXT: ULF ERDMANN ZIEGLER
PORTRÄT: SEBASTIAN KIM
Barns, Long Island, 1968, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm
Ellsworth Kellys
fotografisches Werk
war nur Eingeweihten bekannt.
Das sollte sich
mit einer Ausstellung ändern, an
der Kelly noch am
Tag seines Todes
arbeitete. Jetzt
sind die Bilder in
BLAU zu sehen
E
s stimmt, dass Äste krumm wachsen,
weil sie genetisch so programmiert sind,
und die meisten Dächer eine Neigung
haben, weil Menschen finden, dass man
damit ein Haus am besten schützt. Betrachtet
man die schwarz-weißen Fotos von
Ellsworth Kelly, zeichnet ein kahler Ast
gegen einen fahlen Winterhimmel eine
geheimnisvolle Kalligrafie. Das Dach einer
Scheune auf Long Island aber sieht aus wie
eine ganze Serie weißer Seiten: Writer’s Block.
Das eine Bild spricht, das andere schweigt.
Nur gelegentlich waren auf Ausstellungen die fotografischen Arbeiten dieses
Malers zu sehen, der noch am Anfang stand,
als er sich von französischen Freunden eine
Leica lieh. Zurückgekehrt nach Amerika,
spielte Kelly bereits in der A-Liga der Künste,
als er sich seine erste eigene Kamera kaufte,
Ende der 60er-Jahre.
Die Schärfe und Luzidität seiner malerischen Arbeit geben Rätsel auf. Das gilt auch
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für die farbigen Trapeze im Foyer des
Paul-Löbe-Hauses in Berlin, das vom Kanzleramt aus am Abend wie eine Galerie für
Ellsworth Kelly allein aussieht. Alle Werke
Kellys beruhen auf hoch spezialisierten
Beobachtungen, Wahrnehmungsspielen, Sehtricks. „Einmal, in Paris, lag ich unter einem
Baum und schaute zu den Blättern hinauf. Ich
habe ein Auge zugemacht und das Ganze sah
aus wie eine Tapete, mit tausend Überschneidungen. Dann habe ich das andere Auge wieder geöffnet und es war ein Canyon, mit enormer Tiefe.“ Die Einäugigkeit der Fotografie
hat Kelly, der auch ein Meister der Reflexion
war, sich dann so erklärt: „Fotografie hat
damit zu tun, dass man die dritte Dimension
versucht zu verknappen auf zwei; aber die
dritte bleibt in Erinnerung.“
Die Beziehung von Malern zur Fotografie ist recht gut erforscht, und manche waren
der Lichtbildnerei näher als andere, zum Beispiel Bonnard, Munch oder Ernst Ludwig
Sidewalk, New York City, 1970, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm
Kirchner. Es mag drei Gründe gegeben
haben, sich mit den technischen Hindernissen
der Fotografie – sie sind Vergangenheit,
gewiss – herumzuschlagen: das Festhalten von
Motiven, die Registrierung des eigenen Werks,
die Neugier gegenüber dem Verfahren.
Ellsworth Kelly gehört zu den Motivsuchern, mit der Besonderheit allerdings, dass
er nicht nach Fotografien gemalt hat. Einmal
hat er es probiert und gleich wieder verworfen. Insofern suchte er nicht malerische
Motive, sondern Belege dafür, dass die
Urfragen des Sehens auch in der Fotografie
dieselben sind. Dabei blieb er fotografischer
Laie, zumal er keine Dunkelkammer hatte.
Und von den kleinen Standardabzügen, die
er anfangs in Frankreich zurückbekam, war
er zu Recht enttäuscht. Die Negative waren
eben doch mehr als flüchtige Notizen.
Kelly wusste, wie zeitgenössische Fotografien aussehen – er war nicht die Spur naiv.
Stilistisch gehören die meisten seiner Bilder
zur konzentrierten, stillen, weltabgewandten
Fotografie der 50er-Jahre, die in Europa den
Beinamen „subjektiv“ bekommen hat. In
diesem Sommer wird das Museum Folkwang
das Werk des subtilsten Vertreters der Fotoform, Peter Keetman, wiederentdecken. Die
Europäer jedoch, mit ihren Birkenstämmen
in Nahsicht, gläsernen Wassertropfen und
abgeblätterten Hauswänden wollten letztlich
weg vom Gegenstand und hin zum Geistigen
und ihre Sujets waren ihnen dabei Vehikel.
elly, kühn als Maler und auch in seiner
farbigen Grafik, blieb in seinen fotografischen Sujets dem Material verhaftet,
der Funktion seiner Gegenstände und sogar
dem Handwerk. Er kannte die morbiden
Pariser Fotografien von Eugène Atget, aber
auch die fast nach Meersalz riechenden Stillleben Edward Westons aus Kalifornien. Keinen Moment vergaß er, dass die Schwärze in
einer Holzwand nur ein geöffnetes Scheunentor ist oder das Trapez auf dem New
K
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Yorker Bürgersteig eine jüngste Ausbesserung – Zement, mit dem Spachtel von Hand
in Form gebracht. Er begriff sich als Teil dieser schöpferischen und taktilen Welt, deren
puritanische Preziosen sein Partner Jack
Shear in Spencertown, südlich von Neuengland, sammelte: die urtümlichen, kargen
Möbel der Shaker.
Sein Werk als bildender Künstler,
anfangs noch kleinteilig, wurde dann immer
einfacher, jedenfalls auf den ersten Blick.
Es gibt von Kelly rote Keile und schwarze
Bogen, die so elegant sind, dass man sie
leicht für Architektur hält. Philosophisch
gesehen wirft sein Werk die Frage auf, ob es
besser sei, von der Theorie zur Erfahrung
zu gelangen oder andersherum. Seine großen Montagen von Monochromien – Gelb,
Rot, Blau – wecken durchaus die Vorstellung, er habe Theorie in Form übersetzt.
Tatsächlich aber blieb Kelly ein akribischer
Empiriker.
Beach Cabana, Meschers, 1950, Silbergelatineprint, 32 × 22 cm
Bricks, Meschers, 1950, Silbergelatineprint, 32 × 22 cm
Wall, Majorca, 1967, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm
In New York, nun Mitte der 50er-Jahre,
hatte ihm jemand eine Kladde geschenkt, ein
unbeschriebenes und unliniertes Heft. Er,
Anfang 30, setzte sich an einem sonnigen
Tag in den Bus und tuschte, sobald das Fahrzeug hielt, die Schatten der Fensterrahmung
in Schwarz aufs Papier. Manchmal wurde das
Papier fast völlig schwarz, mit kuriosen runden weißen Aussparungen in den Ecken: ein
Vorrat von Schwüngen, Schwellungen und
Bogen, den er hübsch für sich behielt, systematisierte, zitierte, ins Monumentale trieb.
Erst vor wenigen Jahren erschien ein Faksimile der Kladde.
ls ich das erste Mal bei ihm in Spencertown auftauchte, war ich zufällig
auch Anfang 30. Ich weiß noch, wie
er seine methodische Frage erläuterte und
dabei mit dem Finger das Revers meines
Jacketts nachzeichnete: Wie sieht ein Ding
aus, wenn es „flach“ wird, also dargestellt,
und was kann man aus der Verwandlung
A
schließen? Für einen Moment verdüsterte
sich sein Blick und er schien wirklich vor
einem Rätsel zu stehen – in der Form meines
Revers’ – und ich begriff, dass für Kelly etwas
bitterernst war, was vielen anderen Menschen auf dieser Erde als Lappalie erscheint.
Geradezu allegorisch zeigt seine Biografie, wie man das Museum erobert. Kelly,
noch in Paris, betrachtete das vertikale Fenster des Museum der Modernen Kunst, und
zwar von außen. Er überlegte, wie man aus
dem Fenster ein Bild machen könnte.
Zunächst wurde es ein Relief. Während also
das Relief entstand, fand er den adäquaten
Ausdruck seiner ihm eigenen bohrenden Art
des Schauens – und mit dem Relief des Fensters öffnete sich das Fenster des Museums.
Er stieg ein wie ein Dieb. Nicht sofort, aber
auch nicht so viel später, denn Kelly hatte
sich den Umweg über die gestische Abstraktion gespart. Er dachte nie, dass es lohnen
würde, sein eigenes Seelenspiel in einem Akt
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künstlerischer Natürlichkeit auf der Leinwand niederzulegen. Er entging dem Sog des
Abstrakten Expressionismus und kam schon
fast als Hard-Edge-Maler aus Europa zurück,
ein Außenseiter, aber von unglaublicher
Beharrlichkeit und kaum zu fassender Produktivität. Lange hat sein Name nicht so sehr
geleuchtet wie der von Jackson Pollock, Roy
Lichtenstein oder Bruce Nauman. Dennoch,
was die Insider lange geraunt hatten, schien
zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gewissheit:
Kelly war nicht nur A-Liga, sondern fand
locker seinen Stuhl im Pantheon der Kunst
Nordamerikas. Er hat lange genug gelebt, um
die Glocken noch läuten zu hören.
Leicht hat er es nicht gehabt, seinen
eigenen Pfad zu finden. Sein Hintergrund
war eher kleinbürgerlich und ängstlich.
Allein der bombastische Vorname, der auf
englische Nobilität verweist und keinen
Kosenamen zulässt, stand einer Karriere als
all-American boy entgegen, kein Bob, kein
Group of Pine Branch and Shadow, Meschers, 1950, Silbergelatineprint, 23 × 32 cm
Gus, kein Frank. Man muss sich den Namen
Ellsworth etwas verblasen und unduldsam
ausgesprochen denken, so wie in Woody
Allens köstlichem Kurzfilm Oedipus Wrecks,
wo die verstorbene Mutter im Himmel über
New York allgegenwärtig erscheint und Sheldon Vorwürfe macht. Tatsächlich konnten
sich Ellsworth Kellys Eltern an die Berufswahl ihres Sohnes nie gewöhnen, noch nicht
einmal, als er bereits Teil der MoMA-Sammlung war.
Kelly aber wurde sich der Besonderheit
seiner Person bewusst und verwandelte sie
in eine Besonderheit des Auftrags. Zum
einen adelte er alles, was er fand, indem er es
mit festem Strich locker festhielt: Gesichter,
Blätter, Schatten. Zum anderen kühlte er
den Gegenstand herunter zur reinen Form;
betrieb also genau das, was das Verb „abstrahieren“ überhaupt meint. Seine bekanntesten Kunstwerke, äußerst elegant, haben
etwas Forsches, Technisches, die Grenze
zum Unpersönlichen überschreitend. Der
Akt des Schaffens ermöglicht den Zugang zu
einer universalen Sprache, ja, dieser wird
geradezu erzwungen.
iele bildende Künstler haben eine
fotografische Phase und wenden sich
dann wieder ab. So wurden die magischen Alltagsbeobachtungen des jungen
Bildhauers Reiner Ruthenbeck erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung publiziert;
Robert Rauschenbergs wüst geknipste Straßendetails aus New York und Boston wurden zwischen Buchdeckel gepresst, aber
schon bald vergessen. Andere Künstler
haben ihre Beziehung zur Fotografie zum
Markenzeichen ihres Werks gemacht, vor
allen anderen Gerhard Richter.
Ellsworth Kelly war durchaus ambivalent, was seine Fotografien betraf. Nicht weil
sie nicht gut genug gewesen wären, sondern
umgekehrt: Man hätte sie als Schlüssel zu seinem Werk betrachten können. Tatsächlich
V
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spürt man beim Betrachten dieser Fotografien den metaphorischen Schub – heureka!
Entdeckung, die umschlägt in Erkenntnis.
Und so hat sich Kelly im letzten Jahr
seines Lebens entschlossen, das fotografische Werk zusammen mit Jack Shear zu sichten, die Negative und die Kontaktbogen, und
daraus eine Essenz zu destillieren. Anders als
man vermuten möchte, wurden die Negative
nicht gescannt, sondern einem Meisterprinter in Los Angeles zum Vergrößern gegeben:
In der Silbergelatine sitzt das Licht! Diese
Fotografien also beschließen das Vermächtnis eines monumentalen Werks, das Werk
Ellsworth Kellys, der auf der musealen Trauerfeier in New York als einer der letzten happy
modernists gefeiert wurde.
ELLSWORTH KELLYS FOTOGRAFIEN SIND BIS
ZUM 30. APRIL IN DER NEW YORKER MATTHEW
MARKS GALLERY ZU SEHEN
Barn, Taconic, 1974, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm
Barn, Southampton, 1968, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm
Doorway, Belle-Ile-en-Mer, 1977, Silbergelatineprint, 33 × 22 cm
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SCHICHT
FÜR
SCHICHT
TEXT: SIMON ELSON
PORTRÄT: LISA OHLWEILER
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IM FRISEURSALON SEINER
MUTTER BEGINNT
MARK BRADFORD EIN
NEUES KAPITEL MALEREIGESCHICHTE. 25 JAHRE
SPÄTER IST ER SAMMLERUND KURATORENLIEBLING — UND GIBT DEN
JUGENDLICHEN AUF
DER SOUTH SIDE VON
LOS ANGELES HOFFNUNG.
MIT KUNST UND DEM
GELD, DAS SICH DAMIT
VERDIENEN LÄSST
L
os Angeles, die Stadt mit dem hellsten Himmel und den vollsten
Straßen. Oberhalb des Flughafens führt der Highway No. 10
vom Strand des Pazifik quer durch die Stadt, schneidet sie in zwei
Teile. Hier der reichere Norden, über dem das Getty Museum und
der berühmte „Hollywood“-Schriftzug thronen, dort der ärmere
Süden, der eigentlich immer nur dann im Scheinwerferlicht stand,
wenn es um Rassenunruhen und Gangster-Rap ging. Den Ausbau
der Highways brachte Präsident Eisenhower bereits 1956 auf
den Weg, inspiriert auch von nazideutschen Autobahnen. – All das
und mehr erfährt man, wenn man sich in Los Angeles auf die
Spuren des Künstlers Mark Bradford setzt.
Er zitiert diese politische Anekdote in seinem riesenhaften
Gemälde Riding the Cut Vein aus dem Jahr 2013. Das aus Papierfetzen zusammengeklebte Bild wird durch eingearbeitete Stricke
unordentlich gerastert. Die Struktur erinnert an eine Landkarte.
Die Stadt auf der Karte aber breitet sich nicht ungehindert aus,
ein glühend farbiger Schnitt lötet quer durch das Bild, so wie der
Highway No. 10 den eher weißen Norden vom eher schwarzen
Süden trennt, ein Gebiet, das durch den Fuck tha Police-Schlachtruf
der Rapper von Niggaz Wit Attitude weltberühmt wurde.
Bradford ist 31 Jahre alt, als 1992 in L. A. die Unruhen ausbrechen, nachdem Polizisten den Schwarzen Rodney King grundlos
zusammengeschlagen haben. Er lebt in South Central, wie der Süden
damals noch heißt, und kämpft seit Jugendtagen gegen Klischees an:
Mark Bradford ist schwarz, aber er rappt nicht, er ist aus dem Süden
der Stadt, aber er hat mit Drogen oder Waffen nichts zu tun, er ist
zwei Meter groß, aber spielt nicht Basketball. Und er ist homosexuell.
RIDING THE CUT VEIN, 2013, MIXED MEDIA AUF LEINWAND, 335 × 610 CM
Auftaktseite: MARK BRADFORD IN SEINEM STUDIO IN LOS ANGELES
PRESSIN‘ AGNES, 2002, ENDPAPERS FÜR DAUERWELLEN,
ACRYL AUF WAND, 241 × 368 CM
MARK BRADFORD, MITGRÜNDER DER STIFTUNG ART + PRACTICE,
INSTALLIERT MIT WAISENKINDERN EINE WANDARBEIT
15 Jahre ist es her, dass der Künstler in Thelma Goldens
Freestyle-Ausstellung in New York entdeckt wurde; sie wurde später
auch in Los Angeles gezeigt. Inzwischen sind Bradfords Arbeiten
in den Sammlungen des MoMA in New York, der Tate Modern in
London, des Centre Pompidou in Paris; mehr als 30 Einzelausstellungen hatte er, viele in den USA, einige aber auch in Europa,
Südamerika und China. Seit 2012 vertritt ihn die Galerie Hauser &
Wirth. Im Eingang des neuen Privatmuseums von Eli Broad im
egomanischen Downtown hängt sein drei Meter breites Scorched Earth
von 2006, eine visuelle Meditation zur Auslöschung der „Black
Wall Street“-Neighbourhood. Die schwarze Zivilbevölkerung in den
Straßenzügen von Tulsa, Oklahoma, wurde in den 1920er-Jahren
von der amerikanischen Regierung bombardiert.
Wer ist dieser explizit politische Künstler, der sich ziemlich still
zum Kunstmarktsuperstar entwickelt hat – 2015 brachten zwei
Bilder von Bradford auf Auktionen je mehr als vier Millionen Dollar
ein – und den man in Deutschland noch gar nicht richtig kennt?
Der Weg nach South Los Angeles, wo auch heute noch
Bradfords Studio ist, führt in ein heruntergekommenes Viertel. Selbst
der immerblaue kalifornische Himmel kann hier nicht helfen.
Schrottige Autos am Straßenrand, vermüllte Veranden – wie die
Kulisse des Ballerfilms Boyz n the Hood aus den 90er-Jahren.
Mark Bradford arbeitet unermüdlich daran, das Bild schwarzer
Pop- und Unglückskultur zu verändern. In der ehemaligen Industriehalle seines Ateliers wirkt selbst der hoch aufgeschossene Künstler klein. Er ist gerade mitten in einem Fotoshooting, die Augen
hinter der Brille funkeln. Nicht gerade alarmiert, aber achtsam beobachtet er den Ankömmling. In dieser Gegend will man wissen,
wer hereinschneit. Immer noch. Dem heute 54-Jährigen sieht man
sein Alter nicht an. Mit lässigen Armbewegungen bedeutet er, dass
man sich umschauen dürfe, er sei gleich fertig. Was seine Mitarbeiter angeht, ist der Künstler so treu wie zum Süden der Stadt:
Einige arbeiten schon seit fast zehn Jahren bei ihm. Jose Lopez,
einer der Assistenten, führt durch die nach Ausstellungen in
Los Angeles und New York leergefegte Halle; von der Decke hängt
eine vorhangartige Skulptur aus Papierstreifen, die in meterlangen
Bahnen an der Wand verleimt und dann einzeln abgezogen werden.
Jetzt hat Bradford Zeit. Wir klettern auf braune Ledersofas, die
seiner Körpergröße standhalten, umgeben von hohen Regalen,
vollgepackt mit Büchern. Gegenüber an der Wand hängt eine historische Landkarte der USA. So kalifornisch gegenwärtig Bradford
auch ist, so sehr geht es in seinen Arbeiten um Geschichte: seine
Geschichte, die Geschichte der Afroamerikaner und die Geschichte
der USA. Als Teenager habe ihm Science-Fiction die Augen für
neue Wirklichkeiten geöffnet. Samuel R. Delanys Dhalgren zum
Beispiel, eine phantasmagorische Geschichte der amerikanischen
Stadt, der sexuellen Diversität, der Rassenkonflikte.
ark Bradford erinnert sich noch gut an die Unruhen in
L. A. von 1992. Damals hat er im Friseursalon seiner
Mutter gearbeitet, in Leimert Park. Während draußen
der Mob tobt, verhängen sie die Ladenfenster, benutzen den Hintereingang und frisieren stoisch weiter. Der Künstler ist damals
noch ein Rückkehrer, er hat die Welt bereist, als Animiertänzer in
europäischen Klubs gejobbt. Er geht auch damals viel aus und ist
noch unentschieden, wohin er sein Leben lenken wird. Doch eines
steht für ihn fest: Er wird nicht zu denen gehören, die hier verloren
gehen. Das liegt auch an seiner Mutter Janice, seit den Sechzigern
alleinerziehend und selbstständige Geschäftsfrau. Ein starkes
Vorbild. 1990 hat er sich für Kunstkurse an der Universität eingeschrieben, bekommt ein Jahr später ein Stipendium fürs California
Institute of the Arts (CalArts). Sein Studio richtet er direkt neben
dem mütterlichen Friseursalon ein.
Bradford redet viel von seiner Mutter, nimmt sie zu Vernissagen
oder Preisverleihungen mit. „Sie hat dafür gesorgt, dass ein Universitätsabschluss für mich erstrebenswert, ja glamourös war, und
nicht Drogen“, sagt er. „Der Gangsterrap machte die Bezeichnung
‚bitch‘ für Frauen schick, ich versuche einen ganz anderen Blick
auf die Welt zu werfen“, sagt er und ärgert sich jetzt wahnsinnig über
die Dokufiktion Straight Outta Compton. Der teils katastrophale
Umgang der Rapszene mit Frauen werde unter den Tisch gekehrt.
Den Frauen in seinem Leben hat er viel zu verdanken:
Nicht nur seiner Mutter, nicht nur der Kuratorin Thelma Golden,
sondern auch seiner ersten Sammlerin und jetzt engen Freundin
Eileen Harris Norton und der Kritikerin Roberta Smith, die ihm
M
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2003 im Friseursalon den Kopf gewaschen haben soll. „Er ist
momentan einer der wichtigsten amerikanischen Künstler und
dabei ein exzellenter Geschäftsmann“, sagt seine Galeristin
Susanne Vielmetter. „Und er lässt Worten Taten folgen.“ Damit
spricht sie das soziale Projekt Art + Practice an, das Bradford
2014 zusammen mit Allan DiCastro und Eileen Harris Norton
ins Leben gerufen hat. Nach 15 Autominuten ist man bei den
Stiftungsgebäuden in Leimert Park, dort, wo früher der Friseursalon
war und direkt daneben Bradfords erstes Atelier. Jetzt gehört
Mark Bradford die halbe Straße. Hier werden Jugendliche und junge
Erwachsene professionell umsorgt, die ihre Eltern verloren haben.
Im Süden von L. A. gibt es, gemessen am nordamerikanischen
Durchschnitt, überproportional viele Waisenkinder, ein krasses
soziales Problem. Sie geraten auf die schiefe Bahn, enden im Gefängnis. Bradfords Stiftung hat Vorbilder, die Initiativen des Künstlers
Theaster Gates in Chicago oder von Rick Lowe in Houston. Lowe
sitzt auch im Stiftungsrat von Art + Practice.
eben der sozialen Einrichtung entstehen zurzeit große
Ausstellungsräume, ein Buchladen, ein Restaurant. Bevor
Mark Bradford sich hier engagierte, hat es südlich des
10er-Highways keinen zugkräftigen Kunstraum, geschweige denn
ein Museum gegeben. Jetzt stellt Bradford hier mithilfe des
Hammer Museum wichtige Künstler aus, auch seinen früheren
Lehrer Charles Gaines. Der Stadtteil erlebt also eine vorsichtige
Gentrifizierung, auch wenn an der Kreuzung direkt vor der
Stiftung noch eine Warntafel mahnt: „No Cruising“. Sie erinnert
an die tödlichen Drive-by-Shootings vergangener Jahre. Und im
Park gegenüber spielen keine beaufsichtigten Kinder, dort huschen
zerlumpte Gestalten von Bank zu Bank. Trotzdem ist die Atmosphäre hier vergleichsweise friedlich, fast behütet.
Wie wurde Mark Bradfords Erfolg möglich? Nach ersten kleinen
Ausstellungen wird er 2001 von der Kuratorin Thelma Golden
entdeckt, die eines Tages bei ihm im Salon auftaucht. Sie ist auf der
Suche nach dem, was in ihrer Freestyle-Ausstellung kurz darauf als
„Post-Blackness“ firmiert: schwarze Kunst, die Hautfarbe nicht als
ideologischen Trumpf einsetzt, sie aber auch nicht verneinen
will. Das Friseurhandwerk begegnet Golden dann auch in Bradfords
Bildern, er arbeitet mit endpapers. Man braucht diese kleinen Papierschnipsel, wenn man dem besonders dichten Haar der Afroamerikaner eine Dauerwelle verpassen will, man legt sie um die Haarsträhne, bevor der Lockenwickler eingerollt wird.
Für Connie Butler vom Hammer Museum ist Papier Bradfords
wichtigstes Arbeitsmaterial. „Es wirkt bei ihm alles sehr brachial,
aber am Ende arbeitet er sehr fragil, sehr fein. In meinen Augen ist
er eher ein Zeichner!“ Eine heute leider übermalte Wandarbeit,
die er 2002 für seine erste Galerieshow bei Susanne Vielmetter
anfertigt, heißt Pressin’ Agnes. Im Titel steckt der Bezug zu Agnes
Martin – Bradfords luzide, monochrome Wandmalerei wirkt, als
habe er die ordnungssuchende Minimalästhetik der Konzeptkünstlerin gegen den Strich gebürstet. Martin habe von sich selbst
behauptet, mit dem Rücken zur Welt zu malen, sagt Bradford.
„In meiner Kunst aber darf es ruhig messy sein. Ich will eine Abstraktion, die nicht nach innen, sondern nach außen, ja nach draußen
auf die Straße schaut!“
N
LAZY MOUNTAIN (DETAIL), 2014, MIXED MEDIA
AUF LEINWAND, 305 × 1.219 CM
S
päter verwendet er Plakate, die er bei seinen Streifzügen rund
um sein altes Studio aufsammelt. Diese Poster, an Bauzäune
und Maschendraht geklatscht, sind im wahrsten Wortsinne
Armutszeugnisse, versprechen Alkoholikern Hilfe, bieten Hypotheken und Kredite an. Sie symbolisieren, so Bradford, wie es der
Gegend gerade geht. Er verleimt das Papier in vielen Schichten
auf einer Leinwand, bearbeitet es mit Farbe aus dem Baumarkt,
fügt teilweise Stricke ein, um Muster zu erzeugen – und zum
Schluss donnert er mit der Schleifmaschine drüber. Sein Pinsel ist
die Schleifmaschine. Er arbeitet wie ein Bildhauer. Los Moscos
von 2004, eines von Bradfords Hauptwerken, zitiert im Titel eine
abfällige Slangbezeichnung für arbeitssuchende Migranten: los
moscos – die Fliegen.
Bradford sucht jetzt einen SMS-Dialog mit seinem Freund
Allan DiCastro, in dem er eine Passage aus dem amerikanischen
Klassiker Vom Winde verweht zitiert. Der Text beschreibt Rhett Butler,
doch Bradford erkennt sich darin wieder. „That’s the social side
of me“, sagt er. Es geht darum, dass Rhett Butler nicht aufhören
kann, „dem Dünkel, der Heuchelei und der Vaterlandsliebe seiner
Umgebung Nadelstiche“ zu versetzen, „so wenig, wie ein kleiner
Junge es sich verkneifen kann, einen Luftballon anzustechen“.
Diese Seite, beide Arbeiten: BELL TOWER, 2014,
MIXED MEDIA, 793 × 914 CM
Rechte Seite: SAMPLE 2, 2015, MIXED MEDIA
AUF LEINWAND, 159 × 127 CM
Ein heute als rassistisch geltendes Werk wie Vom Winde verweht
auf sich selbst anzuwenden, den schwarzen Künstler, das macht
Bradford sichtlich Spaß.
Die Galeristin Susanne Vielmetter sagt, Bradford habe im
Studium immer wieder behauptet, der Sohn von Charles Gaines
zu sein, eine Ausnahmeerscheinung im weißen Kunstbetrieb. Die
zynische Pointe: Meist glaubt man ihm. Damals herrscht das
Vorurteil, die Schwarzen müssten ja irgendwie zusammengehören.
Tatsächlich ist Bradfords Kunst ohne den Einfluss von Gaines
kaum denkbar: In den Neunzigern ist Gaines ein erfolgreicher
Künstler, unterrichtet seit vielen Jahren als Kunstprofessor in
Kalifornien. Bradfords künstlerisches Credo basiert auf Gaines’
Kunst: Seine Abstraktion ist kein inhaltlich leeres Formenspiel,
sie darf bedeuten, mehr noch, sie ist politisch. Wer aber am Beispiel
Bradfords die Geschichte der ‚schwarzen‘ Kunst in Amerika
erzählen möchte, sollte vorsichtig sein. Post-Blackness ist kein
Schlachtruf, sondern eine Diversitätsmaschine, die Menschen
wie ihm Freiraum verschafft hat. Jeder entscheidet selbst, wie er
sich als Schwarzer im neuen Jahrtausend sehen will. „Black“?
„African American“? Was heißt das überhaupt, soziale Identität?
Für Bradford bedeutet die gesellschaftliche Entwicklung eine
enorme Befreiung. Noch in den 80er-Jahren ist es lebensgefährlich,
im Süden von L. A. schwarz und schwul sein.
Wie also ist das heute, da die USA einen schwarzen Präsidenten haben? Ist nicht seit Martin Luther King und Rodney King
viel getan worden? „Man kann das nur schwer verstehen. Aber das
Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen in den USA ist nach
wie vor höchst kompliziert. So wie in Deutschland der Zweite
Weltkrieg und der Holocaust. Obwohl das natürlich ganz unterschiedliche Geschichten sind“, sagt er. Er empfinde seine Kunst als
Befreiung, weil seine Hautfarbe hinter den Werken in Deckung
gehen könne. Frantz Fanon hat das in seinem bahnbrechenden
Buch Schwarze Haut, weiße Masken (zuerst 1952 auf Französisch)
eindrücklich beschrieben: Der Weiße hat seine Masken, hinter
denen er verschwindet. Der Schwarze hingegen wird durch die
rassistische Markierung auf eine einzige Rolle festgelegt.
Norden und Süden, Schwarze und Weiße, soziales Engagement und Sammlerliebling, das sind kleine Punkte auf einer schier
unüberschaubaren Landkarte, die sich ständig verändert. Bevor
man ins Flugzeug steigt, trifft man ein letztes Mal auf den Künstler,
auf seine Skulptur Bell Tower von 2014. Im Kontrollbereich des
Flughafens LAX hängt ein riesiges Jumbotron von der Decke, eine
vor allem aus Stadien bekannte, von mehreren Seiten einsehbare
Konstruktion aus großen Bildschirmen – aber hier als Attrappe,
aus Sperrholz und Filmplakatresten zusammengeflickt. Die
blinden Mattscheiben schweben über den Köpfen derer, die sich
an ihren Pässen festklammern. Heute wird hier jeder irgendwie
arabisch wirkende Mann ausgesondert und noch genauer untersucht, die Reisenden ringsum schauen ängstlich oder beschämt
zu Boden. Dazu schlägt Bradfords schweigender Glockenturm
perfekt – nämlich gar nicht.
DAS CONTEMPORARY ART MUSEUM ST. LOUIS ZEIGT VOM 6. MAI BIS
14. AUGUST MARK BRADFORDS AUSSTELLUNG RECEIVE CALLS ON YOUR
CELLPHONE FROM JAIL
REVUE
66
ARRATIA BEER
GALERIE GUIDO W. BAUDACH
BLAIN | SOUTHERN
GALERIE ISABELLA BORTOLOZZI
BQ
GALERIE BUCHHOLZ
BUCHMANN GALERIE
CAPITAIN PETZEL
CARLIER | GEBAUER
MEHDI CHOUAKRI
CONTEMPORARY FINE ARTS
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GALERIE EIGEN + ART
KONRAD FISCHER GALERIE
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SUPPORTICO LOPEZ
GALERIE BARBARA THUMM
VW (VENEKLASEN / WERNER)
GALERIE BARBARA WEISS
WENTRUP
KUNSTHANDEL WOLFGANG WERNER
BARBARA WIEN
ŻAK I BRANICKA
ENCORE
TOBEY und FRANCIS —
—
WERTSACHEN — AU KT IO NE N
GR AND PRIX — BL AU K ALENDER
— DER AUGENBLICK
Tanz den
Tobey
Wie die amerikanischen Maler Mark
Tobey und Sam
Francis Europäer
wurden? Es war
der Coup ihrer
Schweizer Kunsthändler. Und der
hatte Folgen
Mark Tobey, fast 80-jährig, in seiner Basler Wohnung,
fotografiert von Kurt Wyss
ihm gefällt. White Journey. Ein weißgetupfter Himmel, über den ein Schwarm insektenkleiner Linien huscht. Mark Tobey, den
Maler, kennt er nicht. Ein paar Monate später
wird er das Bild über die Otto Seligman
Gallery in Seattle erwerben – und es nie
mehr hergeben.
Tobey war damals eine stille Größe.
rüssel, Weltausstellung 1958. Draußen
Man muss das so sagen, weil er anders
das Atomium im Silberglanz. Drinnen
die Parole „Friedliche Nutzung“, als sei als die Abstrakten Expressionisten, die wie
diplomatische Vertreter ihres Landes
nach Hiroshima überhaupt noch so etwas
wie die Erlösung von allem Übel denkbar. auftraten, die Öffentlichkeit eher mied. Aber
Unter den 41 Millionen Besuchern ist auch er gehörte zur Szene. Auf der Biennale
der junge Basler Kunsthändler Ernst Beyeler, in Venedig im selben Jahr waren es vor allem
seine Bilder, die im amerikanischen
der sich mit seinen Ausstellungen zur
Pavillon neben Arbeiten von Mark Rothko,
klassischen Moderne in Europa und spektakulären Verkäufen an Sammler und Museen Kimber Smith und Seymour Lipton
auffielen. Seattle, wo er lebte, bereitete eine
in kurzer Zeit einen Namen gemacht hat.
Im kreisrunden amerikanischen Ausstellungs- Werkübersicht mit 224 Gemälden vor.
Und die Los Angeles Times feierte ihn als
haus trifft er auf Kunst. Strategisch setzen
berühmtesten Maler der Westküste. Es
die USA auf den weltweiten Triumph der
war ein großes Jahr für den bald 70-jährieigenen Kultur. Mag die Sowjetunion auch
gen Künstler. Amerika huldigte ihm. In
ihren Sputnik haben, Maler hat sie nicht.
Europa kannten ihn nur wenige.
Beyeler bleibt vor einem Bild stehen, das
B
ENCORE
69
Beyeler tut, was er immer tun wird. Er
kauft in großem Stil, en bloc. Wie viel ihm
sein Einsatz bei Tobey wert war, darüber
gibt es keine verbrieften Angaben. Aber es
müssen so viele Bilder gewesen sein, dass
der hofierte Amerikaner beeindruckt in die
Schweiz reist, um seinen neuen Galeristen
kennenzulernen. Man stelle sich einen warmen Junitag des Jahres 1960 vor. Die
Herren speisen im Garten des befreundeten
Pfarrers Hassler. Und weil sie alle so gut
drauf sind, schlägt der Kunsthändler dem
Künstler vor, gleich in Basel zu bleiben.
Tobey mietet sich noch am selben Tag ein
anständiges Patrizierhaus in der St.-AlbanVorstadt.
Die Nachkriegskunstgeschichte wird
meist in Begriffen der Überwältigung erzählt.
Als kunstimperialistischer Siegeszug der
amerikanischen Künstler, die mit massiver
staatlicher Unterstützung Europa den
Schneid abkauften. Und es ist ja nicht falsch,
dass sich in den 60er-Jahren die Rollen
verkehrt haben, dass es nicht mehr die
europäische Moderne war, die die New
Yorker Avantgarde munitionierte, dass nun
amerikanische Künstler vorn an der
Front standen, selbstbewusst und mit ihren
Riesenformaten hochgerüstet wie mit
atomaren Sprengköpfen aus dem Kalten
Krieg. Es war die Zeit, als der Dollar auch
in der Kunst zur Leitwährung wurde und
der transatlantische Bilder-Warenverkehr
mehr und mehr zur Einbahnstraße – verbunden mit weit herum spürbaren Versuchen, den American way of art nachzuahmen.
Aber es gab eben auch das andere,
wovon seltener die Rede ist. Es gab die
Verführungskraft, die nach wie vor vom
kriegsversehrten Europa ausging. Auf sie
verstanden sich ein paar weitsichtige
Kunsthändler besonders gut. Sie kauften
den Amerikanern das halbe Atelier leer
und lockten sie auf den alten Kontinent.
Und die Umworbenen kamen und blieben.
Tobey 16 Jahre – bis zu seinem Tod. Und
die Wirksamkeit, die er in seiner Schweizer
Wahlheimat entfalten sollte, die Strahlkraft
seines serenen Alterswerks auf eine ganze
Malergeneration, das war aufs Ende gesehen
nicht weniger bedeutsam als der Bühnenerfolg, den die Galeristen der Stunde mit
ihren imposanten Importen aus amerikanischen Ateliers feierten.
ährend sich so die einen auf einer
Art Eroberungsfeldzug sahen
oder zumindest im kulturdiplomatischen Dienst der westlichen Supermacht
mit ihren hegemonialen Ansprüchen,
ließen sich andere noch einmal von Europa
faszinieren. Denn noch immer
galten die alten Sehnsuchtsziele.
Und vor allem Paris hatte seinen
legendären Ruf.
Rue Tiphaine 14. Im 15. Arrondissement. Sam Francis vor seinem
Riesenbild Deep Orange and Black,
das sich vom Boden bis zur Decke
streckt. 1950 war er mit dem staatlichen Förderprogramm „G. I. Bill“,
das Stipendien an Weltkriegsveteranen vergab, hierhergekommen.
Viele gingen damals nach Paris.
Kimber Smith, Al Held, Norman
Bluhm, Joan Mitchell, Shirley Jaffe,
Ruth Francken, John Hultberg,
Shirley Goldfarb. Der Sog war
enorm. Mehr als 300 amerikanische
Maler und Bildhauer sollen in den
50er-Jahren in der Stadt gelebt und
gearbeitet haben. Unterstützt von
einem rührigen Amerikahaus in der
Rue du Dragon, das seinen Landsleuten erfolgreich Ausstellungen
vermittelt.
W
MARK TOBEY
Pastoral, 1964, Öl auf
Leinwand, 70 × 49 cm
Rechts: Mark Tobey (l.)
und Ernst Beyeler, 1964
in der Galerie Beyeler
in Basel vor einem Werk
von Georges Rouault
ENCORE
70
Im Dezember 1954 hat sich Eberhard
W. Kornfeld in der Rue Tiphaine angemeldet. Wenige Jahre erst ist es her, dass er die
auf Handzeichnungen und Grafiken alter
und moderner Meister spezialisierte Berner
Kunsthandlung Gutekunst und Klipstein
übernommen hat – mit dem Ziel, den
Galeriebetrieb in Richtung zeitgenössische
Kunst zu erweitern. Und dafür ist er
nach Paris gereist. Hier, nicht in New York,
entdeckt er die amerikanische Kunst. „Es
war eine Malerei“, erzählt Kornfeld später,
„wie wir sie noch nie gesehen hatten.
Man hatte ja von diesen neuen amerikanischen Malern überhaupt keine festen
Vorstellungen, es war wie eine Fama. ‚New
York School‘, ‚Pacific School‘, lauter
Begriffe, mit denen man nicht viel anfangen
konnte. Mit einem Mal begegnete man
den Amerikanern in Paris, und es war, wie
wenn plötzlich der Vorhang aufgeht.
Sam Francis bedeutete für unser Haus den
Durchbruch in ein großes Wagnis.“
„Ebi“ Kornfeld, hinter dem der
Kalifornier in den ersten Jahren noch einen
„Abraham“ vermutete, weshalb er ihn
„Abby“ nannte und „Dear Aby“ anschrieb,
Ebi Abby wurde Francis’ wichtigster
Händler. Ende September 1957 zeigt er
seinen neuen Schützling zum ersten
Mal in Bern. Mit 44 Nummern im kleinen
Katalog. Die Ausstellung wird zum kaum
erwarteten Erfolg. Fast alle der kleinformatigen Arbeiten, überwiegend Aquarelle,
verteilt an den Wänden zwischen Kachelofen, Vitrine, Rundtisch und Bücherregal,
werden verkauft. Dabei sind beide Seiten
nie eine exklusive Bindung eingegangen.
Ähnlich wie Beyeler, der für Tobey alles
tat, ihn aber nicht unter Vertrag nahm.
„Francis hatte dazu eine klare Meinung:
Entweder funktioniert die Freundschaft
oder es hilft, wenn sie nicht funktioniert,
auch kein Papier. Für mich war das nie
ein Problem, dass er sich zugleich von anderen Kollegen in Europa vertreten ließ.
Viele waren es ja in den Pionierjahren nicht.
Alfred Schmela in Düsseldorf, Olaf
Hudtwalcker in Frankfurt.“
In kurzen Intervallen folgen nun die
Sam-Francis-Auftritte in der Berner Laupenstraße. Und wer anfangs noch gezögert
hatte, musste bald feststellen, dass die
Arbeiten für kleinere Portefeuilles schon
gar nicht mehr erreichbar waren. Hatte
Kornfeld für seine erste Sam-FrancisErwerbung 1954 noch 250 Francs bezahlt,
lag drei Jahre später die Preisgrenze für
Gouachen und Aquarelle bei 1.000 Schweizer Franken. Für Deep Orange and Black,
das Riesenbild, vor dem sich Francis so
stolz fotografieren ließ, zahlte Arnold
Rüdlinger, der Direktor der Basler Kunsthalle, 1955 bereits 10.000 Franken. Und
im Archiv Kornfeld hat sich ein Brief aus
dem Jahr 1957 erhalten, in dem Francis
seinen Berner Kunsthändler anfragt, ob er
in diesem Jahr wohl mit einer Verkaufssumme von 20.000 Dollar rechnen könne.
Dass Beyeler mit Tobey und Kornfeld
mit Francis Edelpferde im Stall hatten,
entwertet die unverwüstlichen Freundschaften nicht, die Kunsthändler und Künstler
verbanden. Ähnlich wie Beyeler schuf auch
Kornfeld „seinem Amerikaner“ ein Schweizer Reduit. Das ehemalige Kutscherhaus
neben der Galerie wurde zu Francis’ Lager
für Großformate und zum immer wieder
und gern aufgesuchten Atelier, wo er oft
Monate verbrachte.
Ob sich Mark Tobey und Sam Francis
irgendwann getroffen haben, ist nicht
überliefert. Vielleicht in Kassel auf der
Documenta 2 des Jahres 1959, wo die
beiden – Tobey noch als amerikanischer
Gast – große und vor allem prägende
Auftritte hatten. Der Einfluss, den der eine
mit seinen kalligrafisch fragilen, in sich
versunkenen Abstraktionen und der andere
mit dem Largo und Allegro seiner klingenden Farben auf die europäische, vor allem
deutsche Malerei der 60er-Jahre ausgeübt
haben, ist noch nicht untersucht worden.
Und doch ist er nachweisbar in allen
großen Werken des deutschen Informel.
Bei Gerhard Hoehme geradeso wie bei
Ernst Wilhelm Nay, bei Hann Trier so gut
wie bei Fred Thieler oder Hans Hartung.
Man könnte mit Fug und Recht sagen,
dass sich um Mark Tobey und Sam Francis
eine European School of American Art gebildet
hat, die auf Jahrzehnte hinaus wirksam
bleiben sollte. Und wenn man die deutsche
Nachkriegsmalerei noch einmal Revue
passieren lässt, dann merkt man rasch, dass
es gar nicht so sehr die erhabenen Bildräume
des Abstrakten Expressionismus waren,
die hier Wellen schlugen. Die nachhaltigen
Impulse gingen mehr
noch von der weltabgewandten Malkultur eines
Mark Tobey oder Sam
Francis aus.
uch die nächste
Documenta im
Jahr 1964 wird
Tobey und Francis wie
mythische Gewährsleute
einer Abstraktion feiern,
die längst zur künstlerischen Universalsprache
geworden ist. Mehr noch
als die Bilder eines
Jackson Pollock, Franz
Kline, Barnett Newman, Clyfford
Still oder Mark Rothko, deren
souveräne Gebärden als das radikal
Neue empfunden worden sind,
schien der Abstrakte Expressionismus, wie ihn Tobey und Francis
pflegten, eine eher europäische Tradition fortzusetzen, die bis zu Matisse
und Monet zurückreichte. „Malerei
sollte mehr durch Wege der Meditation als durch die Kanäle der Aktion
hervortreten“, hat Mark Tobey
einmal notiert. Eine amerikanischeuropäische Antwort auf den Zeitstil
des gestischen Aktionismus.
Dass dem einflussreichen amerikanischen Kritiker Clement Greenberg
das europäische Interesse an Sam Francis
verdächtig vorkam und er dem Werk
zögerlich bis skeptisch gegenüberstand,
habe den Maler, wie sich Eberhard W.
Kornfeld erinnert, ziemlich getroffen:
„Obwohl er später ein Atelier am Broadway
hatte, stieß er in New York von Anfang
an auf Schwierigkeiten. Immer wieder hat
er hören müssen, dass er ja eigentlich gar
kein amerikanischer Maler sei, weil er seine
Karriere nicht in Amerika gemacht habe.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie
er mehr als einmal klagte: ‚New York
doesn’t accept me.‘ Tatsächlich hatte er nie
eine große Ausstellung im Museum of
Modern Art.“
Als im April 1958 die Wanderausstellung Jackson Pollock und die neue amerikanische
Malerei in der Basler Kunsthalle eröffnet
wurde, waren es nicht zuletzt Sam Francis’
Bilder, die die Ausstellung zum Ereignis
A
ENCORE
71
Eberhard W. Kornfeld und Sam Francis (r.), 1966
in der Galerie Kornfeld in Bern
Oben: SAM FRANCIS Blue in Motion III, 1960 – 62,
Öl auf Leinwand, 114 × 146 cm
machten. Johannes Gachnang, der Schweizer
Verleger und Ausstellungsmacher, beschrieb
die Ausstellung als Primärerfahrung einer
ganzen Generation: „Baselitz hat sie in Berlin
gesehen, Nitsch in Wien, ich selbst in Basel
und Kounellis wird sie in Rom nicht versäumt
haben. Das war für meine Generation die
erste Berührung mit amerikanischer Kunst,
ein Schock, zugleich aber auch ein befreiender Schlag, der in verschiedene Richtungen
Türen zu öffnen schien.“
Ein paar Wochen später hat Beyeler in
Brüssel die Tobey-Tür geöffnet. Und den
Amerikaner kurzentschlossen heimgeholt.
Man hat damals im Garten beim Pfarrer
Hassler noch nicht ahnen können, dass hier
im Sommergarten soeben eine neues, aufregendes Kapitel deutscher Nachkriegskunstgeschichte begonnen hat.
TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER
WERT
SACHEN
CIS —
TOBEY und FR AN
—
A U K TI O N EN
N
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WERTSACHE
K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL AU
K
DER AUGEN BLIC
Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem Angebot
des Kunsthandels
HILFERUF
SEIN
ERSTER
BAUM
Schöner Maler, male mir
Sie haben den Maler
dieses Motivs nicht
erkannt? Vielleicht aber
an Jean-François Millet
gedacht? Tatsächlich
VAN GOGH Femme semant
sehen wir hier eine
bei Lempertz in Köln
ungewöhnlich große und extrem
frühe Zeichnung von Vincent van
Gogh. Der Künstler zeichnete das bedrückende Motiv
1881. Es ist seine einzige bekannte Darstellung einer
Säerin bei der Feldarbeit. Dieses Blatt hat uns keine Ruhe
gelassen, auch wenn es erst Ende Mai bei Lempertz in
Köln versteigert wird. Denn bisher war es als Dauerleihgabe im Picasso-Museum in Münster und schon in wichtigen großen Ausstellungen zu sehen, unter anderem im
Rijksmuseum, Amsterdam. Jetzt haben sich die Besitzer
zum Verkauf entschieden – das Blatt ist auf 800.000 bis
1 Million Euro geschätzt. Erfreulich wäre allerdings,
wenn sich Unterstützer fänden, die Zeichnung wieder für
die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. SWKA
TASCHENMUSIK
Now and Ten 16. März bei Christie’s
in Dubai
Collection Boutet de Monvel Für die Amerikaner war er „der schönste Mann
5. und 6. April bei
Europas“. Ganz unrecht hatten sie nicht: Auf
Sotheby’s in Paris
seinem Selbstporträt, Place Vendôme (1932) zeigt
sich der Pariser Maler Bernard Boutet de
Monvel (1881–1949) als Dandy von betörender Eleganz. Der Sohn
eines Kinderbuchillustrators begann mit hochmodernen Radierungen. Ein haarscharfer, hyperrealistischer Strich markiert auch die
Großstadtdamen, Maharadschas und Parklandschaften seiner
Art-déco-Malerei. Das wahre Leben war turbulenter: Boutet
überlebte Flugzeugabstürze, zog nach Marokko und für
Harper’s Bazaar nach New York, wo er die Fricks und Astors
porträtierte. Gestorben ist er beim Flugzeugabsturz über
den Azoren. Aus seiner Wohnung im 7. Arrondissement in Paris
bringen nun seine Erben ein Werkkonvolut in die Auktion. GB
Die Gebrüder Nicolás und Etienne Vadász entwickelten
ihr „Mikiphone“ 1917 in Ungarn. 1924 in Genf zum
Patent angemeldet und in Kleinserie produziert, war es das
kleinste Grammofon der Welt. Um größere Stückzahlen,
insgesamt wohl 180.000, herstellen zu können, wurde von
1925 bis 1927 die schweizerische Firma Paillard & Cie.
aus Sainte-Croix beauftragt. Der kleine Bakelit-Resonator
verleiht dem Mikiphone keinen besonders kräftigen Klang,
aber wenn die kleine Blechdose – ein stilisiertes
Taschenuhrgehäuse – auseinandergeklappt
wird, der Tonabnehmer in der Rille einer
Schellackplatte knarzt und der Federmotor sie in 78 Umdrehungen pro Minute
versetzt, verstummen alle Nebengeräusche. Die Musik
aus der Tasche
ist im
Dorotheum
auf 300 Euro
geschätzt. WOE
Unterhaltungstechnik
13. April im
ENCORE
72
Dorotheum in Wien
EINE AUSWAHL der BLAU
REDAKTION
AUKTIONEN
3. APRIL
SOTHEBY’S IN NEW YORK
Fotografie
4. APRIL
ARTCURIAL IN PARIS
Gegenwartskunst
4. APRIL
PHILLIPS IN NEW YORK Fotografie
5. APRIL
ARTCURIAL IN PARIS Impressionismus und Moderne, École de Paris
5./6. APRIL SOTHEBY’S IN PARIS Collection Boutet de Monvel
5./6. APRIL STARGARDT IN BERLIN Autografen
6. APRIL
CHRISTIE’S IN NEW YORK Fotografie
Alte Meister, Bilder des 19. Jahrhunderts, Antiquitäten
13. APRIL
PHILLIPS IN LONDON „New Now“
13. APRIL
DOROTHEUM IN WIEN
PATRICK & VICTOR
DEMARCHELIER
Historische Unterhaltungstechnik und Schallplattenraritäten
13. APRIL
NAGEL IN STUTTGART Kunst und Antiquitäten
14. APRIL
CHRISTIE’S IN NEW YORK Alte Meister
19. APRIL
DOROTHEUM IN WIEN Alte Meister
20. APRIL
DOROTHEUM IN WIEN Kunst, Antiquitäten und Möbel
21. APRIL
DOROTHEUM IN WIEN Gemälde des 19. Jahrhunderts
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23. APRIL
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23./24. APRIL SCHLOSS AHLDEN IN AHLDEN
25. APRIL
PHILLIPS IN NEW YORK Moderne und Gegenwartskunst
26. APRIL
BONHAMS IN NEW YORK Fotografie
27. APRIL
BONHAMS IN LONDON Alte Meister
27. APRIL
SOTHEBY’S IN LONDON Alte Meister
28. APRIL
CHRISTIE’S IN LONDON Alte Meister
29. APRIL
KARL & FABER IN MÜNCHEN
Alte Meister und Kunst des 19. Jahrhunderts
30. APRIL
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Jubiläumsauktion – Kunst und Antiquitäten
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TRUNKENBOLD
Hundert Jahre war das Gemälde nicht mehr öffentlich
zu sehen, nun geht es auf Ausstellungstournee zur
Christie’s New York Classic Week und dann weiter nach
Hongkong, bevor es im Juli bei Christie’s in London
angeboten wird: Peter Paul Rubens’ großformatiges
Gemälde Lot und seine Töchter für geschätzte 20 Millionen Pfund. Vier Eigenschaften erheben es zum
absoluten Meisterwerk. Das delikate Sujet: Der alttestamentarische Stammvater Lot wird gerade von seinen
beiden Töchtern betrunken gemacht und zum Beischlaf
verführt. Die malerische Qualität: Das um 1613/14
entstandene Bild gilt als ein herausragendes Beispiel
für Rubens’ frühe Meisterschaft.
Lot und seine Töchter Für den Markt entscheidend
8. bis 12. April bei sind auch die noble Provenienz
Christie’s in
und der Verbleib in Privatbesitz
New York
bis heute. WOE
PORTRÄT
EINER
ANANAS
Der Maler Carel Borchaert Voet (1670–1744/45) gehörte
zwar nicht zu den großen Stars seiner Zeit. Mit seinen
Stillleben war er jedoch auf dem Markt auffallend erfolgreich –
und erzählt Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter. Dafür
sind allerdings ungewöhnlich wenige Bilder erhalten. Auch
das aparte Gemälde Früchtestillleben mit Ananas, Aloe vera,
Weintraube und Dahlie war in der Literatur bislang nicht
beschrieben. Das Auktionshaus Karl & Faber in München fand
das Bild in einem Auktionskatalog von 1799 und schätzt es
nun vorsichtig auf 6.000 bis 7.000 Euro. Dass die stattliche
gelbe Frucht wie eine Trophäe im Zentrum
Alte Meister
thront, hat sie den florierenden Handels29.
April bei
beziehungen in alle Welt zu verdanken, die
Karl & Faber in
Holland unterhielt. MÜ
München
t
s
n
u
k
g
u
l
F
Alighiero Boetti war
ein Reisender. Nach
seiner Station als Künstler bei der Arte povera begab sich der Turiner
in den 70er-Jahren nach Afghanistan und wurde dort zum Konzeptund Politkünstler. So beauftragte er zum Beispiel Frauen bis zum Ende
seines Lebens, Stickbilder zu produzieren. Er splittete seinen Namen
in das fiktive Duo Alighiero e Boetti auf, um sich als Künstler nicht
festlegen zu müssen. Und während er weiter nach Äthiopien reiste,
dann nach Guatemala und Japan, entstand zwischen 1978 und 1989
die berühmte Serie Aerei, gezeichnet mit Kugelschreiber oder Wasserfarben. Phillips versteigert mit Cieli ad alta quota von 1988 für geschätzte 40.000 bis 60.000 Pfund eine ruhige Variante
New Now
dieser Himmelskompositionen, die später als
13. April
Puzzle das Magazin von Austrian Airlines zierte.
bei Phillips
Für Boetti selbst waren die Aerei ein Symbol
in London
künstlerischer Freiheit. GB
ENCORE
74
„
MUSIC IS
AN ADDICTION
“
MILES
AHEAD
LEBEN UND
WERK DES
WICHTIGSTEN
JAZZ-MUSIKERS
ALLER ZEITEN
MIT
EXKLUSIVER
MILES
DAVIS
CD
ROLLINGSTONE.DE
CIS —
TOBEY und FR AN
—
A U K TI O N EN —
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WERTSACHE
AU K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL
K
DER AUGEN BLIC
GRAND PRIX
BERLIN CALLING
BERLIN-BELEBUNG:
DER FEUERLE-BUNKER AM
HALLESCHEN UFER AUF
EINEM FOTO VON 1959, IM
HINTERGRUND DER
ANHALTER BAHNHOF
In der Stadt
eröffnet ein
ine neue Privatsammlung eröffnet am Halleschen Ufer in einem Telekommunikatineuer Kunstonsbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Désiré Feuerle will Asiatika und Moderne an
bunker. Wo aber diesem Ort in Berlin zusammenbringen. Die Eröffnung soll das Event des Gallery
Weekend werden. Bunker, Berlin, Sammler? Erinnerungen an ein altes Berlin erwachen, an
steht Berlin 2008, als der Sammler Christian Boros seinen eigenen Bunker in Mitte eröffnete, als die Hoffnung
noch wahr war, dass Berlin in einem Atemzug genannt wird mit New York, Paris und London.
zehn Jahre Damals jubelte der Tagesspiegel: „Das Ergebnis ist spektakulär, atemberaubend. Boros zeigt die
Kunst in einer Form, die Berlins Museen dagegen alt aussehen lässt.“ Seit den 90er-Jahren ging es
Schlag auf Schlag, ein Sammler folgte auf den anderen: das Ehepaar Hoffmann aus Köln, Axel
nach dem
Haubrok aus Düsseldorf oder Wilhelm Schürmann aus Aachen. Chipperfield baute das GalerieBoom? haus für Heiner Bastian am Kupfergraben, wo auch die Galerie Contemporary Fine Arts einzog.
E
Kommt jetzt wieder Bewegung in die Stadt? Auch die Düsseldorfer Sammlerin Julia Stoschek
eröffnet Anfang Juni eine Dependance im ehemaligen Tschechischen Kulturzentrum der DDR.
Die 2.500 Quadratmeter baut die Berliner Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge um. Rütteln
diese Zugezogenen auch Berlin wieder wach, das sich selbst oft genug ist und mit dem Titel „Deutsche Kunsthauptstadt“ begnügt? Sogar die innerdeutsche Konkurrenz mit Köln ist Vergangenheit.
Nur ab und an regt mal ein Hinweis zum Nachdenken an. In einem Offenen Brief, in dem sich die
Kölner und Düsseldorfer Galerien eigentlich gegen die Schließung des Leverkusener Museum
Morsbroich aussprachen, bedauerten sie, dass das Rheinland „durch die Fokussierung auf Berlin
einen herben Bedeutungsverlust als Kunstregion verzeichnet“. Was aber erlebt man in Berlin
eigentlich, dass sich Köln immer noch so kleinmacht, obwohl dort in den letzten Jahren großartige
Galeristen Fuß gefasst haben wie Jan Kaps, Warhus Rittershaus oder auch Martinetz? Im Rheinland
finden tatsächlich die spannenderen Museumsausstellungen statt, die auch von den Sammlern
dankbar angenommen werden. Die Berliner Galerien erinnern hingegen an die frühen 90er-Jahre
in Köln. Man versammelt sich in Charlottenburg in kleinen Ladengalerien oder in der Beletage.
Contemporary Fine Arts, bisher im repräsentativen Chipperfield-Bau in Mitte, zieht jetzt von der
Museumsinsel in die schmale Grolmanstraße in Charlottenburg – da sind schon viele, und andere
folgen. „Erwachsen werden“ nennen das die Galeristen. Der erste Kunsttreffpunkt in Berlin-Mitte,
das Grill Royal, hat gerade mit Le Petit Royal in der Grolmanstraße einen Ableger bekommen. Es
ist also für alles gesorgt. New York, Paris, London – und wo steht Berlin?
SWANTJE KARICH
ENCORE
76
Kazimir Malewitsch, Mädchen im Feld, 1928-29, St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum
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014
Ed
CIS —
TOBEY und FR AN
— A U K TI O N EN
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WERTSACHEN
AU K ALENDER
— GRAND PRIX — BL
K
DER AUGEN BLIC
Unsere TERMINE im
April 2016
THEASTER GATES
OLIVER LARIC in der Archäologischen Sammlung des Instituts für
Klassische Archäologie der Universität
Wien, 2015
KUNSTHAUS
BREGENZ
23.04. – 26.06.2016
OLIVER
LARIC
SECESSION
WIEN
22.04. –
19.06.2016
Als ehemaliger Stadtplaner,
Verkehrsverwaltungsbeamter, Kunstkeramiker und
Sozialrechtsaktivist hat sich
Theaster Gates ein beachtliches künstlerisches Betätigungsfeld geschaffen. Alles
begann mit dem Kauf eines
Jesus and Barabbas Puppet Show, aufgeführt in Krakau, 2014
alten Holzschindelhauses im
Denken wir uns die ganze Sache
kaputten Chicagoer Süden.
mit dem Internet einmal andersTeile des Inneren verwandelherum. Wie wäre es, wenn wir
te er in Skulpturen, das Haus
keine Angst hätten vor Raubselbst in eine Begegnungskopien, Netzpiraterie, Cloudstätte. Dann folgte ein leeres
Computing oder 3-D-Drucken?
Bankgebäude, das nun in
Der 1981 in Innsbruck geboeinem Akt der Künstlerselbst12.04. – 19.06.2016
rene Künstler Oliver Laric erhebt
hilfe renoviert wird. Wegen
die unendliche Manipulierbarseines cleveren Systems von
Die weder greif- noch begreifbare Künstlerin Marvin Gaye
keit der Bilder zum Prinzip: Er Chetwynd heißt eigentlich Alalia Chetwynd, geboren in London Selbstvermarktung und
sammelt Bild- und VideomateProjektentwicklungsei1973. Bevor sie sich nach dem Sänger benannte, trug sie den
rial aus dem Internet, bearbeitet Namen des Sklaven-Gladiatoren Spartacus. Alalia, Spartacus,
fer wurde Gates
es am Computer und überführt
schon „Poster-Boy
Marvin Gaye – die Namen sind für sie eine Art Schutzschirm
das alte Thema von Authentizität gegen Moden. Schon als Aufständler Spartacus ließ sie die
der sozial engaund Autorschaft ins 21. Jahrgierten Kunst“
Nadel vom etablierten Kunstkompass gehörig zittern, tobte in
hundert. Doch nicht alles findet Performances, filmte und schuf Pleitebankiers Denkmäler.
genannt. Was so
online statt: Zuletzt stellte er
verächtlich ist
Was ziemlich, pardon, verrückt klingt, ist es auch – jedoch mit
durch Scans 3-D-Klone von
wie die
einer gehörigen Portion Intellekt. 2013 veröffentlichte sie in der
Skulpturen her, die auf Gipsab- Londoner Tageszeitung Guardian den Artikel Why I changed my Spottskulpgüssen griechischer und römituren von
name to Marvin Gaye Chetwynd?: Sie interessiere sich dafür,
scher Plastiken basieren – sie sind wie er starb, erschossen von seinem Vater am 45. Geburtstag. Schwarzen, die
damit beliebig reproduzierbar.
der Sammler Ed
Den Spiegel interessierte anlässlich ihrer Nominierung für
Für die Secession ist eine neue den Turner-Preis 2012 nur, dass sie „in einer Nudistenkommune“ Williams aus dem
Werkserie entstanden, bei der
Verkehr ziehen
lebt. Auf diese aggressive Mischung dürfen wir uns jetzt freuen,
Laric mit verschiedenen Museen wenn sie im Bonner Kunstverein antritt. Zu verdanken hat das wollte und die
und Institutionen an der
Gates nun in
Rheinland diese impulsive Querschlägerin der neuen Direktorin
digitalen Wiederauferstehung
Bregenz zeigt.
Michelle Cotton, die selbst gerade erst aus London nach Bonn
ihrer Sammlungen arbeitet. GB gezogen ist. swka
WOE
MARVIN GAYE
CHETWYND
BONNER KUNSTVEREIN
trel,
D a nci n g Mins
Sa m m lu ng Ed Williams, 2014
ENCORE
78
WEIMAR, GOTHA
24.04. – 28.08.2016
Man vergisst oft, dass das
Deutsche Kaiserreich bis an
sein Ende 1918 ein Flickenteppich blieb. Preußen zwang
die deutschen Territorien
zwar unter seine Krone. Doch
die bisweilen wirre Vielstimmigkeit hunderter Gebiete, die
sich um ebenso viele Fürsten,
Herzöge und Markgrafen
scharten, blieb erhalten. Es
lohnt sich daher, auch jene
Herrscherhäuser in den Blick
zu nehmen, die lange Zeit
PETER RODDELSTEDT
Epitaph für Johann Stigel, 1564
im Windschatten der Hohenzollern standen. In Gotha und
Weimar widmet sich nun ein
umfassendes Ausstellungsprojekt den Ernestinern: jener
Dynastie, die über Jahrhunderte hinweg das Geschick
der sächsischen Territorien
bestimmte. Über umfassende
Sammlungs- und Archivbestände aus den Bereichen
Kunst, Politik und Wissenschaft zeichnet die Ausstellung
behutsam die Spuren nach,
die das Geschlecht durch
die deutsche und europäische
Geschichte zog. MW
CONCEPTUAL ART
IN BRITAIN
TATE BRITAIN
LONDON
12.04. – 29.08.2016
MMK 1 FRANKFURT
16.04. – 14.08.2016
Wenn man zwischen der Pariser
Banlieue und den
Straßen Algiers
aufwächst, ist ein
Ohne die Ära der Conceptual Art würden wir heute noch guter Kunstlehrer
Bilder mit einem wesentlich engeren Blick ansehen.
keine SelbstverKonzeptkunst ist ein Label für die, die Ideen höher
ständlichkeit.
schätzen als das materielle Resultat. Aber warum
Kader Attia (geb.
begrenzt die Tate Britain ihre Ausstellung auf England,
1970) hatte
Conceptual Art in Britain? Das Herz jener Künstler
Glück. Sein Lehrer
schlug tatsächlich in London. Die Kunsthochschulen
erkannte sein
Saint Martins, das Royal College und die Coventry
Talent – und so hat
School of Art schickten eine Generation revolutionärer die Kunstwelt
Ideenerfinder auf den Weg. Viele sind heute berühmt,
heute mit Attia
wie Richard Long zum Beispiel. Anderen gebührt nun eine wichtige
in der Tate Britain die große Ehrung. Die Ausstellung
Stimme, die von
nimmt sich ihre folgenreichen Jahre von 1964 bis 1979 den Auswirkungen
vor – mit 70 Werken von 21 Künstlern. Unser Foto
der Kolonialgezeigt Szenen von
schichte
Bruce McLeans
auf die
Pose Work for
westliPlinths, eine
che Welt
Performance in
und
der Situation
umgeGallery im Jahr
kehrt
1971, eine
erzählt.
Persiflage auf
Unter
Henry Moores
SchlagSkulpturen
wörtern
Reclining Figures.
wie
SWKA
„Reparatur“,
BRUCE MCLEAN
„PsychiaPose Work for Plinths 3,
1971
trie“ und
Oben: ROELOF
„Poesie“
LOUW Soul City
(Pyramid of Oranges),
1967
ENCORE
79
Repair Analysis, 2013
KADER
ATTIA
DIE
ERNESTINER
versammelt er
afrikanische
Masken, ausgestopfte Tiere,
Fotodokumentationen, Bildbände
und Filminterviews, die in groß
angelegte Installationen münden –
zuletzt auf der
Documenta oder
der Lyon Biennale.
Bei seiner Performance Arab
Spring, die letztes
Jahr auf der
Art Unlimited in
Basel für Gesprächsstoff
sorgte, warf er
16 leere Glasvitrinen mit Steinen
ein: ein ReEnactment der
Plünderung
des Ägyptischen
Museums in
Kairo während
des Arabischen
Frühlings. Für das
MMK erarbeitet
der in Berlin
lebende Künstler
eine neue Werkgruppe. GB
Kunstpreis
Böttcherstraße
KUNSTHALLE BREMEN
23.04. – 18.09.2016
1955 gründete die Kaffeemarke Hag-AG in Bremen den
Kunstpreis mit dem wohl
unspektakulärsten Namen der
Welt: Kunstpreis Böttcherstraße. Anfangs mag diese
Bescheidenheit noch zu dem
Preisgeld von 5.000 DM
gepasst haben. Heute ist die
Auszeichnung mit 30.000
Euro dotiert und wird alle
zwei Jahre vom Stifterkreis
des Kunstvereins in Bremen
vergeben. Ihre Historie ist –
mit einigen Unterbrechungen – beachtlich: Erhalten
Einmal, in einem munteren Augenblick, hat der Künst- haben ihn schon Dieter Krieg,
ler von sich gesagt, diesseits sei er eigentlich gar nicht
Rebecca Horn, Ólafur Elíasson,
fassbar. Und da Kunstbetrachtung im Jenseits schwer Wolfgang Tillmans oder Nina
vorstellbar ist, kann es sich dabei nur um milden
Beier. Entsprechend gleicht
Spott gehandelt haben. Wie ja überhaupt Paul Klee ein
ein Besuch in der dazugehöriMeister der leisen Ironie gewesen ist. Von den satirigen Ausstellung einem Talentschen Blättern der Münchner Jahre – man denke nur an parcours. Das Prinzip:
die berühmte Radierung Zwei Herren, einander in höherer
Verdienstvolle Kuratoren wie
Stellung vermutend, begegnen sich – über das „Mechanische Susanne Pfeffer und Johan
Theater“ am Bauhaus, die behutsame Annäherung
Holten schlagen zehn
an den Surrealismus, bis ins melancholisch gebrochene junge Künstler vor,
Spätwerk hinein behielt der Künstler seine kunstvoll
von denen einer
kindliche Erzählfreude, hielt sich an Friedrich Schlegels durch die Endjury –
Ironie-Definition: „In ihr soll alles Scherz und alles
diesmal mit Ulrike
Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt.“ Groos und Adam
Als entschlossener Erbe der romantischen KunstSzymczyk – gekrönt
auffassung hätte Klee nie zugelassen, dass sich eine frei wird. Wer das sein
fließende Linie nicht bald wieder zur Form schließt,
könnte? Emeka Ogboh,
nie ist das Spiel der Farben bei ihm ästhetisches Ereignis Katja Novitskova,
allein. Irgendwo entdeckt man dann doch zwei AugenNora Schultz, Taiyo
punkte, dass es aussieht, als sollte die Abstraktion von Onorato & Nico Krebs
Strichmännchen belebt werden. Mit rund 250 Arbeiten
oder Peter Wächtler …
führt die Ausstellung im Centre Pompidou noch einmal Der Preis wird Ende
durch das ganze, fast unüberschaubare Werk. mü
August verliehen.GB
CENTRE POMPIDOU
PARIS
06.04. – 01.08.2016
ENCORE
80
KARSTIESS
Verkommenes Paar, 1905
H T LER
PET ER WÄC
ic an), 2014
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Raketenstation
Hombroich
NEUSS
15.04. – 07.08.2016
MARKUS
PAUL
KLEE
Die Skulpturen des Düsseldorfer
Künstlers Markus Karstieß sehen aus,
als hätte jemand lustvoll mit beiden
Händen in die Erde gegriffen, daraus
naturhafte, dämonisch anmutende
Fetische geformt und sie dann wie
archaische Relikte im Raum aufgestellt, wo sie schließlich als semisakrale
Energiequellen vor sich hin strahlen.
Keramik ist sein Material. Er teilt es mit
Lucio Fontana, dessen großformatiges
Relief Il Sole aus dem Jahr 1952 auf der
Raketenstation Hombroich in einem
eigens dafür errichteten Pavillon
installiert ist. Nun stellt auch Karstieß
auf dem ehemaligen, zur Museumslandschaft umfunktionierten NatoGelände aus: eine breit angelegte
Werkschau über
die letzten zehn
Jahre seines
Schaffens mit dem Titel
Irden. Im Siza-Pavillon
sind Arbeiten zu
sehen, die allesamt von
diesem melancholischen, aber nie ins
Pathetische wuchernden Charakter
geprägt sind. gb
Isenheim-Rochen-Wesen
(Fetisch), 2015
Oben: Dirty Corner, 2013
BLAU IM ABO
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BILDNACHWEISE
Nr. 10 / April 2016
Titel: © Fine Art Images-ARTOTHEK. Editorial: S. 5:
Foto: Yves Borgwardt für BLAU. Inhalt: S. 6 M.: Foto:
Fondation Félix Vallotton, Lausanne. S. 6 l. u.: Courtesy
Hiwa K. S. 6 r. u.: Foto: akg-images. S. 8 M.: © Ellsworth
Kelly. Courtesy Matthew Marks Gallery. S. 8 r. o.: Courtesy Sotheby’s. S. 8 r. u.: Foto: Lisa Ohlweiler für BLAU.
S. 8 M.: Museum of Fine Arts, Houston, Texas, USA. Gift
of Frances and Peter C. Marzio, and Dr. Jordan Gutterman / Bridgeman Images. S. 8 l.: Dallas Museum of Art,
Texas, USA. Gift of the artist. www.bridegemanimages.
com. Contributors: S. 12 o.: Foto: Paul Stuart. S. 12 M.:
Foto: Gene Glover. S. 12 u.: Foto: Martin Lebioda für
BLAU. Essay: Foto: DAVIDS/Joerg Krauthoefer. Apéro:
S. 16 l.: Fotos: Trevor Good. S. 16 r.: Foto: Andrea Bacchi. S. 17 l.: MHK, Deutsches Tapetenmuseum. S. 17 r. o.:
Courtesy Televisor. S. 17 u.: Courtesy Gloria von Thurn
und Taxis. S. 18: Collection of the Joan Mitchell Foundation, New York. © Estate of Joan Mitchell. Courtesy of
the Joan Mitchell Foundation and Cheim & Read Gallery, New York. Bewegtbild: S. 19 l. o.: Foto: Tom Haller.
S. 19 l. u.: Foto: Rusfilm. Schnellste Skulpturen: S. 19 r.:
Foto: Lamborghini. Rembrandtgespräch: S. 20: Foto:
Städel Museum-ARTOTHEK. S. 21: Foto: Koos Breukel.
S. 22: Foto: akg-images. Blitzschlag: S. 24: Foto: Picture Press / Camera Press / Anna Schori. Um die Ecke
Köln: S. 26: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 26
bis 29: Fotos: Martin Lebioda für BLAU. Félix Vallotton: S. 30/31: Foto: Fine Art Images-ARTOTHEK.
S. 32: Foto: bpk/RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski. S. 33: Foto: akg-images. The Cone Collection,
Baltimore, Museum of Art, Baltimore. S. 34/35: Foto:
Musée des Beaux Arts, Dijon / Peter Willi / Bridgeman
Images. S. 36: bpk/RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski. S. 37 o.: Kunsthaus Zürich. S. 37 u.: Private
Collection. © Christies Images / Bridgeman Images.
S. 38: akg-images / Zürich, ETH, Graphische Sammlung. S. 39: Kunsthaus Zürich. S. 40: Kunstmuseum
Solothurn. Dübi-Müller-Stiftung. S. 41: Foto: bpk / Centre Pompidou-CNAC-MNAM / Philippe Migeat. S. 42:
Foto: Bridgeman Images. S. 43: Musée cantonal des
Beaux-Arts, Lausanne. Acquisition avec le soutien de
la Fondation Gottfried Keller, un crédit extraordinaire
de l’Etat de Vaud, et don des Amis du Musée, 1993.
Inv. 1993-017. Foto: J. C. Ducret, Musée cantonal des
Beaux-Arts, Lausanne. Hiwa K: S. 44/45, S. 46: Fotos:
Fabian Schubert für BLAU. S. 47 bis 49: Courtesy Hiwa
K. Ellsworth Kelly: S. 50, S. 52 bis 59: © Ellsworth
Kelly. Courtesy Matthew Marks Gallery. S. 51: Foto: Sebastian Kim. Management + Artists + Syndication. Mark
Bradford: S.60/61: Foto: Lisa Ohlweiler für BLAU. S. 62:
©Tate, London 2016. S. 63 l.: Courtesy the artist and
Susanne Vielmetter, Los Angeles Projects. S. 64/65:
ENCORE
81
Foto: Joshua White. Courtesy Rockbound Art Museum. S. 66, S. 67: © Mark Bradford. Courtesy the artist
and Hauser & Wirth. Encore: Mark Tobey und Sam
Francis: S. 69: Foto: Kurt Wyss. S. 70 l.: Private Collection / Bridgeman Images. S. 70 r.: Foto: Comet, Zürich. S. 71 o.: Private Collection. Foto: © Christie’s Images / www.bridgemanart.com. S. 71 u.: Courtesy Galerie
Kornfeld. Kolumne: S. 76: Foto: Landesarchiv Berlin.
Kalender: S. 78 l.: Foto Iris Ranzinger. S. 78 M.: Courtesy
the artist and Sadie Coles HQ, London. S. 78 r. : Foto:
Sara Pooley. © Theaster Gates. Courtesy of the artist.
S. 79 l.: © Friedrich Schiller Universität Jena. S. 79 M. o.:
Tate. Presented by Tate Patrons, 2013. Courtesy Aspen Art Museum, 2015. © Roelof Louw. S. 79 M. u.: Tate
purchased 1981. © Bruce McLean. Courtesy Tanya
Leighton Gallery, Berlin. S. 79 r.: MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main. Foto: Axel Schneider.
S. 80 l.: © Zentrum Paul Klee, Bern. S. 80 M.: Courtesy
the artist and dépendance , Brussels. Der Augenblick:
S. 82: © Peter Hendricks.
VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Alighiero e Boetti, Kader Attia, Sam Francis,
Markus Karstieß, Bernard Boutet de Monvel,
Mark Tobey, Peter Wächtler
DER AUGENBLICK
HINSCHAUEN
TUT WEH
Ein Bild und seine Mission
PETER HENDRICKS
Ohne Titel aus Sehsüchtig Sehnsüchtig, 1994 – 1998, C-Print, 37 × 30 cm
I
m Leichenschauhaus zu
fotografieren war lange die
Domäne der Ermittler von
Verbrechen. Gelegentlich aber
wurde der Kreis erweitert
um Fotografen, die mehr oder
weniger kuriose Forschungen
betrieben. Inzwischen sind
Fotobücher mit Ansichten
von – nun ja – Entschlafenen
ein eigenes Genre geworden.
Dieses Bild jedoch entstammt einem völlig anderen
Kontext. Peter Hendricks
nämlich, Essener Schule der
Fotografie, hatte Mitte der
90er-Jahre Frauen getroffen, die
an Drogen hingen und sich
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DIE NÄCHSTE AUSGAB L 2016
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IN DER WELT
SCHRIFTENHANDEL
mit Prostitution finanzierten,
ein grauenhaftes, fast auswegloses Schicksal, trotz der
Sozialarbeit drumherum. Seine
Absicht war, und es gelang ihm
auch, nichts zu beschönigen
und nichts zu übertreiben. Er
gewann das Vertrauen einiger
weniger Frauen, vertiefte sich
ENCORE
82
in ihre Geschichten, aber hat sie
nicht als solche erzählt.
Das Aufzeichungsmedium
war damals der Farbnegativfilm
und Hendricks tauchte ein in die
fahle Nacht der Herumtreiberinnen auf der Suche nach dem
nächsten Freier und dem nächsten Schuss. Seine Einfühlung
war beträchtlich. Er machte sogar
Bilder seiner Protagonistinnen
im größten Glück, im Drogenrausch; Gesichter, die überzugehen scheinen in Immaterialität.
Damit hatte er den Rahmen
einer dokumentarischen Fotografie bereits gesprengt, lange
bevor ihm klar geworden war,
dass gewisse Dinge im journalistischen Auftrag überhaupt
nicht erfasst werden können, gar
nicht zu reden von Gefühlen.
Fast drei Jahre arbeitete er an
Sehsüchtig Sehnsüchtig. Der Titel
sollte jenen Riss bezeichnen, der
zwischen Beobachter und
Beobachteten doch immer bleibt.
Schließlich musste Peter
Hendricks der jüngst Verstorbenen seines düsteren Projekts
ins Leichenschauhaus folgen.
Das Bild, das er von ihr
machte, darf man wohl kühl
und elegant nennen. Es ist ein
Akt zum Frieren. Die grünliche
Hand, Nikotinspuren sichtbar,
quält sich mit den himbeerrot
lackierten Fingernägeln. Immerhin noch so lebendig scheint
die junge Frau, dass man sie
um ihren Ruheplatz auf einer
Metallbahre unwillkürlich
bedauert. Entskandalisierung,
das war Peter Hendricks’
Mission: Hinschauen tut weh,
aber Wegschauen ist auch
kein Zeichen großer Menschlichkeit. Das wollte uns der
Fotograf, bis zum Allerletzten,
unbedingt wissen lassen.
ULF ERDMANN ZIEGLER
S E I T 17 0 7
Zeitgenössische Kunst
Klassische Moderne
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Vorbesichtigung ausgewählter Höhepunkte:
München 28. – 29. April, Düsseldorf 9. – 10. Mai
Palais Dorotheum, Wien, Tel. +43-1-515 60-570
Düsseldorf, Tel. +49-211-210 77-47
München, Tel. +49-89-244 434 73-0
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Oscar Murillo, Untitled I, 2013/14, € 80.000 – 120.000,
Auktion Zeitgenössische Kunst, 1. Juni 2016
Tanz
Myles Thatcher und Alexei Ratmansky
-KEINE84