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03 006003 190171 4 6 EURO SEIN VERMÄCHTNIS ALS FOTOGRAF ELLSWORTH KELLY KRIEG AUF DER DOCUMENTA HIWA K DA HILFT KEIN MODERNER BLICK REMBRANDT APRIL 2016 EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 10 JULIAN BARNES ÜBER FÉLIX VALLOTTON Die Uhr Happy Anniversary! 1966 –2016 50 Years of Lamy design. Celebrating a timeless icon. LAMY 2000 AUFTAKT „Wie konnte ein Künstler, der noch bei Max Beckmann studiert hatte, Werke schaffen, die so brandneu und frisch aussahen? Ellsworth Kelly musste eine magische Bildquelle angezapft haben“ Als ich Ellsworth Kelly 2008 das erste Mal in Spencertown, Upstate New York, besuchte, war er jugendliche 84 Jahre alt. Ich war mit Ulf Erdmann Ziegler angereist, um ihn für die Kunstzeitschrift Monopol zu interviewen. Und wie er farbbekleckst dasaß und vor einem gerade erst fertiggestellten gelben Relief von seinem Atelierbesuch bei Constantin Brancusi erzählte, da bekam ich es für einen Moment nicht ganz zusammen. Wie konnte ein Künstler, der noch bei Max Beckmann studiert hatte, 60 Jahre später Werke schaffen, die so brandneu und frisch aussahen? Kelly musste eine magische Bildquelle angezapft haben. Nur welche? „Ich wollte das Werk, aber ohne das Gepäck“, sagte er irgendwann und zeigte dabei zur Seite. „So wie der Schatten der Kiste da vorn oder hier auf der Wand, drei verschiedene Graus; oder wie die Ecke des Raums – nur die Ecke! So sollten meine Gemälde aussehen.“ Natürlich ahnte ich, was er meinte. Aber es blieb mir seltsam abstrakt, so wie ich auch das gelbe Kurvenrelief hinter ihm weiter als abstrakte Kunst wahrnahm. Vielleicht konnte ich es fühlen, aber verstehen tat ich es nicht. Drei Jahre später war ich zurück in Spencertown. Wir hatten am Nachmittag vor einem langen Tapeziertisch gestanden, auf dem Kelly Seite für Seite die Entwürfe für seine Künstlerausgabe der Welt ausgebreitet hatte, und waren anschließend mit einem Golfcart die paar Meter zu einem zweiten Ateliergebäude gefahren. Zwei Stühle warteten dort auf uns und an der Wand ein schwarzes Relief – links gerade, rechts mit zwei übereinanderstehenden Kurven. Es war eines der schönsten Objekte, das ich je gesehen hatte. Und doch verstand ich erst abends, in Kellys bescheidenem Farmhaus, was genau ich gesehen hatte. In einer kurzen Konversationspause nahm Kelly noch einen Cracker mit Thunfischsalat und ließ sich ins Sofa zurücksacken. „Aber die schwarze Arbeit heute“, sagte er zwischen zwei Bissen, „was für ein wunderbarer Hintern, oder?“ Hätte ich seine Fotos gekannt, ich hätte früher verstanden, was Kelly meinte, wenn er sagte, alles sei schon da, man müsse nur schauen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und über Jahrzehnte hinweg machte Kelly immer wieder Fotografien von Schatten und Scheunen, von Hauswänden und Hügeln, die heute, zurückblickend auf sein Werk, wie Vorstudien aus Licht und Schatten wirken. Alles war und ist schon da. Und es wirkt anrührend folgerichtig, dass Ellsworth Kelly uns an seinem Lebensende daran erinnern wollte. Noch an seinem letzten Tag, am 27. Dezember 2015, arbeitete er an der ersten, ausschließlich seinen Fotografien gewidmeten Ausstellung. Es sind Fotografien, bei denen Entdeckung in Erkenntnis umschlägt, wie Ulf Erdmann Ziegler in seinem Essay schreibt. Und wir sind dankbar, dass Kellys Ehemann Jack Shear sie uns anvertraut hat. Und, werden Sie sich jetzt fragen, wie war es denn nun für den jungen Kelly bei Brancusi? „Ich weiß noch genau, wie er mir ein Foto zeigte“, erinnerte er sich an seinen Besuch. „Es war ein toter Ast von einem Baum, aus dem ein einziges grünes Blatt hervorspross. Brancusi sagte, er habe dieses Blatt produziert. Er sei kürzlich krank zu Hause im Bett gelegen und habe seinen Assistenten gebeten, ihm einen Ast zu bringen. Und dann habe er sich so lange auf den Ast konzentriert, bis dieses neue Blatt ausgeschlagen sei.“ Kelly lachte. „Stellen Sie sich vor, Brancusi sitzt neben Ihnen zwischen seinen Holzskulpturen und sagt Dinge wie: ‚Ich kann einen toten Baum zum Blühen bringen.‘ Ist das nicht magisch?“ Auch Ellsworth Kelly hat einen Ast fotografiert. Sie sehen ihn auf Seite 57. Ein grünes Blatt hat er nicht. Noch nicht. Schließlich hat Kelly uns gelehrt: Wunder warten auf den, der schaut. CORNELIUS TITTEL 5 APÉRO EIN KUNSTMAGAZIN CONTRIBUTORS / IMPRESSUM 13 ESSAY Kontrolle verloren 16 NEUES, ALTES, BLAUES 18 DICHTER DRAN Monika Rinck 19 DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT 24 BLITZSCHLAG Siri Hustvedt 26 UM DIE ECKE Köln Nr. 10 / April 2016 FÉLIX VALLOTTON Die Weiße und die Schwarze, 1913, Öl auf Leinwand, 114 × 147 cm „Was hat der Mann nur so Schlimmes getan, dass er dieses schreckliche Wesen namens Frau als ‚Gefährtin‘ erdulden muss?“ — FÉLIX VALLOTTON DER KAMMERSPIELER JULIAN BARNES ÜBER FÉLIX VALLOTTON, DEN MALER, DER IHN NICHT MEHR LOSLÄSST s. 30 HIWA K ER FLOH AUS DEM IRAK UND BRINGT DEN KRIEG AUF DIE DOCUMENTA s. 44 REMBRANDT ZEITGERECHT: WAS VON REMBRANDT BLEIBT, WENN MAN IHM ALL SEINE MYTHEN NIMMT s. 20 INHALT 6 Von oben im Uhrzeigersinn: Félix Vallotton und seine Frau Gabrielle in Vasouy, 1902. REMBRANDT Selbstbildnis in jungen Jahren, um 1628/29, Öl auf Holz, 23 × 19 cm. HIWA K My Father’s Color Periods (Detail), 2014, Videoinstallation 10 — ELLSWORTH KELLY ENCORE 76 GRAND PRIX Die Kunstmarkt-Kolumne 78 BLAU KALENDER Unsere Termine im April EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 10 / April 2016 81 BILDNACHWEISE 82 DER AUGENBLICK Peter Hendricks WERTSACHEN Was uns gefällt s. 72 ELLSWORTH KELLY WO ER HINGESCHAUT HAT, WAREN SEINE BILDER SCHON DA S. 50 KUNST UND PRAXIS WIE MARK BRADFORD MITHILFE DER KUNST LOS ANGELES VERSÖHNEN WILL s. 60 MARK TOBEY UND SAM FRANCIS ZWEI AMERIKANER IN EUROPA. DIE GESCHICHTE EINER HEIMHOLUNG s. 69 INHALT 8 Von oben im Uhrzeigersinn: ELLSWORTH KELLY Doorway Shadow, Spencertown, 1977, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm. BERNARD BOUTET DE MONVEL Delfina im Profil, 1936. Mark Bradford in seinem Studio in Los Angeles, fotografiert von Lisa Ohlweiler. SAM FRANCIS Untitled, 1973, Gouache auf Papier, 109 × 79 cm. MARK TOBEY Echoes of Broadway, 1964, Tempera auf Papier, 133 × 65 cm „Einmal, in Paris, lag ich unter einem Baum und schaute zu den Blättern hinauf. Ich habe ein Auge zugemacht und das Ganze sah aus wie eine Tapete, mit tausend Überschneidungen. Dann habe ich das andere Auge wieder geöffnet und es war ein Canyon, mit enormer Tiefe“ STURTEVANT DRAWINGS PARIS MARAIS APRIL – MAI 2016 ROPAC.NET PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG www.georghornemann.de CONTRIBUTORS Julian BARNES In seinen Büchern geht es um Liebe und Schmerz. Und wunderbar, wie der 70-jährige Engländer der Schwerkraft seines Lebensthemas mit ironischer Melancholie entgegenwirkt. Vielleicht am schönsten in seinem Roman Vom Ende einer Geschichte, für den er 2011 den Booker-Preis erhielt. Es hat nicht ausbleiben können, dass der Schriftsteller irgendwann auch der Kunst begegnet ist. In seiner Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln stand er staunend vor Géricaults Floß der Medusa. Jetzt hat es ihm der Schweizer Félix Vallotton angetan. Ein leichthändiger Essay über einen Außenseiter der frühen Moderne. In BLAU exklusiv und als Vorabdruck in deutscher Übersetzung. (Seite 30) IMPRESSUM Redaktion CHEFREDAKTEUR Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.) MANAGING EDITOR Helen Speitler STELLV. CHEFREDAKTEURIN Swantje Karich ART DIRECTION Mike Meiré Meiré und Meiré: Philipp Blombach, Marie Wocher TEXTCHEF Hans-Joachim Müller BILDREDAKTION Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg REDAKTION Gesine Borcherdt, Dr. Christiane Hoffmans (NRW) SCHLUSSREDAKTION Claudia Kühne, Max G. Okupski REDAKTIONSASSISTENZ Manuel Wischnewski Monika RINCK Die rätselhafte Verbindung von Text und Leben ist das pochende Herz jeder Dichtung, daran erinnerte uns die Lyrikerin Monika Rinck, Jahrgang 1969, als sie im November für ihr intellektuelles Großgedicht Risiko und Idiotie den Kleist-Preis verliehen bekam. „Welcher Art ist das Gelenk zwischen Werk und Biografie?“, fragte sie. Nach einer Antwort sucht sie weiter in ihrer fraglos klugen und tiefen Dichtung. Nun hat sie ihre kostbare Zeit und ihren starken Geist BLAU geschenkt und antwortet der Malerin Joan Mitchell mit einem langen „Danke“. (Seite 18) Mark VON SCHLEGELL Der 1967 geborene New Yorker Schriftsteller lebt seit neun Jahren in Köln, an der Frankfurter Städelschule leitet er eine Schreibwerkstatt und verbindet Literatur- und Kunstkritik, Romane und Comics. „Fictiocriticism“ nennt er seinen sehr eigenen Stil, wenn er, wie in Realometer (2009), Fantasie und Philosophie vermischt. Sein visionärer Roman Venusia von 2006 über einen Zivilisationsrest auf der Venus ist jetzt endlich bei Matthes & Seitz auf Deutsch erschienen. Was Science-Fiction und Kirchengeschichte gemein haben, zeigt uns Mark von Schlegell auf seinem Streifzug durch sein Veedel. (Seite 26) Autoren dieser Ausgabe Uli Aumüller (Übersetzung), Julian Barnes, Thomas Bodmer (Übersetzung), Simon Elson, Hanno Hauenstein, Siri Hustvedt, Hannah Lühmann, Ulf Poschardt, Mark von Schlegell, Marcus Woeller (Übersetzung), Ulf Erdmann Ziegler Fotografen dieser Ausgabe Yves Borgwardt, Martin Lebioda, Lisa Ohlweiler, Fabian Schubert Sitz der Redaktion BLAU Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin +49 30 3088188–400 redaktion@blau–magazin.de BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222 Nr. 10, April 2016 Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl. 7 % MwSt. Abonnement und Heftbestellung Jahresabonnement: 48,00 Euro Abonnenten-Service BLAU Postfach 10 03 31 20002 Hamburg +49 40 46860 5237 [email protected] Verlag GESCHÄFTSFÜHRER Jan Bayer, Petra Kalb Sales ANZEIGENLEITUNG Eva Dahlke (V. i. S. d. P. ), [email protected] HERSTELLUNG Olaf Hopf DIGITALE VORSTUFE Image- und AdMediapool DRUCK Firmengruppe APPL, appl druck GmbH Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 01.01.2016. Copyright 2016, Axel Springer Mediahouse GmbH JACQUELINE HUMPHRIES 13. APRIL – 28. MAI G A L E R I E G I S E L A C A P I TA I N , KÖ L N APRIL 9 TO MAY 21, 2016 MATIAS FALDBAKKEN MAAG AREAL APRIL 16 TO MAY 21, 2016 CARROLL DUNHAM LÖWENBRÄU AREAL APRIL 16 TO MAY 21, 2016 INSIDE OUT CATHARINE CZUDEJ, CAMILLE HENROT, RASHID JOHNSON, JAMIAN JULIANO-VILLANI, WYATT KAHN, ELLA KRUGLYANSKAYA, TALA MADANI, CALVIN MARCUS, EBECHO MUSLIMOVA, MICHAEL WILLIAMS CURATED BY ALEXANDRA ECONOMOU LÖWENBRÄU AREAL GALERIE EVA PRESENHUBER MAAG AREAL ZAHNRADSTR. 21, CH-8005 ZURICH TEL: +41 (0) 43 444 70 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60 OPENING HOURS: TUE-FRI 10-6, SAT 11-5 LÖWENBRÄU AREAL LIMMATSTR. 270, CH-8005 ZURICH TEL: +41 (0) 44 515 78 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60 OPENING HOURS: TUE-FRI 11-6, SAT 11-5 WWW.PRESENHUBER.COM ESSAY KONTROLLE VERLOREN MONIK A GRÜTTERS Vor einem Jahr habe ich mich in die Kulturstaatsministerin verliebt. Seitdem ist vieles schiefgegangen. Eine Spurensuche im Minenfeld der Kulturpolitik. Von Hannah Lühmann W enn ich schreibe, dann versuche ich meist, aus der Perspektive meines Alltagserlebens zu schreiben. Das ist weniger eine bewusste Entscheidung, als dass es sich daraus ergibt, dass ich viele Dinge nicht durchschaue und dass es meiner Meinung nach allgemein viel häufiger so ist, dass man die Dinge nicht durchschaut, als dass man sie durchschaut, und dass, wenn man vom Journalismus will, dass er die Sachen so sagt, „wie sie sind“, vergisst, dass dieses Nichtdurchschauen ja auch eine ganz eigene Realität ist, an die man als Leser vielleicht von Zeit zu Zeit erinnert werden will. Etwas, das ich absolut nicht durchschaue, sind Intrigen. Es ist mir vollkommen rätselhaft und unbegreiflich, wie irgendjemand auf dieser Welt in der Lage ist, eine Intrige durchzuführen. Ich weiß, die Leute sagen, das sei so ähnlich wie Schachspielen, aber Menschen sind ja keine Schachfiguren, und das meine ich jetzt nicht humanistisch, sondern ontologisch. Menschen sind kompliziert, ich habe gar keine Lust, auf sie Einfluss zu nehmen. Ich finde, man sollte sich gegenseitig in Ruhe lassen. Seltsamerweise glaube ich, dass ich trotzdem eine sehr gute Politikerin wäre. Ich habe auch geglaubt, dass Monika Grütters eine sehr gute Politikerin ist. Vielleicht liegt das daran, dass ich nicht viele Politiker kenne und vor allem: nicht viele Politikerinnen. Dieser geschlechterspezifische Gedanke kommt mir in dieser Deutlichkeit etwas weniger als ein Jahr nachdem ich sie kennengelernt habe. Monika Grütters ist unsere Kulturstaatsministerin. Ihr Büro ist im Kanzleramt, im achten Stock, sie hat zu mir gesagt: „Da müssen Sie mal vorbeikommen.“ Als wir uns kennenlernten, war es Ende April, Süddeutschland, draußen wurde es grün und die Spargelfelder zogen vorbei, wir waren in einem riesigen Bus unterwegs. Journalisten, Presseleute, Entourage. Wir waren auf einer Theaterreise, die ich als Journalistin begleitete. Das heißt, wir besuchten Theater in der Provinz, Mannheim, Mühlheim, Ludwigshafen. Monika Grütters hörte sich die Sorgen der Provinztheaterleute an, ja, vor allem hatte man das Gefühl, sie höre zu, und ich schrieb danach in meinem Artikel, mit ihr APÉRO 13 durch Deutschland zu reisen sei ein bisschen, als begleite man einen Fürsten dabei, wie er seine Ländereien inspiziert. Die Überschrift war: Wir haben uns in eine Staatsministerin verliebt. Und es stimmte. Ich fand sie witzig, ich fand sie charismatisch, ich fand sie souverän. Ich fand es ungeheuer beeindruckend, dass jemand in der Lage ist, während einer wackelnden Fahrt durch süddeutsche Landschaften Unterlagen mit Zeitungsausschnitten zu studieren und dabei angeregten Small Talk mit fünf verschiedenen Menschen zu betreiben. Kurz: die ganze von ihr in Perfektion gemeisterte Zeremonialität der Macht, von der man, wenn man jung ist und in Berlin wohnt und nichts mit Politik zu tun hat, manchmal vergisst, dass es sie gibt und dass sie ernst gemeint ist. Nicht als ironischer Kommentar auf einen Machtapparat, sondern als notwendige rituelle und formelle Bewältigung von Realität. Monika Grütters jedenfalls ist eine gläubige Katholikin aus Münster, die regelmäßig zum Gottesdienst geht und immer noch gern mit ihren Eltern verreist, immer nach Sylt, eine, die keine Kinder hat, aber einen Lebensgefährten, eine, die auf die Frage, ob sie Feministin sei, sagt, nein, sie sei keine „Kampfhenne“, die aber sagt, sie habe explizit immer Frauen gefördert, weil sie das wichtig finde. Eine, die abends im Hotel sagte: „Jetzt noch einen Gin Tonic“, und dann trank man zwei, und sie sprach über ihren Umzug und ihre Hausbibliothek und über den Dichter Jean Paul, der sie zeit ihres Lebens beschäftigt hat. Klar sprach sie mehr, als dass sie fragte, aber das ist ja normal, sie lieferte dadurch auch Material für das Porträt. So läuft es. Sie wirkte vor allem wie jemand, der drei Dinge kann: aufnehmen, zuhören, analysieren. Aber irgendetwas ist in diesem letzten Jahr bei Frau Grütters schiefgelaufen und man weiß nicht genau, was es eigentlich ist. „Stimmungsumschwung“ ist ein merkwürdiges und abstraktes Wort, aber wie nennt man das, wenn einen erst viele mögen und dann kaum noch einer? Seit diesem April vor einem Jahr habe ich mich aus verschiedenen Gründen an Orten aufgehalten, die als Orte der (Berliner) Kulturpolitik bezeichnet werden, und mit Menschen geredet, die als „Protagonisten“ derselben gelten können. Denn Kulturpolitik ist ja auch nicht mehr als die Gesamtheit dieser Menschen, ihrer Handlungen und Sätze. Man geht mittagessen, man liest hier und da einen Artikel, manchmal schreibt man ihn. So läuft es. So wird Realität gemacht. Und das eine, das man immer häufiger hört, wenn es um Frau Grütters geht, ist ein erstaunt klingendes „Die kann nicht zuhören“. Natürlich ist es kein wirkliches Erstaunen, wenn die Leute das sagen. Denn wenn so ein Satz gesagt wird und wenn er so häufig gesagt wird, dann ist ja vorher schon etwas passiert. Dann hat sich ein Bild verfestigt. Wenn Männer mittleren Alters das sagen. Männer mittleren Alters äußern solche Sätze immer auf die gleiche Weise. Sie ziehen die Augenbrauen hoch und schauen einen mit diesem „Tja-nu-zieh-damal-deine-Schlussfolgerungen-draus“Blick an. Schultern hoch, Lippen aufeinander, Lächeln. Unangenehm, aber isso. Muss man mal sagen. ie passiert das, dass auf einmal alle gegen einen sind, obwohl es anders sein könnte, anders hätte werden können? Vielleicht ist es eine Intrige. Aber auch wenn es eine Intrige ist, dann hat man vielleicht etwas falsch gemacht, denn Scheitern heißt, die Deutungshoheit zu verlieren. Vielleicht begann es mit Tim Renner. Als wir zusammen unterwegs waren, im April vor einem Jahr, da waren es vor allem zwei Dinge, die man über Grütters sagte. Die waren weder gut noch schlecht, die waren erst einmal einfach so da. Sie war seit 2013 Kulturstaatsministerin, und man begann von ihr zu sprechen, das heißt, es erschienen Artikel und die Augenbrauen bei den Mittagessen gingen hoch, aber da halt noch in die wohlwollende Richtung. Sie hatte Tim Renner gerügt. Das war nicht unbedingt ihre Aufgabe, denn Tim Renner ist Berliner Kulturstaatssekretär und Monika Grütters macht Bundespolitik. Aber man konnte es verstehen und beherzt finden. Denn Tim Renner hatte gerade auf ebenfalls sehr unkluge Weise damit begonnen, zu kommunizieren, dass er für die Castorf-Nachfolge an der Berliner Volksbühne Chris Dercon gewonnen hatte. Im W Übrigen könnte man sich auch fragen, warum ihm so etwas nicht auf den Kopf fällt, ihr aber schon. Monika Grütters also ermahnte Tim Renner, weil sie sich Sorgen machte, dass es im neuen Volksbühnenprogramm zu Überschneidungen mit dem bundesfinanzierten Hauptstadtkulturangebot kommt, und weil sie die Idee, das VolksbühnenEnsemble aufzulösen, furchtbar fand, womit sie wahrscheinlich recht hat. Trotz- Wie passiert das, dass auf einmal alle gegen einen sind, obwohl es anders sein könnte, anders hätte werden können? dem: Die Rüge war nicht klug und Chris Dercon macht es sowieso. Vielleicht ging es da los, mit dem Scheitern, mit dem Einmischen, mit dem Nicht-richtig-Hinhören. Die zweite Sache, über die zu dieser Zeit vor einem Jahr alle sprachen, war die Tatsache, dass sie ihren Freund Neil MacGregor für dieses merkwürdige Triumvirat an der Spitze des noch nicht so richtig existierenden HumboldtForums gewonnen hatte. Alle fanden es nett und toll, dass jemand, unter dessen Führung das British Museum floriert hatte, jetzt nach Berlin kommt und dass es ein freundlicher älterer Schotte mit internationaler Perspektive ist. Nur dass alle, die es nett und toll fanden, inzwischen wissen, dass der freundliche ältere Schotte noch einige Nebenjobs hat, und, wenn er denn überhaupt mal in Berlin ist, längst ebenso frustriert in der Stadt herumläuft wie diejenigen, die jahrelang das Forum vordenken sollten und nun das Nachsehen haben. Wenn für das Stadtschloss nicht bald ein Konzept präsentiert wird, dann ist das ein Problem. Dann dieser unselige Versuch des Kulturgutschutzgesetzes, mit dem Monika Grütters so ziemlich alle Sammler, Kunsthändler und Museumsleute gegen sich aufgebracht und binnen Wochen die gerade noch treue Gefolgschaft der Kunstwelt APÉRO 14 verloren hat. Sagt man Formtief dazu, wenn man zusehen muss, wie anschließend auch der Bundesrat in Aufruhr gerät und bei der parlamentarischen Beratung im Februar die SPD-Verbündeten abfallen und nur noch die Linkspartei ihr Gesetz wirklich loben mag? Irgendwie ist die Stimmung gekippt. So sehr, dass es kaum noch auffiel, dass Monika Grütters öffentlich aus dem Gutachten zitierte, das dem greisen Erblasser Cornelius Gurlitt Zurechnungs- oder Unzurechnungsfähigkeit attestierte, bevor die Angehörigen davon Kenntnis bekommen hatten. Und dass sie, während Gurlitts Nichte noch vor Gericht um ihr Erbe kämpft, schon mal anordnete, seine Sammlung in der Bundeskunsthalle auszustellen, obwohl sie über die Kunst noch gar nicht verfügen darf. Überhaupt die Raubkunst: Wenn Monika Grütters solche Sätze sagt wie den, dass in die Expertenkommission zur Rückgabe von NS-Raubkunst keine Opferverbände hineinsollten, weil sie die „Einzigen sind, die voreingenommen“ seien, dann ist das im besten Fall unüberlegt. Sie hat das während ihrer USA-Reise gesagt, und die Bereitschaft der hiesigen Presse, die von amerikanischen Medien überlieferte Variante ihres Ausspruchs zu übernehmen, zeigt vor allem eins: Die Kontrolle ist verloren. Wenn es wirklich nur daran liegt, dass sie „nicht zuhört“, dann sollte sie vielleicht damit anfangen. Denn es gibt schon andere, über die jetzt in Berlin der Satz gesagt wird, dass sie Kulturstaatsminister werden wollen und könnten. Und Sätze, die oft gesprochen werden, werden häufig wahr. Irgendwie schafft diese Frau es, alles falsch zu machen, oder sie schafft es, alles so zu machen, dass es als falsch empfunden wird, oder vielleicht liegt es gar nicht daran, dass sie, wie es dann weiter heißt, „beratungsresistent“ ist, sondern daran, dass sie den Gestus der Macht doch nicht so selbstverständlich draufhat, wie man zunächst meint, dass also umgekehrt Leute sie auflaufen lassen, gar nicht oder falsch beraten? Was läuft schief und wie kann es wieder geradelaufen? APÉRO NEUES, ALTES, BLAUES U IER E N H Wer weiß, wie verspielt und prunkbesessen der späte Barock war, kann sich vorstellen, was sich Landgraf Karl von Hessen-Kassel vom römischen Bildhauer Pierre-Étienne Monnot wünschte, als er ihm 1722 den Auftrag erteilte, sein Marmorbad auszustatten. Das Schwimmbad im Orangerieschloss der Kasseler Karlsaue ist Deutschlands letzte bedeutende Badeanlage aus der Zeit. Mithilfe der Kulturstiftung der Ein Platz an der Sonne B unte, schwere Vorhänge kleiden den Raum aus. Eine Bühne wird von blinkenden Glühbirnen gerahmt, und von der Decke strahlen massive Studiolichter herab. In Berlin-Kreuzberg kann man dieser Tage mitten in das Set eines kleinen TV-Studios hineinstolpern. Fünf Berliner Künstler und Filmemacher haben es für den Projektraum Kinderhook & Caracas inszeniert. Was wird gezeigt? Alles was Fernsehen so ausmacht: Spendengalas, Conglomerate. Tele-Extravaganza Blue Carpet Event, Installationsansichten bei Kinderhook & Caracas, 2016 Telenovelas und Dokumentationen. Dabei lädt die Gruppe andere Künstler für Beiträge ein. Übertragen wird das Programm erst einmal auf einer Website. Dort wachsen 15-minütige Blöcke über das Jahr hinweg zu einem großen Set zusammen. Bunt soll es werden, auch ernst, in jedem Fall absurd. Wenn Kunst und Fernsehen verschmelzen, kann es nicht ausbleiben, dass bewährte Formate wiederentdeckt werden. Und so macht den Anfang im April ein Telethon, der Saurier früher TV-Unterhaltung: Bei dem Spendenmarathon klingeln Zuschauertelefone wild durcheinander, Künstler nehmen die Anrufe an, auf der Anzeigentafel schnellen die Beträge nach oben. Bilder, die dieser Tage eine seltsam unbedarfte Fröhlichkeit umweht. Zwischendurch flimmern neue Videos von Jeremy Shaw und ein Werbeclip des Berliner Künstlers Constant Dullaart. Abschalten nicht vergessen! MW www.conglomerate.tv APÉRO 16 PIERRE-ÉTIENNE PIERRE ÉTIENNE MONNOT Vergoldete Statue des Paris für das Marmorbad in Kassel, um 1700 Länder und anderer Unterstützung wurden jetzt Terrakotta-Modelle angekauft, die von der Genese des Schaubads erzählen. Die vergoldeten Modelle sind plastische Vorstudien zu den Marmorfiguren des Paris und der Bacchantin, die 1722 mit acht weiteren Figuren aus Rom in Kassel eintrafen. Ihr Auftauchen auf dem Kunstmarkt 2013 war eine kleine Sensation, da sie bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt waren. Zwei weitere Terrakotta-Modelle der Statuen Venus und Narziss befinden sich in Privathand und sind für die Forschung praktisch unzugänglich. SWKA WANDKUNST P MANUFAKTUR PAUL BALIN Blumendekortapete mit Blütenzweigen und Schmetterlingen (Ausschnitt), 1869 aul Balin (1832–1898) war ein Meister des schönen Scheins. Kacheln, Leder, Samt und Seide verwandelte der Pariser Tapetenfabrikant in historistische Luxuspanoramen aus Papier, die bis heute die Wände von Palästen, Künstlerhäusern und Schlössern in aller Welt zieren. Spätestens auf der Wiener Weltausstellung 1873 avancierte Balin zum Lieblingslieferanten für dieses exquisite Kunstgewerbe. Nun widmet ihm das Deutsche Tapetenmuseum in Kassel erstmals eine umfassende, mit Neufunden gespickte Ausstellung: Bei Forschungsarbeiten hat man 124 bisher unbekannte sensationelle Tapeten im Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) entdeckt, von denen einige nun öffentlich präsentiert werden. An ihnen lässt sich ablesen, was Balin für ein gewiefter Geschäftsmann war: Er signierte jedes Stück, das er dem Wiener Museum schenkte, und versah es mit Randnotizen zu den Vorbildern der Motive. Anhand von Dokumenten gewährt die Ausstellung Einblick in diese Schenkungsgeschichte, durch die Balin mit dem Nimbus Museum werben konnte. Tragischerweise sank sein Stern mit dem wahnhaften Verdacht, dass ihn Konkurrenten imitierten. Er wurde zum Außenseiter, machte Schulden und suchte schließlich den Freitod. GB 29. APRIL – 24. JULI A m Ende des Films über die Künstlerin Eva Hesse sitzt man weinend im Kino. Bewegend ist jedoch nicht nur ihr jäher Tod im Alter von 34 Jahren, als sie an einem Gehirntumor stirbt. Hinein mischt sich auch die Freude darüber, dass dieses intensive Werk weiterwirkt. 1939 schicken die jüdischen Eltern die dreijährige Eva und ihre Schwester im Kindertransport von Hamburg nach Holland. Die FamiEva Hesse, Woodstock, 1963 lie schafft es nach New York, in letzter Sekunde. Doch die Mutter nimmt sich später das Leben, als sie hört, dass ihre Eltern im KZ ermordet wurden. Die Kunst wird Eva Hesses Überlebensstrategie. Und der Erfolg ist ihr wichtig. Als einzige Frau im Künstlerkreis um Sol LeWitt, Robert Mangold, Carl Andre behauptet sie sich. „Qualität hat kein Geschlecht“, sagt sie im Film. Das letzte Bild, das sie zu sehen bekommt, ist das Cover des Kunstmagazins Artforum – darauf: Eva Hesse. Sie hat in fünf Jahren ein Werk geschaffen, das zum großen Lebenswerk reicht. Die Hamburger Kunsthalle brachte es 2013 in Eva Hesses Geburtsstadt. Im Rahmen der Schau entstand ein Dokufiktionsfilm, der nun endlich in die deutschen Kinos kommt. SWKA GENIE DIE MALERFÜRSTIN GLORIA VON THURN UND TAXIS Frank Castorf, 2015 APÉRO 17 G loria von Thurn und Taxis liebt klare Worte, auch wenn es um ihre Malerei geht: „Wenn wir von Karen Kilimnik und Elizabeth Peyton absehen: Keine Sau will noch so was Spießiges wie Porträtmalerei machen.“ Also sei das ihre Nische, „und es spielt keine Rolle, ob es bedeutsam ist. Es ist vor allem eine Gaudi.“ Ein Farbenhändler habe ihr geraten, jeden Tag zu malen, woran sie sich eisern halte. Bestärkt von Freunden wie Cindy Sherman und Jeff Koons (und nur kurzfristig entmutigt von Julian Schnabel) entsteht nun Porträt um Porträt. „Auf Reisen mit Kreide, zu Hause mit Öl.“ Ab dem 28. April sind ihre Berliner Köpfe bei The Corner Berlin zu sehen. CT DICHTER DRAN MERCI Monika RINCK Was für Energien werden frei, wenn die Sprachkunst auf die Bildkunst triff t? Für BLAU hören Lyriker auf den Klang der Kunst. Monika Rinck, Jahrgang 1969, sagt Danke und die Leere verendet. Wie sagt man am Ende? Merci, sagt man. Da ist jetzt keine Leere mehr. In den Gesten ist noch Licht, das geht. Sie haben uns zu sehr belohnt. Wie sagt man noch? Etwa: Ich danke Ihnen für das Verenden der Leere. Sie haben Licht gemacht. Mit Ihren Armen. Dafür danke ich Ihnen sehr. Und was sagt man danach? Da zählt man dann die Farben auf. Falsch! Voll falsch. Nach dem Ende steht die Schwerkraft gegen die Fliehkraft. Licht, Luft und Nahrung waren Ihnen zunächst äußerlich. Das ist richtig. Die Fuchtel einer aufgebrachten Geste, beteiligt am Entstehen der Beine. Das Gesetz der Bewegung verlangt, in Richtung des Himmels zu stürzen. Am Ende war keine Gnade, Sie aber sagten: Danke, am äußersten Ende. Inspiriert von Joan Mitchell Aber sagt man das auch? Und wenn ja, wann soll man es sagen, zu wem? Sie waren zu zweit. Das machte das Sagen leichter, machte es schwerer. Die Bewegung aber könnte das tragen, hinstellen, eben bewegen. Am Ende natürlich Erbarmen. Nein, war da nicht. Am Ende war nichts als der Wunsch, nicht länger zu warten, ab heute nicht mehr auszuharren, in der Schräglage einer Frage, Geste oder Bitte um Entschuldigung, einer angelehnten Reue oder Äußerung der Reue in unverständlicher Sprache. Harren Sie also aus, im Dank des unergründlichen Sogs oder Songs, der ganz leise nach oben, unten, zur Seite, zur anderen, in Bewegung gerät. Der Dank ist das Fremde. Das geht, wenn es zum Abschied kommt. Des Gastes, wenn er weiter muss. JOAN MITCHELL Merci (Diptychon), 1992, Öl auf Leinwand, 280 × 360 cm APÉRO 18 BEWEGTBILD DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT UFO UND MOLLI ANDRO WEKUA über seinen einen Lieblingsfilm Die Farbe des Granatapfels pfels „Die Farbe des Granatapfels atapfels des armenischen Regisseurs gisseurs Sergej Paradschanow hat mich sehr geprägt. Ich sah ihn zum ersten Mal als Jugendlicher icher in Georgien. Mich faszinierte, erte, wie er sich aus verschiedenen nen Szenen zusammensetzt, die e wie eine Abfolge von Bühneninszenierungen wirken. Der Film ist komplex, eine Art Bildgedicht voller Symbole und Rituale, aber auch ziemlich direkt gemacht, wie ein Theaterstück ohne Dialoge. Paradschanow hatte kaum Budget, doch das Provisorische macht den Reiz aus. Mir erschien es revolutionär, dass Sofiko Chiaureli in der Hauptrolle sechs Figuren spielt – Frauen und Männer! Der Film ist ja von 1969. Außerdem fesselten mich die Farben. Paradschanows Umgang damit ist mir sehr nah. Man kann an einer Stelle sehen, wie jemand etwas rot einfärbt, ich glaube Wolle. Dieses leuchtende Rot durchzieht den ganzen Film.“ DER KÖLNISCHE KUNSTVEREIN ZEIGT VOM 15.04.–19.06. ANDRO WEKUAS AUSSTELLUNG ANRUF Hart, aufregend, explosiv, der Lamborghin Lamborghini Miura. Ein Bote der Zuversicht, dass alles und besser un schöne schöner wird LAMBORGHINI MIURA D er Straßenkampf begann 1966. Erschnaubt von einem 27-Jährigen namens Marcello Gandini stürzte der Lamborghini Miura die herrschenden Verhältnisse im Automobilbau um. Die Härte und Aggression des Rennsports wurden in die bis dahin idyllische Welt des Jetsets gekippt. Quer, direkt hinter dem Sitz des Piloten, röhrte und lärmte der Zwölfzylinder und forderte konstant zum Gesetzesbruch auf. Das Ganze war so laut, dass keine bürgerliche Konversation möglich war, nur Schreien und ab und an der Blick aus dem Fenster, auf eine Wirklichkeit, deren Zeit gekommen war. Die 60er-Jahre waren und sind eine Hochzeit des Autodesigns gewesen. Mehr als die dann doch eher am 19. Jahrhundert orientierten Studenten- und Kommunistenerhebungen waren Die Farbe des Granatapfels, 1969, die jungen, aggressiein Film von Sergej Paradschanow ven Geschöpfe des Automobilbaus Ankündiger einer umstürzlerischen Zeit. Der Miura von Lamborghini war eine Mischung aus Ufo und brennendem Molotowcocktail, und so fuhr er sich auch. Aufgrund der schlechten Aerodynamik konnte die Höchstgeschwindigkeit von fast 280 km/h nur erreicht werden, wenn man sein Leben aufs Spiel setzte. Ein Windstoß genügte, und der Miura hob vorne ab. Es wäre in jedem Fall ein sehr schöner Tod geworden. Die erste Baureihe war auch explosiv wie ein Molli. Der zu Beginn verbaute Vergaser war auf Rennstrecken abgestimmt und eben nicht für den üblichen Straßenverkehr. Mit der Konsequenz häufiger Selbstverbrennungen auf offener Bühne. Galten Ferraris als Renaissance-Schönheiten, waren Lamborghinis manieristische Geschöpfe aus der direkten Nachbarschaft Enzo Ferraris. Irrwitzige, abstruse, abenteuerlich schöne wie starke, oft genug selbstmörderische APÉRO 19 Sant’Agata, Kisten kamen aus Sant’A stets am Rande des Konkurses entworfen und gebaut. Der Miura war und ist anders: Der wird auch von Porsche-Fahrern und Ferraristi geliebt. Zum 50. Geburtstag hat Lamborghini einen Miura rekonstruiert und in der aufwühlenden Farbe Dunkelfroschgrün-Metallic lackiert. Er ist ein Bote der Zuversicht, dass alles besser und schöner wird. Ein letzter euphorischer Gruß an eine Zukunft, die mit der Ölkrise und dem Bericht des Club of Rome untergegangen ist. Frank Sinatra und der Schah von Persien liebten ihren Miura, weil sie in ihm glaubten, dass die großen Zeiten erst kommen werden, obwohl sie vorbei waren. Es war ein Glück ohne Komfort. Die Fahrt im Miura ist hart und aufregend. Jedes Detail ist schön, warum sollte er dabei noch alltagstauglich sein? Dieser Wagen war der Vorschein seiner eigenen Utopie. Eine Art Wunder. ULF POSCHARDT PORTRÄT „SONST BRECHEN WIR DAS GESPRÄCH AB“ hat seine Stimme besonderes Gewicht, wenn es um Zu- oder Abschreibungen geht. Nach Rembrandt – The Painter at Work hat van de Wetering seine Erfahrungen und Erkenntnisse in einem neuen Buch versammelt: Rembrandt – The Painter Thinking. Seit rund 150 Jahren wächst die Rembrandt-Literatur ins Bedrohliche. Was weiß man noch nicht über den Maler? — Die Literatur über Rembrandt hat viel gebracht. Nur ist in der Fülle nicht immer leicht zu erkennen, was gesicherte Fakten sind und was populäre Erzählung ist. Tatsächlich ranken wie bei vielen großen Künstlern zähe Legenden um Rembrandts Werk und Leben. Es gibt diese Mär vom verkannten Künstler, der in den Bankrott getrieben worden sei. Gern werden auch seine Frauengeschichten kolportiert und manch anderer Quatsch. Zwar hat man den RembrandtMythos längst enttarnt, aber es ist noch immer schwierig, das gereinigte Bild auch öffentlich durchzusetzen. DIE BLENDUNG SIMSONS 1636, Öl auf Leinwand, 206 × 276 cm Rembrandts Kunst ist Kunst über Kunst. Man sollte sie schützen vor dem modernen Blick. Sagt Ernst van de Wetering, der beste – und leicht reizbare – Kenner des Werks D er niederländische Rembrandt-Experte Ernst van de Wetering, Jahrgang 1938, ist eine Autorität auf seinem Gebiet. Keiner hat so lange und so intensiv über das Werk des Malers geforscht. Keiner hat so viel über ihn geschrieben. Als prominentestes Mitglied des „Rembrandt Research Project“, das seit Jahrzehnten mit der Erstellung eines gültigen Œuvre-Katalogs beschäftigt ist, APÉRO 20 Dabei ist Rembrandt-Forschung doch lange Zeit Publikumsernüchterung gewesen. Gnadenlos hat das Rembrandt Research Project einen Verehrungsgegenstand nach dem anderen aberkannt. Nicht zuletzt den Mann mit dem Goldhelm, den Generationen in der Berliner Gemäldegalerie bewundert haben. — Vielleicht ist ja die frühe Werkphase bis zur Nachtwache des Jahres 1642 aufs Ganze gesehen doch zu schroff gereinigt worden. Deswegen habe ich auch im letzten Band des Œuvre-Katalogs von den ursprünglich abgeschriebenen Gemälden etwa 40 wieder Rembrandt zuerkannt. Ein seltener Fall von Selbstwiderspruch der Wissenschaft. — Ich denke, es gibt gute Gründe dazu. Ich war ja im Rembrandt Project der Jüngste im Team und zugleich derjenige, der über sehr viel mehr Aspekte im Werk von Rembrandt geforscht hat als manche meiner Kollegen. So ist über die Jahre hin das Verständnis für jedes einzelne Bild gewachsen. Und in der Zwischenzeit bin ich überzeugt, dass Urteile, die allein auf stilkritischer Kennerschaft beruhen, überholt sind. Wir verfügen heute über bildtechnische Kenntnisse, die nahelegen, das eine oder andere zu Unrecht aberkannte Bild wieder Rembrandt zuzuschreiben. Buch entstanden Rembrandt – The Painter at Work. Und nun heißt Ihr neues Opus magnum Rembrandt – The Painter Thinking. — Ja, jetzt liegt der Fokus auf dem Denken, auf Rembrandts Kunsttheorie. Worin unterscheidet sich Rembrandts Kunstauffassung von den Kunsttheorien des 17. Jahrhunderts? — Ganz wichtig für die Zeit war das Schilder-Boeck (Das MalerBuch) des Karel van Mander, in dem der Maler und Kunstschriftsteller die Grundlagen der Malerei beschreibt. Anders als die humanistische Kunsttheorie, die in Italien vor allem damit Auch Gnade für den Mann mit beschäftigt war, die Malerei auf dem Goldhelm? die intellektuelle Ebene der — Es war Jan Kelch, der anderen freien Künste zu heben, ehemalige Direktor der Berliner ging es Mander darum, alle Gemäldegalerie, der das Gemälde wichtigen Aspekte der Malerei problematisiert hat. Von ihm aufzulisten, Zeichnung, Proporging die Initiative aus. Wir waren tionen, Affekte usw. Auch zwar auch überzeugt, dass es Rembrandt hat sich mit diesem kein Rembrandt ist, aber wir Lehrbuch auseinandergesetzt. haben das Bild nie offiziell Wie er Mander rezipiert und für abgeschrieben. Auch wenn sich erweitert hat, erfährt man, uns das immer wieder nachwenn man die Aufzeichnungen gesagt wird. seines Schülers Samuel van Hoogstraten analysiert, in denen Und wenn Sie bewertend auf er sich ganz ausdrücklich auf die Arbeit in der Rembrandtseinen Lehrer bezieht. Man kann Jury zurückblicken? aus den Notizen, die Hoogstra— Es war eine Gruppe, die ten sich während des Unterdemokratisch funktioniert hat. richts bei Rembrandt gemacht Das heißt, es wurde bei jedem hat, dessen eigene Kunstauffaseinzelnen Bild abgestimmt. Und sung destillieren. Das ist bislang wenn ich einen Minderheitenzu wenig berücksichtigt worden. Standpunkt hatte, dann habe ich das in vielen Fällen publizieren Ein Verfahren, das deutlich im lassen – ganz bescheiden am Widerstreit zur gängigen Ende des Textes. Ich hatte ja als Rembrandt-Forschung liegt, die ursprünglich ausgebildeter sich in den letzten Jahren vor Maler einen anderen Hinterallem mit Rembrandts Rolle als grund, sehe mit anderen Augen, Künstler, mit seinen Erfolgssehe ein Bild nicht als Bild, strategien beschäftigt hat. Kann sondern als Resultat eines Prozes- man sagen, dass es jetzt wieder ses. Daraus ist mein letztes um Bilder geht? — Jedenfalls habe ich die Hoffnung, dass, wer mein Buch liest, mit anderen Augen auf die Bilder sieht. Und in den Bildern den denkenden, suchenden Künstler erkennt, dessen Malerei eben nicht Mittel der Expression ist. Gerade Rembrandts Selbstbildnisse sind ja häufig als eine Art Ausdruckskunst beschrieben worden, als sei hier der Maler auf der Suche nach sich selbst. Das ist aber gar nicht der Fall. Es sind Bildnisse von Rembrandt, von ihm selbst gemalt, weil er ein berühmter Maler war. Das ist ein ganz anderes Motiv, als es der moderne Selbstporträtist hat, der in den Spiegel guckt und seine Psyche erkundet. ERNST VAN DE WETERING Friedenszeit. Wirtschaftsblüte dank weltweiter Handelsbeziehungen. Ein stolzes, selbstbewusstes Bürgertum. Von all dem ist in Rembrandts Werk kaum etwas zu spüren. — Völlig anachronistisch, Ihre Kunstbetrachtung. Es geht nicht um Politik, nicht um Wirtschaft, Wenn ich Sie recht verstehe, dann ist es eigentlich unzulässig, nicht um die Gesellschaft. Es geht um einen Kunstbegriff und auf Rembrandts Bilder mit der hatte mit ökonomischen zeitgenössischen Erfahrungen Umständen nichts zu tun. Sie zu blicken … — Man muss Rembrandts Bilder müssen sehr vorsichtig sein mit Ihrer These, dass die Kunst zeitgerecht sehen. Man verfehlt Ausdruck ihrer Zeit sei. Die das Werk, wenn man es in Kunst des 17. Jahrhunderts hatte anachronistische Kategorien ihre eigene Sprache, die nicht zwängt. So wie man sagt, an sozialer Wirklichkeit interesFrans Hals, der ist ja fast ein siert war. Sie griff auf Ideen, Impressionist. Von solchen Formen und Motive zurück, die Anachronismen, die sich beim zum Teil schon im klassischen Sehen einschleichen, nährt Altertum entwickelt worden sich der Mythos. Man projiziert waren. So wusste ein Kunstkeneine Auffassung des 19. Jahrner des 17. Jahrhunderts mehr hunderts, ein romantisches über antike Maler wie Apelles Künstlerbild auf Rembrandt und Zeuxis als über die Maler und gibt sich nicht die Mühe, seiner Zeit. Was Sie sagen, das die Bilder mit den Augen erschreckt mich, muss ich sagen. eines Kenners des 17. Jahrhunderts zu betrachten. Ich möchte Sie ja nicht erschrecken, aber hatte ein Maler Also versetzen wir uns ins wie Rembrandt nicht auch den 17. Jahrhundert. Es war das Ehrgeiz, in seiner Zeit zu berühmte Goldene Zeitalter wirken? in den Niederlanden. Lange APÉRO 21 an Rubens, den er übertreffen möchte. Darum geht es: um den Ehrgeiz, ein ungemein lebhaftes, erschreckendes, in der Lichtgestaltung phänomenales Bild zu malen. Und nicht um soziale Wirklichkeit. BADENDES MÄDCHEN (STUDIE NACH HENDRICKJE STOFFELS) 1654, Öl auf Leinwand, 62 × 47 cm Realismus, dem auch die Hässlichkeit malenswert erschien. Und es gibt an dem Bild zwei Seiten. Die eine ist der Inhalt: Mann und Frau, das heißt, die Gefahr, die von der Frau ausgeht, ein Thema, dem ja viele Gemälde und Texte in der Zeit gewidmet sind. Lassen Sie es uns doch noch Die alttestamentliche Delilaeine Weile versuchen. Malt und-Simson-Geschichte ist einer ein Schauerbild wie Die Blendung Simsons im Frankfur- dafür eines der großen Beispiele. Zugleich aber ist das Bild ter Städel Museum – ohne auch ein Schaustück, wie gut Auftrag, also freiwillig –, wenn Rembrandt malen konnte, er nicht Interesse oder sagen wir Neugier an der Lebenswirk- eine abenteuerliche Komposition aus Licht und Bewegung, lichkeit namens Gewalt hat? Hässlichkeit und Schönheit. Der Schriftsteller Elias Canetti Bis kurz zuvor stand Rembrandt hat gesagt, vor dem Bild habe ja im Dienste eines Malers, für er gelernt, was Hass sei. den er hauptsächlich Porträts — Canetti mag das geschrieben anfertigen musste. Jetzt gehört haben. Aber er hat nicht das Recht dazu. Das ist eine intuitive er selber zur Gilde und tritt selbstbewusst auf, malt große Aussage, die nichts über Formate, dramatische Szenen Rembrandt sagt. Der Maler war und denkt dabei unverkennbar bekannt für seinen drastischen — Nein, hatte er nicht! Rembrandts Kunst ist Kunst über Kunst. Und nicht Kunst über die Gesellschaft. Und wenn Sie bei dem Gedanken bleiben, dann beenden wir lieber unser Gespräch. Ein intimes Bild ist auch das Badende Mädchen aus dem Jahr 1654, das ins seichte Wasser steigt, das Kleid hochhält und mit sichtlicher Laune im Wasserspiegelbild betrachtet, was uns verborgen ist. Der Kunsthistoriker Max Eisler hat hier einen „erotischen Exzeß des Meisters“ entdecken wollen. — Ich habe da ganz andere Ansichten über die Funktion und Ikonografie des Bildes, weil die junge Frau ganz sicher nicht im spiegelnden Wasser unter ihren Rock schauen will, wie Sie sagen. Das Bild, wahrscheinlich gemalt für Hendrickje Stoffels, Rembrandts Haushälterin und Geliebte, handelt in Wahrheit von Kallisto. Kallisto war eine Nymphe aus dem Gefolge von Diana und wurde, das kann man in Ovids Metamorphosen nachlesen, auf ziemlich gräuliche Weise von Zeus vergewaltigt. Als ihre Schwangerschaft offensichtlich wurde, hat sie Diana, bei der strenge Keuschheit galt, sogleich verbannt. An ihrem Attribut, dem Hemd, das sie anhebt, ist Kallisto eindeutig zu erkennen. Das Besondere ist, dass in dem Jahr, in dem das Bild entstanden ist, auch Hendrickje schwanger ist und ebenfalls verbannt wird, nämlich aus der Kirche. Warum hat Rembrandts Werk so viel Bewunderung, aber auch Ablehnung erfahren? — Die negativen Beurteilungen von Rembrandts Werk sind alle erst nach seinem Tod entstanden. Das hat vor allem damit zu APÉRO 22 tun, dass kurz vor seinem Tod der französische Klassizismus Mode wird – auch in Holland. Für die Vertreter des normativen Klassizismus war Rembrandt der bedeutendste Vertreter des vorklassizistischen Realismus. Zu Lebzeiten aber wurde er als großer Maler anerkannt, er hatte die meisten Schüler und bei Weitem die höchsten Preise. Und die Kritik an der berühmten Nachtwache? — Das ist ja auch so ein Mythos. Die Rembrandt-Forschung hat der populären Erzählung, das Gemälde sei nicht akzeptiert worden, schon lange widersprochen. Rembrandt hat sein Geld bekommen, und das Gemälde hing lange an dem Platz, für den es gemalt worden ist. Diese Lebenseinteilung in eine Phase der Bewunderung bis ins Jahr 1642, auf die dann der Abfall in die Depression gefolgt sei, der vergrämte, in sich gekehrte, verpönte Rembrandt, ist reine Erfindung. Es war der deutsche Kunsthistoriker Carl Neumann, der um die Jahrhundertwende diesen Mythos aufgebracht hat. Einen Mythos, der enorm populär werden sollte. Gehört doch das gespaltene biografische Modell, die Saulus-PaulusDialektik, zum beliebten dramaturgischen Muster vieler Lebensbeschreibungen. Aber bei Rembrandt gibt es diesen biografischen Wechsel so nicht. Dass es zu Veränderungen im Spätwerk kommt, beweist nur die höchsten Ansprüche, die er an die Malerei stellt. Davon handelt mein Buch. INTERVIEW: HANS-JOACHIM MÜLLER ERNST VAN DE WETERING: REMBRANDT – THE PAINTER THINKING, AMSTERDAM UNIVERSITY PRESS, 2016 CONTEMPORARY ART 1301PE | A ARTE INVERNIZZI | ACB | AKINCI | MIKAEL ANDERSEN | ANHAVA | ARTELIER CONTEMPORARY | JÜRGEN BECKER | BO BJERGGAARD | BLAIN SOUTHERN | NIELS BORCH JENSEN | JEAN BROLLY | DANIEL BUCHHOLZ | BUCHMANN | SHANE CAMPBELL | CANADA | GISELA CAPITAIN | CAPITAIN PETZEL | CONRADS | CONTEMPORARY FINE ARTS | COSAR HMT | CRONE | DEWEER | EIGEN + ART | FIEBACH,MINNINGER | KONRAD FISCHER | LAURENT GODIN | BÄRBEL GRÄSSLIN | KARSTEN GREVE | BARBARA GROSS | HAAS | HÄUSLER CONTEMPORARY | HAMMELEHLE UND AHRENS | JACK HANLEY | REINHARD HAUFF | HAUSER & WIRTH | JOCHEN HEMPEL | MAX HETZLER | FRED JAHN | KADEL WILLBORN | MIKE KARSTENS | KERLIN | KLEMM’S | KLÜSER | SABINE KNUST | KÖNIG | CHRISTINE KÖNIG | KOENIG & CLINTON | KRINZINGER | KROBATH | KROMUS + ZINK | BERND KUGLER | PEARL LAM | LANGE + PULT | GEBR. 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Am besten gefielen mir Bücher mit Reproduktionen der begegnete Bilder von Edvard Munch. Ich A weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich sein ungewöhnliches Gemälde Pubertät von 1894/95 zum ersten Mal sah, aber es war lange bevor ich selbst in die Pubertät kam. Munchs Bild eines auf der Bettkante sitzenden nackten Mädchens, hinter sich einen drohenden Schatten, der ein Eigenleben zu besitzen scheint, übte eine ungeheure Faszination auf mich aus. Und es fasziniert mich noch immer. Die Arme des Mädchens sind vor ihren Schenkeln verschränkt, die Hände liegen an den Knien, während sie die Beine fest geschlossen hält. Ihr Gesichtsausdruck fesselte mich damals wie heute. Ich entdecke darin eine Mischung aus Angst und intensivem Denken, die bestürzende Mischung aus einem verletzlichen Kind und einem Philosophen bei der Arbeit. Trotz ihres offensichtli- Ihr letztes Buch Die gleißende Welt nimmt die Kunstwelt ins Visier: SIRI HUSTVEDT, Schriftstellerin aus New York chen Unbehagens hat der Maler das Mädchen mit einer subjektiven Würde versehen, die er seinen geschlechtsreifen Frauen selten verlieh, diesen bedrohlichen Vampiren, die sich an ihren männlichen Opfern gütlich tun. Munchs Mädchen ist auch ein Junge – der Titel Pubertät umfasst eine Übergangszeit in der menschlichen Entwicklung zwischen Kindheit und Erwachsensein, eine Zeit sprunghafter Veränderung, die wir alle durchmachen. Heute weiß ich, dass der Künstler damals in Berlin lebte, dass er von Max Klinger beeinflusst wurde und seine Vorstellungen von Liebe und Sexualität sich änderten. Davon ahnte ich als kleines Mädchen nichts. Ich wusste, dass ich ein erstaunliches Bild des denkenden Körpers betrachte, ein Bild, das einen tiefen Nachhall in meinem Innenleben fand. Im Nachhinein hat das Bild etwas Prophetisches: Die Idee des Übergangs, des Dazwischen, einer menschlichen Realität, in der Fühlen und Denken verkörpert und dynamisch sind, hat mein gesamtes Werk, das fiktionale wie das nichtfiktionale, geprägt. ÜBERSETZUNG: ULI AUMÜLLER APÉRO 24 EDVARD MUNCH Pubertät, 1894–95 <6A:G>:H8=L6GO:G @c^\hVaaZZ(%@"8ZciZgÊ)%'&'9hhZaYdg[ IZa#%'&&"(,)**(Êlll#\VaZg^Z"hX]lVgoZg#Xdb 6gi8dad\cZ'%&+!=VaaZ&&#&$HiVcY7"'& 8]g^hid&.(*!Ì7^XnXaZiiZZbeVfjZiZ hjg\VaZg^ZYZkd^ijgZ¼!&.+( &(%m&*%m)*Xb!h^\c^ZgijcYYVi^Zgi UM DIE ECKE SEIN VEEDEL IN KÖLN Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie vor. In Köln zeigt uns Mark von Schlegell sein Veedel wenige Minuten vom Dom. Der amerikanische Schriftsteller läuft auf den Scherben unserer Geschichte und schaut mit uns in die Weite seines Universums A ls freier Autor in einem fremden Land, als Amerikaner in Deutschland, habe ich mich selbst schon in den unterschiedlichsten Büros wiedergefunden, in allen Zeiten. Die spannendste Umgebung aber, in der ich jemals geschrieben habe, führt mich zehn Minuten vom Kölner Hauptbahnhof nach Westen. Nur scheinbar ruhig, strotzt dieses Viertel vor aufwühlenden Geschichten und Charakteren, hält einen Science-FictionAutor wie mich in der Stadt fest, beschäftigt mich, wenn ich gerade nicht schreibe. Den besten Kaffee gibt es bei Baris Aksu in der Kolumbastraße. Im Jahr 1999 hat er in Köln sein Geschäft „Espresso Per- fetto“ eröffnet. Eigentlich wollte er dort nur Espressomaschinen verkaufen. Doch sein Kaffee war so gut, dass jetzt Baristas dort den besten Espresso der Stadt machen und ich mich jeden Morgen bereitwillig in die Schlange stelle. Die Reihe bewegt sich schnell vorwärts, und ich beobachte die Menschen, treffe Künstler oder auch Schauspieler; der Westdeutsche Rundfunk ist gleich um die Ecke. So beginne ich meinen Tag. Aksus Vater hat das Café designt, wohlig warm in Pastellfarben und glänzendem Chrom. Mittlerweile hat Baris Aksu noch einen zweiten Laden in Köln und ein nächster ist in Istanbul geplant. Wie tief Köln in der Türkei verwurzelt ist, sieht man heute an der Architektur und im Innern der zwölf romanischen Kirchen, für die die Stadt berühmt ist. Vom Café aus sehe ich direkt auf die Grundmauern von St. Kolumba. Im Zweiten Weltkrieg heruntergebombt bis auf die Bruchsteine eines ursprünglich hier stehenden fränkischen Gehöfts, wurde die Kapelle vom Architekten APÉRO 26 Peter Zumthor in ein international gefeiertes Museum verwandelt, das sich nun über den Fragmenten der Geschichte erhebt. Es beherbergt die Kunstsammlung der Erzdiözese Köln, der Beschützerin der rheinischen Kunst über Jahrhunderte hinweg. Wir Amerikaner sind nostalgisch, ich liebe es, über Richard Serras Stahlskulptur The Drowned and Saved zu balancieren. Sie nimmt geradezu körperlichen Kontakt auf zu den GIs, die im März 1945 in das von der Geschichte vieler Jahrhunderte beladene Köln einmarschiert sind. In diesen Schichten der Zerstörung wird die Historizität Kölns sichtbar. Die Geschichte öffnet und faltet sich gleichsam in TRIP MIT MARK VON SCHLEGELL BEI BARIS AKSU (OBEN) TRINKT DER AUTOR SEINEN MORGENDLICHEN ESPRESSO, IN DER ROMANISCHEN KIRCHE ST. ANDREAS GENIESST ER DIE BEWUSSTSEINSERWEITERNDE WIRKUNG DER GEOMETRIE (RECHTS) UND RICHARD SERRAS SKULPTUR (UNTEN) VOR DEM KOLUMBA (LINKS) BRINGT IHN IN KONTAKT MIT AMERIKANISCHEN GIS sich zusammen, so als forme sie aus vielen Überresten und Altlasten ein Reliquiar – in einer Welt, die nach all dieser Zeit ein Relikt ihrer selbst geworden ist. In der Kirche St. Andreas kann man Reste aus jeder Epoche der Kölner Geschichte vom Mittelalter bis in die Moderne entdecken. Man kann hier Stunden verbringen, die klare Geometrie hilft, über die Tiefe des Universums zu sinnieren. Denn in der Kirche herrscht totaler Frieden, nur unterbrochen vom freundlichen, klugen Sakristan Christoph Wenzel, der mich bittet, meinen Hut abzunehmen. rstmals geweiht im späten 10. Jahrhundert, ist St. Andreas die einzige Kirche in Köln, die die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg fast intakt überstand. Nur wenige wissen, dass alle anderen Kirchen nicht alt sind, sondern nach dem Krieg wieder aufgebaut wurden. Trotzdem gingen die schweren Zeiten auch an St. Andreas nicht spurlos vorüber, etwa das große Feuer von 1220 oder die Besetzung durch Napoleon. Um die Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem (deren Bischof auch Kurfürst von Köln E war) zu demütigen, brachte der Möchtegernimperator seine Kavalleriepferde in der Kirche unter. Die Gemälde haben das nur partiell überlebt. Doch sogar der flüchtige Blick auf ihre außerordentliche Technik und Farbigkeit zeugt von einer Einheit der Kunstfertigkeit, Erzählkunst, Religion, Architektur und Bildhauerei mit beinahe holografischem Nachklang. Die namenlosen Künstler, die im byzantinischen Stil an drei fast komplett erhaltenen Fresken in einer Seitenkapelle arbeiteten, schlagen einen Bogen zur Gegenwartskultur von Sprache und Kunst, wie es sie in Köln erst in den 1980er-Jahren wieder gegeben hat – in drei unglaublichen, vollständig erhaltenen Wandmalereien. Als KunstAPÉRO 27 kritiker – für diesen einen kurzen Satz übernehme ich einmal diese Rolle – kann ich sagen, auch wenn er an einer Tür der Sakristei zu suchen ist, es gibt keinen Drachen töter so nahe an der Schwelle zur Moderne und so sciencefictional wie diesen Heiligen Georg den Gelben. Der hallende Gang durch die Kirche zeigt mir Märtyrerschädel in goldenen Gehäusen – auch Splitter des echten Kreuzes. Reliquien, wohin der Blick auch geht. Erstaunlich die Gebeine, die von der Heiligen Helena, der Mutter des ersten christlichen römischen Kaisers Konstantin, um 320 nach Byzanz gebracht wurden. 900 Jahre später gelangten sie in den Besitz eines der hervorragendsten Denkers von Köln: Doctor universalis Albertus Magnus. Der Universalgelehrte lebte und unterrichtete in Köln als Dominikanermönch. Seine letzte Ruhestätte in St. Andreas fand er auf Geheiß seines Ordens aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, da man die Krypta wiederentdeckt hatte. Als Science-Fiction-Fan kenne ich den großen Albert natürlich als den Schöpfer des zweiten Androiden der Welt („der Messingkopf “ oder „die sprechende Bildsäule“), als Astrologen, Alchemisten und Besitzer des eigentlichen Steins der Weisen. Christoph Wenzel erzählt, dass er auch Dominikanermönch war, Lehrer von Thomas von Aquin, ein Naturwissenschaftler und Kämpfer für freie Gedanken – wenn nicht sogar für Frauenrechte. Wie der im Weltraum festsitzende Sundogz in meinem jüngsten Roman liebten die Römer das Wasser. Sie hätten alles getan, um mehr davon zu haben. Man kann viel über dieses ambitionierte Volk sagen, aber vor allem waren sie die großartigsten Sanitärinstallateure aller Zeiten. Als wären sie allergisch gegen die germanische Magie des Rheins gewesen, insistierten der Feldherr Germanicus und seine Gefolgsleute darauf, ein Ingenieurwunderwerk zu errichten, mit dem frisches Quellwasser aus der Eifel nach Köln geleitet wurde, um die städtischen Brunnen zu speisen. Daran erinnert das „neoromanische“ Monument des Römerbrunnens. anz in der Nähe poliert seit 1950 das Besteckhaus Glaub seine Silberwaren. Heute führt Anita Glaub das Geschäft ihres Vaters mit Unterstützung von Hermann Freiß, einem ausgewiesenen Liebhaber von handgemachtem Hausgerät, und wacht persönlich über die Herstellung, Reparatur, Aufbewahrung und Präsentation von Löffeln, Gabeln und Messern in einem der beliebtesten Schaufenster der Stadt. Für Hildegard von Bingen war das Essbesteck noch ein Werk des Teufels; Frau Glaub erinnert uns daran, dass die Gabel aus Byzanz zu uns kam. Auch wenn es jetzt einen Seiteneingang gibt, der beste Weg, um die Galerie Daniel Buchholz zu entern, ist durch ein Anticham- G KÖLN BLICKT ZURÜCK NONNEN GEHÖREN AUCH HEUTE NOCH ZUM STADTBILD VON KÖLN, HIER VOR DEM FRAUENVEREIN „DAS LÄDCHEN“ (LINKS). NEBENAN FÜHRT ASSAWIN GETHUTAWORN DAS ANTIQUARIAT BUCHHOLZ (OBEN) UND IM EL-DE-HAUS WIRD AN DIE GESCHICHTE DER STADT IM NATIONALSOZIALISMUS ERINNERT (UNTEN) bre, in dessen Genuss nur wenige Ausstellungen kommen: das Antiquariat Buchholz, heute eine der vorzüglichsten antiquarischen Buchhandlungen, die in der Stadt überlebt haben. Ist man mit dem Galeristen und Büchersammler Buchholz unterwegs zur Cutting-edge-Kunst der Gegenwart (in ihrer Natur oft durchaus literarisch), führt der Weg über dessen persönliche Obsessionen und Interessen oftmals auch in die fortdauernde, wenngleich vergessene Geschichte der Science-Fiction im literarischen Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Als der Antiquar Daniel Buchholz senior im Jahr 1993 verstarb, zog sein Sohn Daniel mit seiner Galerie für zeitgenössische Kunst in die hinteren Räume der BuchhandAPÉRO 28 lung, dessen Geschäft und Schauräume er weiter betrieb. Mithilfe der langjährigen Mitarbeiterin Frau Bauer kümmert sich seitdem der Kurator Assawin Gethutaworn um Aufbau und Management der Sammlung. Die Galerie Buchholz beteiligt sich auch am traditionell stadtweiten Engagement für die Gestaltung der Ladenschaufenster. Ob kuratiert von internationalen Künstlern, von seinem Galeriepartner, dem Kunsthistoriker Christopher Müller, oder von Assawin Gethutaworn selbst, immer belohnen die Buchholz-Fenster die Aufmerksamkeit der Passanten mit fesselnden Miniausstellungen. Rational-utopistischen Geist im Fenster findet man auch im kleinen Geschäft nebenan: „Das Lädchen“ hat eine große Vergangenheit. Der Frauenverein wurde nach dem Ersten Weltkrieg von Damen der Gesellschaft gegründet, die sich in den Kopf gesetzt hatten, eine Lokalität aufrechtzuerhalten, in der wertvolle Familiengegenstände wie Schmuck, Kunst, Porzellan und Silber begutachtet und fair gehandelt wurden. Die „Witwen“ wurden dann von den Nazis aus dem Laden vertrieben, kamen aber umso stärker zurück. Heute ist es Doris zur Linden, die die anspruchsvolle Tradition fortsetzt. Mit 32 Kölnerinnen, die ehrenamtlich in zwei Schichten arbeiten, unterstützt sie in Not geratene Familien, eine neue Heimat für deren Preziosen zu finden. ine Tür weiter etablierte der legendäre Numismatiker und Autor Tyll Kroha im Jahr 1968 sein Kölner Münzkabinett, um mit den ältesten Geldern der Welt zu handeln, antiken und mittelalterlichen Münzen. Heute betreiben Kai Scheuermann und Christoph Heinen (beide zufällig 1968 geboren) die Geschäfte. Krohas Kuriositätenkabinett ließen sie unangetastet, lediglich das Geschäftsmodell, Käufer und Verkäufer von alten Münzen zu finden, haben sie behutsam modernisiert. Dennoch kommen 60 Prozent ihrer Bestände aus römischen Zeiten und oft gleichzeitig aus Köln. Wenige Schritte die Neven-DuMontStraße hinauf ist das NS-Dokumentationszentrum der Stadt. Es ist das größte Museum seiner Art, gleichermaßen eigentümlich wie erfolgreich. Das EL-DE-Haus, wo das Zentrum eingerichtet wurde, bekam seinen Namen von seinem ersten Besitzer Leopold E Die Kunsthalle Düsseldorf wird gefördert durch Gefördert durch Ständige Partner Dahmen, der mit alten Uhren und Goldobjekten handelte, wie man sie heute in der Gegend noch finden kann. Die Gestapo beschlagnahmte das geräumige Haus 1935, um es für die nächsten zehn Jahre als Hauptquartier, zeitweiliges Gefängnis und Hinrichtungsstätte zu nutzen. Heute forscht und informiert das NSDokumentationszentrum über die Nazizeit in Köln und ihre Opfer. Wie viele andere hat auch mich der Besuch hier verwandelt. Ich war erstaunt, wie vertraut die Studenten aus dem Rheinland mit ihrer Geschichte sind. Jeden Tag können sie das EL-DE-Haus besuchen. Ein Haus, in dem die Gefängniszellen im Keller immer noch im Originalzustand sind. Hier hatten Tausende Häftlinge ihre härtesten Stunden verbracht im Angesicht eines ungerechten und willkürlichen Schicksals, das in vielen Fällen den Tod bedeutete. Diesen Stunden aber setzten sie ein Denkmal: Mehr als 1.800 Inschriften und Zeichnungen an den Zementwänden von dieser Handvoll Zellen wurden konserviert. Es ist wie bewegende Lebenskraft, die sich am Geist dieser vermeintlich zum Schweigen In Kooperation mit R i t a Mc B r i d e Arena, 1997 © R i t a Mc B r i d e / VG B i l d - Ku n st , B o n n 2 01 6 Fot o / P h ot o : Pa b l o M a s o n , 2 014 gebrachten Reisenden Europas entzündet, den Homosexuellen, den Freidenkern, den Juden und all den anderen, die unerwünscht waren. Ihre Zeichnungen und Texte sind bewahrt, verteidigt und im wahrsten Sinne veröffentlicht im EL-DE-Haus. Ob mit Bleistift, Draht, Kreide oder Lippenstift, all diese Spontankünstler und -dichter schrieben mit an der dunklen Geschichte einer kollektiven internationalen Erfahrung. Sie fügt sich ein in die vielen Schichtungen unserer Stadt, die überlebt hat – und die Selbstverständlichkeit eines unbezwingbaren Geistes gemeinschaftlicher Menschlichkeit lebt. Es wird langsam dunkel draußen, junge Leute versammeln sich im sanften Abendlicht in den Straßen. Unser Spaziergang in der Gegenwart ist zu Ende. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen und über die Zukunft zu schreiben. FOTOS: MARTIN LEBIODA ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT DIE ÜBERSETZUNG VON MARK VON SCHLEGELLS SCIENCE-FICTION-ROMAN VENUSIA IST GERADE BEI MATTHES & SEITZ ERSCHIENEN Der fremde Nabi Félix Vallotton DIE WEISSE UND DIE SCHWARZE 1913, Öl auf Leinwand, 114 × 147 cm Vor 20 Jahren trifft der englische Schriftsteller Julian Barnes das erste Mal auf ein Gemälde von FÉLIX VALLOTTON. Es heißt Die Lüge und wird zum Beginn einer Love Affair, die in der Londoner Royal Academy ihr Happy End erleben wird. Dort kuratiert Barnes 2018 seine erste Ausstellung, eine Retrospektive von Vallotton. Seine Liebeserklärung an den Maler lesen Sie schon jetzt SELBSTPORTRÄT 1897, Öl auf Karton, 59 × 48 cm D ie Schwestern Cone aus Baltimore, Dr. Claribel und Miss Etta, erbten um 1900 ein mit Baumwolle, Jeansstoff und Matratzenüberzügen erworbenes Vermögen. Sie beschlossen, es für Kunst auszugeben. Während der nächsten Jahrzehnte kauften sie vor allem in Paris ein und trugen dank ihres guten Geschmacks und der Hilfe von Experten – darunter Leo und Gertrude Stein – eine große Matisse-Sammlung zusammen, dazu kamen Werke von Picasso, Cézanne, van Gogh, Seurat und Gauguin. Bevor Dr. Claribel 1929 starb, setzte sie eines der manipulativsten Testamente der Kunstgeschichte auf. Ihr Teil der Sammlung sollte zunächst an ihre Schwester gehen, doch nach deren Tod, so lautete Dr. Claribels „Vorschlag“, den sie „nicht als Anweisung oder Verpflichtung“ verstanden sehen wollte, sollte die Sammlung an das örtliche Museum of Art gehen, „für den Fall, dass sich in Baltimore die Einstellung moderner Kunst gegenüber verbessern sollte“. Diese wunderbare Herausforderung einer Sterbenden an eine Stadt war gekoppelt mit dem Vorschlag oder der Drohung, dass die Sammlung anderenfalls ans Metropolitan Museum in New York gehen würde. Während der nächsten zwanzig Jahre bis zum Tod von Miss Etta 1949 machte das Metropolitan natürlich allerlei Avancen, doch das kleine Baltimore ließ sich den Schneid nicht abkaufen, sondern stellte seine Tauglichkeit und Modernität unter Beweis. Die Cone Collection ist heute der Hauptgrund, warum sich ein Besuch des Baltimore Museum of Art auf dem Campus der Johns Hopkins University lohnt. Als ich Mitte der 90er-Jahre dort ein Semester lang unterrichtete, besuchte ich zwischen den Lehrveranstaltungen das Museum. Zuerst beschäftigten mich Matisse und die anderen großen Namen, doch am getreulichsten fand ich mich im Laufe der Wochen vor einem kleinen, kraftvollen Ölgemälde des Schweizers Félix Vallotton mit dem Titel Die Lüge ein. Zur Sammlung gehörte ein weiterer Vallotton, ein Porträt der massig dräuenden Gertrude Stein (1907), das Vuillard in Anspielung auf ein berühmtes Ingres-Gemälde „Madame Bertin“ nannte und das zweifellos ihr öffentliches Bild geprägt hätte, hätte sich Picasso des Sujets nicht bereits im Vorjahr bemächtigt. Ich aber stand im Bann der Lüge; es entstand 1898, 30 Jahre später kaufte es Etta Cone bei Félix’ Bruder, dem Kunsthändler Paul Vallotton, in Lausanne. Es kostete 800 Schweizer Franken, ein Pappenstiel angesichts der 20.000 Franken, für die sie am selben Tag beim selben Händler ein Degas-Pastell kaufte. Eine meiner Studentinnen hatte eine Erzählung eingereicht, in der es um eine geheimnisvolle Lüge ging, weshalb ich meinen Studenten das Vallotton-Bild beschrieb. Ein Mann und eine Frau sitzen in einem Interieur des späten 19. Jahrhunderts: im Hintergrund eine gelb-rosa gestreifte Tapete, im Vordergrund flächig gemalte Möbel in verschiedenen Rotschattierungen. Das Paar sitzt eng umschlungen auf dem Sofa, ihre satt scharlachroten Kurven zwischen seine schwarzen Hosenbeine gebettet. Sie flüstert ihm ins Ohr, seine Augen sind geschlossen. Offensichtlich ist die Frau die Lügnerin, was bestätigt wird durch das selbstgefällige Lächeln des Mannes und die Munterkeit, mit welcher der Ahnungslose seinen linken Fuß abspreizt. Unklar ist nur, was ihm vorgelogen wird. Ist es die alte Leier „Ich liebe dich“? Oder angesichts ihrer schwellenden Formen der andere Klassiker, „Selbstverständlich ist es dein Kind“? REVUE 32 DIE LÜGE 1898, Öl auf Karton, 24 × 33 cm In meiner nächsten Stunde meldeten sich verschiedene Studentinnen und Studenten zu Wort. So teilte mir die kanadische Romanautorin Kate Sterns höflich mit, ich liege völlig falsch. Es sei offensichtlich, dass der Mann der Lügner sei, was bestätigt werde durch die Selbstgefälligkeit seines Lächelns und den munter abgespreizten Fuß. Seine Haltung strotze vor verlogener Selbstzufriedenheit, die Haltung der Frau hingegen sei diejenige einer fügsam hinters Licht Geführten. Unklar sei nur, was ihr vorgelogen werde. Wenn nicht „Ich liebe dich“, dann vielleicht jener andere männliche Dauerbrenner: „Selbstverständlich heirate ich dich“. Andere Studentinnen und Studenten sahen es noch anders. Ein raffinierter Vorschlag lautete, der Titel beziehe sich nicht auf eine bestimmte Unwahrheit, sondern etwas Allgemeineres: die unvermeidliche Lüge gesellschaftlicher Konventionen, die einen ehrlichen Umgang der Geschlechter miteinander unmöglich mache. Als Bestätigung dieser Idee könnte man Vallottons Verwendung der Farben sehen: Links beim Paar kontrastieren die Farben heftig, rechts verschmilzt ein roter Sessel mühelos mit einem roten Tischtuch. Möbelstücke können miteinander harmonieren, ließe sich daraus folgern, Menschen nicht. W ie seine Landsleute, der Maler Liotard, der Architekt Le Corbusier und der Filmemacher Godard, machte Vallotton dieses typisch Schweizerische: der übrigen Welt wie ein Franzose zu erscheinen; ja, er ging noch einen Schritt weiter und nahm, nachdem er 1899 in die Pariser Kunsthändlerfamilie Bernheim eingeheiratet hatte, im folgenden Jahr die französische Staatsbürgerschaft an. Er gehörte zur Künstlergruppe der Nabis und war sein Leben lang mit Vuillard befreundet. In Großbritannien ist er deswegen kein bisschen bekannter. In Baltimore ist mir sein Name zum ersten Mal aufgefallen; und englische Galeriebesucher brauchen sich nicht zu schämen, wenn ihnen der Name Vallotton nichts sagt. Schämen sollten sich eher die Kunsteinkäufer unseres Landes. In Großbritannien ist er nicht so sehr der „vergessene Nabi“ als vielmehr der „unbekannte Nabi“. Seine Gemälde sind in unserem Land noch nie öffentlich ausgestellt worden; 1976 gab es immerhin eine Arts-Council-Wanderausstellung seiner Holzschnitte. Eine Anfrage bei der Fondation Félix Vallotton ergab, dass in Großbritannien ein einziges seiner Gemälde in öffentlichem Besitz ist, nämlich Alte Landstraße bei Saint-Paul (Route à Saint-Paul, REVUE 33 FRAU, SICH FRISIEREND 1900, Öl auf Leinwand, 61 × 80 cm 1922). Es gehört nur deshalb der Tate Gallery, weil es ihr von Paul nach dem Tod seines Bruders gestiftet wurde. Seit 1993 ist es weder ausgestellt noch ausgeliehen worden. Die meisten von Vallottons Werken sind im Besitz von Museen großer Schweizer Städte sowie des Musée d’Orsay; anderswo sieht man kaum je mehr als zwei nebeneinander hängen. Viele seiner Werke, darunter einige seiner besten, sind in Privatbesitz und tauchen nicht einmal auf Einladung mächtiger Kuratoren auf. Vallotton ist oft unterschätzt, ja von oben herab behandelt worden: So bezeichnete ihn Gertrude Stein als „Manet für die Mittellosen“. Es gibt aber einen weiteren Grund dafür, dass er häufig unbeachtet bleibt. Sein Ausstoß war groß und mehr als bei jedem anderen Maler reicht seine Bandbreite von höchster Qualität zu äußerster Schrecklichkeit. Im Musée des Beaux-Arts in Vallotton ist oft unterschätzt worden. Gertrude Stein bezeichnete ihn als „Manet für die Mittellosen“ Rouen beispielsweise hängen zwei Vallottons in einem ziemlich schäbigen und vollgestopften Korridor. Das eine Gemälde zeigt ein Bild aus dem Zuschauerraum eines Theaters: Neun winzige schwärzliche Köpfe lugen über die Brüstung, bloße Pünktchen verglichen mit dem üppigen Schwung des cremefarbenen Balkons, auf dem sie sitzen. Das hat nichts gemein mit dem unruhigen Impressionismus, dem bewegten Licht und Goldflimmern in den Theaterbildern eines Degas oder Sickert beispielsweise. Es ist kraftvoll, doch in kargen Tönen gehalten, eine starke Darstellung des bei aller Nähe isolierten Lebens in modernen Städten. An der gegenüberliegenden Wand des Korridors allerdings hängt ein Akt von solch atemberaubender Scheußlichkeit, dass man sich den Namen des Künstlers, hätte man ihn zuerst erblickt, nur deshalb merken würde, um ihm künftig unbedingt aus dem Weg zu gehen. Ein Schweizer Freund fragte mich denn auch einmal wehmütig: „Hast du je einen guten Akt von Vallotton gesehen?“ ls ich zum ersten Mal eine reine Vallotton-Ausstellung besuchte, 2007 im Kunsthaus Zürich, war meine erste Reaktion Erleichterung: Er war ein noch besserer Künstler und die Bandbreite seiner Sujets entschieden größer, als ich angenommen hatte. Und auch wenn er eine Französin geheiratet und die französische Staatsbürgerschaft angenommen, seine Sommer in Étretat und Honfleur verbracht und bei den Parisern als der „fremde Nabi“ gegolten hatte – ein französischer Künstler war er mitnichten; eher ein Unabhängiger, der schlecht in die Entwicklungsgeschichte der Malerei passt. Nach einer Hollandreise 1888 schrieb er an den befreundeten französischen Maler Charles Maurin: „Mein Hass auf die italienische Malerei ist gewachsen, auch derjenige auf unsere französische … Es lebe der Norden! Auf Italien ist geschissen.“ Auch wenn er ein engagierter Nabi war und das moderne Leben und das Alltagsgeschehen in Städten malte, zog es Vallotton zum Erzählerischen und zur Allegorie, zu klar Umrissenem und Nordischem, nach Deutschland und Skandinavien; und zu einem ungekünstelten Stil, der zuweilen Hopper vorweg- A REVUE 35 Kakao“, schrieb er nach Hause. Im Laufe der 1890er-Jahre wurde er langsam aber sicher bekannt dank seiner Karikaturen und satirischen Holzschnitte; er war Mitarbeiter der Revue blanche und künstlerischer Leiter der Revue franco-américaine, einer von Prinz Poniatowski finanzierten Luxuszeitschrift, die nach drei Ausgaben einging. Er wurde offiziell zu einem Nabi, indem er 1893 an deren dritter Gruppenausstellung teilnahm. Vuillard hatte er ein paar Jahre zuvor kennengelernt; er kannte Mallarmé und den Schriftsteller Jules Renard, der im April 1894 in sein Tagebuch schrieb: „Vallotton, sanft, direkt und distinguiert; das glatte Haar säuberlich gescheitelt; nüchterne Gestik, unkomplizierte Theorien, alles, was er sagt, hat einen egoistischen Beigeschmack.“ Er war Anfang 30, selbstgenügsam, und es ging aufwärts mit ihm. Und dann, 1899, schreibt ihm Vuillard: „Wie ich höre, hat sich Revolutionäres ereignet.“ Allerdings: Vallotton hatte bekannt gegeben, Gabrielle Rodrigues-Henriques, Tochter des Kunsthändlers Alexandre Bernheim, heiraten zu wollen. Er kannte sie seit vier Jahren; die Ehe schien auf Liebe und gesundem Menschenverstand zu gründen. Vallotton, der nie zu Gefühlsüberschwang neigte, erklärte seinem Bruder Paul: „Sie ist eine Frau von vortrefflicher Güte, mit der ich mich sehr gut verstehen werde“; alles werde „sehr vernünftig“ sein; und die Familie Bernheim sei „sehr ehrenwert und reich“. Gabrielle war 35, er AKT 1912, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm 33, sie war die Witwe eines Mannes, der sich umgebracht hatte und von dem sie drei Kinder zwischen 15 und 7 hatte – „die ich lieben werde“, wie Vallotton seinem Bruder (und sich selbst) nimmt (der Vallotton-Werke gesehen haben könnte anlässlich seines versicherte. Das war in der Tat revolutionär: Heirat; Stiefvaterschaft; ein Wechsel von der Rive Gauche zur Rive Droite, von der Paris-Aufenthalts 1906/07). Er war auch politischer, satirischer, hatte einen größeren Hass auf Autoritäten. Zu seinem symbolträch- Rue Jacob in die Rue de Milan; von Unabhängigkeit, Unsicherheit und einer Vorliebe für Anarchismus zu bourgeoiser Bequemlichtigsten Akt der Solidarität mit seinen französischen Kollegen kam keit. Gleichzeitig gab er auch seine journalistische Laufbahn auf es, als ihm, Bonnard und Vuillard gleichzeitig die Légion d’honneur und machte kaum noch Holzschnitte. Von der Jahrhundertwende angeboten wurde. Alle drei lehnten sie ab. om Temperament her wirkte er in seiner Frühzeit französisch an würde er sich ganz der Malerei und der Ehe widmen. Wie sollte da noch etwas schiefgehen? oder jedenfalls ziemlich französisch: „umgänglich, entJa, wie? Am 24. April 1901 dinierte der 29-jährige Paul Léautaud spannt und zufrieden“, in Paris zu sein. Er hatte natürlich bei Paul Valéry, wo Odilon Redon als Ehrengast geladen war. Der ein Modell als Maitresse, Hélène Chatenay, genannt „la petite“, die, Maler ließ sich des Längeren über Rebberge im Bordeauxgebiet aus natürlich, eine Näherin war. Er scheint mit dem Gedanken gespielt und machte dann einen überraschenden Sprung: „Gerüchte über zu haben, sie zu heiraten, wovon ihm Maurin aber abriet mit Vallotton, der vor Kurzem eine sehr reiche Witwe geheiratet hat. Er den Worten: „Freunde von mir waren davor dermaßen nett – und komme nicht mehr zum Arbeiten, weil er ständig Besuche abstatdanach dermaßen übellaunig.“ Dank der Porträtmalerei konnte er seine Rechnungen bezahlen; er wurde aber auch von seiner Familie ten oder empfangen müsse.“ Valéry und Redon waren verheiratet (und ihre Frauen anwefinanziell unterstützt. Sein Bruder Paul, der zu diesem Zeitpunkt send), weshalb vielleicht auch etwas Selbstgefälligkeit im Spiel war: noch nicht mit Kunst handelte, war im Bereich der Schokolade-, „Wir schaffen es, verheiratet zu sein und dennoch künstlerisch zu Kakao- und Nugatfabrikation tätig, und Félix musste jeweils arbeiten – er nicht.“ Wie so viele Gerüchte traf auch dieses nur in Paris mögliche Verkaufsstellen ausfindig machen. „Schick bitte V REVUE 36 teilweise zu. Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts waren gut für Vallottons Kunst; in dieser Periode entstanden die zärtlichsten Bilder, die er je malte, alle von seiner neuen Ehefrau: Gabrielle im Morgenmantel, im Schlafzimmer, beim Nähen, Stricken, Säumen, Stöbern in einem Schrank, Klavierspielen, Gabrielle, wie sie vor einer Flucht von Zimmern steht, die direkt ins Glück hineinzuführen scheinen. Dies war zweifellos eine liebevolle Beziehung. Es war aber auch eine bürgerliche Ehe. Dem Beruf ihres Vaters zum Trotz interessierte sich Gabrielle nicht sonderlich für die Arbeit ihres Mannes; und Félix stellte fest, dass er die Geldsorgen eines Bohemiens gegen die finanziellen Sorgen eines Bourgeois’ eingetauscht hatte. Zwischen 1895 und 1905 sank sein Einkommen. Außerdem vertrug sich das Luxusleben, das er mittlerweile führte, nicht mit seinem Temperament. Im Dezember 1905 schrieb er seinem Bruder aus Nizza: „Wir leben in einer prächtigen Villa, umgeben von Palmen und Orangenbäumen. Ich fühle mich hier nicht wohl. Ich wäre lieber in einer Hütte auf dem Land.“ Obschon Félix Vallotton den Kontakt zu Hélène Chatenay aufrecht hielt, verbot es die bürgerliche Etikette, dass Bonnard die Vallottons besuchte, wenn seine petite, Marthe de Méligny, mit von der Partie war. iniges davon war seltsamerweise (oder nicht seltsamerweise) vorweggenommen worden in Werken, die Vallotton unmittelbar vor seiner Hochzeit geschaffen hatte. Die Rede ist von der zwischen 1897 und 1899 entstandenen Serie der Intimitäten, zu denen Die Lüge gehört. Sie stammen aus seiner Nabi-nächsten Periode: Kompositionen in Farbblöcken, schwelgerisches Gegeneinandersetzen von Farbtönen, eine Vorliebe für Innenräume und eher düstere Lichtverhältnisse. Doch während für Vuillard und Bonnard die Farben und deren Harmonien das Wichtigste, die Bewohner ihrer Interieurs aber eher willig mitspielende Schemen als Menschen waren, interessierte Vallotton immer, was zwischen den von ihm dargestellten Personen geschah. Seine Figuren haben ein Leben jenseits der Farben, mit denen sie gemalt sind; sie bergen (und verbergen) Geschichten. Auf Erwartung hält ein Mann in einem braunen Anzug, halb getarnt von schweren braunen Vorhängen, durch eine Spitzengardine Ausschau, vermutlich in Erwartung einer Frau. Aber ist er von schüchterner Hoffnung erfüllt oder getrieben von bedrohlicher Geilheit? Auf dem Bild Der Besuch begrüßt ein anderer Mann (oder vielleicht derselbe) eine Frau in einem violetten Mantel, und die Kraftlinien des Bildes ziehen einen unweigerlich zur offenen Schlafzimmertür links hinten. Doch wer hat hier das Sagen? Interieur mit rotem Sessel und Figuren zeigt die Nachwirkungen eines Streits: eine sitzende Frau, das Kinn auf eine Hand gestützt, ein stehender Mann, dessen schwarzer Schatten auf ihren Rock fällt wie ein unheimlicher sexueller Fleck. Auf anderen Bildern stecken Paare die Köpfe zusammen oder umarmen sich im Halbdunkel; sogar die Möbel scheinen verschwörerisch mitbeteiligt zu sein an dem, was da geschieht. Es sind Bilder der Angst, der Unzufriedenheit, des Konflikts. Es sind rätselhafte Erzählungen vom sexuellen Leben: Selten ist klar, wer dominiert, wer bezahlt und in welcher Währung. Man hat die Bilder als „gewalttätige Interieurs“ bezeichnet, was vielleicht überinterpretiert ist; doch auf jeden Fall geht es um eine tiefe Dissonanz der Gefühle. Ungefähr zur selben Zeit machte Vallotton eine Serie von Holzschnitten, die ebenfalls Intimitäten heißt, wobei nur eine Szene direkt wiederholt wird: Die Lüge. Die Holzschnitte sind satirisch schärfere – und rascher lesbare – Darstellungen eines Kriegs der Gefühle. Der Triumph zeigt eine unbarmherzige Frau, die einen Mann zum Weinen bringt; Ausgangsvorbereitungen einen fürchterlich gelangweilten Mann, der wartet, während seine Frau sich zurechtmacht und herausputzt; Extreme Maßnahme einen Streit beim Abendessen: Die Frau steht abgewandt, das Gesicht in einer Serviette vergraben, der Mann erhebt sich schuldbewusst, um sie zu besänftigen. Auf dem stärksten der Serie, Das Geld, blickt am linken Rand des Bilds ein Paar von einem Balkon; der schwarz gekleidete Mann erklärt der weiß gekleideten Frau etwas. Was sie nicht sehen kann, aber wir, ist, was hinter dem Mann ist: nichts als Schwarz, das zwei Drittel des Bildes bedeckt und vom Körper des Mannes Besitz ergreift, sodass E REVUE 37 GABRIELLE VALLOTTON AN IHREM FRISIERTISCH 1899, Tempera auf Karton, 58 × 78 cm PORTRÄT VON MADAME RODRIGUES-VALLOTTON 1902, Öl auf Karton auf Tafel, 45 × 65 cm ein Fluch auf ihm, und, falls ja, wie könnte er weitere Todesfälle vermeiden? Auch dieser Roman ist ein organisiertes Rätsel. Vallotton war zu vernünftig, um zu glauben, dass ein Fluch auf ihm laste. Aber die Lösung, die er dank Gabrielle gefunden zu haben schien – ein Leben erfüllt von Malerei, einer verständnisvollen Gemahlin und der Liebe zu Stiefkindern –, erwies sich als illusorisch. Bei Tisch, Lichtwirkung (1899) zeigt als Silhouette die Rückenansicht eines (zweifellos schweizerischen) Mannes beim Abendbrot; rechts von ihm blickt Gabrielle in einem rosa Kleid über den Tisch „Mein Leben lang“, klagte Vallotton, „werde zu ihrem älteren Sohn Jacques, der an einer Frucht herumkaut, während direkt gegenüber ein kleines Mädchen mit großen Augen ich das Leben durch ein Fenster betrachtet, den Eindringling am Tisch anstarrt. In diesem Bild geht es nicht um die Harmonie von Texturen und Farben; es geht vielmehr um selbst aber nicht gelebt haben“ Farbgegensätze und Psychodynamik. Und es ist eine Vorhersage. Vallottons Beziehung zu seinen Stiefkindern ging rasch schief. „Ihre Doch in diesem Medium gelingt es Vallotton, subtil zwischen verschiedenen Stoffarten zu differenzieren; und auf dem beschränk- Spontaneität machte ihm Angst“, sagte ein Beobachter, und seine Briefe strotzen von Beschwerden. „Es wäre alles bestens, wenn nur ten Platz gelingen ihm dynamische Massenszenen: Demonstranten Jacques nicht so widerwärtig wäre.“ Jacques und sein Bruder seien flüchten vor angreifenden Polizisten; Regenschirme öffnen sich „zwei Vollidioten“ (auch Gertrude Stein erwähnte die „Gewalttätigallenthalben gegen einen Regenguss; grobschlächtige Polizisten keit seiner Stiefsöhne“). Doch der größte Quell der Feindseligkeit stürzen sich auf einen schmächtigen, poetischen Anarchisten. Diese erzählerischen Elemente erinnern daran, dass Vallotton auch war die Stieftochter. „Madeleine stolziert herum und strapaziert uns mit ihrer Selbstgefälligkeit, ihrer Dummheit und ihrer Herrschin anderer Hinsicht ein Künstler von Seltenheitswert war: Er hatte literarische Ambitionen. Wie viele Maler führte er Tagebuch. sucht.“ – „Sie tanzt Tango, schleppt Zufallsbekanntschaften an und hat an allem etwas auszusetzen.“ – „Sie verbringt ihre Zeit damit, Er war aber auch als Kunstkritiker tätig, schrieb acht Theaterstücke, von denen zwei kurz gespielt wurden, und drei Romane, von ihre Nägel zu lackieren und die Leiden anderer von oben herab zu betrachten.“ Im Jahr 1893 hatte der Maler Philippe-Charles Blache denen keiner zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Der beste davon, Das mörderische Leben, ist ein „gewalttätiges Interieur“, in dem Vallotton in einem Brief scherzhaft als „Monsieur Melancholiker“ es blutiger zugeht als in den Intimitäten. Es ist die an Poe erinnernde angesprochen und jetzt kam diese unterschwellige Melancholie Geschichte eines Juristen, der Kunstkritiker geworden ist und schon seines Temperaments zum Vorschein. Er war auch „überempfindlich als Kind festgestellt hat, dass seine bloße Anwesenheit für Menschen und knauserig“, was ihn nicht unbedingt zum Stiefvater prädestinierte. Zerrissen von ihren Loyalitätsgefühlen, wurde Gabrielle oft um ihn herum tödliche Folgen hat. Er ist dabei, als ein Jugendfreund in einen Fluss stürzt; als ein Graveur sich mit seinem Stichel krank. In seinen frühen Briefen ist von ihr oft als „ma bonne Gab“ die Rede, daraus wird jedoch bald „ma pauvre Gab“, und sticht und an Kupfervergiftung stirbt; als das Modell eines Künstdabei bleibt es dann. 1911 berichtet Félix seinem Bruder Paul lers gegen einen Ofen fällt und tödliche Verbrennungen erleidet. von seiner „anhaltenden Qual“: „Es ist niemand da, dem ich mich Wie beteiligt oder unschuldig ist er an dem, was passiert? Lastet nur noch dessen linke Hand und sein Gesicht übrig bleiben. Das, begreifen wir, ist das Geld, und so unerbittlich drängt es sich zwischen das Paar und in dessen Beziehung. All das wurde in Holz geschnitten, kurz bevor Vallotton seine „sehr reiche“ Witwe heiratete. In den Holzschnitten kommen seine Verspieltheit, sein Witz und sein scharfer und sardonischer Blick auf das Paris des Fin de Siècle am besten zur Geltung. Die Grafiken leben von starken Schwarz-Weiß-Kontrasten und sie sind klein (oft 17 × 22 cm). DER TRIUMPH (EHESTREIT) 1898, aus der Serie Intimitäten, Holzschnitt, 18 × 23 cm DAS GELD 1898, aus der Serie Intimitäten, Holzschnitt, 18 × 23 cm REVUE 38 DER BESUCH 1899, Gouache auf Karton, 56 × 87 cm anvertrauen könnte, und die Gedankenlosigkeit der Menschen um mich herum, die einzig für die sofortige Befriedigung ihrer Lüste leben, ist atemberaubend.“ 1918 schreibt er in sein Tagebuch: „Was hat der Mann nur so Schlimmes getan, dass er dieses schreckliche Wesen namens Frau als ‚Gefährtin‘ erdulden muss?“ Es ist, als sei Die Lüge wahr geworden. Er schreibt: „Mir graut vor diesem falschen Leben am Rande des richtigen, einem Leben, das ich nun seit 20 Jahren erdulde und an dem ich so heftig leide wie am ersten Tag.“ Während Vuillard zufrieden von sich sagen konnte: „Ich bin nie mehr als ein Zuschauer gewesen“, klagte Vallotton: „Mein Leben lang werde ich das Leben durch ein Fenster betrachtet, selbst aber nicht gelebt haben.“ Ihm blieb nur die Kunst. 1909 schreibt er in einem Brief an seine Gönnerin Hedy Hahnloser (die mit ihrem Mann Arthur in der Villa Flora in Winterthur lebte): „Ich glaube, charakteristisch für meine Kunst ist ein Bedürfnis nach Ausdruck durch Form, Silhouette, Linie und Volumen; Farbe ist ein Zusatz zur Betonung dessen, was wichtig ist, doch diesem immer untergeordnet. Ich bin ganz und gar kein Impressionist, obschon ich diese Kunstrichtung sehr bewundere, sondern vielmehr stolz darauf, ihrem starken Einfluss widerstanden zu haben. Ich habe eine Vorliebe für Synthesen; Subtilitäten der Nuancierung sind weder etwas, was ich anstrebe, noch was mir besonders liegt.“ D ies ist eine hellsichtige Selbsteinschätzung, die deutlich macht, wie weit entfernt von den anderen Nabis er ist, war und bleiben wird. 1920 stellte er fest, wie gut Bonnard und er sich nach wie vor verstanden, „obschon wir malerisch die extremsten Gegenpositionen einnehmen“. Vallotton war immer ein protestantischer Maler: Er war ein Vertreter von harter Arbeit, Kontrolle und der Bewältigung maltechnischer Schwierigkeiten; er hasste alles Gekünstelte, Virtuose und zufällig Geglückte in der Malerei. Die Kritiker sahen das im Wesentlichen ähnlich: Er sei ein „starker, nüchterner“ Maler; sein Werk verströme eine „hartnäckige Aufrichtigkeit“; es sei „konzentriert, schmucklos, von kühler Leidenschaftlichkeit“ und entbehre „jeglicher Anmut“. Man spürt schon, dass sich dieselben Kritiker auch gegen ihn wenden könnten. Was sie dann auch immer häufiger taten. Vallottons 15 letzte Lebensjahre von 1910 bis 1925 zeichnen sich auf der persönlichen Ebene aus durch zunehmende Isolation und Ernüchterung; er wird streitsüchtig und depressiv oder vielmehr „neurasthenisch“, wie das damals hieß; in seinen Tagebüchern ist von Selbstmordgedanken die Rede. Der Krieg entsetzt ihn, zugleich leidet er darunter, nichts tun zu können. Sogar der alles andere als militärische Vuillard trägt das Seine zum Krieg bei, indem er Brücken bewacht. In seinem Hass auf die Deutschen klingt Vallotton französischer als die Franzosen; zugleich widert ihn die REVUE 39 Außerdem hat er das Gefühl, die Mode wende sich gegen ihn. 1911 notiert er: „Kubismus ist der letzte Schrei und seine Entdecker interessieren sich vor lauter Stolz für nichts anderes mehr.“ 1916 klingt er fast schon paranoid: „Bilder von mir werden ausgestellt in Den Haag, Christiania, Basel und bald in Barcelona. Doch das nützt nichts. Die Kubisten, Futuristen, Matissisten und so weiter legen sich in Europa und in Nord- und Südamerika heftig ins Zeug mithilfe ihrer Vertreter, Händler und Vermittler. Schlau bereiten sie die Machtergreifung nach dem Krieg vor.“ r stellt auch fest, dass er preislich falschliegt: Es ist einfacher, ein Bild für 50.000 Francs zu verkaufen als eines für 500; die Sammler wollen entweder „neue Künstler für ’n Appel und ’n Ei oder Renoirs für 50.000 Francs – Künstler meines Niveaus haben das Nachsehen.“ Dabei hatte Vallotton an Hedy Hahnloser einst die weisen Sätze geschrieben: „Ein mittelmäßiges Bild ist immer zu teuer; ein gutes Bild kann für seinen Preis teuer sein; wohingegen ein sehr gutes nie zu teuer ist.“ Er malte und malte: Er malte, um geistig gesund zu bleiben, und malte deswegen wohl zu viel. Er stellte mehr und mehr Akte aus, welche den Kritikern immer mehr missfielen. Stur malte er weiter Akte und stellte diese aus. Andere Bereiche seines Schaffens wurden ungerechterweise übersehen. Er beherrschte die Kunst des Stilllebens – seine roten Paprikas sind überwältigend gut – und seine Landschaften sind erstaunlich und für viele Besucher einer Vallotton-Ausstellung jeweils die größte Überraschung. In jedem Jahrzehnt malte er Sonnenuntergänge – immer Sonnenuntergänge, nie Sonnenaufgänge. Das könnte man mit seinem FLUT BEI HOULGATE 1913, Öl auf Leinwand, 73 × 54 cm Temperament erklären – wären sie nicht so kühn Rechte Seite: RUMÄNIN IM ROTEN KLEID (LA ROUMAINE À LA ROBE ROUGE) 1925, Öl auf Leinwand, 105 × 81 cm und schwelgerisch, ja feurige Explosionen. Sonnenuntergang, Villerville (1917) hat mit seinen orangenen, violetten und schwarzen Farbbändern etwas geradezu „Verderbtheit“ der französischen Zivilisten an, ihr Alkoholismus und ihre Kleinlichkeit, die sexuelle Liederlichkeit der Frauen, deren Halluzinatorisches und ist nahe bei Munch. In den Landschaften bei Tageslicht zeigt sich seine eigene Ehemänner oder Liebhaber an der Front stehen. Das ändert sich auch unmittelbar nach dem Krieg nicht: Der Geist und die Werte Interpretation der idealisierenden Darstellung, wie man sie von Poussin und Rubens kennt. Poussin eliminierte Zufälle der Natur der Franzosen sind im Niedergang; überall sieht Vallotton Anzeichen moralischen Verfalls, der Inbegriff ist für ihn die „Massenonanie und ordnete mithilfe seiner Fantasie die Dinge so, dass sie seiner gewünschten Stilhöhe entsprachen. Doch Vallottons Ansicht nach von Tango-Teepartys“. Er hat kaum Freunde und die Beziehungen zu seiner Familie sind eingefroren. Seine Karriere steht still; manch- wurde Poussin von Rubens noch übertroffen: „Er ist meiner Meinung nach der größte Landschaftsmaler, weil er ein Gefühl für mal vergehen Monate ohne den Verkauf eines einzigen Bildes; Universalität hat. Seine Landschaften sind keine topografischen seine Werke kommen aus der Galerie zurück und verstellen den Zufälligkeiten, sondern Schauspiele der Natur.“ Aufgrund der Platz im Atelier; bei Auktionen werden sie zu Preisen verschleuBeschäftigung mit diesen beiden Meistern entwickelte Vallotton ab dert, die seinen Ruf beschädigen. 1916 veranlasst die Meldung, er 1909 sein Konzept der paysage composé, der „zusammengesetzten habe zur Herstellung eines Gemäldes auch Fotografien benutzt Landschaft“. Er ging hinaus in die Natur, machte Skizzen und (was zu diesem Zeitpunkt unter Malern gang und gäbe ist), SchweiNotizen, doch dann kehrte er in sein Atelier zurück und stellte ein zer Sammler dazu, seine Werke zurückzuschicken, da sie befürchBild aus Material von verschiedenen Schauplätzen zusammen: ein ten, sie verlieren an Wert. E REVUE 40 Als ich zum ersten Mal seine Akte sah, schienen sie das Vallotton’sche Gesetz zu beweisen: Je weniger Kleider eine Frau auf einem seiner Gemälde trägt, desto schlechter ist es neues, streng genommen nicht existierendes Stück Natur, das auf der Leinwand erst erschaffen wurde. In diesen Bildern leben gewisse Elemente des Nabismus weiter: die holzschnittartigen Formen und die starken Farbkontraste. Auch stiller Witz ist spürbar: Auf Der Teich (Honfleur) (1909) sind manche Teile impressionistisch gestaltet, andere scharf realistisch, wohingegen eine Fläche trüben, schwarzen Wassers sich bei längerem Hinsehen in einen unheimlichen Riesenplattfisch zu verwandeln scheint. Und auch wenn die Titel dieser späten Landschaftsbilder oft auf bestimmte Orte verweisen – Die Dordogne bei Carrenac oder Sandbänke an der Loire –, entziehen sich die Bilder einer exakten Festlegung. Es sind „Schauspiele der Natur“, doch sie haben auch etwas Dissonantes an sich; auf ihre eigene Weise sind auch sie „rätselhafte Erzählungen“ wie die Intimitäten. Und dann, es gibt kein Entkommen, sind da noch die Akte. „Hast du je einen guten Akt von Vallotton gesehen?“ Ja, ein paar wenige, meist frühe. Gesäßstudie (ca. 1884) ist ein Pobild von außerordentlichem Realismus, eine ebenso sorgfältige Darstellung menschlichen Fleisches wie irgendein entsprechendes Bild von Courbet oder Correggio. Auf Akt in Interieur (1890) sitzt eine traurig blickende Frau inmitten ihrer ausgezogenen Kleider auf dem Ateliersofa: Vermutlich war sie kein professionelles Modell, und ihre Verlegenheit ist offensichtlich. Das Bad am Sommerabend (1892/93), worauf sich Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Körperformen ausziehen und ins Wasser steigen, hat etwas ätherisch Interkulturelles an sich: teils japanisch stilisiert, teils skandinavisch-mythisch, teils eine Variation des alten Jung- brunnenmotivs. Als das Bild im Salon des Indépendants erstmals gezeigt wurde, erregte es Unmut; vor dem Bild stehend, sagte Henri Rousseau brüderlich zu dessen Urheber: „Na dann, Vallotton, gehen wir zusammen.“ Doch Vallotton ging immer seinen eigenen Weg und der führte zu immer größeren weiblichen Akten. Als ich zum ersten Mal eine Masse seiner Akte sah, schienen sie aufs Schauerlichste zu beweisen, was man als das Vallotton’sche Gesetz bezeichnen könnte: Je weniger Kleider eine Frau auf einem Vallotton-Gemälde trägt, desto schlechter ist es. Es gibt bezaubernde frühe Studien von Gabrielle im Morgenmantel und in einem Nachthemd; eine andere von einem Modell, das gerade das Unterhemd auszieht; auf der Kippe sind die Bilder von Frauen, bei deren Unterhemd – oh là là – die Träger bereits gefallen sind; und schließlich kommt the full monty oder vielmehr: the full Félix. Vallotton kam zu seinen Akten durch die Auseinandersetzung mit Ingres, was wieder einmal beweist, dass große Maler wie große Schriftsteller – man denke nur an Milton – einen schädlichen Einfluss haben können. (Vallotton wandelte sogar mehrere bekannte Ingres-Sujets – Das türkische Bad, Die Quelle und Roger befreit Angelica – auf so sinnlose, offensichtlich schlechtere Weise ab, dass man sich wundert, dass er je welche ausgestellt oder gar verkauft hat.) Doch Vallotton war abgesehen von allem anderen ein zutiefst seriöser, ja geradezu gläubiger Maler: manchmal witzig, aber nie trivial; seine Schwäche waren eher zu viel Überlegtheit und zu viel Kontrolle als Faulheit oder Schlampigkeit. Ich habe deshalb nach dem ersten Schreck versucht, seine Akte zu mögen oder wenigstens zu verstehen, was er damit wollte. Es gibt zwei Gruppen: Akte drinnen und Akte draußen; die Welt um sie herum ist immer leer. Das Sujet der einsamen nackten Frau, die, kontrastarm beleuchtet in einem modernen Raum, meist handlungsunfähig und isoliert wirkt, erinnert zwangsläufig daran, wie viel subtiler und komplexer es von Hopper umgesetzt werden sollte. Doch nicht darin liegt das Problem. Sondern erstens darin, dass die meisten dieser Nackten so entsetzlich leblos wirken: Sie verströmen so viel Atem und Feuer, als seien sie aus Plastilin geformt. Sie sind kein bisschen erotisch, bar jedes Gedankens, jedes Gefühls. Außerdem sind sie oft nicht in sich stimmig: Als hätte Vallotton die Idee der paysage composé auf Akte angewandt und nues composées geschaffen. Liegender Akt auf rotem Teppich (1909) sieht jedenfalls so aus, als hätte der Künstler einem Ingres-Hals den Kopf seiner eigenen Frau aufgesetzt und dann beide in den Körper eines Modells gesteckt: eine haarsträubende Zusammensetzung. Was bei Landschaften funktioniert, versagt beim menschlichen Körper. nd dann sind da die Akte draußen: Badende, die bis zum Knie oder Oberschenkel im Meer stehen; eine stämmige Europa, die sich von einem frisch vom Bauernhof stammenden Stier durchs seichte Wasser tragen lässt; eine moderne Andromeda mit blondem Bubikopf, deren Handgelenke an einen Felsen gebunden sind und deren Miene verrät, dass ihr das alles ach so ungelegen kommt; Perseus, der einen „Drachen“ erschlägt, U BEI TISCH, LICHTWIRKUNG 1899, Öl auf Karton, 57 × 90 cm REVUE 42 DIE KEUSCHE SUSANNA 1922, Öl auf Leinwand, 54 × 73 cm der allzu sehr dem Tier gleicht, das Vallotton als Vorlage gedient hatte, nämlich ein ausgestopftes Krokodil. Der Ernst und die hochfliegenden Absichten dieser mythologischen und allegorischen Darstellungen – die immer monumentaler geraten – lassen einen erst recht den Kopf schütteln angesichts der Ergebnisse. All das ist umso enttäuschender, als Vallotton anderswo bewiesen hatte, dass er Mythen auf brillante Weise aufzugreifen und ihnen einen neuen Dreh zu geben vermochte. Die keusche Susanna (1922) ist seine Version der alttestamentlichen Geschichte von Susanna und den beiden Alten: Aus dem Bad wird die rosa gepolsterte Sitzbank in einer noblen Bar oder einem Nachtklub, aus den Alten werden zwei aalglatte Geschäftsleute, auf deren Glatzen Glanzlichter tanzen, während sie mit ihrem Opfer verhandeln, das einen silbrigen Hut trägt. Das Bild ist kraftvoll und bedrohlich, aber auch rätselhaft: Denn das vermeintliche Opfer sieht, zumindest für meine Augen, nicht etwa ahnungslos, sondern berechnend aus. In der heutigen Zeit, scheint das Bild anzudeuten, könnte Susanna den Spieß umdrehen und die Alten erpressen. In der Züricher Ausstellung damals flüchtete ich mich also vor den Akten zur Lüge, die mich erneut überraschte, besonders nach diesen gewaltigen Zeppelinen aus Fleisch: Es war winzig, ja das kleinste Bild der Ausstellung (24 × 33 cm). Hätte man mich in den Jahren zwischen meiner Entdeckung des Bildes in Baltimore und der Wiederentdeckung in Zürich gefragt, wie groß es sei, ich hätte vermutlich das Vierfache seiner wirklichen Größe angegeben. Schon seltsam, was zeitlicher und örtlicher Abstand mit Bildern anstellen kann, die man bewundert und gut zu kennen glaubt. Ähnlich wie wenn man in das Haus zurückkehrt, in dem man als Kind gewesen war, und feststellt, wie anders dessen Proportionen tatsächlich waren und noch immer sind. Bei Gemälden hat man die kleinen größer und die großen kleiner in Erinnerung, als sie sind. Warum das so ist, weiß ich nicht, will es aber in seiner Rätselhaftigkeit belassen, denn diese passt zu Vallotton. AUS DEM ENGLISCHEN VON THOMAS BODMER REVUE 43 ENDLICH FARBE HIWA K D Hiwa K in seinem Berliner Studio, fotografiert von Fabian Schubert Auftaktseite: MY FATHER‘S COLOR PERIODS, 2014, VIDEOINSTALLATION EIN IRAKER UND SEINE KUNST ZWISCHEN ERINNERN UND VERGESSEN: HIWA K IST DER HOFFNUNGSTRÄGER DER NÄCHSTEN DOCUMENTA. VON HANNO HAUENSTEIN REVUE 46 ie Fensterfront des Ateliers erfüllt den Raum mit milchigem Tagesrestlicht. Der Nachmittag in Kreuzberg wirkt merkwürdig stehen geblieben. Hiwa K beginnt sich eine Zigarette zu drehen, setzt immer wieder an. Seine Unruhe ist nicht die vertraute Aufregung, wenn etwas Großes ansteht. Die Nervosität sitzt in den Knochen, scheint ins Mark übergegangen. Seine Augen aber schauen ruhig, seine langen Finger ziehen an dem Papier. „Kunst ist meine ganz persönliche Diagnose. Ich leide an ihren Symptomen“, sagt der 40-Jährige mit einer Stimme in hoher, aber sanfter Frequenz, in der seine über die Jahre gesammelten Akzente vibrieren wie die Geschmacksnerven bei einem eklektischen Essen. Der 1975 in Sulaymaniyah, einer kurdischen Stadt im Nordirak, geborene Künstler begeisterte auf der Biennale in Venedig im vergangenen Jahr und nimmt 2017 an der Documenta teil – in Griechenland. Der künstlerische Leiter des deutschen Kunstfestivals Adam Szymczyk hat sich entschieden, die Documenta an zwei Standorten zu zeigen – in Kassel und Athen. Athen – damit assoziieren wir auch: Zentrum der Wirtschaftskrise in Europa. Grexit. Eine Zwischenstation für tausende Geflüchtete an derzeit geschlossenen Außengrenzen. Wer wenn nicht einer wie Hiwa K ist in der Lage, an einem für die Kunst derart komplexen Schauplatz Spuren zu hinterlassen? Seine Stärke ist die Transformation, nicht die Provokation. Für Nazha and the Bell Project, für das er auf der Biennale in Venedig gefeiert wurde, verarbeitete er altes Kriegsmaterial zu einer 600 Kilo schweren Kirchenglocke. „Ich habe ja nur die Enden verbunden“, sagt er. Die Art, wie er den ersten Anflug von Hochmut reflexhaft herunterspielt, wirkt fast panisch. Geholfen haben ihm Nazha, ein kurdischer Eisenbrenner, der alte Waffen in Rohmaterial verwandelt, und eine 700 Jahre alte Handwerksgießerei bei Crema in Italien. Vor dem Hintergrund der Bedrohung kultureller Stätten wie Palmyra durch den „Islamischen Staat“ ließ Hiwa K die Glocke noch während des Gießens mit mesopotamischen und babylonischen statt mit traditionellen christlichen Mustern verzieren. THIS LEMON TASTES OF APPLE, 2011, VIDEO Mitte: COUNTRY GUITAR LESSONS, 2005 – 2015, VIDEO Unten: NAZHA AND THE BELL PROJECT, VIDEOINSTALLATION BIENNALE VENEDIG 2015 Im Studio fiept es eindringlich. Das Geräusch kommt von den altertümlichen Fernsehgeräten, die an der Hinterseite zwischen Regalen unverbundene Filmszenen in Schwarz-Weiß zeigen. Der Künstler hat die Apparate mit farbigen Folien beklebt. Mit der Arbeit My Father’s Color Period schaut er in eine technische Vergangenheit, die jedoch durch die Farbschichten etwas Futuristisches bekommt. Die Spannung zwischen dem Flimmern am Bildschirmrand und den leuchtenden Überzügen reißt einen Riss in die Matrix der Bilder, wie ein schroffer Beweis ihrer missglückten Aktualisierung. Hiwa K aber will nicht Altes mit Neuem versöhnen. Die Bildschirme erzählen vielmehr von einer Kindheitserinnerung, einer historischen Situation, deren multiple Sichtachsen er nachgebildet hat. My Father’s Color Period spielt im Jahr 1979 im kurdischen Irak, als es durch ein Gerücht auch für Hiwa Ks Familie eine Idee von Zukunft gab, die jedoch zur Enttäuschung wurde. Dem Gerücht nach wollte der Staatssender im Irak Farbfernsehen für alle einführen. Anders als in den arabischen Teilen des Landes hatten die marginalisierten Kurden damals noch keine Technik dafür. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung genießen Kurden im Irak erst seit jüngerer Zeit einen vergleichsweise unabhängigen Status. Der Krieg gegen den „Islamischen Staat“ hat diese Freiheit jedoch heute wieder infrage gestellt. iwa Ks Vater, ein Kalligraf, beschließt, als das Farbfernsehen ein Traum bleibt, den Bildschirm mit farbigem Zellophan zu bespannen, eine Farbe für jede Woche. „Wir sahen alle möglichen Programme, Filme, Musikvideos, in Tönen von Blau, Pink, Grün oder Gelb.“ Mit der Zeit habe der Vater immer elaboriertere Techniken entwickelt, habe begonnen, den Bildschirm in Abschnitte zu unterteilen und jeden mit anderen Farben zu belegen. „Ich dachte ja, er sei schlicht verrückt geworden. Erst später erfuhr ich von einem Freund, dass er nicht der Einzige war, der so seltsame Filter konstruierte. Die ganze Stadt machte das!“ Neben der Installation im Atelier fällt ein dem Handwerk des Vaters, der Kalligrafie, nachempfundenes Bild ins Auge. Es H DIAGONAL, 2007, VIDEOINSTALLATION sind rhythmische Pinselstriche eines arabischen Schriftzugs. Übersetzt steht dort „Das Ende“. Ende der Apathie? Des Stillstands? Der Diskriminierung? Des Schwarz-Weiß? Das Bild ist nicht nur Anspielung auf die List des Vaters, es ist auch Ausdruck kollektiver Sehnsucht und leiser Auflehnung – Protest in einer Sprache, die nicht die eigene ist. ynischerweise, erinnert sich Hiwa K, fiel das Jahr 1980, als Farbfernsehen schließlich auch die Kurden im Irak erreichte, mit dem Beginn des Golfkriegs zusammen. „Plötzlich war alles in Farbe, alles. Es war wunderschön. Aber wir sahen nun immer zur Abendzeit das Programm Images of War, abgeschnittene Gliedmaßen und Opfer chemischer Waffen.“ Krieg, Sterben und Überleben, für Hiwa K sind das keine Topoi der Kunst sondern Erfahrungswerte. „Kunst ist nicht politisch, nur weil man sie mit Politik auflädt“, sagt er. Auf die unendlich vielen Z Das Jahr 2005 brachte die Wende. Hiwa K bewirbt sich an der Kunsthochschule Mainz, mit gefälschtem Portfolio, geliehenen Bildern von Freunden, als sei es ihm in Wirklichkeit darum gegangen, die vorherrschenden Wertmaßstäbe als falsches Bewusstsein zu entlarven. Und anstatt sich „KUNST IST NICHT brav in der Klasse einzufügen, verwandelt POLITISCH, NUR WEIL der wenige Jahre zuvor nach Deutschland Geflüchtete den Mainzer Universitätsflur MAN SIE MIT POLITIK in eine nahöstliche Skype-Kochklasse – AUFLÄDT“ Cooking with Mama. Leben wird Kunst, nicht umgekehrt. Mag diese Aktion entfernt an Rirkrit Tiravanija und seine Kochaktionen der auf Englisch pinky heißt. Oder: Er sei kein Intellektueller, sondern ein Extellektu- in den 90er-Jahren erinnern, so ist es genau diese Kunstszenenwelt, die Hiwa K eller, so etwas wie das nach außen gestülpte nicht interessiert. Anstatt die Chance Andere geradliniger Interpretation. Und zu ergreifen und zu Simon Starling an die entsprechend nennt er sich auch nicht Künstler, er nennt sich Geschichtenerzähler renommierte Frankfurter Städelschule zu wechseln, entscheidet Hiwa K, bei Friedeund ist doch zu einem der großen Hoffmann Hahn und den Studentenfreunden nungsträger der aktuellen Kunst in Berlin in Mainz zu bleiben. geworden. Künstler, die politische Botschaften zum Vorteil der Vermarktung verteilen, reagiert er allergisch. Lieber umkreist er die eigene Rolle. Er stelle Bezüge nicht mit dem Zeigefinger her, sondern mit dem kleinen Finger, REVUE 48 Dort trifft er auf den amerikanischen Exsoldaten und Mainzer Hochschulhausmeister Jim White und bringt ihm bei, wie man Countrygitarre spielt. Im Film With Jim White, Once Upon a Time in the West dokumentiert Hiwa K den Prozess, an dessen Ende der Exil-Iraker und der Exil-Amerikaner, zwei Erzählende eines geteilten Traumas, Spiel mir das Lied vom Tod performen. Im Frühjahr 2011, zu einer Zeit, als die Vehemenz des Arabischen Frühlings sich gerade erst abzeichnet, zeigt er sich auf einer Demo im Irak. This Lemon Tastes of Apple heißt die Filmarbeit, die den Einsatz von Reizgas gegen Aktivisten dokumentiert. Feuer, Blut. Zitronen gegen die Reizung der Augen und Atemwege. Bilder, die man kaum ansehen kann. Wegsehen gelingt aber auch nicht. Mittendrin der Künstler mit Harmonika. Und wieder spielt er die Mainzer Melodie: Spiel mir das Lied vom Tod. Das fahle Pathos des Eastwood’schen Spaghettiwesterns wird zum unheimlichen Subtext des authentischen Straßenkampfs. Der Künstler als subversiver Narr, als Demonstrant und ironischer Kommentator in einem. Irgendwo in seinem Assoziationsraum aus Bescheidenheit, Witz und Verpflichtung aufs Material verbergen sich fünf Jahre, die fehlen, über die der Künstler nicht sprechen will und kann. Irgendwann werde er sie in seiner Kunst wiederfinden, sagt er. Aber man merkt, dass sie ihn nicht loslassen, er nicht schweigen kann über sein Geheimnis. Es ist wie der Versuch, die Reaktionskreise eines auf seestiller Wasseroberfläche dahinspringenden Steins ihrem Ursprung zuzuordnen. Anstatt die Dunkelheit jener Jahre als Effekt ihrer Nichtmittelbarkeit stehen zu lassen, geht Hiwa K an diesem frühen Abend die Kreise ab, einen nach dem anderen. Er deutet auf die linke Studiowand. Dort ist die Silhouette einer Hauswand und eines Treppenaufgangs erkennbar, obendrauf ein Bett. Es ist ein Bleistiftumriss seiner Arbeit One Room Apartment – das Gebäude ist ein Emblem neuer Lebensformen nach der, wie er sagt, „Schocktherapie“ der Golfkriege. Hiwa K hat diese Reste eines Hauses im irakischen Teil Kurdistans nach dem Golfkrieg inmitten von Minenfeldern gesehen. Er hat sichtlich Spaß daran, zu erzählen. Erzählt vom dekorativen Kitsch des sozialistischen Realismus, der durch die Verbindung zu Sowjetrussland nach Irak geschwappt war, von seinem Bruch mit der Kunst, der Hinwendung zur Musik, als er Flamenco spielen lernte. Vom Foltergefängnis in seiner Heimatstadt und dem großartigen Gefühl, nach der Einnahme des Gefängnisses durch die Peshmerga im querliegend zerstörten Aussichtsturm stehen zu können. Und auch davon, auf der Flucht fast erschossen worden zu sein (dokumentiert in seinem Film Diagonal). azwischen liegen Jahre des Reisens. Jahre, in denen der Künstler unter Anleitung des Meisters Paco Peña die Flamencogitarre lernte. Jahre der Beschäftigung mit dem islamischen Erbe, antiker Philosophie, kolumbianischer Musik, jüdischer Literatur und europäischen Sprachen. Einflüsse durch die expressionistische Malerei eines Willem de Kooning D ONE ROOM APARTMENT, 2007, SKULPTUR REVUE 49 oder Georg Baselitz. Die Auseinandersetzung mit der abgründigen Zukunftsvision, wie sie Andrej Tarkowski in seinem Film Stalker erschuf. Wenn Hiwa K erzählt, blitzt etwas in seinen Augen – dieser Überfluss an Einfluss scheint ihn zu elektrisieren. Gemäß der Schreibrichtung semitischer Sprachen verschlang er damals den Kunstkanon von hinten nach vorn. Doch so wichtig wie das Lernen, das ist noch so eine Hiwa-Weisheit, sei die Distanz zu den Dingen. Er habe sich zum Beispiel bewusst dagegen entschieden, Spanisch zu lernen, denn mit dem Flamenco wollte er eine Affäre, keine Beziehung. „Die Affäre zeigt dir nie das ganze Bild. Du darfst nie am Vordereingang klopfen. Das macht die ganze Sache viel interessanter.“ DIE ERSTE SOLOAUSSTELLUNG VON HIWA K IN DEUTSCHLAND ERÖFFNET IN DER BERLINER GALERIE KOW IM RAHMEN DES GALLERY WEEKEND AM 29. APRIL SCHAU AUF MEINEN SCHATTEN Broken Window, Paris, 1978, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm ELLSWORTH KELLY TEXT: ULF ERDMANN ZIEGLER PORTRÄT: SEBASTIAN KIM Barns, Long Island, 1968, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm Ellsworth Kellys fotografisches Werk war nur Eingeweihten bekannt. Das sollte sich mit einer Ausstellung ändern, an der Kelly noch am Tag seines Todes arbeitete. Jetzt sind die Bilder in BLAU zu sehen E s stimmt, dass Äste krumm wachsen, weil sie genetisch so programmiert sind, und die meisten Dächer eine Neigung haben, weil Menschen finden, dass man damit ein Haus am besten schützt. Betrachtet man die schwarz-weißen Fotos von Ellsworth Kelly, zeichnet ein kahler Ast gegen einen fahlen Winterhimmel eine geheimnisvolle Kalligrafie. Das Dach einer Scheune auf Long Island aber sieht aus wie eine ganze Serie weißer Seiten: Writer’s Block. Das eine Bild spricht, das andere schweigt. Nur gelegentlich waren auf Ausstellungen die fotografischen Arbeiten dieses Malers zu sehen, der noch am Anfang stand, als er sich von französischen Freunden eine Leica lieh. Zurückgekehrt nach Amerika, spielte Kelly bereits in der A-Liga der Künste, als er sich seine erste eigene Kamera kaufte, Ende der 60er-Jahre. Die Schärfe und Luzidität seiner malerischen Arbeit geben Rätsel auf. Das gilt auch REVUE 52 für die farbigen Trapeze im Foyer des Paul-Löbe-Hauses in Berlin, das vom Kanzleramt aus am Abend wie eine Galerie für Ellsworth Kelly allein aussieht. Alle Werke Kellys beruhen auf hoch spezialisierten Beobachtungen, Wahrnehmungsspielen, Sehtricks. „Einmal, in Paris, lag ich unter einem Baum und schaute zu den Blättern hinauf. Ich habe ein Auge zugemacht und das Ganze sah aus wie eine Tapete, mit tausend Überschneidungen. Dann habe ich das andere Auge wieder geöffnet und es war ein Canyon, mit enormer Tiefe.“ Die Einäugigkeit der Fotografie hat Kelly, der auch ein Meister der Reflexion war, sich dann so erklärt: „Fotografie hat damit zu tun, dass man die dritte Dimension versucht zu verknappen auf zwei; aber die dritte bleibt in Erinnerung.“ Die Beziehung von Malern zur Fotografie ist recht gut erforscht, und manche waren der Lichtbildnerei näher als andere, zum Beispiel Bonnard, Munch oder Ernst Ludwig Sidewalk, New York City, 1970, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm Kirchner. Es mag drei Gründe gegeben haben, sich mit den technischen Hindernissen der Fotografie – sie sind Vergangenheit, gewiss – herumzuschlagen: das Festhalten von Motiven, die Registrierung des eigenen Werks, die Neugier gegenüber dem Verfahren. Ellsworth Kelly gehört zu den Motivsuchern, mit der Besonderheit allerdings, dass er nicht nach Fotografien gemalt hat. Einmal hat er es probiert und gleich wieder verworfen. Insofern suchte er nicht malerische Motive, sondern Belege dafür, dass die Urfragen des Sehens auch in der Fotografie dieselben sind. Dabei blieb er fotografischer Laie, zumal er keine Dunkelkammer hatte. Und von den kleinen Standardabzügen, die er anfangs in Frankreich zurückbekam, war er zu Recht enttäuscht. Die Negative waren eben doch mehr als flüchtige Notizen. Kelly wusste, wie zeitgenössische Fotografien aussehen – er war nicht die Spur naiv. Stilistisch gehören die meisten seiner Bilder zur konzentrierten, stillen, weltabgewandten Fotografie der 50er-Jahre, die in Europa den Beinamen „subjektiv“ bekommen hat. In diesem Sommer wird das Museum Folkwang das Werk des subtilsten Vertreters der Fotoform, Peter Keetman, wiederentdecken. Die Europäer jedoch, mit ihren Birkenstämmen in Nahsicht, gläsernen Wassertropfen und abgeblätterten Hauswänden wollten letztlich weg vom Gegenstand und hin zum Geistigen und ihre Sujets waren ihnen dabei Vehikel. elly, kühn als Maler und auch in seiner farbigen Grafik, blieb in seinen fotografischen Sujets dem Material verhaftet, der Funktion seiner Gegenstände und sogar dem Handwerk. Er kannte die morbiden Pariser Fotografien von Eugène Atget, aber auch die fast nach Meersalz riechenden Stillleben Edward Westons aus Kalifornien. Keinen Moment vergaß er, dass die Schwärze in einer Holzwand nur ein geöffnetes Scheunentor ist oder das Trapez auf dem New K REVUE 53 Yorker Bürgersteig eine jüngste Ausbesserung – Zement, mit dem Spachtel von Hand in Form gebracht. Er begriff sich als Teil dieser schöpferischen und taktilen Welt, deren puritanische Preziosen sein Partner Jack Shear in Spencertown, südlich von Neuengland, sammelte: die urtümlichen, kargen Möbel der Shaker. Sein Werk als bildender Künstler, anfangs noch kleinteilig, wurde dann immer einfacher, jedenfalls auf den ersten Blick. Es gibt von Kelly rote Keile und schwarze Bogen, die so elegant sind, dass man sie leicht für Architektur hält. Philosophisch gesehen wirft sein Werk die Frage auf, ob es besser sei, von der Theorie zur Erfahrung zu gelangen oder andersherum. Seine großen Montagen von Monochromien – Gelb, Rot, Blau – wecken durchaus die Vorstellung, er habe Theorie in Form übersetzt. Tatsächlich aber blieb Kelly ein akribischer Empiriker. Beach Cabana, Meschers, 1950, Silbergelatineprint, 32 × 22 cm Bricks, Meschers, 1950, Silbergelatineprint, 32 × 22 cm Wall, Majorca, 1967, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm In New York, nun Mitte der 50er-Jahre, hatte ihm jemand eine Kladde geschenkt, ein unbeschriebenes und unliniertes Heft. Er, Anfang 30, setzte sich an einem sonnigen Tag in den Bus und tuschte, sobald das Fahrzeug hielt, die Schatten der Fensterrahmung in Schwarz aufs Papier. Manchmal wurde das Papier fast völlig schwarz, mit kuriosen runden weißen Aussparungen in den Ecken: ein Vorrat von Schwüngen, Schwellungen und Bogen, den er hübsch für sich behielt, systematisierte, zitierte, ins Monumentale trieb. Erst vor wenigen Jahren erschien ein Faksimile der Kladde. ls ich das erste Mal bei ihm in Spencertown auftauchte, war ich zufällig auch Anfang 30. Ich weiß noch, wie er seine methodische Frage erläuterte und dabei mit dem Finger das Revers meines Jacketts nachzeichnete: Wie sieht ein Ding aus, wenn es „flach“ wird, also dargestellt, und was kann man aus der Verwandlung A schließen? Für einen Moment verdüsterte sich sein Blick und er schien wirklich vor einem Rätsel zu stehen – in der Form meines Revers’ – und ich begriff, dass für Kelly etwas bitterernst war, was vielen anderen Menschen auf dieser Erde als Lappalie erscheint. Geradezu allegorisch zeigt seine Biografie, wie man das Museum erobert. Kelly, noch in Paris, betrachtete das vertikale Fenster des Museum der Modernen Kunst, und zwar von außen. Er überlegte, wie man aus dem Fenster ein Bild machen könnte. Zunächst wurde es ein Relief. Während also das Relief entstand, fand er den adäquaten Ausdruck seiner ihm eigenen bohrenden Art des Schauens – und mit dem Relief des Fensters öffnete sich das Fenster des Museums. Er stieg ein wie ein Dieb. Nicht sofort, aber auch nicht so viel später, denn Kelly hatte sich den Umweg über die gestische Abstraktion gespart. Er dachte nie, dass es lohnen würde, sein eigenes Seelenspiel in einem Akt REVUE 56 künstlerischer Natürlichkeit auf der Leinwand niederzulegen. Er entging dem Sog des Abstrakten Expressionismus und kam schon fast als Hard-Edge-Maler aus Europa zurück, ein Außenseiter, aber von unglaublicher Beharrlichkeit und kaum zu fassender Produktivität. Lange hat sein Name nicht so sehr geleuchtet wie der von Jackson Pollock, Roy Lichtenstein oder Bruce Nauman. Dennoch, was die Insider lange geraunt hatten, schien zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gewissheit: Kelly war nicht nur A-Liga, sondern fand locker seinen Stuhl im Pantheon der Kunst Nordamerikas. Er hat lange genug gelebt, um die Glocken noch läuten zu hören. Leicht hat er es nicht gehabt, seinen eigenen Pfad zu finden. Sein Hintergrund war eher kleinbürgerlich und ängstlich. Allein der bombastische Vorname, der auf englische Nobilität verweist und keinen Kosenamen zulässt, stand einer Karriere als all-American boy entgegen, kein Bob, kein Group of Pine Branch and Shadow, Meschers, 1950, Silbergelatineprint, 23 × 32 cm Gus, kein Frank. Man muss sich den Namen Ellsworth etwas verblasen und unduldsam ausgesprochen denken, so wie in Woody Allens köstlichem Kurzfilm Oedipus Wrecks, wo die verstorbene Mutter im Himmel über New York allgegenwärtig erscheint und Sheldon Vorwürfe macht. Tatsächlich konnten sich Ellsworth Kellys Eltern an die Berufswahl ihres Sohnes nie gewöhnen, noch nicht einmal, als er bereits Teil der MoMA-Sammlung war. Kelly aber wurde sich der Besonderheit seiner Person bewusst und verwandelte sie in eine Besonderheit des Auftrags. Zum einen adelte er alles, was er fand, indem er es mit festem Strich locker festhielt: Gesichter, Blätter, Schatten. Zum anderen kühlte er den Gegenstand herunter zur reinen Form; betrieb also genau das, was das Verb „abstrahieren“ überhaupt meint. Seine bekanntesten Kunstwerke, äußerst elegant, haben etwas Forsches, Technisches, die Grenze zum Unpersönlichen überschreitend. Der Akt des Schaffens ermöglicht den Zugang zu einer universalen Sprache, ja, dieser wird geradezu erzwungen. iele bildende Künstler haben eine fotografische Phase und wenden sich dann wieder ab. So wurden die magischen Alltagsbeobachtungen des jungen Bildhauers Reiner Ruthenbeck erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung publiziert; Robert Rauschenbergs wüst geknipste Straßendetails aus New York und Boston wurden zwischen Buchdeckel gepresst, aber schon bald vergessen. Andere Künstler haben ihre Beziehung zur Fotografie zum Markenzeichen ihres Werks gemacht, vor allen anderen Gerhard Richter. Ellsworth Kelly war durchaus ambivalent, was seine Fotografien betraf. Nicht weil sie nicht gut genug gewesen wären, sondern umgekehrt: Man hätte sie als Schlüssel zu seinem Werk betrachten können. Tatsächlich V REVUE 57 spürt man beim Betrachten dieser Fotografien den metaphorischen Schub – heureka! Entdeckung, die umschlägt in Erkenntnis. Und so hat sich Kelly im letzten Jahr seines Lebens entschlossen, das fotografische Werk zusammen mit Jack Shear zu sichten, die Negative und die Kontaktbogen, und daraus eine Essenz zu destillieren. Anders als man vermuten möchte, wurden die Negative nicht gescannt, sondern einem Meisterprinter in Los Angeles zum Vergrößern gegeben: In der Silbergelatine sitzt das Licht! Diese Fotografien also beschließen das Vermächtnis eines monumentalen Werks, das Werk Ellsworth Kellys, der auf der musealen Trauerfeier in New York als einer der letzten happy modernists gefeiert wurde. ELLSWORTH KELLYS FOTOGRAFIEN SIND BIS ZUM 30. APRIL IN DER NEW YORKER MATTHEW MARKS GALLERY ZU SEHEN Barn, Taconic, 1974, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm Barn, Southampton, 1968, Silbergelatineprint, 22 × 33 cm Doorway, Belle-Ile-en-Mer, 1977, Silbergelatineprint, 33 × 22 cm REVUE 60 SCHICHT FÜR SCHICHT TEXT: SIMON ELSON PORTRÄT: LISA OHLWEILER REVUE 61 IM FRISEURSALON SEINER MUTTER BEGINNT MARK BRADFORD EIN NEUES KAPITEL MALEREIGESCHICHTE. 25 JAHRE SPÄTER IST ER SAMMLERUND KURATORENLIEBLING — UND GIBT DEN JUGENDLICHEN AUF DER SOUTH SIDE VON LOS ANGELES HOFFNUNG. MIT KUNST UND DEM GELD, DAS SICH DAMIT VERDIENEN LÄSST L os Angeles, die Stadt mit dem hellsten Himmel und den vollsten Straßen. Oberhalb des Flughafens führt der Highway No. 10 vom Strand des Pazifik quer durch die Stadt, schneidet sie in zwei Teile. Hier der reichere Norden, über dem das Getty Museum und der berühmte „Hollywood“-Schriftzug thronen, dort der ärmere Süden, der eigentlich immer nur dann im Scheinwerferlicht stand, wenn es um Rassenunruhen und Gangster-Rap ging. Den Ausbau der Highways brachte Präsident Eisenhower bereits 1956 auf den Weg, inspiriert auch von nazideutschen Autobahnen. – All das und mehr erfährt man, wenn man sich in Los Angeles auf die Spuren des Künstlers Mark Bradford setzt. Er zitiert diese politische Anekdote in seinem riesenhaften Gemälde Riding the Cut Vein aus dem Jahr 2013. Das aus Papierfetzen zusammengeklebte Bild wird durch eingearbeitete Stricke unordentlich gerastert. Die Struktur erinnert an eine Landkarte. Die Stadt auf der Karte aber breitet sich nicht ungehindert aus, ein glühend farbiger Schnitt lötet quer durch das Bild, so wie der Highway No. 10 den eher weißen Norden vom eher schwarzen Süden trennt, ein Gebiet, das durch den Fuck tha Police-Schlachtruf der Rapper von Niggaz Wit Attitude weltberühmt wurde. Bradford ist 31 Jahre alt, als 1992 in L. A. die Unruhen ausbrechen, nachdem Polizisten den Schwarzen Rodney King grundlos zusammengeschlagen haben. Er lebt in South Central, wie der Süden damals noch heißt, und kämpft seit Jugendtagen gegen Klischees an: Mark Bradford ist schwarz, aber er rappt nicht, er ist aus dem Süden der Stadt, aber er hat mit Drogen oder Waffen nichts zu tun, er ist zwei Meter groß, aber spielt nicht Basketball. Und er ist homosexuell. RIDING THE CUT VEIN, 2013, MIXED MEDIA AUF LEINWAND, 335 × 610 CM Auftaktseite: MARK BRADFORD IN SEINEM STUDIO IN LOS ANGELES PRESSIN‘ AGNES, 2002, ENDPAPERS FÜR DAUERWELLEN, ACRYL AUF WAND, 241 × 368 CM MARK BRADFORD, MITGRÜNDER DER STIFTUNG ART + PRACTICE, INSTALLIERT MIT WAISENKINDERN EINE WANDARBEIT 15 Jahre ist es her, dass der Künstler in Thelma Goldens Freestyle-Ausstellung in New York entdeckt wurde; sie wurde später auch in Los Angeles gezeigt. Inzwischen sind Bradfords Arbeiten in den Sammlungen des MoMA in New York, der Tate Modern in London, des Centre Pompidou in Paris; mehr als 30 Einzelausstellungen hatte er, viele in den USA, einige aber auch in Europa, Südamerika und China. Seit 2012 vertritt ihn die Galerie Hauser & Wirth. Im Eingang des neuen Privatmuseums von Eli Broad im egomanischen Downtown hängt sein drei Meter breites Scorched Earth von 2006, eine visuelle Meditation zur Auslöschung der „Black Wall Street“-Neighbourhood. Die schwarze Zivilbevölkerung in den Straßenzügen von Tulsa, Oklahoma, wurde in den 1920er-Jahren von der amerikanischen Regierung bombardiert. Wer ist dieser explizit politische Künstler, der sich ziemlich still zum Kunstmarktsuperstar entwickelt hat – 2015 brachten zwei Bilder von Bradford auf Auktionen je mehr als vier Millionen Dollar ein – und den man in Deutschland noch gar nicht richtig kennt? Der Weg nach South Los Angeles, wo auch heute noch Bradfords Studio ist, führt in ein heruntergekommenes Viertel. Selbst der immerblaue kalifornische Himmel kann hier nicht helfen. Schrottige Autos am Straßenrand, vermüllte Veranden – wie die Kulisse des Ballerfilms Boyz n the Hood aus den 90er-Jahren. Mark Bradford arbeitet unermüdlich daran, das Bild schwarzer Pop- und Unglückskultur zu verändern. In der ehemaligen Industriehalle seines Ateliers wirkt selbst der hoch aufgeschossene Künstler klein. Er ist gerade mitten in einem Fotoshooting, die Augen hinter der Brille funkeln. Nicht gerade alarmiert, aber achtsam beobachtet er den Ankömmling. In dieser Gegend will man wissen, wer hereinschneit. Immer noch. Dem heute 54-Jährigen sieht man sein Alter nicht an. Mit lässigen Armbewegungen bedeutet er, dass man sich umschauen dürfe, er sei gleich fertig. Was seine Mitarbeiter angeht, ist der Künstler so treu wie zum Süden der Stadt: Einige arbeiten schon seit fast zehn Jahren bei ihm. Jose Lopez, einer der Assistenten, führt durch die nach Ausstellungen in Los Angeles und New York leergefegte Halle; von der Decke hängt eine vorhangartige Skulptur aus Papierstreifen, die in meterlangen Bahnen an der Wand verleimt und dann einzeln abgezogen werden. Jetzt hat Bradford Zeit. Wir klettern auf braune Ledersofas, die seiner Körpergröße standhalten, umgeben von hohen Regalen, vollgepackt mit Büchern. Gegenüber an der Wand hängt eine historische Landkarte der USA. So kalifornisch gegenwärtig Bradford auch ist, so sehr geht es in seinen Arbeiten um Geschichte: seine Geschichte, die Geschichte der Afroamerikaner und die Geschichte der USA. Als Teenager habe ihm Science-Fiction die Augen für neue Wirklichkeiten geöffnet. Samuel R. Delanys Dhalgren zum Beispiel, eine phantasmagorische Geschichte der amerikanischen Stadt, der sexuellen Diversität, der Rassenkonflikte. ark Bradford erinnert sich noch gut an die Unruhen in L. A. von 1992. Damals hat er im Friseursalon seiner Mutter gearbeitet, in Leimert Park. Während draußen der Mob tobt, verhängen sie die Ladenfenster, benutzen den Hintereingang und frisieren stoisch weiter. Der Künstler ist damals noch ein Rückkehrer, er hat die Welt bereist, als Animiertänzer in europäischen Klubs gejobbt. Er geht auch damals viel aus und ist noch unentschieden, wohin er sein Leben lenken wird. Doch eines steht für ihn fest: Er wird nicht zu denen gehören, die hier verloren gehen. Das liegt auch an seiner Mutter Janice, seit den Sechzigern alleinerziehend und selbstständige Geschäftsfrau. Ein starkes Vorbild. 1990 hat er sich für Kunstkurse an der Universität eingeschrieben, bekommt ein Jahr später ein Stipendium fürs California Institute of the Arts (CalArts). Sein Studio richtet er direkt neben dem mütterlichen Friseursalon ein. Bradford redet viel von seiner Mutter, nimmt sie zu Vernissagen oder Preisverleihungen mit. „Sie hat dafür gesorgt, dass ein Universitätsabschluss für mich erstrebenswert, ja glamourös war, und nicht Drogen“, sagt er. „Der Gangsterrap machte die Bezeichnung ‚bitch‘ für Frauen schick, ich versuche einen ganz anderen Blick auf die Welt zu werfen“, sagt er und ärgert sich jetzt wahnsinnig über die Dokufiktion Straight Outta Compton. Der teils katastrophale Umgang der Rapszene mit Frauen werde unter den Tisch gekehrt. Den Frauen in seinem Leben hat er viel zu verdanken: Nicht nur seiner Mutter, nicht nur der Kuratorin Thelma Golden, sondern auch seiner ersten Sammlerin und jetzt engen Freundin Eileen Harris Norton und der Kritikerin Roberta Smith, die ihm M REVUE 63 2003 im Friseursalon den Kopf gewaschen haben soll. „Er ist momentan einer der wichtigsten amerikanischen Künstler und dabei ein exzellenter Geschäftsmann“, sagt seine Galeristin Susanne Vielmetter. „Und er lässt Worten Taten folgen.“ Damit spricht sie das soziale Projekt Art + Practice an, das Bradford 2014 zusammen mit Allan DiCastro und Eileen Harris Norton ins Leben gerufen hat. Nach 15 Autominuten ist man bei den Stiftungsgebäuden in Leimert Park, dort, wo früher der Friseursalon war und direkt daneben Bradfords erstes Atelier. Jetzt gehört Mark Bradford die halbe Straße. Hier werden Jugendliche und junge Erwachsene professionell umsorgt, die ihre Eltern verloren haben. Im Süden von L. A. gibt es, gemessen am nordamerikanischen Durchschnitt, überproportional viele Waisenkinder, ein krasses soziales Problem. Sie geraten auf die schiefe Bahn, enden im Gefängnis. Bradfords Stiftung hat Vorbilder, die Initiativen des Künstlers Theaster Gates in Chicago oder von Rick Lowe in Houston. Lowe sitzt auch im Stiftungsrat von Art + Practice. eben der sozialen Einrichtung entstehen zurzeit große Ausstellungsräume, ein Buchladen, ein Restaurant. Bevor Mark Bradford sich hier engagierte, hat es südlich des 10er-Highways keinen zugkräftigen Kunstraum, geschweige denn ein Museum gegeben. Jetzt stellt Bradford hier mithilfe des Hammer Museum wichtige Künstler aus, auch seinen früheren Lehrer Charles Gaines. Der Stadtteil erlebt also eine vorsichtige Gentrifizierung, auch wenn an der Kreuzung direkt vor der Stiftung noch eine Warntafel mahnt: „No Cruising“. Sie erinnert an die tödlichen Drive-by-Shootings vergangener Jahre. Und im Park gegenüber spielen keine beaufsichtigten Kinder, dort huschen zerlumpte Gestalten von Bank zu Bank. Trotzdem ist die Atmosphäre hier vergleichsweise friedlich, fast behütet. Wie wurde Mark Bradfords Erfolg möglich? Nach ersten kleinen Ausstellungen wird er 2001 von der Kuratorin Thelma Golden entdeckt, die eines Tages bei ihm im Salon auftaucht. Sie ist auf der Suche nach dem, was in ihrer Freestyle-Ausstellung kurz darauf als „Post-Blackness“ firmiert: schwarze Kunst, die Hautfarbe nicht als ideologischen Trumpf einsetzt, sie aber auch nicht verneinen will. Das Friseurhandwerk begegnet Golden dann auch in Bradfords Bildern, er arbeitet mit endpapers. Man braucht diese kleinen Papierschnipsel, wenn man dem besonders dichten Haar der Afroamerikaner eine Dauerwelle verpassen will, man legt sie um die Haarsträhne, bevor der Lockenwickler eingerollt wird. Für Connie Butler vom Hammer Museum ist Papier Bradfords wichtigstes Arbeitsmaterial. „Es wirkt bei ihm alles sehr brachial, aber am Ende arbeitet er sehr fragil, sehr fein. In meinen Augen ist er eher ein Zeichner!“ Eine heute leider übermalte Wandarbeit, die er 2002 für seine erste Galerieshow bei Susanne Vielmetter anfertigt, heißt Pressin’ Agnes. Im Titel steckt der Bezug zu Agnes Martin – Bradfords luzide, monochrome Wandmalerei wirkt, als habe er die ordnungssuchende Minimalästhetik der Konzeptkünstlerin gegen den Strich gebürstet. Martin habe von sich selbst behauptet, mit dem Rücken zur Welt zu malen, sagt Bradford. „In meiner Kunst aber darf es ruhig messy sein. Ich will eine Abstraktion, die nicht nach innen, sondern nach außen, ja nach draußen auf die Straße schaut!“ N LAZY MOUNTAIN (DETAIL), 2014, MIXED MEDIA AUF LEINWAND, 305 × 1.219 CM S päter verwendet er Plakate, die er bei seinen Streifzügen rund um sein altes Studio aufsammelt. Diese Poster, an Bauzäune und Maschendraht geklatscht, sind im wahrsten Wortsinne Armutszeugnisse, versprechen Alkoholikern Hilfe, bieten Hypotheken und Kredite an. Sie symbolisieren, so Bradford, wie es der Gegend gerade geht. Er verleimt das Papier in vielen Schichten auf einer Leinwand, bearbeitet es mit Farbe aus dem Baumarkt, fügt teilweise Stricke ein, um Muster zu erzeugen – und zum Schluss donnert er mit der Schleifmaschine drüber. Sein Pinsel ist die Schleifmaschine. Er arbeitet wie ein Bildhauer. Los Moscos von 2004, eines von Bradfords Hauptwerken, zitiert im Titel eine abfällige Slangbezeichnung für arbeitssuchende Migranten: los moscos – die Fliegen. Bradford sucht jetzt einen SMS-Dialog mit seinem Freund Allan DiCastro, in dem er eine Passage aus dem amerikanischen Klassiker Vom Winde verweht zitiert. Der Text beschreibt Rhett Butler, doch Bradford erkennt sich darin wieder. „That’s the social side of me“, sagt er. Es geht darum, dass Rhett Butler nicht aufhören kann, „dem Dünkel, der Heuchelei und der Vaterlandsliebe seiner Umgebung Nadelstiche“ zu versetzen, „so wenig, wie ein kleiner Junge es sich verkneifen kann, einen Luftballon anzustechen“. Diese Seite, beide Arbeiten: BELL TOWER, 2014, MIXED MEDIA, 793 × 914 CM Rechte Seite: SAMPLE 2, 2015, MIXED MEDIA AUF LEINWAND, 159 × 127 CM Ein heute als rassistisch geltendes Werk wie Vom Winde verweht auf sich selbst anzuwenden, den schwarzen Künstler, das macht Bradford sichtlich Spaß. Die Galeristin Susanne Vielmetter sagt, Bradford habe im Studium immer wieder behauptet, der Sohn von Charles Gaines zu sein, eine Ausnahmeerscheinung im weißen Kunstbetrieb. Die zynische Pointe: Meist glaubt man ihm. Damals herrscht das Vorurteil, die Schwarzen müssten ja irgendwie zusammengehören. Tatsächlich ist Bradfords Kunst ohne den Einfluss von Gaines kaum denkbar: In den Neunzigern ist Gaines ein erfolgreicher Künstler, unterrichtet seit vielen Jahren als Kunstprofessor in Kalifornien. Bradfords künstlerisches Credo basiert auf Gaines’ Kunst: Seine Abstraktion ist kein inhaltlich leeres Formenspiel, sie darf bedeuten, mehr noch, sie ist politisch. Wer aber am Beispiel Bradfords die Geschichte der ‚schwarzen‘ Kunst in Amerika erzählen möchte, sollte vorsichtig sein. Post-Blackness ist kein Schlachtruf, sondern eine Diversitätsmaschine, die Menschen wie ihm Freiraum verschafft hat. Jeder entscheidet selbst, wie er sich als Schwarzer im neuen Jahrtausend sehen will. „Black“? „African American“? Was heißt das überhaupt, soziale Identität? Für Bradford bedeutet die gesellschaftliche Entwicklung eine enorme Befreiung. Noch in den 80er-Jahren ist es lebensgefährlich, im Süden von L. A. schwarz und schwul sein. Wie also ist das heute, da die USA einen schwarzen Präsidenten haben? Ist nicht seit Martin Luther King und Rodney King viel getan worden? „Man kann das nur schwer verstehen. Aber das Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen in den USA ist nach wie vor höchst kompliziert. So wie in Deutschland der Zweite Weltkrieg und der Holocaust. Obwohl das natürlich ganz unterschiedliche Geschichten sind“, sagt er. Er empfinde seine Kunst als Befreiung, weil seine Hautfarbe hinter den Werken in Deckung gehen könne. Frantz Fanon hat das in seinem bahnbrechenden Buch Schwarze Haut, weiße Masken (zuerst 1952 auf Französisch) eindrücklich beschrieben: Der Weiße hat seine Masken, hinter denen er verschwindet. Der Schwarze hingegen wird durch die rassistische Markierung auf eine einzige Rolle festgelegt. Norden und Süden, Schwarze und Weiße, soziales Engagement und Sammlerliebling, das sind kleine Punkte auf einer schier unüberschaubaren Landkarte, die sich ständig verändert. Bevor man ins Flugzeug steigt, trifft man ein letztes Mal auf den Künstler, auf seine Skulptur Bell Tower von 2014. Im Kontrollbereich des Flughafens LAX hängt ein riesiges Jumbotron von der Decke, eine vor allem aus Stadien bekannte, von mehreren Seiten einsehbare Konstruktion aus großen Bildschirmen – aber hier als Attrappe, aus Sperrholz und Filmplakatresten zusammengeflickt. Die blinden Mattscheiben schweben über den Köpfen derer, die sich an ihren Pässen festklammern. Heute wird hier jeder irgendwie arabisch wirkende Mann ausgesondert und noch genauer untersucht, die Reisenden ringsum schauen ängstlich oder beschämt zu Boden. Dazu schlägt Bradfords schweigender Glockenturm perfekt – nämlich gar nicht. DAS CONTEMPORARY ART MUSEUM ST. LOUIS ZEIGT VOM 6. MAI BIS 14. AUGUST MARK BRADFORDS AUSSTELLUNG RECEIVE CALLS ON YOUR CELLPHONE FROM JAIL REVUE 66 ARRATIA BEER GALERIE GUIDO W. BAUDACH BLAIN | SOUTHERN GALERIE ISABELLA BORTOLOZZI BQ GALERIE BUCHHOLZ BUCHMANN GALERIE CAPITAIN PETZEL CARLIER | GEBAUER MEHDI CHOUAKRI CONTEMPORARY FINE ARTS CRONE CROY NIELSEN DELMES & ZANDER GALERIE EIGEN + ART KONRAD FISCHER GALERIE MICHAEL FUCHS GALERIE GERHARDSEN GERNER GALERIE MICHAEL HAAS GALERIE MAX HETZLER JOHNEN GALERIE KEWENIG KICKEN BERLIN KLEMM’S HELGA MARIA KLOSTERFELDE EDITION KÖNIG GALERIE KOW KRAUPA-TUSKANY ZEIDLER TANYA LEIGHTON DANIEL MARZONA MATHEW GALLERY MEYER RIEGGER GALERIE NAGEL DRAXLER GALERIE NEU NEUGERRIEMSCHNEIDER GALERIE NORDENHAKE PERES PROJECTS GALERIA PLAN B GALERIJA GREGOR PODNAR PSM AUREL SCHEIBLER ESTHER SCHIPPER GALERIE MICKY SCHUBERT GALERIE THOMAS SCHULTE SOCIÉTÉ SPRÜTH MAGERS SUPPORTICO LOPEZ GALERIE BARBARA THUMM VW (VENEKLASEN / WERNER) GALERIE BARBARA WEISS WENTRUP KUNSTHANDEL WOLFGANG WERNER BARBARA WIEN ŻAK I BRANICKA ENCORE TOBEY und FRANCIS — — WERTSACHEN — AU KT IO NE N GR AND PRIX — BL AU K ALENDER — DER AUGENBLICK Tanz den Tobey Wie die amerikanischen Maler Mark Tobey und Sam Francis Europäer wurden? Es war der Coup ihrer Schweizer Kunsthändler. Und der hatte Folgen Mark Tobey, fast 80-jährig, in seiner Basler Wohnung, fotografiert von Kurt Wyss ihm gefällt. White Journey. Ein weißgetupfter Himmel, über den ein Schwarm insektenkleiner Linien huscht. Mark Tobey, den Maler, kennt er nicht. Ein paar Monate später wird er das Bild über die Otto Seligman Gallery in Seattle erwerben – und es nie mehr hergeben. Tobey war damals eine stille Größe. rüssel, Weltausstellung 1958. Draußen Man muss das so sagen, weil er anders das Atomium im Silberglanz. Drinnen die Parole „Friedliche Nutzung“, als sei als die Abstrakten Expressionisten, die wie diplomatische Vertreter ihres Landes nach Hiroshima überhaupt noch so etwas wie die Erlösung von allem Übel denkbar. auftraten, die Öffentlichkeit eher mied. Aber Unter den 41 Millionen Besuchern ist auch er gehörte zur Szene. Auf der Biennale der junge Basler Kunsthändler Ernst Beyeler, in Venedig im selben Jahr waren es vor allem seine Bilder, die im amerikanischen der sich mit seinen Ausstellungen zur Pavillon neben Arbeiten von Mark Rothko, klassischen Moderne in Europa und spektakulären Verkäufen an Sammler und Museen Kimber Smith und Seymour Lipton auffielen. Seattle, wo er lebte, bereitete eine in kurzer Zeit einen Namen gemacht hat. Im kreisrunden amerikanischen Ausstellungs- Werkübersicht mit 224 Gemälden vor. Und die Los Angeles Times feierte ihn als haus trifft er auf Kunst. Strategisch setzen berühmtesten Maler der Westküste. Es die USA auf den weltweiten Triumph der war ein großes Jahr für den bald 70-jährieigenen Kultur. Mag die Sowjetunion auch gen Künstler. Amerika huldigte ihm. In ihren Sputnik haben, Maler hat sie nicht. Europa kannten ihn nur wenige. Beyeler bleibt vor einem Bild stehen, das B ENCORE 69 Beyeler tut, was er immer tun wird. Er kauft in großem Stil, en bloc. Wie viel ihm sein Einsatz bei Tobey wert war, darüber gibt es keine verbrieften Angaben. Aber es müssen so viele Bilder gewesen sein, dass der hofierte Amerikaner beeindruckt in die Schweiz reist, um seinen neuen Galeristen kennenzulernen. Man stelle sich einen warmen Junitag des Jahres 1960 vor. Die Herren speisen im Garten des befreundeten Pfarrers Hassler. Und weil sie alle so gut drauf sind, schlägt der Kunsthändler dem Künstler vor, gleich in Basel zu bleiben. Tobey mietet sich noch am selben Tag ein anständiges Patrizierhaus in der St.-AlbanVorstadt. Die Nachkriegskunstgeschichte wird meist in Begriffen der Überwältigung erzählt. Als kunstimperialistischer Siegeszug der amerikanischen Künstler, die mit massiver staatlicher Unterstützung Europa den Schneid abkauften. Und es ist ja nicht falsch, dass sich in den 60er-Jahren die Rollen verkehrt haben, dass es nicht mehr die europäische Moderne war, die die New Yorker Avantgarde munitionierte, dass nun amerikanische Künstler vorn an der Front standen, selbstbewusst und mit ihren Riesenformaten hochgerüstet wie mit atomaren Sprengköpfen aus dem Kalten Krieg. Es war die Zeit, als der Dollar auch in der Kunst zur Leitwährung wurde und der transatlantische Bilder-Warenverkehr mehr und mehr zur Einbahnstraße – verbunden mit weit herum spürbaren Versuchen, den American way of art nachzuahmen. Aber es gab eben auch das andere, wovon seltener die Rede ist. Es gab die Verführungskraft, die nach wie vor vom kriegsversehrten Europa ausging. Auf sie verstanden sich ein paar weitsichtige Kunsthändler besonders gut. Sie kauften den Amerikanern das halbe Atelier leer und lockten sie auf den alten Kontinent. Und die Umworbenen kamen und blieben. Tobey 16 Jahre – bis zu seinem Tod. Und die Wirksamkeit, die er in seiner Schweizer Wahlheimat entfalten sollte, die Strahlkraft seines serenen Alterswerks auf eine ganze Malergeneration, das war aufs Ende gesehen nicht weniger bedeutsam als der Bühnenerfolg, den die Galeristen der Stunde mit ihren imposanten Importen aus amerikanischen Ateliers feierten. ährend sich so die einen auf einer Art Eroberungsfeldzug sahen oder zumindest im kulturdiplomatischen Dienst der westlichen Supermacht mit ihren hegemonialen Ansprüchen, ließen sich andere noch einmal von Europa faszinieren. Denn noch immer galten die alten Sehnsuchtsziele. Und vor allem Paris hatte seinen legendären Ruf. Rue Tiphaine 14. Im 15. Arrondissement. Sam Francis vor seinem Riesenbild Deep Orange and Black, das sich vom Boden bis zur Decke streckt. 1950 war er mit dem staatlichen Förderprogramm „G. I. Bill“, das Stipendien an Weltkriegsveteranen vergab, hierhergekommen. Viele gingen damals nach Paris. Kimber Smith, Al Held, Norman Bluhm, Joan Mitchell, Shirley Jaffe, Ruth Francken, John Hultberg, Shirley Goldfarb. Der Sog war enorm. Mehr als 300 amerikanische Maler und Bildhauer sollen in den 50er-Jahren in der Stadt gelebt und gearbeitet haben. Unterstützt von einem rührigen Amerikahaus in der Rue du Dragon, das seinen Landsleuten erfolgreich Ausstellungen vermittelt. W MARK TOBEY Pastoral, 1964, Öl auf Leinwand, 70 × 49 cm Rechts: Mark Tobey (l.) und Ernst Beyeler, 1964 in der Galerie Beyeler in Basel vor einem Werk von Georges Rouault ENCORE 70 Im Dezember 1954 hat sich Eberhard W. Kornfeld in der Rue Tiphaine angemeldet. Wenige Jahre erst ist es her, dass er die auf Handzeichnungen und Grafiken alter und moderner Meister spezialisierte Berner Kunsthandlung Gutekunst und Klipstein übernommen hat – mit dem Ziel, den Galeriebetrieb in Richtung zeitgenössische Kunst zu erweitern. Und dafür ist er nach Paris gereist. Hier, nicht in New York, entdeckt er die amerikanische Kunst. „Es war eine Malerei“, erzählt Kornfeld später, „wie wir sie noch nie gesehen hatten. Man hatte ja von diesen neuen amerikanischen Malern überhaupt keine festen Vorstellungen, es war wie eine Fama. ‚New York School‘, ‚Pacific School‘, lauter Begriffe, mit denen man nicht viel anfangen konnte. Mit einem Mal begegnete man den Amerikanern in Paris, und es war, wie wenn plötzlich der Vorhang aufgeht. Sam Francis bedeutete für unser Haus den Durchbruch in ein großes Wagnis.“ „Ebi“ Kornfeld, hinter dem der Kalifornier in den ersten Jahren noch einen „Abraham“ vermutete, weshalb er ihn „Abby“ nannte und „Dear Aby“ anschrieb, Ebi Abby wurde Francis’ wichtigster Händler. Ende September 1957 zeigt er seinen neuen Schützling zum ersten Mal in Bern. Mit 44 Nummern im kleinen Katalog. Die Ausstellung wird zum kaum erwarteten Erfolg. Fast alle der kleinformatigen Arbeiten, überwiegend Aquarelle, verteilt an den Wänden zwischen Kachelofen, Vitrine, Rundtisch und Bücherregal, werden verkauft. Dabei sind beide Seiten nie eine exklusive Bindung eingegangen. Ähnlich wie Beyeler, der für Tobey alles tat, ihn aber nicht unter Vertrag nahm. „Francis hatte dazu eine klare Meinung: Entweder funktioniert die Freundschaft oder es hilft, wenn sie nicht funktioniert, auch kein Papier. Für mich war das nie ein Problem, dass er sich zugleich von anderen Kollegen in Europa vertreten ließ. Viele waren es ja in den Pionierjahren nicht. Alfred Schmela in Düsseldorf, Olaf Hudtwalcker in Frankfurt.“ In kurzen Intervallen folgen nun die Sam-Francis-Auftritte in der Berner Laupenstraße. Und wer anfangs noch gezögert hatte, musste bald feststellen, dass die Arbeiten für kleinere Portefeuilles schon gar nicht mehr erreichbar waren. Hatte Kornfeld für seine erste Sam-FrancisErwerbung 1954 noch 250 Francs bezahlt, lag drei Jahre später die Preisgrenze für Gouachen und Aquarelle bei 1.000 Schweizer Franken. Für Deep Orange and Black, das Riesenbild, vor dem sich Francis so stolz fotografieren ließ, zahlte Arnold Rüdlinger, der Direktor der Basler Kunsthalle, 1955 bereits 10.000 Franken. Und im Archiv Kornfeld hat sich ein Brief aus dem Jahr 1957 erhalten, in dem Francis seinen Berner Kunsthändler anfragt, ob er in diesem Jahr wohl mit einer Verkaufssumme von 20.000 Dollar rechnen könne. Dass Beyeler mit Tobey und Kornfeld mit Francis Edelpferde im Stall hatten, entwertet die unverwüstlichen Freundschaften nicht, die Kunsthändler und Künstler verbanden. Ähnlich wie Beyeler schuf auch Kornfeld „seinem Amerikaner“ ein Schweizer Reduit. Das ehemalige Kutscherhaus neben der Galerie wurde zu Francis’ Lager für Großformate und zum immer wieder und gern aufgesuchten Atelier, wo er oft Monate verbrachte. Ob sich Mark Tobey und Sam Francis irgendwann getroffen haben, ist nicht überliefert. Vielleicht in Kassel auf der Documenta 2 des Jahres 1959, wo die beiden – Tobey noch als amerikanischer Gast – große und vor allem prägende Auftritte hatten. Der Einfluss, den der eine mit seinen kalligrafisch fragilen, in sich versunkenen Abstraktionen und der andere mit dem Largo und Allegro seiner klingenden Farben auf die europäische, vor allem deutsche Malerei der 60er-Jahre ausgeübt haben, ist noch nicht untersucht worden. Und doch ist er nachweisbar in allen großen Werken des deutschen Informel. Bei Gerhard Hoehme geradeso wie bei Ernst Wilhelm Nay, bei Hann Trier so gut wie bei Fred Thieler oder Hans Hartung. Man könnte mit Fug und Recht sagen, dass sich um Mark Tobey und Sam Francis eine European School of American Art gebildet hat, die auf Jahrzehnte hinaus wirksam bleiben sollte. Und wenn man die deutsche Nachkriegsmalerei noch einmal Revue passieren lässt, dann merkt man rasch, dass es gar nicht so sehr die erhabenen Bildräume des Abstrakten Expressionismus waren, die hier Wellen schlugen. Die nachhaltigen Impulse gingen mehr noch von der weltabgewandten Malkultur eines Mark Tobey oder Sam Francis aus. uch die nächste Documenta im Jahr 1964 wird Tobey und Francis wie mythische Gewährsleute einer Abstraktion feiern, die längst zur künstlerischen Universalsprache geworden ist. Mehr noch als die Bilder eines Jackson Pollock, Franz Kline, Barnett Newman, Clyfford Still oder Mark Rothko, deren souveräne Gebärden als das radikal Neue empfunden worden sind, schien der Abstrakte Expressionismus, wie ihn Tobey und Francis pflegten, eine eher europäische Tradition fortzusetzen, die bis zu Matisse und Monet zurückreichte. „Malerei sollte mehr durch Wege der Meditation als durch die Kanäle der Aktion hervortreten“, hat Mark Tobey einmal notiert. Eine amerikanischeuropäische Antwort auf den Zeitstil des gestischen Aktionismus. Dass dem einflussreichen amerikanischen Kritiker Clement Greenberg das europäische Interesse an Sam Francis verdächtig vorkam und er dem Werk zögerlich bis skeptisch gegenüberstand, habe den Maler, wie sich Eberhard W. Kornfeld erinnert, ziemlich getroffen: „Obwohl er später ein Atelier am Broadway hatte, stieß er in New York von Anfang an auf Schwierigkeiten. Immer wieder hat er hören müssen, dass er ja eigentlich gar kein amerikanischer Maler sei, weil er seine Karriere nicht in Amerika gemacht habe. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er mehr als einmal klagte: ‚New York doesn’t accept me.‘ Tatsächlich hatte er nie eine große Ausstellung im Museum of Modern Art.“ Als im April 1958 die Wanderausstellung Jackson Pollock und die neue amerikanische Malerei in der Basler Kunsthalle eröffnet wurde, waren es nicht zuletzt Sam Francis’ Bilder, die die Ausstellung zum Ereignis A ENCORE 71 Eberhard W. Kornfeld und Sam Francis (r.), 1966 in der Galerie Kornfeld in Bern Oben: SAM FRANCIS Blue in Motion III, 1960 – 62, Öl auf Leinwand, 114 × 146 cm machten. Johannes Gachnang, der Schweizer Verleger und Ausstellungsmacher, beschrieb die Ausstellung als Primärerfahrung einer ganzen Generation: „Baselitz hat sie in Berlin gesehen, Nitsch in Wien, ich selbst in Basel und Kounellis wird sie in Rom nicht versäumt haben. Das war für meine Generation die erste Berührung mit amerikanischer Kunst, ein Schock, zugleich aber auch ein befreiender Schlag, der in verschiedene Richtungen Türen zu öffnen schien.“ Ein paar Wochen später hat Beyeler in Brüssel die Tobey-Tür geöffnet. Und den Amerikaner kurzentschlossen heimgeholt. Man hat damals im Garten beim Pfarrer Hassler noch nicht ahnen können, dass hier im Sommergarten soeben eine neues, aufregendes Kapitel deutscher Nachkriegskunstgeschichte begonnen hat. TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER WERT SACHEN CIS — TOBEY und FR AN — A U K TI O N EN N — WERTSACHE K AL EN DER — GRAND PRIX — BL AU K DER AUGEN BLIC Was uns gefällt: Highlights und Abseitiges aus dem Angebot des Kunsthandels HILFERUF SEIN ERSTER BAUM Schöner Maler, male mir Sie haben den Maler dieses Motivs nicht erkannt? Vielleicht aber an Jean-François Millet gedacht? Tatsächlich VAN GOGH Femme semant sehen wir hier eine bei Lempertz in Köln ungewöhnlich große und extrem frühe Zeichnung von Vincent van Gogh. Der Künstler zeichnete das bedrückende Motiv 1881. Es ist seine einzige bekannte Darstellung einer Säerin bei der Feldarbeit. Dieses Blatt hat uns keine Ruhe gelassen, auch wenn es erst Ende Mai bei Lempertz in Köln versteigert wird. Denn bisher war es als Dauerleihgabe im Picasso-Museum in Münster und schon in wichtigen großen Ausstellungen zu sehen, unter anderem im Rijksmuseum, Amsterdam. Jetzt haben sich die Besitzer zum Verkauf entschieden – das Blatt ist auf 800.000 bis 1 Million Euro geschätzt. Erfreulich wäre allerdings, wenn sich Unterstützer fänden, die Zeichnung wieder für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. SWKA TASCHENMUSIK Now and Ten 16. März bei Christie’s in Dubai Collection Boutet de Monvel Für die Amerikaner war er „der schönste Mann 5. und 6. April bei Europas“. Ganz unrecht hatten sie nicht: Auf Sotheby’s in Paris seinem Selbstporträt, Place Vendôme (1932) zeigt sich der Pariser Maler Bernard Boutet de Monvel (1881–1949) als Dandy von betörender Eleganz. Der Sohn eines Kinderbuchillustrators begann mit hochmodernen Radierungen. Ein haarscharfer, hyperrealistischer Strich markiert auch die Großstadtdamen, Maharadschas und Parklandschaften seiner Art-déco-Malerei. Das wahre Leben war turbulenter: Boutet überlebte Flugzeugabstürze, zog nach Marokko und für Harper’s Bazaar nach New York, wo er die Fricks und Astors porträtierte. Gestorben ist er beim Flugzeugabsturz über den Azoren. Aus seiner Wohnung im 7. Arrondissement in Paris bringen nun seine Erben ein Werkkonvolut in die Auktion. GB Die Gebrüder Nicolás und Etienne Vadász entwickelten ihr „Mikiphone“ 1917 in Ungarn. 1924 in Genf zum Patent angemeldet und in Kleinserie produziert, war es das kleinste Grammofon der Welt. Um größere Stückzahlen, insgesamt wohl 180.000, herstellen zu können, wurde von 1925 bis 1927 die schweizerische Firma Paillard & Cie. aus Sainte-Croix beauftragt. Der kleine Bakelit-Resonator verleiht dem Mikiphone keinen besonders kräftigen Klang, aber wenn die kleine Blechdose – ein stilisiertes Taschenuhrgehäuse – auseinandergeklappt wird, der Tonabnehmer in der Rille einer Schellackplatte knarzt und der Federmotor sie in 78 Umdrehungen pro Minute versetzt, verstummen alle Nebengeräusche. Die Musik aus der Tasche ist im Dorotheum auf 300 Euro geschätzt. WOE Unterhaltungstechnik 13. April im ENCORE 72 Dorotheum in Wien EINE AUSWAHL der BLAU REDAKTION AUKTIONEN 3. APRIL SOTHEBY’S IN NEW YORK Fotografie 4. APRIL ARTCURIAL IN PARIS Gegenwartskunst 4. APRIL PHILLIPS IN NEW YORK Fotografie 5. APRIL ARTCURIAL IN PARIS Impressionismus und Moderne, École de Paris 5./6. APRIL SOTHEBY’S IN PARIS Collection Boutet de Monvel 5./6. APRIL STARGARDT IN BERLIN Autografen 6. APRIL CHRISTIE’S IN NEW YORK Fotografie Alte Meister, Bilder des 19. Jahrhunderts, Antiquitäten 13. APRIL PHILLIPS IN LONDON „New Now“ 13. APRIL DOROTHEUM IN WIEN PATRICK & VICTOR DEMARCHELIER Historische Unterhaltungstechnik und Schallplattenraritäten 13. APRIL NAGEL IN STUTTGART Kunst und Antiquitäten 14. APRIL CHRISTIE’S IN NEW YORK Alte Meister 19. APRIL DOROTHEUM IN WIEN Alte Meister 20. APRIL DOROTHEUM IN WIEN Kunst, Antiquitäten und Möbel 21. APRIL DOROTHEUM IN WIEN Gemälde des 19. Jahrhunderts AUSSTELLUNG VOM 5. MÄRZ BIS 7. MAI 2016 KANTSTRASSE 149 · 10623 BERLIN · TEL +49 30 310 07 73 · WWW.CAMERAWORK.DE © PATRICK & VICTOR DEMARCHELIER · TONI GARRN · 2012 12./13. APRIL IM KINSKY IN WIEN 21.–23. APRIL BASSENGE IN BERLIN Wertvolle Bücher, dekorative Grafik und Autografen 23. APRIL STAHL IN HAMBURG Kunst und Antiquitäten 23./24. APRIL SCHLOSS AHLDEN IN AHLDEN 25. APRIL PHILLIPS IN NEW YORK Moderne und Gegenwartskunst 26. APRIL BONHAMS IN NEW YORK Fotografie 27. APRIL BONHAMS IN LONDON Alte Meister 27. APRIL SOTHEBY’S IN LONDON Alte Meister 28. APRIL CHRISTIE’S IN LONDON Alte Meister 29. APRIL KARL & FABER IN MÜNCHEN Alte Meister und Kunst des 19. Jahrhunderts 30. APRIL © MATTHEW ROLSTON · BARNABY · 2010 Jubiläumsauktion – Kunst und Antiquitäten MATTHEW ROLSTON TALKING HEADS LEMPERTZ IN BERLIN Berlin-Auktion und Kunst aus Russland AUSSTELLUNG VOM 23. APRIL BIS 18. JUNI 2016 AUGUSTSTRASSE 11–13 · 10117 BERLIN · TEL +49 30 240 486 14 · WWW.CAMERAWORK.DE TRUNKENBOLD Hundert Jahre war das Gemälde nicht mehr öffentlich zu sehen, nun geht es auf Ausstellungstournee zur Christie’s New York Classic Week und dann weiter nach Hongkong, bevor es im Juli bei Christie’s in London angeboten wird: Peter Paul Rubens’ großformatiges Gemälde Lot und seine Töchter für geschätzte 20 Millionen Pfund. Vier Eigenschaften erheben es zum absoluten Meisterwerk. Das delikate Sujet: Der alttestamentarische Stammvater Lot wird gerade von seinen beiden Töchtern betrunken gemacht und zum Beischlaf verführt. Die malerische Qualität: Das um 1613/14 entstandene Bild gilt als ein herausragendes Beispiel für Rubens’ frühe Meisterschaft. Lot und seine Töchter Für den Markt entscheidend 8. bis 12. April bei sind auch die noble Provenienz Christie’s in und der Verbleib in Privatbesitz New York bis heute. WOE PORTRÄT EINER ANANAS Der Maler Carel Borchaert Voet (1670–1744/45) gehörte zwar nicht zu den großen Stars seiner Zeit. Mit seinen Stillleben war er jedoch auf dem Markt auffallend erfolgreich – und erzählt Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter. Dafür sind allerdings ungewöhnlich wenige Bilder erhalten. Auch das aparte Gemälde Früchtestillleben mit Ananas, Aloe vera, Weintraube und Dahlie war in der Literatur bislang nicht beschrieben. Das Auktionshaus Karl & Faber in München fand das Bild in einem Auktionskatalog von 1799 und schätzt es nun vorsichtig auf 6.000 bis 7.000 Euro. Dass die stattliche gelbe Frucht wie eine Trophäe im Zentrum Alte Meister thront, hat sie den florierenden Handels29. April bei beziehungen in alle Welt zu verdanken, die Karl & Faber in Holland unterhielt. MÜ München t s n u k g u l F Alighiero Boetti war ein Reisender. Nach seiner Station als Künstler bei der Arte povera begab sich der Turiner in den 70er-Jahren nach Afghanistan und wurde dort zum Konzeptund Politkünstler. So beauftragte er zum Beispiel Frauen bis zum Ende seines Lebens, Stickbilder zu produzieren. Er splittete seinen Namen in das fiktive Duo Alighiero e Boetti auf, um sich als Künstler nicht festlegen zu müssen. Und während er weiter nach Äthiopien reiste, dann nach Guatemala und Japan, entstand zwischen 1978 und 1989 die berühmte Serie Aerei, gezeichnet mit Kugelschreiber oder Wasserfarben. Phillips versteigert mit Cieli ad alta quota von 1988 für geschätzte 40.000 bis 60.000 Pfund eine ruhige Variante New Now dieser Himmelskompositionen, die später als 13. April Puzzle das Magazin von Austrian Airlines zierte. bei Phillips Für Boetti selbst waren die Aerei ein Symbol in London künstlerischer Freiheit. GB ENCORE 74 „ MUSIC IS AN ADDICTION “ MILES AHEAD LEBEN UND WERK DES WICHTIGSTEN JAZZ-MUSIKERS ALLER ZEITEN MIT EXKLUSIVER MILES DAVIS CD ROLLINGSTONE.DE CIS — TOBEY und FR AN — A U K TI O N EN — N WERTSACHE AU K AL EN DER — GRAND PRIX — BL K DER AUGEN BLIC GRAND PRIX BERLIN CALLING BERLIN-BELEBUNG: DER FEUERLE-BUNKER AM HALLESCHEN UFER AUF EINEM FOTO VON 1959, IM HINTERGRUND DER ANHALTER BAHNHOF In der Stadt eröffnet ein ine neue Privatsammlung eröffnet am Halleschen Ufer in einem Telekommunikatineuer Kunstonsbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Désiré Feuerle will Asiatika und Moderne an bunker. Wo aber diesem Ort in Berlin zusammenbringen. Die Eröffnung soll das Event des Gallery Weekend werden. Bunker, Berlin, Sammler? Erinnerungen an ein altes Berlin erwachen, an steht Berlin 2008, als der Sammler Christian Boros seinen eigenen Bunker in Mitte eröffnete, als die Hoffnung noch wahr war, dass Berlin in einem Atemzug genannt wird mit New York, Paris und London. zehn Jahre Damals jubelte der Tagesspiegel: „Das Ergebnis ist spektakulär, atemberaubend. Boros zeigt die Kunst in einer Form, die Berlins Museen dagegen alt aussehen lässt.“ Seit den 90er-Jahren ging es Schlag auf Schlag, ein Sammler folgte auf den anderen: das Ehepaar Hoffmann aus Köln, Axel nach dem Haubrok aus Düsseldorf oder Wilhelm Schürmann aus Aachen. Chipperfield baute das GalerieBoom? haus für Heiner Bastian am Kupfergraben, wo auch die Galerie Contemporary Fine Arts einzog. E Kommt jetzt wieder Bewegung in die Stadt? Auch die Düsseldorfer Sammlerin Julia Stoschek eröffnet Anfang Juni eine Dependance im ehemaligen Tschechischen Kulturzentrum der DDR. Die 2.500 Quadratmeter baut die Berliner Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge um. Rütteln diese Zugezogenen auch Berlin wieder wach, das sich selbst oft genug ist und mit dem Titel „Deutsche Kunsthauptstadt“ begnügt? Sogar die innerdeutsche Konkurrenz mit Köln ist Vergangenheit. Nur ab und an regt mal ein Hinweis zum Nachdenken an. In einem Offenen Brief, in dem sich die Kölner und Düsseldorfer Galerien eigentlich gegen die Schließung des Leverkusener Museum Morsbroich aussprachen, bedauerten sie, dass das Rheinland „durch die Fokussierung auf Berlin einen herben Bedeutungsverlust als Kunstregion verzeichnet“. Was aber erlebt man in Berlin eigentlich, dass sich Köln immer noch so kleinmacht, obwohl dort in den letzten Jahren großartige Galeristen Fuß gefasst haben wie Jan Kaps, Warhus Rittershaus oder auch Martinetz? Im Rheinland finden tatsächlich die spannenderen Museumsausstellungen statt, die auch von den Sammlern dankbar angenommen werden. Die Berliner Galerien erinnern hingegen an die frühen 90er-Jahre in Köln. Man versammelt sich in Charlottenburg in kleinen Ladengalerien oder in der Beletage. Contemporary Fine Arts, bisher im repräsentativen Chipperfield-Bau in Mitte, zieht jetzt von der Museumsinsel in die schmale Grolmanstraße in Charlottenburg – da sind schon viele, und andere folgen. „Erwachsen werden“ nennen das die Galeristen. Der erste Kunsttreffpunkt in Berlin-Mitte, das Grill Royal, hat gerade mit Le Petit Royal in der Grolmanstraße einen Ableger bekommen. Es ist also für alles gesorgt. New York, Paris, London – und wo steht Berlin? SWANTJE KARICH ENCORE 76 Kazimir Malewitsch, Mädchen im Feld, 1928-29, St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum 978-3-7774-2578-8 · € 49,90 RUSSISCHE AVANTGARDE IM PLURAL Ausstellung bis 26.6.16 in der Albertina, Wien www.hirmerverlag.de DAS NEUE KUNSTEREIGNIS IM DIGITALEN ZEITALTER New Sensorium Exiting from Failures of Modernization 5.3.– 4.9.2016 Gefördert durch die Mit Unterstützung von Stifter des ZKM Partner des ZKM Gefördert durch die Medienpartner Mobilitätspartner BLAU K ALENDER W ill n k , S a m m lu n Ba ia ms, 2 g 014 Ed CIS — TOBEY und FR AN — A U K TI O N EN — WERTSACHEN AU K ALENDER — GRAND PRIX — BL K DER AUGEN BLIC Unsere TERMINE im April 2016 THEASTER GATES OLIVER LARIC in der Archäologischen Sammlung des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien, 2015 KUNSTHAUS BREGENZ 23.04. – 26.06.2016 OLIVER LARIC SECESSION WIEN 22.04. – 19.06.2016 Als ehemaliger Stadtplaner, Verkehrsverwaltungsbeamter, Kunstkeramiker und Sozialrechtsaktivist hat sich Theaster Gates ein beachtliches künstlerisches Betätigungsfeld geschaffen. Alles begann mit dem Kauf eines Jesus and Barabbas Puppet Show, aufgeführt in Krakau, 2014 alten Holzschindelhauses im Denken wir uns die ganze Sache kaputten Chicagoer Süden. mit dem Internet einmal andersTeile des Inneren verwandelherum. Wie wäre es, wenn wir te er in Skulpturen, das Haus keine Angst hätten vor Raubselbst in eine Begegnungskopien, Netzpiraterie, Cloudstätte. Dann folgte ein leeres Computing oder 3-D-Drucken? Bankgebäude, das nun in Der 1981 in Innsbruck geboeinem Akt der Künstlerselbst12.04. – 19.06.2016 rene Künstler Oliver Laric erhebt hilfe renoviert wird. Wegen die unendliche Manipulierbarseines cleveren Systems von Die weder greif- noch begreifbare Künstlerin Marvin Gaye keit der Bilder zum Prinzip: Er Chetwynd heißt eigentlich Alalia Chetwynd, geboren in London Selbstvermarktung und sammelt Bild- und VideomateProjektentwicklungsei1973. Bevor sie sich nach dem Sänger benannte, trug sie den rial aus dem Internet, bearbeitet Namen des Sklaven-Gladiatoren Spartacus. Alalia, Spartacus, fer wurde Gates es am Computer und überführt schon „Poster-Boy Marvin Gaye – die Namen sind für sie eine Art Schutzschirm das alte Thema von Authentizität gegen Moden. Schon als Aufständler Spartacus ließ sie die der sozial engaund Autorschaft ins 21. Jahrgierten Kunst“ Nadel vom etablierten Kunstkompass gehörig zittern, tobte in hundert. Doch nicht alles findet Performances, filmte und schuf Pleitebankiers Denkmäler. genannt. Was so online statt: Zuletzt stellte er verächtlich ist Was ziemlich, pardon, verrückt klingt, ist es auch – jedoch mit durch Scans 3-D-Klone von wie die einer gehörigen Portion Intellekt. 2013 veröffentlichte sie in der Skulpturen her, die auf Gipsab- Londoner Tageszeitung Guardian den Artikel Why I changed my Spottskulpgüssen griechischer und römituren von name to Marvin Gaye Chetwynd?: Sie interessiere sich dafür, scher Plastiken basieren – sie sind wie er starb, erschossen von seinem Vater am 45. Geburtstag. Schwarzen, die damit beliebig reproduzierbar. der Sammler Ed Den Spiegel interessierte anlässlich ihrer Nominierung für Für die Secession ist eine neue den Turner-Preis 2012 nur, dass sie „in einer Nudistenkommune“ Williams aus dem Werkserie entstanden, bei der Verkehr ziehen lebt. Auf diese aggressive Mischung dürfen wir uns jetzt freuen, Laric mit verschiedenen Museen wenn sie im Bonner Kunstverein antritt. Zu verdanken hat das wollte und die und Institutionen an der Gates nun in Rheinland diese impulsive Querschlägerin der neuen Direktorin digitalen Wiederauferstehung Bregenz zeigt. Michelle Cotton, die selbst gerade erst aus London nach Bonn ihrer Sammlungen arbeitet. GB gezogen ist. swka WOE MARVIN GAYE CHETWYND BONNER KUNSTVEREIN trel, D a nci n g Mins Sa m m lu ng Ed Williams, 2014 ENCORE 78 WEIMAR, GOTHA 24.04. – 28.08.2016 Man vergisst oft, dass das Deutsche Kaiserreich bis an sein Ende 1918 ein Flickenteppich blieb. Preußen zwang die deutschen Territorien zwar unter seine Krone. Doch die bisweilen wirre Vielstimmigkeit hunderter Gebiete, die sich um ebenso viele Fürsten, Herzöge und Markgrafen scharten, blieb erhalten. Es lohnt sich daher, auch jene Herrscherhäuser in den Blick zu nehmen, die lange Zeit PETER RODDELSTEDT Epitaph für Johann Stigel, 1564 im Windschatten der Hohenzollern standen. In Gotha und Weimar widmet sich nun ein umfassendes Ausstellungsprojekt den Ernestinern: jener Dynastie, die über Jahrhunderte hinweg das Geschick der sächsischen Territorien bestimmte. Über umfassende Sammlungs- und Archivbestände aus den Bereichen Kunst, Politik und Wissenschaft zeichnet die Ausstellung behutsam die Spuren nach, die das Geschlecht durch die deutsche und europäische Geschichte zog. MW CONCEPTUAL ART IN BRITAIN TATE BRITAIN LONDON 12.04. – 29.08.2016 MMK 1 FRANKFURT 16.04. – 14.08.2016 Wenn man zwischen der Pariser Banlieue und den Straßen Algiers aufwächst, ist ein Ohne die Ära der Conceptual Art würden wir heute noch guter Kunstlehrer Bilder mit einem wesentlich engeren Blick ansehen. keine SelbstverKonzeptkunst ist ein Label für die, die Ideen höher ständlichkeit. schätzen als das materielle Resultat. Aber warum Kader Attia (geb. begrenzt die Tate Britain ihre Ausstellung auf England, 1970) hatte Conceptual Art in Britain? Das Herz jener Künstler Glück. Sein Lehrer schlug tatsächlich in London. Die Kunsthochschulen erkannte sein Saint Martins, das Royal College und die Coventry Talent – und so hat School of Art schickten eine Generation revolutionärer die Kunstwelt Ideenerfinder auf den Weg. Viele sind heute berühmt, heute mit Attia wie Richard Long zum Beispiel. Anderen gebührt nun eine wichtige in der Tate Britain die große Ehrung. Die Ausstellung Stimme, die von nimmt sich ihre folgenreichen Jahre von 1964 bis 1979 den Auswirkungen vor – mit 70 Werken von 21 Künstlern. Unser Foto der Kolonialgezeigt Szenen von schichte Bruce McLeans auf die Pose Work for westliPlinths, eine che Welt Performance in und der Situation umgeGallery im Jahr kehrt 1971, eine erzählt. Persiflage auf Unter Henry Moores SchlagSkulpturen wörtern Reclining Figures. wie SWKA „Reparatur“, BRUCE MCLEAN „PsychiaPose Work for Plinths 3, 1971 trie“ und Oben: ROELOF „Poesie“ LOUW Soul City (Pyramid of Oranges), 1967 ENCORE 79 Repair Analysis, 2013 KADER ATTIA DIE ERNESTINER versammelt er afrikanische Masken, ausgestopfte Tiere, Fotodokumentationen, Bildbände und Filminterviews, die in groß angelegte Installationen münden – zuletzt auf der Documenta oder der Lyon Biennale. Bei seiner Performance Arab Spring, die letztes Jahr auf der Art Unlimited in Basel für Gesprächsstoff sorgte, warf er 16 leere Glasvitrinen mit Steinen ein: ein ReEnactment der Plünderung des Ägyptischen Museums in Kairo während des Arabischen Frühlings. Für das MMK erarbeitet der in Berlin lebende Künstler eine neue Werkgruppe. GB Kunstpreis Böttcherstraße KUNSTHALLE BREMEN 23.04. – 18.09.2016 1955 gründete die Kaffeemarke Hag-AG in Bremen den Kunstpreis mit dem wohl unspektakulärsten Namen der Welt: Kunstpreis Böttcherstraße. Anfangs mag diese Bescheidenheit noch zu dem Preisgeld von 5.000 DM gepasst haben. Heute ist die Auszeichnung mit 30.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre vom Stifterkreis des Kunstvereins in Bremen vergeben. Ihre Historie ist – mit einigen Unterbrechungen – beachtlich: Erhalten Einmal, in einem munteren Augenblick, hat der Künst- haben ihn schon Dieter Krieg, ler von sich gesagt, diesseits sei er eigentlich gar nicht Rebecca Horn, Ólafur Elíasson, fassbar. Und da Kunstbetrachtung im Jenseits schwer Wolfgang Tillmans oder Nina vorstellbar ist, kann es sich dabei nur um milden Beier. Entsprechend gleicht Spott gehandelt haben. Wie ja überhaupt Paul Klee ein ein Besuch in der dazugehöriMeister der leisen Ironie gewesen ist. Von den satirigen Ausstellung einem Talentschen Blättern der Münchner Jahre – man denke nur an parcours. Das Prinzip: die berühmte Radierung Zwei Herren, einander in höherer Verdienstvolle Kuratoren wie Stellung vermutend, begegnen sich – über das „Mechanische Susanne Pfeffer und Johan Theater“ am Bauhaus, die behutsame Annäherung Holten schlagen zehn an den Surrealismus, bis ins melancholisch gebrochene junge Künstler vor, Spätwerk hinein behielt der Künstler seine kunstvoll von denen einer kindliche Erzählfreude, hielt sich an Friedrich Schlegels durch die Endjury – Ironie-Definition: „In ihr soll alles Scherz und alles diesmal mit Ulrike Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt.“ Groos und Adam Als entschlossener Erbe der romantischen KunstSzymczyk – gekrönt auffassung hätte Klee nie zugelassen, dass sich eine frei wird. Wer das sein fließende Linie nicht bald wieder zur Form schließt, könnte? Emeka Ogboh, nie ist das Spiel der Farben bei ihm ästhetisches Ereignis Katja Novitskova, allein. Irgendwo entdeckt man dann doch zwei AugenNora Schultz, Taiyo punkte, dass es aussieht, als sollte die Abstraktion von Onorato & Nico Krebs Strichmännchen belebt werden. Mit rund 250 Arbeiten oder Peter Wächtler … führt die Ausstellung im Centre Pompidou noch einmal Der Preis wird Ende durch das ganze, fast unüberschaubare Werk. mü August verliehen.GB CENTRE POMPIDOU PARIS 06.04. – 01.08.2016 ENCORE 80 KARSTIESS Verkommenes Paar, 1905 H T LER PET ER WÄC ic an), 2014 ex (M d le Unt it Raketenstation Hombroich NEUSS 15.04. – 07.08.2016 MARKUS PAUL KLEE Die Skulpturen des Düsseldorfer Künstlers Markus Karstieß sehen aus, als hätte jemand lustvoll mit beiden Händen in die Erde gegriffen, daraus naturhafte, dämonisch anmutende Fetische geformt und sie dann wie archaische Relikte im Raum aufgestellt, wo sie schließlich als semisakrale Energiequellen vor sich hin strahlen. Keramik ist sein Material. Er teilt es mit Lucio Fontana, dessen großformatiges Relief Il Sole aus dem Jahr 1952 auf der Raketenstation Hombroich in einem eigens dafür errichteten Pavillon installiert ist. Nun stellt auch Karstieß auf dem ehemaligen, zur Museumslandschaft umfunktionierten NatoGelände aus: eine breit angelegte Werkschau über die letzten zehn Jahre seines Schaffens mit dem Titel Irden. Im Siza-Pavillon sind Arbeiten zu sehen, die allesamt von diesem melancholischen, aber nie ins Pathetische wuchernden Charakter geprägt sind. gb Isenheim-Rochen-Wesen (Fetisch), 2015 Oben: Dirty Corner, 2013 BLAU IM ABO Verpassen Sie keine Ausgabe mit unserem BLAU-Jahresabo. Für nur 48 Euro erhalten Sie druckfrisch frei Haus neun Ausgaben BLAU zum Preis von acht. www.blau-magazin.de/abo [email protected] BILDNACHWEISE Nr. 10 / April 2016 Titel: © Fine Art Images-ARTOTHEK. Editorial: S. 5: Foto: Yves Borgwardt für BLAU. Inhalt: S. 6 M.: Foto: Fondation Félix Vallotton, Lausanne. S. 6 l. u.: Courtesy Hiwa K. S. 6 r. u.: Foto: akg-images. S. 8 M.: © Ellsworth Kelly. Courtesy Matthew Marks Gallery. S. 8 r. o.: Courtesy Sotheby’s. S. 8 r. u.: Foto: Lisa Ohlweiler für BLAU. S. 8 M.: Museum of Fine Arts, Houston, Texas, USA. Gift of Frances and Peter C. Marzio, and Dr. Jordan Gutterman / Bridgeman Images. S. 8 l.: Dallas Museum of Art, Texas, USA. Gift of the artist. www.bridegemanimages. com. Contributors: S. 12 o.: Foto: Paul Stuart. S. 12 M.: Foto: Gene Glover. S. 12 u.: Foto: Martin Lebioda für BLAU. Essay: Foto: DAVIDS/Joerg Krauthoefer. Apéro: S. 16 l.: Fotos: Trevor Good. S. 16 r.: Foto: Andrea Bacchi. S. 17 l.: MHK, Deutsches Tapetenmuseum. S. 17 r. o.: Courtesy Televisor. S. 17 u.: Courtesy Gloria von Thurn und Taxis. S. 18: Collection of the Joan Mitchell Foundation, New York. © Estate of Joan Mitchell. Courtesy of the Joan Mitchell Foundation and Cheim & Read Gallery, New York. Bewegtbild: S. 19 l. o.: Foto: Tom Haller. S. 19 l. u.: Foto: Rusfilm. Schnellste Skulpturen: S. 19 r.: Foto: Lamborghini. Rembrandtgespräch: S. 20: Foto: Städel Museum-ARTOTHEK. S. 21: Foto: Koos Breukel. S. 22: Foto: akg-images. Blitzschlag: S. 24: Foto: Picture Press / Camera Press / Anna Schori. Um die Ecke Köln: S. 26: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 26 bis 29: Fotos: Martin Lebioda für BLAU. Félix Vallotton: S. 30/31: Foto: Fine Art Images-ARTOTHEK. S. 32: Foto: bpk/RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski. S. 33: Foto: akg-images. The Cone Collection, Baltimore, Museum of Art, Baltimore. S. 34/35: Foto: Musée des Beaux Arts, Dijon / Peter Willi / Bridgeman Images. S. 36: bpk/RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski. S. 37 o.: Kunsthaus Zürich. S. 37 u.: Private Collection. © Christies Images / Bridgeman Images. S. 38: akg-images / Zürich, ETH, Graphische Sammlung. S. 39: Kunsthaus Zürich. S. 40: Kunstmuseum Solothurn. Dübi-Müller-Stiftung. S. 41: Foto: bpk / Centre Pompidou-CNAC-MNAM / Philippe Migeat. S. 42: Foto: Bridgeman Images. S. 43: Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne. Acquisition avec le soutien de la Fondation Gottfried Keller, un crédit extraordinaire de l’Etat de Vaud, et don des Amis du Musée, 1993. Inv. 1993-017. Foto: J. C. Ducret, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne. Hiwa K: S. 44/45, S. 46: Fotos: Fabian Schubert für BLAU. S. 47 bis 49: Courtesy Hiwa K. Ellsworth Kelly: S. 50, S. 52 bis 59: © Ellsworth Kelly. Courtesy Matthew Marks Gallery. S. 51: Foto: Sebastian Kim. Management + Artists + Syndication. Mark Bradford: S.60/61: Foto: Lisa Ohlweiler für BLAU. S. 62: ©Tate, London 2016. S. 63 l.: Courtesy the artist and Susanne Vielmetter, Los Angeles Projects. S. 64/65: ENCORE 81 Foto: Joshua White. Courtesy Rockbound Art Museum. S. 66, S. 67: © Mark Bradford. Courtesy the artist and Hauser & Wirth. Encore: Mark Tobey und Sam Francis: S. 69: Foto: Kurt Wyss. S. 70 l.: Private Collection / Bridgeman Images. S. 70 r.: Foto: Comet, Zürich. S. 71 o.: Private Collection. Foto: © Christie’s Images / www.bridgemanart.com. S. 71 u.: Courtesy Galerie Kornfeld. Kolumne: S. 76: Foto: Landesarchiv Berlin. Kalender: S. 78 l.: Foto Iris Ranzinger. S. 78 M.: Courtesy the artist and Sadie Coles HQ, London. S. 78 r. : Foto: Sara Pooley. © Theaster Gates. Courtesy of the artist. S. 79 l.: © Friedrich Schiller Universität Jena. S. 79 M. o.: Tate. Presented by Tate Patrons, 2013. Courtesy Aspen Art Museum, 2015. © Roelof Louw. S. 79 M. u.: Tate purchased 1981. © Bruce McLean. Courtesy Tanya Leighton Gallery, Berlin. S. 79 r.: MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main. Foto: Axel Schneider. S. 80 l.: © Zentrum Paul Klee, Bern. S. 80 M.: Courtesy the artist and dépendance , Brussels. Der Augenblick: S. 82: © Peter Hendricks. VG Bild-Kunst, Bonn 2016 Alighiero e Boetti, Kader Attia, Sam Francis, Markus Karstieß, Bernard Boutet de Monvel, Mark Tobey, Peter Wächtler DER AUGENBLICK HINSCHAUEN TUT WEH Ein Bild und seine Mission PETER HENDRICKS Ohne Titel aus Sehsüchtig Sehnsüchtig, 1994 – 1998, C-Print, 37 × 30 cm I m Leichenschauhaus zu fotografieren war lange die Domäne der Ermittler von Verbrechen. Gelegentlich aber wurde der Kreis erweitert um Fotografen, die mehr oder weniger kuriose Forschungen betrieben. Inzwischen sind Fotobücher mit Ansichten von – nun ja – Entschlafenen ein eigenes Genre geworden. Dieses Bild jedoch entstammt einem völlig anderen Kontext. Peter Hendricks nämlich, Essener Schule der Fotografie, hatte Mitte der 90er-Jahre Frauen getroffen, die an Drogen hingen und sich E VON BL AU DIE NÄCHSTE AUSGAB L 2016 RI ERSCHEINT AM 30. AP CH IM NA DA D UN IN DER WELT SCHRIFTENHANDEL mit Prostitution finanzierten, ein grauenhaftes, fast auswegloses Schicksal, trotz der Sozialarbeit drumherum. Seine Absicht war, und es gelang ihm auch, nichts zu beschönigen und nichts zu übertreiben. Er gewann das Vertrauen einiger weniger Frauen, vertiefte sich ENCORE 82 in ihre Geschichten, aber hat sie nicht als solche erzählt. Das Aufzeichungsmedium war damals der Farbnegativfilm und Hendricks tauchte ein in die fahle Nacht der Herumtreiberinnen auf der Suche nach dem nächsten Freier und dem nächsten Schuss. Seine Einfühlung war beträchtlich. Er machte sogar Bilder seiner Protagonistinnen im größten Glück, im Drogenrausch; Gesichter, die überzugehen scheinen in Immaterialität. Damit hatte er den Rahmen einer dokumentarischen Fotografie bereits gesprengt, lange bevor ihm klar geworden war, dass gewisse Dinge im journalistischen Auftrag überhaupt nicht erfasst werden können, gar nicht zu reden von Gefühlen. Fast drei Jahre arbeitete er an Sehsüchtig Sehnsüchtig. Der Titel sollte jenen Riss bezeichnen, der zwischen Beobachter und Beobachteten doch immer bleibt. Schließlich musste Peter Hendricks der jüngst Verstorbenen seines düsteren Projekts ins Leichenschauhaus folgen. Das Bild, das er von ihr machte, darf man wohl kühl und elegant nennen. Es ist ein Akt zum Frieren. Die grünliche Hand, Nikotinspuren sichtbar, quält sich mit den himbeerrot lackierten Fingernägeln. Immerhin noch so lebendig scheint die junge Frau, dass man sie um ihren Ruheplatz auf einer Metallbahre unwillkürlich bedauert. Entskandalisierung, das war Peter Hendricks’ Mission: Hinschauen tut weh, aber Wegschauen ist auch kein Zeichen großer Menschlichkeit. Das wollte uns der Fotograf, bis zum Allerletzten, unbedingt wissen lassen. ULF ERDMANN ZIEGLER S E I T 17 0 7 Zeitgenössische Kunst Klassische Moderne Auktionswoche 31. Mai – 3. Juni Vorbesichtigung ausgewählter Höhepunkte: München 28. – 29. April, Düsseldorf 9. – 10. Mai Palais Dorotheum, Wien, Tel. +43-1-515 60-570 Düsseldorf, Tel. +49-211-210 77-47 München, Tel. +49-89-244 434 73-0 www.dorotheum.com Oscar Murillo, Untitled I, 2013/14, € 80.000 – 120.000, Auktion Zeitgenössische Kunst, 1. Juni 2016 Tanz Myles Thatcher und Alexei Ratmansky -KEINE84